20.11.2013 Aufrufe

Totemismus Illusion - Horst Südkamp - Kulturhistorische Studien

Totemismus Illusion - Horst Südkamp - Kulturhistorische Studien

Totemismus Illusion - Horst Südkamp - Kulturhistorische Studien

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Unterscheidung von sich begriffen wird. Der fremde Mensch, der kein Mensch sein kann, solange<br />

seine Verwandtschaft mit den echten Menschen fraglich ist, zählt deshalb nicht nur zum<br />

Anderssein der Wildnis, sondern seiner Ähnlichkeit mit den echten Menschen wegen auch zu<br />

ihren gefährlichsten Manifestationen.<br />

Da der Mensch in regulärer Wechselbeziehung mit dieser Natur lebt, kann er aber auch seine<br />

Selbstverabsolutierung nur bedingt aufrechterhalten. Heirat-, rituelle Kooperation und Handelsfreundschaften<br />

sind soziale Möglichkeiten der Transformation von Fremdkörpern in Menschen,<br />

während die Einverleibung und praktische Auswertung der Beute die Differenz des<br />

Menschen zur Natur aufrechterhält.<br />

Die durch charakteristische Eigenschaften ihres Habitats unterschiedenen und im Gegensatz zu<br />

sich selbst mit ihnen identifizierten Familiengruppen verlieren erst über die Herstellung<br />

solidarischer Beziehungen ihre Zuschreibung zur Natur. Wenn in den Mythen und Märchen die<br />

solidarische Sphäre die Voraussetzung der Verwandlung des Tiers in einen Menschen ist, dann<br />

kann diese Verwandlung auch ohne den Rückgriff auf das durch den Kult eingestimmte Wesen,<br />

d.h. außerhalb der religiösen Weltanschauung, erklärt werden, nämlich durch die sozialen<br />

Medien der Verwandlung Fremder oder Feinde in Freunde.<br />

Die Identifizierung mit dem Tier ist unter dieser Bedingung zunächst pejorativ, ihre Aufhebung<br />

wird erst durch die soziale Konjugation möglich, welche das Tier in den Menschen verwandelt,<br />

was die Integration der family lines in einer sie zusammenfassenden Einheit erforderlich macht.<br />

So reflektiert der <strong>Totemismus</strong> den sozialen Zustand potentiell assoziierbarer Subjekte oder<br />

Gruppen nach animalischen Spezifikationen differenziert, und zwar als den unfertigen Zustand,<br />

der in der Gefahr steht, im Versuch der Integration zu scheitern, dagegen dann in der regulären<br />

sozialen Konjugation als den fertigen Zustand, der versichert wird durch die Institutionalisierung<br />

der Integration in einer übergeordneten sozialen Einheit, die deutlich politische Funktionen<br />

erfüllt. Die natürlichen Kategorien reflektieren hier also das Wagnis der Gesellschaft oder<br />

durch Vertrag begründeten Assoziation, die Problematik einer organischen Solidarität, die fast<br />

ausschließlich durch Heirat, d.h. durch das probate Medium der Transformation eines Fremden<br />

in einen Freund, begründet wird, für den es nur eine Alternative zur Affinalverwandtschaft gibt,<br />

nämlich die Feindschaft.<br />

Das Schema oben reflektiert also die Erscheinung, nach der der fremde Mensch in der archaischen<br />

Weltanschauung tatsächlich den größtmöglichen Gegensatz darstellt, den ein<br />

Lebewesen zu dem sich selbst als Mensch (siehe die entsprechenden Stammesnamen)<br />

verbasolutierenden Aboriginal bilden kann. Das Anderssein des Fremden kann nämlich nur<br />

unter Zuhilfenahme anderer Kategorien als jene, die das Menschliche bedeuten, vorgestellt<br />

werden, d.h. in den Kategorien der nichtmenschlichen Natur, die also den Begriff oder die<br />

Vorstellung des Fremden inhaltlich bestimmen.<br />

Darf man davon ausgehen, daß eine profane Kosmologie in der aboriginären Kultur undenkbar<br />

ist, dann stellt diese extreme Form der Aussonderung des Fremden an den äußersten Rand des<br />

Denkbaren, die ihn wegen seiner Kontamination mit dem Unbekannten und Unbegreiflichen<br />

unmittelbar gefährlich macht, eine religiöse Projektion dar, deren Überwindung eben die Institution<br />

des <strong>Totemismus</strong> darstellt, denn in seinem System wird der Mensch gezwungen, sich<br />

selbst in den Kategorien des Andersseins zu reflektieren, welche das voraufgehende Stadium<br />

der Projektion, in dem der Fremde das Anderssein auf sich konzentriert, aufhebt und die Weltanschauung,<br />

die zu diesem Ergebnis geführt hat, soweit säkularisiert, bis ihre Formen nur noch<br />

der profanen Spielart sozialer Relativierung und Differenzierung dienlich sind, d.h. der<br />

Vergesellschaftungsprozeß soweit durchsichtig geworden ist, daß die einst negative Konnotation<br />

der anderen in der neutralen Alternative der Leute aufgehoben erscheint.<br />

Die Frage, warum eine Gesellschaft vorzugsweise ihre sozialen Relationen in natürlichen<br />

Kategorien ausdrückt, wird also mit dem Hinweis auf eine Kultur und ihre kodifizierte Weltanschauung<br />

beantwortet, in der die Erfahrung der Solidarität oder der positiven sozialen Beziehungen<br />

auf die Familie beschränkt ist und alle außerfamiliären Relationen das Merkmal der<br />

5<br />

0

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!