Begleitmaterial Zigeuner-Boxer - Dschungel Wien
Begleitmaterial Zigeuner-Boxer - Dschungel Wien
Begleitmaterial Zigeuner-Boxer - Dschungel Wien
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Begleitmaterial</strong> zur Vorstellung<br />
ZIGEUNER-BOXER<br />
GUERILLA GORILLAS & DSCHUNGEL WIEN<br />
SPRECHTHEATER / 60 MIN. / EMPFOHLEN AB 14 JAHREN<br />
Begleitinformationen erstellt von Julia Perschon<br />
ANSPRECHPERSON für Informationen, Anmeldung und Kartenreservierung<br />
Mag. Christina Bierbaumer / Mo. – Fr. 09:00 - 17:00<br />
Fon: +43.1.522 07 20 -18 / Fax: +43.1.522 07 20 -30<br />
c.bierbaumer@dschungelwien.at / www.dschungelwien.at
INHALTSVERZEICHNIS<br />
1. ZUR PRODUKTION . . . . . . . . 3<br />
2. INHALTSANGABE . . . . . . . . . 4<br />
2.1. ZUR AUTORIN . . . . . . . . . 5<br />
2.2. AUSZÜGE AUS DEM STÜCK . . . . . . . 5<br />
3. INSZENIERUNG . . . . . . . . . 6<br />
3.1. FIGUR HANS . . . . . . . . . 7<br />
3.2. SPIELORT . . . . . . . . . 7<br />
4. TEAM . . . . . . . . . . 8<br />
4.1. FRAGEN AN DAS TEAM . . . . . . 9<br />
5. HINTERGRUNDINFORMATIONEN . . . . . . 11<br />
5.1. BEGRIFF ROMA . . . . . . . . 11<br />
5.2. BIOGRAFIE JOHANN „RUKELI“ TROLLMANN . . . . . 12<br />
5.3. ROMA - VERFOLGUNG IM NATIONALSOZIALISMUS . . . 15<br />
5.4. ROMA IN EUROPA HEUTE . . . . . . . 16<br />
5.5. ZWEI ARTIKEL ZUM BEGRIFF „ZIGEUNER“ . . . . . 18<br />
6. IMPULSE ZUR VOR- UND NACHBEREITUNG . . . . . 22<br />
7. WEITERFÜHRENDE LINKS . . . . . . . 29<br />
2
1. ZUR PRODUKTION<br />
ZIGEUNER-BOXER<br />
Sprechtheater<br />
Österreichische Erstaufführung<br />
Guerilla Gorillas & DSCHUNGEL WIEN<br />
Dauer: 60 Min.<br />
Empfohlen ab 14 Jahren<br />
Autorin: Rike Reiniger<br />
Aufführungsrechte: Theaterstückverlag, München<br />
Inszenierung: Holger Schober<br />
Darsteller: Michael Alexander Pöllmann<br />
„Vielleicht ist es mit allem so. Das, was gewesen ist, kommt in den Keller. Immer<br />
mehr kommt da runter. Irgendwann mal ist der Keller voll. Dann geht nichts mehr<br />
rein. Und das Herz schlägt und schlägt und will raus, weil es zu eng wird.<br />
(Auszug aus dem Stück)<br />
3
2. INHALTSANGABE<br />
Hans will vergessen. Er hat es oft versucht, doch die Erinnerung ist wie ein Raubtier, eine<br />
Würgeschlange, die sich in seinem Herzen versteckt und ihm zunehmend die Luft<br />
abschnürt. Er will Platz schaffen, die Erinnerungen an seinen Freund Ruki loswerden.<br />
Diesen hatte er an seinem zwölften Geburtstag kennengelernt, als Ruki ihm einen Apfel<br />
schenkte und ein Lächeln. Verwahrlost und hungrig wie Hans war, war dies eine Geste, die<br />
ihn damals sehr berührte. Als seine Mutter an den Folgen ihres Alkoholismus starb und<br />
seine Geschwister zur Fürsorge kamen - ihr Vater hatte sie schon früh verlassen - ließ Hans<br />
die Schule sein und fing an beim Alteisen zu arbeiten. Jeder musste sehen, dass er<br />
durchkam. Als Entlohnung gab es Essen; Geld hatte in der Zeit nach der<br />
Weltwirtschaftskrise keinen Wert. Hans begann sich in der Turnhalle des Boxclubs BC<br />
Borussia aufzuhalten. Er konnte dort endlich seine lange aufgestaute Wut rauslassen. Und<br />
dort traf er auch Ruki wieder, den er die ganzen zwei Jahre seit ihrer ersten Begegnung bei<br />
den, wie er sagt, „<strong>Zigeuner</strong>familien“ gesucht hatte und nicht vergessen konnte, und sie<br />
wurden Freunde und trainierten zusammen. Hans boxte mit Wut, Ruki ohne Wut. Das war<br />
auch der Grund, so Hans, warum Ruki seine Kämpfe immer gewann, er setzte seine Schläge<br />
von Herzen, mit kühlem Kopf. Der Tagelöhner Hans und der „<strong>Zigeuner</strong>-<strong>Boxer</strong>“ zogen<br />
zusammen um die Häuser. Doch Ruki wollte mehr, er wollte Olympia. Doch damals durfte<br />
er als Sinto nicht für Deutschland antreten. Also ging er nach Berlin, um Profi-<strong>Boxer</strong> zu<br />
werden. Hans sammelte alles was über Ruki in den Zeitungen zu lesen stand. Doch die<br />
Zeiten wurden härter. „Nicht-arische“ <strong>Boxer</strong> wurde es verboten sich auf den Sportplätzen<br />
aufzuhalten und an Meisterschaftskämpfen durften sie schon gar nicht teilnehmen –<br />
zunehmend wurde der sogenannte „<strong>Zigeuner</strong>-<strong>Boxer</strong>“ als junger Mann von den<br />
Nationalsozialisten am Boxen gehindert. Er kämpfte um den Meisterschaftstitel, doch der<br />
Sieg wurde im aberkannt. Begründung: Du kämpfst „undeutsch“! Hans will auch vergessen,<br />
wie sie einander im Konzentrationslager später wieder begegneten; wie sie dort zur<br />
Belustigung der Wachmänner gegeneinander kämpfen mussten.<br />
„<strong>Zigeuner</strong>“ ist bis heute ein Schimpfwort für Roma und Sinti. Während des Dritten Reichs<br />
wurden diese Volksgruppen verfolgt, interniert und ermordet.<br />
Rike Reinigers Figur Hans macht die Schrecken der Nazizeit nachvollziehbar, indem sie<br />
die Geschichte einer Freundschaft erzählt, die im Dritten Reich nicht bestehen darf und<br />
die dennoch über den Tod hinaus besteht. Denn im Boxring, so Hans, ist nicht immer der<br />
4
der Sieger, der den Gegner K.O. schlägt. Manchmal gewinnt der, der sich niederschlagen<br />
lässt und vom Publikum trotzdem bejubelt wird.<br />
2.1. ZUR AUTORIN<br />
Rike Reiniger, geboren 1966, ist in Bochum aufgewachsen. Nach dem Studium Regie und<br />
Dramaturgie für Puppentheater in Prag und Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen,<br />
war sie zunächst Regisseurin des interkulturellen Off-Theaters Kumpanya in Berlin. Es<br />
folgten Lehraufträge für Puppen- und Objekttheater, sowie ein Engagement als<br />
Jugenddramaturgin und Theaterpädagogin an den Landesbühnen Sachsen, bevor sie als<br />
Künstlerische Leiterin des Puppentheaters ans Deutsch-Sorbische Volkstheater Bautzen ging<br />
und von dort als Künstlerische Leiterin des Puppentheaters an das Theater Junge<br />
Generation Dresden. Rike Reiniger lebt als Regisseurin und Autorin in Berlin.<br />
Ihren bewegenden Monolog „<strong>Zigeuner</strong>-<strong>Boxer</strong>“ (UA 23.10.11 am Badischen Staatstheater<br />
Karlsruhe) schrieb sie nach der Biographie des 1944 im KZ Neuengamme ermordeten Sinto<br />
Johann „Rukeli“ Trollmann, der 1933 Deutscher Meister im Halbschwergewicht wurde. Mit<br />
diesem Stück gewann die Autorin den Publikumspreis beim Heidelberger Stückemarkt 2011.<br />
2.2. AUSZÜGE AUS DEM STÜCK<br />
HANS<br />
„In der Turnhalle hingen Sandsäcke und Maisbirnen.<br />
Ich schlug drauf los. Auf Alteisen, auf meine Mutter, auf die Fürsorge, auf meinen<br />
sogenannten Vater. Das tat gut! Dann stieß mich einer von hinten an die Schulter.<br />
„Wut kann helfen, muss aber nicht.“, sagte er, „Im Ring brauchst du Schläge, die<br />
von Herzen kommen.“ Ihr denkt jetzt, ich hätte mich umgedreht und ihm einen<br />
gesetzt? Hätte ich auch fast. Aber dann sah ich, wer mich angesprochen hatte. Es<br />
war Ruki!“<br />
...<br />
„Mach’s gut, <strong>Zigeuner</strong>-<strong>Boxer</strong>!“ sagte ich zum Abschied. Der Zug fuhr schon<br />
an, da rief er mir zu: „Mach‘s auch gut, Hans! Im Übrigen heiße ich Wilhelm Weiss.<br />
Meine Freunde nennen mich Ruki. <strong>Zigeuner</strong> nennen sie mich nicht.“<br />
Mir schoss das Blut ins Gesicht. Der Zug verschwand.“<br />
...<br />
„Was undeutsch ist?<br />
Das kann ich euch sagen.<br />
5
Undeutsch ist es, auszuweichen. Undeutsch ist es, anzutäuschen. Undeutsch ist<br />
es, schneller zu sein. Undeutsch ist es, beliebter zu sein. Undeutsch ist es,<br />
schwarze Locken zu haben.“<br />
3. INSZENIERUNG<br />
Der Ort des Stückes ist ein Ort der Erinnerung. Das Stück spielt einerseits in der Erinnerung<br />
der Figur Hans und manifestiert sich andererseits gleichzeitig an einem speziellen Ort<br />
außerhalb des Theaterraums, nämlich in einem Boxring in einer stillgelegten Fabrikshalle.<br />
Hans will seine Geschichte von Anfang bis Ende erzählen, denn sie will raus, muss raus.<br />
Das gesprochene Wort steht als theatrales Mittel im Vordergrund. Sprechtheater, das Spiel<br />
mit Worten, das von der gesprochenen Sprache handelt, indem es durch sie und mit ihr<br />
handelt, wird zum Ort menschlicher Belange in all ihrer Mannigfaltigkeit. Im szenischen<br />
Sich-Ereignen des Theater-Wortes werden die Konflikte, das Hadern, die emotionale<br />
Zerissenheit und die Wut der Figur Hans deutlich. Nicht nur die Geschichte einer<br />
außergewöhnlichen Freundschaft, sondern auch historische Ereignisse werden von dem<br />
imaginären inneren Standpunkt dieser Figur erzählt. Das Stück wird getragen durch einen<br />
Schauspieler, der den atmosphärisch dichten Monolog „<strong>Zigeuner</strong>-<strong>Boxer</strong>“, verfasst von Rike<br />
Reiniger, die Figur Hans und all seine Erinnerungen zum Leben erweckt. Die Stationen<br />
einer ungewöhnlichen Freundschaft zur Zeiten des Nationalsozialismus werden auf einer<br />
menschlich-emotionalen Ebene erfahrbar gemacht. Wo Worte nicht ausreichen,<br />
Stimmungen Raum brauchen oder starke Bilder konterkariert werden, kommt das Mittel<br />
der Musik reduziert, aber wirkungsvoll zum Einsatz – entweder durch das Geigenspiel des<br />
Darstellers oder durch eine Einspielung vom Band. Die Inszenierung bedient sich der<br />
Methode des Storytellings (deutsch: „Geschichten erzählen“). Im Mittelpunkt steht der<br />
Erzähler bzw. Darsteller und eine Geschichte über Freundschaft, Opportunismus und die<br />
Gräuel der Nazi-Zeit. Durch das schlichte Erzählen dieser Geschichte wird explizites, aber<br />
vor allem implizites Wissen weitergegeben und durch die ZuhörInnen aufgenommen. Das<br />
Erzählen wird zu einem theatralen, emotionalen und sozialen Erlebnis. Sprache, aber auch<br />
weitere persönliche Ausdrucksmittel wie Gestik, Mimik und die Stimme des Darstellers sind<br />
hierbei zentral.<br />
Wir glauben die Fakten zu kennen, haben sie schon einmal im Geschichtsunterricht gehört,<br />
doch wirklich verstehen ist schwer. Die Konzentration auf die persönliche Geschichte<br />
einer Freundschaft im Dritten Reich, auf moralische Dilemmata und Entscheidungen, die<br />
getroffen wurden und die Direktheit und Unmittelbarkeit dieser theatralen Inszenierung<br />
6
macht Geschichte für Jugendliche direkter erfahrbar und vorstellbar und kann damit eine<br />
Verbindung zum heutigen Leben herstellen.<br />
3.1. FIGUR HANS<br />
Hans ist ein Tagelöhner, ein „Schlawiner“. Er bezieht selten Position, passt sich der<br />
jeweiligen Lage an und ist in dem Sinne opportunistisch, als das er mit dem Wind segelt,<br />
den andere machen. In seinem Fall segelte er im Windschatten von Ruki dahin. Er<br />
bewundert dessen Großzügigkeit und Souveranität und beneidet ihn um seinen Mut, den er<br />
selbst nicht aufbringen kann. Mut, einzugreifen wenn seinem Freund Ruki Unrecht<br />
geschieht. Mut beweist Hans nur in diesem Sinne, dass er ihre gemeinsame Geschichte<br />
erzählt, ehrlich und unverblümt, auch wenn er dabei oft nicht allzu gut wegkommt.<br />
Quälende Erinnerungen nicht mehr verdrängt, sondern sie hervorzuholt, anderen mitteilt<br />
und so seiner Rolle an den Geschehnissen das erste Mal ins Gesicht sieht. In seinem Inneren<br />
weiß er, dass er einen Freund im Stich gelassen hat, zu dem er aufgeschaut hat.<br />
In dem Stück veranschaulicht die Figur des Hans aber auch, dass Zivilcourage im Kleinen<br />
anfängt und dass es in einem repressiven System wie dem der Nazis viel Mut bedarf diese<br />
auch zu leben. Hans macht die Frage - wie hätte ich mich wohl verhalten – lebendig, zeigt<br />
diese Schwierigkeit auf und lässt das Publikum nicht mit einem „ich hätte das sicher nicht<br />
getan“ davon kommen – vielmehr wirft er Fragen auf, die auch in unserer Gesellschaft<br />
heute von zentraler Bedeutung sind.<br />
3.2. SPIELORT<br />
Ein spezieller Ort in <strong>Wien</strong>, dient als Kulisse für diese Geschichte einer ungewöhnlichen<br />
Freundschaft zur Zeit des Nationalsozialismus.<br />
Die ehemalige Metallwarenfabrik Morton, in der ab 1888 Orden und Medaillen für die k. u.<br />
k. Monarchie hergestellt wurden, ist seit Mai 2010 unter der Obhut des Kollektivs mo.ë.<br />
Die Geschichte des Hauses - nach der Arisierung des jüdischen Familienbetriebs wurden in<br />
der Kriegszeit Embleme der Nationalsozialisten hergestellt - nahm nach der Restitution<br />
noch einen Umweg über die Produktion von (u. a.) Gürtelschnallen für Bundesheer,<br />
Sanitäter und Feuerwehr - bevor das Areal für fünf Jahre leer stehen sollte.<br />
Die verwinkelte, 1000m² umfassende Fläche glich zunächst einer heruntergekommenen,<br />
verlassenen Bruchbude, als die Räumlichkeiten im Winter 2009/2010 von<br />
Gründungsmitgliedern des heute 20 Personen umfassenden Vereins picapica wieder<br />
entdeckt wurden. Die Thelemangasse, zwischen Yppenplatz und Lerchenfelder Gürtel<br />
7
gelegen, ist auch Schauplatz des Romans "Die Ewigkeitsgasse" von Frederic Morton, dessen<br />
Urgroßvater Bernhard Mandelbaum das Fabriksgebäude und zwei der angrenzenden<br />
Gebäude bis zur Vertreibung durch die Nationalsozialisten besessen hatte.<br />
4. TEAM<br />
INSZENIERUNG: Holger Schober<br />
Holger Schober wurde 1976) in Graz geboren. Seit 2007 ist er künstlerischer Leiter des<br />
Theatervereins Guerilla Gorillas und seit 2009 ebenfalls künstlerischer Leiter des <strong>Wien</strong>er<br />
Klassenzimmertheaters. Von 2009 – 2011 leitete er die Sparte Theater für junges Publikum<br />
am Landestheater Linz. 2005-2007 befand er sich im Leitungsteam des TAG (Theater an<br />
der Gumpendorfer Straße). 2000-2005 war er künstlerischer Leiter von Theater KINETIS.<br />
2000-2002 absolvierte er die Kulturmanagementausbildung am Institut für Kulturkonzepte<br />
Nach einem Germanistik und Anglistik Studium schloss er 2000 sein Schauspielstudium am<br />
Max Reinhardt Seminar in <strong>Wien</strong> ab.<br />
Er arbeitet als Schauspieler, Regisseur & Autor u.a. am Volkstheater <strong>Wien</strong>, Landestheater<br />
Linz, <strong>Wien</strong>er Festwochen, Hamburger Kammerspiele, Rabenhof, Theater Drachengasse,<br />
DSCHUNGEL WIEN; für Film (u.a. „Mein Russland“ - Max Ophüls Preis 2002, „Die Fälscher“ -<br />
Oscar 2008) und Fernsehen („Polterabend“, „Vier Frauen und ein Todesfall“,<br />
„Winzerkönig“).<br />
Auszeichnungen: Niederländisch Deutschen Autorenpreis „Kaas und Kappes“ für<br />
„Heimat.com“, Nestroy als Bester Nachwuchs als Schauspieler für „2 Brüder“.<br />
DARSTELLER: Michael Alexander Pöllmann<br />
Geboren 1982 in Burglengenfeld (Bayern) studierte er von 2002 – 2009 Schauspiel an der<br />
Akademie der Darstellenden Künste (AdK) Ulm und am Konservatorium <strong>Wien</strong>. Seit 2007<br />
spielt Michael Alexander Pöllmann am <strong>Dschungel</strong> <strong>Wien</strong> und wirkte dort u.a. in „Dreier ohne<br />
Simone“, „King A“ (R: Karsten Dahlem), „Besuch bei Katt und Fredda“, „Momo“,<br />
„Weihnachtsgeschichten vom Franz“ und „Siggi ein Held räumt auf“ (R: Sara Ostertag) und<br />
„Das <strong>Dschungel</strong>buch“ (R: Holger Schober). Weiter spielet er bei den Festspielen Reichenau<br />
in den Produktionen „Der Hauptmann von Köpenick“ (R: Alfred Kirchner), „Der Zerissene“,<br />
„Der Weg ins Freie“ und „Drei Schwestern“ (R: Maria Happel). Ebenso war er an der Garage<br />
X in „Gespenster“ (R: Dieter Haspel) zu sehen. Er spielte in mehreren Spiel-, Kurz- und<br />
Werbefilmen mit zuletzt für den WWF „Die Au schlägt zurück“ (R: Paul Holcmann). Mit<br />
„Dirty Rich“ (nominiert für den STELLA12 - herausragende Produktion für Jugendliche,<br />
Gewinner des offspring contest 10) erarbeitete Michael Alexander Pöllmann sein<br />
8
Regiedebut am <strong>Dschungel</strong> <strong>Wien</strong>. Es folgte „Um die Ecke“ (2+) für den <strong>Dschungel</strong> <strong>Wien</strong>.<br />
Derzeit arbeitet er an „Katja und Kotja“ (Gewinner des Jungwild12) und ist als<br />
Schauspieler Teil des Internationalen Theaterprojekts „patchwork-family“ mit Premiere in<br />
Seoul (Korea) und anschließender Welttournee.<br />
4.1. FRAGEN AN DAS TEAM<br />
Eine Erinnerung an meine Jugend ist…<br />
Holger Schober (HS): Dass mein Vater zu den Zeitungsverkäufern mit Turban immer<br />
Jubelperser gesagt hat, oder Mufti und ich mir damals schon gedacht habe, warum<br />
schimpft der immer über die, die haben ihm doch gar nichts getan.<br />
Der Monolog „<strong>Zigeuner</strong>-<strong>Boxer</strong>“ ist angelehnt an die Biografie des Sinto Johann „Rukeli“<br />
Trollmann. Welches Details aus seiner Biografie findest du besonders interessant und<br />
warum?<br />
Holger Schober (HS): Erstens einmal finde ich es wichtig, dass man nicht vergessen darf,<br />
dass die Nazis neben der 6 Millionen Juden, immerhin auch an die 500 000 Sinti und Roma<br />
umgebracht haben, die werden nur gerne vergessen. Ich war vor kurzem im<br />
Dokumentationszentrum deutscher Sinti und Roma und da habe ich erfahren können, dass<br />
das immer noch ein unbekannter und nicht genug aufgearbeiteter Teil der Geschichte des<br />
Dritten Reiches ist. Was jetzt speziell bei Rukeli Trollmann interessant ist, ist die<br />
Geschichte eines persönlichen Widerstandes, die natürlich im Boxen ihren perfekten<br />
Ausdruck findet.<br />
Michael Pöllmann (MP): Sein letzter Kampf im Boxring als Deutschenparodie!<br />
Hans verkörpert für mich…<br />
HS: ...die große Masse der Menschen, die einfach nur zugeschaut hat, weil sie ja "eh nichts<br />
tun konnte". Hans bewundert Ruki, beneidet ihn aber auch. Er wäre gerne so wie er, hätte<br />
auch gerne dieses Selbstvertrauen, diese Zielstrebigkeit, diese Leichtigkeit. Hans wäre<br />
gerne stark und mutig, aber er schafft es nicht, seine Angst zu besiegen und über seinen<br />
Schatten zu springen. Hans ist der ideale Mitläufer, so lange es passt läuft er mit Ruki mit<br />
und als das zu gefährlich wird, nimmt er den anderen Weg und wendet sich gegen seinen<br />
Freund.<br />
MP: Rechtfertigung!<br />
Welcher Aspekt macht die Freundschaft von Hans und Ruki für dich zu einer „wahren“<br />
Freundschaft?<br />
HS: Man könnte ja fast sagen, dass Hans Ruki liebt, auf eine platonische Art und Weise.<br />
Man erfährt ja die ganze Geschichte brutal subjektiv aus der Sicht von Hans und es wird<br />
9
gar nicht so klar, ob Hans auch für Ruki ein Freund ist, oder jemand der halt immer wieder<br />
mal so mit ist. Ich denke, dass Ruki Hans schätzt, weil der zu 100 Prozent loyal ist und<br />
alles für Ruki tun würde. Dass es dann ganz anders kommt ist die Tragik dieser<br />
Freundschaft.<br />
MP: Die leisen Momente zwischen zwei Schlägen.<br />
Was heißt Zivilcourage für dich?<br />
HS: Es gibt ja jetzt eine Werbekampagne vom Innenministerium nach dem Motto " Wahre<br />
Helden rufen an", also man soll wenn man ein Verbrechen sieht, ja nicht selbst<br />
einschreiten, sondern die Polizei holen. Ich finde das absolut furchtbar. Vor ca. eineinhalb<br />
Jahren habe ich in Graz beobachtet, wie zwei Männer eine Frau vergewaltigen wollten und<br />
bin dazwischen gegangen. Nachher hat der Polizist zu mir auch gesagt, ich hätte die Polizei<br />
rufen und nicht eingreifen sollen, sowas wäre viel zu gefährlich. Ich habe dann gefragt, ob<br />
ich einfach zuschauen hätte sollen und auf die Polizei warten, was erfahrungsgemäß ein<br />
paar Stunden dauern kann. Dann hat er noch gefragt ob ich frech werden will. Ich bin der<br />
Überzeugung, dass man nicht einfach zuschauen darf. Zivilcourage bedeutet, dass man sich<br />
für seine Mitmenschen einsetzt, auch wenn man sich dafür aus seiner Komfortzone<br />
bewegen muss.<br />
MP: Sehen, Aufstehen, Handeln!<br />
Was wäre, wenn niemand mehr aufgrund seiner Herkunft diskriminiert werden würde?<br />
HS: Das wäre utopisch, das wird vermutlich niemals passieren. Es gibt da einen Song von<br />
STS wo es heißt "es brauchen nur drei Leute zusammen kommen und schon ist einer der<br />
Tschusch". Das ist traurig aber wahr. Der Mensch braucht es anscheinend, andere zu<br />
diskriminieren, das zeigt schon die Geschichte. Tut mir leid, dass ich jetzt da keine<br />
optimistischere Antwort habe.<br />
MP: Kann es das geben? Dann Ende aller Konflikte!<br />
Was ist an Sprechtheater für dich besonders spannend?<br />
HS: Dass man mit Sprechtheater mit seinem Livecharakter die ZuschauerInnen so tief<br />
fesseln kann, wie das wohl mit kaum einer anderen Kunstform gelingen kann.<br />
Was bedeutet für dich „aus der Geschichte lernen“? Was kann Theater diesbezüglich<br />
leisten?<br />
HS: Ich bin der festen Überzeugung, dass man mit Theater die Welt verändern kann, sonst<br />
würde ich das gar nicht machen. Die Welt kann man verändern, wenn man Menschen zum<br />
Nachdenken bringt, wenn man es schafft, dass nur ein Zuschauer/eine Zuschauerin aus<br />
dem Theater geht und sagt, jetzt habe ich etwas verstanden, oder etwas gelernt. Es ist<br />
immens wichtig, dass man nicht vergisst, was in der Vergangenheit passiert ist. Aber man<br />
darf darüber die Gegenwart nicht vergessen. Ich denke, dass Theater die beste Mischung<br />
aus Vergangenheit, Gegenwart und auch Zukunft ist. Theater ist immer Ort des Erinnerns,<br />
moralische Anstalt und Zukunftslabor in einem.<br />
10
MP: Geschichte lebendig und erfühlbar zu machen!<br />
5. HINTERGRUNDINFORMATIONEN<br />
5.1. BEGRIFF ROMA<br />
„Roma“ ist eine Sammelbezeichnung für bestimmte Bevölkerungsgruppen mit mehr oder<br />
weniger ähnlichen Kulturmerkmalen, beispielsweise die Roma, Sinti, Traveller, Ashkali und<br />
Kalé. Schätzungen zufolge leben in der EU zurzeit zehn bis zwölf Millionen Roma. Sie<br />
bilden die größte ethnische Minderheit in der EU. Gemeinsam ist ihnen, dass sie aufgrund<br />
von Diskriminierung und Ausgrenzung marginalisiert am Rand der europäischen<br />
Gesellschaften leben, mit schlechtem Zugang zu Bildung, Gütern und Dienstleitungen. Die<br />
EU Agentur für Grundrechte (kurz FRA) hat kürzlich eine europaweite Studie präsentiert in<br />
der die Situation der Roma in der EU deutlich wird. So ist z.B. die Armutsgefährdung der<br />
Roma deutlich höher als die von EU-BürgerInnen ohne Romahintergrund.<br />
11
5.2. BIOGRAFIE JOHANN „RUKELI“ TROLLMANN<br />
Quelle: http://www.romanosvato.at<br />
Johann Trollmann wurde 1907 als Sohn einer sinto-deutschen Familie in Wilsche, Gifhorn<br />
geboren. Da seine aufrechte Statur an einen gerade gewachsenen, schönen Baum<br />
erinnerte, gaben ihm seine Eltern Wilhelm und Friederike den Namen „Rukeli“. Ruk<br />
bedeutet in der Sprache der Sinti und Roma, dem Romanes, soviel wie Baum.<br />
Johann Trollmann wuchs mit acht Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen in der Altstadt<br />
von Hannover auf. Schon früh zeichnete sich sein großes Talent zum Boxen ab und bereits<br />
mit acht Jahren stieg er erstmals in den Ring, um einen Sport auszuüben, der bis zum Ende<br />
des Kaiserreichs verboten war. Johann Trollmann gewann in jungen Jahren viermal die<br />
Regionalmeisterschaft, stieg zum norddeutschen Meister auf und nahm an der deutschen<br />
Meisterschaft im Amateurboxen teil.<br />
Das Boxen, bislang als „Proletensport“ deklassiert, wurde in den 1920er Jahren immer<br />
populärer und fand Einzug in den offiziell anerkannten Sport. Zugleich war das Boxen in<br />
der Kulturszene der Weimarer Republik ein beliebtes Freizeitvergnügen, zu populären<br />
Kämpfen strömten Hunderte. Trollmann wurde in diesen Jahren ein versierter<br />
Mittelgewichtsboxer, der schnell und extrem beweglich war und dennoch hart zuschlagen<br />
konnte. Sein Stil war spektakulär und kam beim Publikum gut an. Im Januar 1929<br />
wechselte er zu dem bekanntesten Arbeitersportverein Hannovers, dem BC Sparta Linden,<br />
nachdem er vom Reichsverband nicht zu den Olympischen Spielen von 1928 in Amsterdam<br />
aufgestellt wurde. Unter fadenscheinigen Begründungen war behauptet worden, seine<br />
Leistungen seien ungenügend gewesen; wahrscheinlicher ist jedoch die Vermutung, dass<br />
die olympische Nationalmannschaft nicht von einem Sinto vertreten werden sollte. Mit<br />
seiner wachsenden Bekanntheit gab die Sportpresse Johann Trollmann bald den Beinamen<br />
„Gypsy“; häufig wurde er als „tanzender <strong>Zigeuner</strong>“, der „undeutsch“ boxte, rassistisch<br />
diffamiert. Der Ausschluss von der olympischen Nominierung bewog ihn im Juni 1929 zu<br />
dem Entschluss, Profiboxer zu werden. Er ging nach Berlin, machte sich dort schnell einen<br />
Namen und sein Erfolg wuchs stetig. Im Jahre 1932 kämpfte Trollmann nur noch gegen die<br />
Besten. Auch internationale Gegner waren darunter. Von nun an kam der deutsche<br />
Boxsport an Trollmann nicht mehr vorbei.<br />
12
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 ändert sich das Leben<br />
Trollmanns – und der Sport. Die Nationalsozialisten instrumentalisierten das Boxen für ihre<br />
Ziele, war das „Kämpfen“ doch immer schon ihre Sache – der Boxsport wurde in den<br />
„deutschen Faustkampf“ umbenannt und sollte eine zentrale Rolle in der so genannten<br />
Leibeserziehung des Dritten Reichs spielen. Die Boxclubs in Deutschland wurden<br />
zentralisiert und arisiert. Mit dieser sportpolitischen Offensive zum Zweck der Schaffung<br />
eines „wehrhaften Volkskörpers“ begann die Ausgrenzung und Verfolgung „nicht-arischer“<br />
Sportler und Sportlerinnen, lange vor dem Inkrafttreten der Nürnberger Rassegesetze 1935.<br />
Von Ausgrenzung und Verfolgung war auch Erich Seelig, der als deutsche Meister im<br />
Mittelgewicht und Halbschwergewicht Trollmanns Gewichtsklasse dominierte, betroffen. In<br />
der Nacht vor seinem Titelverteidigungskampf wurde Seelig mit dem Tode bedroht und floh<br />
nach Frankreich – er war Jude und als Ausnahmesportler seines Lebens nicht mehr sicher.<br />
Johann Trollmann floh nicht – und die nationalsozialistischen Sportbehörden hatten ein<br />
Problem, denn er war zu beliebt und zu erfolgreich, als dass man ihn sang- und klanglos<br />
hätte aus dem Boxsport verdrängen können.<br />
Sein größter Erfolg als <strong>Boxer</strong> wurde ihm nicht zufällig zugleich zum Verhängnis. Am 9. Juni<br />
1933 trat Johann Trollmann in der Berliner Bockbierbrauerei zum Meisterschaftskampf im<br />
Halbschwergewicht gegen Adolf Witt an und gewann diesen klar nach Punkten. Für die<br />
Nationalsozialisten stellte sein Sieg eine Bedrohung dar, denn Trollmann demontierte das<br />
propagandistische Bild vom körperlich überlegenen, arischen Herrenmenschen und machte<br />
transparent, wie konstruiert diese Vorstellung war. Im Publikum saß der überzeugte<br />
Nationalsozialist Georg Radamm. Er war der Vorsitzende des „Verbandes deutscher<br />
Faustkämpfer“, der von den Nationalsozialisten geschaffene neue Dachverband für den<br />
Boxsport. Radamm gab der Jury Anweisungen, den Kampf als unentschieden zu werten, als<br />
klar wurde, wie der Kampf enden würde. Und die Jury befolgte dies. Das boxkundige<br />
Publikum war jedoch nicht bereit, Teil der ideologischen Manipulation zu werden, hatte es<br />
Trollmann doch über sechs Runden hinweg als den überlegenen <strong>Boxer</strong> erlebt. Nach einer<br />
halben Stunde lautstarkem Protest und Drohungen gegen die anwesenden<br />
nationalsozialistischen Funktionäre wurde ihm der Siegkranz um den Hals gehängt. Dem<br />
erschöpften <strong>Boxer</strong> liefen die Tränen über die Wangen – aus Wut über den zunächst nicht<br />
anerkannten Sieg und aus Freude über den doch noch zuerkannten Meisterschaftstitel. Die<br />
Freude währte kurz; nur eine Woche nach dem Kampf erhielt Trollmann einen Brief des<br />
Boxverbandes, der ihm mitteilte, dass ihm der Meisterschaftstitel im Halbschwergewicht<br />
wieder aberkannt wurde, da beide <strong>Boxer</strong> „ungenügende Leistungen“ erbracht hätten. Der<br />
Titel wurde nicht vergeben. Auch wegen der vergossenen Tränen gab es hämische Stimmen<br />
– ein deutscher Mann hatte sich nicht solch „armseligen Verhaltens“ schuldig zu machen.<br />
Doch auch ohne den Meisterschaftstitel blieb Johann Trollmann ein Publikumsliebling und<br />
den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge. Seine Karriere sollte endgültig beendet und<br />
Trollmann als <strong>Boxer</strong> diskreditiert werden.<br />
Vor seinem Kampf am 21.7.1933 gegen den bekannten und schlagkräftigen<br />
Weltergewichtler Gustav Eder, wurde ihm deutlich nahe gelegt, dass der Entzug seiner<br />
Lizenz als <strong>Boxer</strong> drohe, sollte er „zigeunerhaft“ tänzelnd, also „undeutsch“ boxen und sich<br />
nicht dem Kampf stellen. Trollmann, der Aussichtslosigkeit seiner Lage bewusst, stieg mit<br />
hell gefärbten Haaren und weiß gepuderter Haut in den Ring. Mit dieser Selbstinszenierung<br />
als arischer Kämpfer karikierte er die ihm zugewiesene Rolle als Opfer unmissverständlich.<br />
Zugleich dominierte im Kampf die Unterwerfung unter das Diktat der NS-Sportfunktionäre:<br />
Mit Verzicht auf die für seinen Stil elementare Beinarbeit, ohne vor den Schlägen<br />
wegzupendeln, stellte er sich dem „deutschen Kampf“. „Fuß an Fuß“ mit seinem Gegner<br />
stand er in der Mitte des Ringes, um dort Schläge auszuteilen und einzustecken. Nach 5<br />
Runden war er k.o. geschlagen und seine Karriere als <strong>Boxer</strong> endgültig besiegelt. Für<br />
Trollmann war das trotzige Aufbegehren im Moment des Untergangs ein spontaner und<br />
ungeplanter Akt des Widerstandes<br />
13
In den folgenden Jahren schlug sich Johann Trollmann als <strong>Boxer</strong> auf Jahrmärkten durch,<br />
lebte in Hannover und in Berlin. Hier begegnete er Olga Frieda Bilda, die er im Juni 1935<br />
auf dem Standesamt in Berlin-Charlottenburg heiratete. Gemeinsam mit der im gleichen<br />
Jahr geborenen Tochter lebten sie in der Schlüterstraße 70.<br />
Die Verfolgung von Sinti und Roma nahm nach dem Erlass der Nürnberger Rassegesetzen am<br />
15. September 1935, in denen nicht nur die systematische Ausgrenzung und Entrechtung<br />
der jüdischen Menschen festgelegt wurde, sondern auch Sinti und Roma des „artfremden<br />
Blutes“ bezichtigt wurden, immer stärker zu.<br />
Die „Arisierung“ von Wohnraum betraf fortan Juden genau so wie Sinti und Roma. Letztere<br />
wurden gezwungen, ihre Wohnungen aufzugeben, um in so genannte „<strong>Zigeuner</strong>lager“<br />
umzuziehen. Dies waren meistens eingezäunte Barackenlager auf offenem Feld ohne<br />
sanitäre Einrichtungen. Auch Mitglieder der Familie Trollmann werden inhaftiert und vor<br />
die nicht zu beantwortende Frage gestellt, sich entweder sterilisieren oder ins Lager<br />
deportieren zu lassen.<br />
Im September 1938 ließ sich Johann Trollmann von seiner Frau Olga scheiden, in der<br />
Hoffnung, seine Frau und die gemeinsame Tochter so vor Verfolgung schützen zu können.<br />
Zu diesem Zeitpunkt standen insbesondere so genannte <strong>Zigeuner</strong>mischlinge unter der<br />
besonderen Aufmerksamkeit der nationalsozialistischen Rassekundler und der<br />
Reichskriminalpolizei.<br />
Mit dem im Dezember 1938 in Kraft tretenden „<strong>Zigeuner</strong>-Runderlass“ nahm die Verfolgung<br />
der Sinti und Roma noch an Schärfe zu. Himmler forderte dazu auf, „die Regelung der<br />
<strong>Zigeuner</strong>frage aus dem Wesen dieser Rasse heraus in Angriff zu nehmen“, der Weg in die<br />
Vernichtung zeichnete sich nun deutlich ab.<br />
Bereits 1938 war Trollmann für mehrere Monate ins Arbeitslager Hannover-Ahlem<br />
verschleppt worden. Nach seiner Entlassung lebte er im Verborgenen, um weiteren<br />
Verhaftungen zu entgehen. Im November 1939 wurde er in die Wehrmacht einberufen; vom<br />
Kämpfen fürs Vaterland waren die Sinti und Roma noch nicht ausgeschlossen. Nachdem er<br />
als Infanterist in Polen, Belgien und Frankreich stationiert war, wurde er im Frühjahr 1941<br />
an die Ostfront geschickt, wo er nach dem Überfall auf die Sowjetunion verwundet wurde.<br />
Zeitgleich fanden die ersten Massenerschießungen sowjetischer Sinti und Roma statt. 1942<br />
gab das Oberkommando der Wehrmacht einen Erlass heraus, der Sinti und Roma aus<br />
„rassepolitischen Gründen“ vom Wehrdienst ausschloss; auch Johann Trollmann wurde aus<br />
der Wehrmacht entlassen. Mehrere Angehörige seiner Familie waren zu diesem Zeitpunkt<br />
in Arbeitslager eingepfercht und leisteten unter schwersten Bedingungen Zwangsarbeit.<br />
Im Juni 1942 wurde Trollmann in Hannover verhaftet und in die berüchtigte<br />
„<strong>Zigeuner</strong>zentrale“ in der Innenstadt gebracht, wo man ihn schwer misshandelte. Von dort<br />
aus wurde er im Oktober des gleichen Jahres in das KZ Neuengamme bei Hamburg<br />
deportiert. Als Häftling mit der Nummer 9841 leistete er schwerste Zwangsarbeit.<br />
Bald erkannte ihn jedoch der frühere Ringrichter und jetzige SS-Mann Albert Lütkemeyer,<br />
der veranlasste, dass Trollmann trotz schwindenden Kräfte – er hatte in nur 3 Monaten KZ-<br />
Haft ca. 30kg an Gewicht verloren – allabendlich nach der Arbeit gegen SS-Männer zum<br />
Boxtraining antrat. Das illegales Häftlingskomitee von Neuengamme beschloss, Trollann<br />
eine neue Identität zu geben und ihn aus dem Fokus der SS zu lösen: Offiziell starb Johann<br />
Trollmann am 9. Februar 1943 an Herz- und Kreislaufversagen, tatsächlich handelte es sich<br />
bei dem Toten um einen verstorbener Häftling, dessen Identität weitergegeben wurde. Um<br />
der Entdeckung zu entgehen, wurde Trollmann ins Nebenlager Wittenberge transportiert.<br />
Aber auch hier entkam er seiner Vergangenheit als <strong>Boxer</strong> nicht; er musste sich im Laufe<br />
14
des Jahres 1944 einem vom Lagerältesten inszenierten Kampf mit dem bei Mithäftlingen<br />
verhassten kriminellen Kapo Emil Cornelius stellen. Trollmann gewann zwar den Kampf,<br />
doch wenige Zeit später rächte sich Cornelius für die Niederlage und ließ Trollmann bei<br />
einem Arbeitseinsatz außerhalb des Lagers bis zur Erschöpfung schuften, um ihn dann mit<br />
einem Knüppel zu erschlagen.<br />
Johann Trollmanns Tod wurde als Unfall angegeben, sein Leichnam mit den vielen anderen<br />
Toten des Lagers auf dem Friedhof von Wittenberge verscharrt. Doch der Häftling Robert<br />
Landsberger, der bei dem Arbeitseinsatz Zeuge vom Mord an Trollmann wurde, überlebte<br />
das KZ und machte nach der Befreiung eine Aussage über den Tod Trollmanns. Diese blieb<br />
im Archiv der Gedenkstätte Neuengamme lange Zeit unentdeckt.<br />
Ende 2003 übergab der Deutsche Berufsboxerverband der Familie des <strong>Boxer</strong>s den<br />
Meistergürtel von Johann „Rukeli“ Trollmann, der heute wieder offiziell als Deutscher<br />
Meister im Halbschwergewicht geführt wird.<br />
5.3. ROMA – Verfolgung im Nationalsozialismus<br />
In der Geschichte der Roma in Österreich muss man hervorheben, dass die Verfolgung nicht<br />
erst mit dem Nationalsozialismus begann: Verfolgung und Diskriminierung, sowohl durch<br />
einfache BürgerInnen als auch durch die kaiserliche Regierung, haben eine<br />
jahrhundertelange Tradition. Unter den Nationalsozialisten erreichte sie aber ihren<br />
schrecklichen Höhepunkt. In Österreich lebten vor 1938 etwa 11.000 – 12.000 Roma und<br />
Sinti: Burgenland-Roma, deutsche und österreichische Sinti und andere Splittergruppen<br />
(Lovara, Kalderash). Bereits Mitte der 20er Jahre wurde die Zentralisierung der<br />
polizeilichen "<strong>Zigeuner</strong>bekämpfung" eingeleitet. Die Medien unterstützten dieses Vorhaben,<br />
indem sie in immer reißerischer werdenden Artikeln eine regelrechte "<strong>Zigeuner</strong>plage"<br />
heraufbeschworen. Zunächst ging es darum, Roma und Sinti im Sinne der "präventiven<br />
Verbrechensbekämpfung" zu erfassen, identifizieren und registrieren (z.B.<br />
"<strong>Zigeuner</strong>kartothek-Burgenland"). Diese polizeilichen Erfassungen gaben die (Daten-)Basis<br />
für die spätere systematische NS-Verfolgung ab. Die Verfolgung der Sinti und Roma begann<br />
unmittelbar nach dem »Anschluss«. Sie wurden vom Stimmrecht bei der Volksabstimmung<br />
ausgeschlossen und an der Ausübung ihrer Gewerbe gehindert, den Kindern wurde der<br />
Schulbesuch untersagt. Bereits 1938/39 wurden tausende österreichische "<strong>Zigeuner</strong>Innen"<br />
als "Asoziale" und/oder als "rassisch Minderwertige" verhaftet und in Konzentrationslager<br />
verschleppt - nach Dachau, Buchenwald, Mauthausen und Ravensbrück. Ab 1939 folgten die<br />
weiteren Verfolgungsschritte: Zunächst die "Festsetzung" aller noch freien Roma und Sinti<br />
auf österreichischem Gebiet in eigens errichteten Zwangsarbeitslagern. Dann - zur<br />
Jahreswende 1941/42 - starteten die Osttransporte, einschließlich einer ersten großen<br />
Ausrottungsaktion im polnischen Ghetto Lodz. Höhepunkt und Schlusspunkt bildete der so<br />
genannte "Auschwitz-Erlass" vom Dezember 1942. In ihm legte Reichsführer SS Heinrich<br />
Himmler den Ausrottungsplan aller "<strong>Zigeuner</strong>" und "<strong>Zigeuner</strong>mischlinge" fest. Die<br />
Umsetzung erfolgte ab Frühjahr 1943: Etwa eine halbe Million europäischer "<strong>Zigeuner</strong>" hat<br />
dieses nationalsozialistische Mordprogramm nicht überlebt. Von den 11.000<br />
österreichischen Roma und Sinti wurden zwei Drittel Opfer des NS-Regimes.<br />
Quelle DÖW: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes<br />
15
5.4. ROMA IN EUROPA HEUTE<br />
Presseaussendung / EU<br />
Roma-Gipfel: Europa muss Teufelskreis der Diskriminierung durchbrechen<br />
Amnesty International fordert die Staaten der Europäischen Union zu konkreten Schritten<br />
auf: Roma dürfen nicht länger EU-Bürger zweiter Klasse sein.<br />
Dienstag, 6. April 2010<br />
Vor dem zweiten Roma-Gipfel der EU am 8. April 2010 in Córdoba (Spanien) appelliert die<br />
Menschenrechtsorganisation an die EU, eine umfassende Strategie gegen den Teufelskreis<br />
aus Diskriminierung, Armut und sozialer Ausgrenzung zu erarbeiten, in dem die mehr als<br />
zehn Millionen Roma* in Europa gefangen sind.<br />
"Wir dürfen nicht zulassen, dass Roma in Europa weiter als Bürger zweiter Klasse leben<br />
müssen", erklärte Heinz Patzelt, Generalsekretär von Amnesty International in Österreich.<br />
"Die europäischen Roma und Sinti entsprechen von der Bevölkerungszahl her etwa dem<br />
zwölftgrößten EU-Land, größer als Schweden oder Österreich. Und niemand würde je auf<br />
die Idee kommen, Schweden oder Österreicher so zu behandeln, wie dies Roma täglich<br />
erfahren."<br />
Amnesty International und andere Roma- bzw. Nichtregierungsorganisationen haben das<br />
Versagen der Behörden beim Schutz der Roma-Bevölkerung in einer Reihe von EU-Staaten<br />
dokumentiert. So besteht nicht nur die Segregation im Schulwesen in Tschechien und der<br />
Slowakei weiter. Die heute veröffentlichte Broschüre „Stopp Zwangsräumungen von Roma<br />
in Europa“ schildert, wie in Serbien, Italien, Rumänien, Bulgarien und Griechenland<br />
entgegen den internationalen Verpflichtungen Roma-Siedlungen zwangsgeräumt wurden.<br />
Die EU wiederum versagt, wenn es darum geht, die nationalen Regierungen zur<br />
Verantwortung zu ziehen.<br />
„Roma sind EU-Bürger. Die europäischen Spitzenpolitiker müssen sicherstellen, dass ihnen<br />
dieselben Rechte und Pflichten zukommen wie ihren Mitbürgern“, betonte Patzelt. „Sie<br />
müssen einen Aktionsplan gegen Diskriminierung beim Zugang zu Unterkunft, Bildung,<br />
Gesundheit und Beschäftigung verabschieden und Hetze und rassistische Angriffe scharf<br />
verurteilen.“<br />
Zwangsräumungen (engl. forced evictions):<br />
Roma werden oft rechtswidrig ohne vorherige Ankündigung oder Beratung aus ihrem<br />
Wohnraum vertrieben. Sie verlieren neben ihrem persönlichen Besitz ihre sozialen<br />
Netzwerke, den Zugang zu Arbeit, Schulen und Gesundheitsversorgung. Viele werden<br />
obdachlos oder leben unter schlimmeren Umständen als zuvor. Eine Unterbringung in<br />
isolierten Lagern oder Siedlungen treibt den Teufelskreis der Ausgrenzung nur weiter an.<br />
Neben dem Recht auf eine angemessene Unterkunft - einschließlich des Rechts, keiner<br />
Zwangsräumung unterworfen zu werden - gehört auch das Recht auf Leben und Sicherheit<br />
der Person zu den Menschenrechten, die bei Zwangsräumungen und Abbruchmaßnahmen<br />
häufig verletzt werden.<br />
16
Auszug aus einem Bericht der FRA (European Agency for Fundamental Human<br />
Rights) und der UNDP (United Nations Development Programme) – veröffentlicht am<br />
23. Mai 2012<br />
Viele Roma sind in der EU nach wie vor von Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung<br />
betroffen, so das Ergebnis eines neuen Berichts, den die Agentur der Europäischen Union<br />
für Grundrechte (FRA) und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP)<br />
gemeinsam veröffentlicht haben. Die Situation der Roma ist im Durchschnitt schlechter als<br />
die der Nicht-Roma, die in deren unmittelbarer Nähe leben. Der Bericht stützt sich auf<br />
zwei Erhebungen zum sozioökonomischen Status von Roma und in deren Nähe lebenden<br />
Nicht-Roma in 11 EU-Mitgliedstaaten sowie in europäischen Nachbarländern.<br />
„Die Ergebnisse dieser Erhebungen zeichnen ein düsteres Bild von der aktuellen Situation<br />
der Roma in den 11 untersuchten EU-Mitgliedstaaten“, berichtet Morten Kjaerum, Direktor<br />
der FRA. „Diskriminierung und Romafeindlichkeit halten an. Die Ergebnisse zeigen, dass<br />
rasche und wirksame Maßnahmen notwendig sind, um insbesondere die Bildungssituation<br />
der Roma zu verbessern. Bildung ist der Schlüssel zur Aktivierung des Potenzials künftiger<br />
Generationen und wird junge Roma mit den notwendigen Qualifikationen ausstatten, um<br />
den Teufelskreis von Diskriminierung, Ausgrenzung und Armut zu durchbrechen.“<br />
Der Bericht zeigt, dass die Situation der Roma in den Bereichen Beschäftigung, Bildung,<br />
Wohnraum und Gesundheit in den 11 untersuchten EU-Mitgliedstaaten, in denen die<br />
Mehrheit der Roma-EU-BürgerInnen lebt, im Durchschnitt schlechter ist als die Situation<br />
der Nicht-Roma, die in ihrer Nähe leben. Roma sind weiterhin von Diskriminierung<br />
betroffen und nicht ausreichend über die Rechte informiert, die ihnen laut EU-Recht<br />
zustehen.<br />
Einige der wichtigsten Ergebnisse:<br />
- Nur 15 % der befragten jungen Erwachsenen unter den Roma haben die<br />
Sekundarstufe II oder eine Berufsausbildung abgeschlossen, im Vergleich zu mehr<br />
als 70 % der in ihrer Nähe lebenden Mehrheitsbevölkerung.<br />
- Im Durchschnitt gehen weniger als 30 % der befragten Roma einer bezahlten<br />
Beschäftigung nach.<br />
- twa 45 % der befragten Roma leben in Haushalten, in denen mindestens eine der<br />
folgenden Grundausstattungen fehlt: Küche, Toilette, Dusche/Bad im Innenbereich<br />
und Stromversorgung.<br />
- Im Durchschnitt leben 40 % der befragten Roma in Haushalten, in denen mindestens<br />
einmal im vergangenen Monat eine Person hungrig zu Bett gehen musste, weil sie<br />
sich kein Essen leisten konnten.<br />
17
5.5. ZWEI ARTIKEL ZUM BEGRIFF „ZIGEUNER“<br />
"Das Wort <strong>Zigeuner</strong> hat mir meine Jugend versaut"<br />
Interview Colette M. Schmidt, DER STANDARD, 30.4.2012<br />
Gitarrist und Komponist Harri Stojka startet eine Fotoaktion gegen Rassismus und spricht<br />
über das umstrittene "Weltwoche"-Cover, rechte Tendenzen und Plastik-Lagerfeuer<br />
STANDARD: Ein Cover der Schweizer "Weltwoche" mit dem Titel "Die Roma kommen" und<br />
dem Bild eines kleinen Buben mit Pistole in der Hand sorgte kürzlich für Aufregung. Haben<br />
Sie es gesehen?<br />
Harri Stojka: Ja. Die Geschichte war ein Wahnsinn. Unglaublich hetzerisch. So etwas habe<br />
ich in den letzten 20 Jahren nirgends gesehen. Ich habe mich gewundert, warum sie nicht<br />
gleich <strong>Zigeuner</strong> statt Roma geschrieben haben. Ich hoffe, es wird Anklage wegen<br />
Verhetzung gegen das Blatt erhoben.<br />
STANDARD: Sie mögen das Wort <strong>Zigeuner</strong> nicht.<br />
Stojka: Mein Vater (Musiker und Autor Mongo Stojka, Anm.) hat Auschwitz--Birkenau<br />
überlebt. Das Z in der Tätowierung auf seinem Arm steht für <strong>Zigeuner</strong>. Ich hasse das Wort.<br />
Es hat mir meine Jugend versaut. Ich habe im Herbst eine Plakataktion gestartet, mit der<br />
wir im Mai weitermachen. Da lassen sich Leute mit einem Schild fotografieren, auf dem<br />
steht: "Ich bin gegen das Wort <strong>Zigeuner</strong>". Es schleicht sich wieder ein - wie in<br />
<strong>Zigeuner</strong>schnitzel. Roma, die das okay finden, verstehe ich nicht.<br />
STANDARD: War der "Weltwoche"-Artikel Auslöser für diese Aktion?<br />
Stojka: Nein. Ich wollte sie schon vor 20 Jahren starten. Aber mir hat damals noch keiner<br />
zugehört. Jetzt hören mir Leute einfach mehr zu, weil ich relativ bekannt geworden bin.<br />
Sie erklären sich solidarisch oder sind gegen mich. Aber ich muss sagen: 99 Prozent sind für<br />
mich und gegen das Wort, weil es rassistisch ist und faschistoid.<br />
STANDARD: Ihre jüngste CD heißt "Gitancoeur d'Europe". Die Wörter Gitanes oder Gypsys<br />
sind okay?<br />
Stojka: Mit diesen Worten bin ich nicht beschimpft worden. Mir geht es um meine<br />
Erfahrung mit dem Wort <strong>Zigeuner</strong> und um das Z in der Tätowierung von meinem Papa. Ich<br />
kenne amerikanische Roma, aber mir hat noch keiner gesagt, dass das Wort Gypsy für ihn<br />
ein Schimpfwort ist.<br />
STANDARD: 1995 wurde der Mordanschlag auf vier Roma in Oberwart verübt. Haben Sie das<br />
Gefühl, dass sich das Klima seither verbessert hat?<br />
Stojka: Ich glaube, dass Franz Fuchs ein Einzeltäter war, auf jeden Fall. Damals war die<br />
Stimmung so, dass es eine riesige Lichterkette gab, eine Demonstration auf dem<br />
Heldenplatz, ein Solidaritätskonzert in der Stadthalle. Ich weiß nicht, ob es heute wieder<br />
so wäre, muss ich ehrlich sagen.<br />
STANDARD: Was verunsichert Sie?<br />
Stojka: Wahrscheinlich negative Zuschriften, die ich im Herbst auf meine Aktion<br />
bekommen habe. Aber ich bin mir nicht ganz sicher. Seit viele Roma aus ehemaligen<br />
18
Ostblockländern zu uns gekommen sind, haben manche wieder mehr Skepsis gegenüber<br />
Roma.<br />
STANDARD: In Graz ist ein Bettelverbot mit dem Argument erlassen worden, bettelnde<br />
Roma seien organisierte Verbrecherbanden - obwohl die Polizei dafür nie Beweise fand.<br />
Stojka: Ich frage mich: Warum fällt ein bettelnder Roma mehr ins Auge als ein<br />
österreichischer Bettler? Es ist ja immer dasselbe. Wenn ein Roma etwas anstellt, waren es<br />
alle Roma. Wenn ein Österreicher etwas macht, hat er das allein gemacht. Dieses Vorurteil<br />
hat nicht aufgehört. Das sind rechte Tendenzen. Wenn ein Roma Scheiße baut, sollen sie<br />
ihn verurteilen wie jeden anderen EU-Bürger auch, aber nicht eine ganze Volksgruppe<br />
verdammen.<br />
STANDARD: Das Projekt Phonart thematisiert auch Minderheitensprachen. Sprechen Sie<br />
Romanes?<br />
Stojka: Nicht fließend. Ich verstehe mehr, als ich sprechen kann. Mein Vater wollte nicht,<br />
dass wir Romanes reden, damit wir nicht als Roma geoutet werden.<br />
STANDARD: Wie geht es Ihnen mit sozialromantischen Klischees?<br />
Stojka: Ich hab mich nie zu einem Plastik-Lagerfeuer im Musikantenstadl hingestellt. Auch<br />
mein Vater hat so etwas abgelehnt. Dieses Klischee zu nähren, finde ich zum Kotzen.<br />
Meine Musik muss immer mit dem zu tun haben, was ich bin und mache. Bei einer Lesung<br />
mit meinem Vater hat mich einmal wer gefragt, ob ich einen Fluchttrieb in mir spüre. Ich<br />
habe geantwortet: nur wenn ich solche Fragen höre. Wir sind kein ziehendes Volk. Ich bin<br />
<strong>Wien</strong>er.<br />
Harri Stojka (55) ist einer der wichtigsten Jazzmusiker Österreichs. Er entstammt der<br />
Lovara-Roma-Dynastie.<br />
"<strong>Zigeuner</strong>" wie "einfallende Heuschrecken"<br />
Redaktion DER STANDARD, 26. Jänner 2006<br />
ZARA: Das Bezirksblatt "NÖ Anzeiger Hollabrunn" verwendet rassistische Sprache – Der<br />
Chefredakteur dementiert: "Tatsachenbericht"<br />
In Hollabrunn machen alljährlich durchziehende Roma/Sinti mit Wohnwägen Station auf<br />
dem Weg zu einem großen Treffen in Ungarn. Bis zu 48 Stunden muss dies geduldet<br />
werden, weiß der Bürgermeister. Der "NÖ Anzeiger Hollabrunn" verwendet in seinen<br />
Berichten über dieses Ereignis seit dem Jahr 2002 jedoch rassistische Sprache, kritisiert<br />
ZARA. Beispielsweise am 28. Juli 2004 in einem Bericht über die "ungebetenen Besucher",<br />
in dem der Redakteur kritisierte, dass eine "Hundertschaft <strong>Zigeuner</strong>", die "leider" nicht<br />
weggewiesen werden könnten, angeblich Dreck hinterlassen und im Supermarkt nicht<br />
zahlen wollen würden<br />
Schon im Jahr 2002 beschwerte sich eine Leserin bei ZARA über einen Artikel desselben<br />
Redakteurs des Bezirksblattes: Damals, am 4. September, wurden die "<strong>Zigeuner</strong>" mit<br />
"einfallenden Heuschrecken" verglichen und ebenfalls eine angeblich "extreme Müll- und<br />
Geruchsentwicklung" bemängelt.<br />
Wortewandel<br />
19
Schon die Verwendung des Begriffes "<strong>Zigeuner</strong>" sei zu kritisieren: "<strong>Zigeuner</strong>", erklärt Verena<br />
Krausneker von ZARA, "ist ein Überbegriff für Roma, Sinti, Lowara und andere. Das Wort<br />
hat sich jedoch – so wie viele andere Bezeichnungen für Gruppen – in seiner Bedeutung<br />
langsam gewandelt. Und zwar zum Negativen."<br />
Wobei nach einer solchen Bedeutungswandlung Personenbezeichnungen einfach nicht mehr<br />
wertfrei zu verwenden seien: "Das Wort 'Weib' empfinden wir ja auch nicht als neutral.<br />
Genauso ist das mit '<strong>Zigeuner</strong>' und 'Neger'. Sie sind negativ besetzt, weil sie von<br />
mörderischen Gruppen und Regimes, nämlich Nazis, Sklavenbesitzern und anderen<br />
Rassisten, verwendet wurden." Wörter könne man nicht außerhalb des historischen<br />
Kontexts verwenden, "wir können nicht ignorieren, dass sie eigentlich Beschimpfungen<br />
sind", betont die Sprachwissenschafterin.<br />
"Nicht bös gemeint"<br />
Oft werde als Rechtfertigung angeführt, dass man den Begriff nicht böse meint, meint<br />
Krausneker. Doch im Zweifel müsse man eben nachfragen: "Wenn man sich dafür<br />
interessiert, wie es beim Anderen ankommt, und respektvoll genug ist, die Wünsche des<br />
Gegenübers ernst zu nehmen, dann erleichtert das die Wortwahl sehr."<br />
Beim Wort "Neger" ist die Sache klar: Bei einer Umfrage des <strong>Wien</strong>er Afrikanisten Erwin<br />
Ebermann unter der schwarzen Community in <strong>Wien</strong> gaben 99 Prozent der Befragten an,<br />
"Neger" sei für sie diskriminierend; 70 Prozent fanden den Begriff verletzend.<br />
Wer was wann zu wem wie sagt<br />
Schwierig werde es dort, wo Gruppenmitglieder sich selbst oder andere mit diesen Wörtern<br />
betiteln. Zum Beispiel kommt "Nigga" in Rap-Texten häufig vor. Doch: "Es macht eben<br />
einen großen Unterschied, wer was in welchem Zusammenhang zu wem wie sagt – das ist<br />
das Schöne aber auch das Schwierige an Sprache!", meint Krausneker. Es macht einen<br />
Unterschied, ob ein Österreicher jemanden einen "Tschuschen" schimpft oder sich eine<br />
Musikgruppe "Tschuschenkapelle" nennt<br />
Kritik an Medien<br />
Generell werde Rassismus häufig über Sprache transportiert: Menschen werden bedroht,<br />
beleidigt, beschimpft, ausgegrenzt. Auch von Medien. Denn diese würden oft schlampig mit<br />
Sprache umgehen, kritisiert Hikmet Kayahan von ZARA: "Wenn Migranten und Migrantinnen<br />
immer nur als Probleme vorkommen, wenn über AusländerInnen immer nur<br />
konfliktgeladene Situationen berichtet wird, dann wird damit ein bestimmtes Abbild der<br />
Realität vermittelt, das einfach nicht den Tatsachen entspricht."<br />
So würden - meist unbedacht, aber manchmal auch absichtlich - Rassismen transportiert<br />
und Vorurteile bestätigt. Das Problem: Um sich in ihrer Meinung bestätigt zu fühlen, reicht<br />
RassistInnen ein einziges negatives Beispiel, um verallgemeinert als Vorurteil auf die ganze<br />
Gruppe übertragen zu werden.<br />
Zahlreiche Beschwerden<br />
Sich um sensible Sprache zu bemühen sollte auch im Interesse der Medien selbst liegen.<br />
Denn, so Kayahan: "Sehr viele Menschen sind sensibel und achten darauf, was und wie in<br />
Medien berichtet wird. Offensichtlicher Rassismus stört viele, aber auch der zwischen den<br />
Zeilen fällt auf." Das zeigen die Beschwerden über Medien und Sprachgebrauch in<br />
österreichischen Medien, die regelmäßig bei der ZARA-Beratungsstelle für Opfer und<br />
ZeugInnen eingehen.<br />
Kayahans Team bietet dann jeweils an, Beschwerden inklusiver detaillierter Erklärungen zu<br />
verfassen und fordert das rassistisch agierende Medium zu einer Stellungnahme auf. Wie im<br />
Rassismus Report 2003 dokumentiert ist, reagieren viele Redaktionen und JournalistInnen<br />
20
auf die Briefe von ZARA. Manche aber auch nicht - wie der NÖ Anzeiger im Bezirk<br />
Hollabrunn. ZARA überlegt daher, eine Beschwerde vor dem Presserat einzureichen.<br />
Keine Auskunft, daher <strong>Zigeuner</strong><br />
Auf Nachfrage von derStandard.at gab der Chefredakteur des NÖ Anzeigers Hollabrunn,<br />
Josef Hess, an, dass für ihn der Begriff "<strong>Zigeuner</strong>" nicht negativ behaftet sei. Zudem hätte<br />
ein Fotoredakteur ohnehin in Erfahrung bringen sollen, ob die Durchreisenden zu den Roma<br />
oder zu den Sinti gehören. Diese wollten ihm jedoch keine Auskunft geben und auch nicht<br />
fotografiert werden, der Fotograf fühlte sich nach Angaben von Hess bedroht. Es gehe ihm<br />
jedenfalls nicht um rassistische Diskriminierung, sondern um einen Tatsachenbericht. (red)<br />
Weiterfürhrender Link: ZARA - Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit<br />
www.zara.or.at<br />
21
IMPULSE ZUR VOR- UND NACHBEREITUNG<br />
BIOGRAFIE-RECHERCHE<br />
Der Monolog „<strong>Zigeuner</strong>-<strong>Boxer</strong>“ ist angelehnt an die Biografie des Sinto Johann „Rukeli“<br />
Trollmann (zu finden auf Seite 12 im vorliegenden Material ).<br />
Schicken Sie Ihre SchülerInnen mit dem Namen Johann „Rukeli“ Trollmann auf eine kleine<br />
Biografie-Recherche ins Internet. Besonders spannend kann es werden wenn die<br />
Jugendlichen nicht bei wikipedia stehenbleiben. Jede/r soll ein für ihn/sie spannendes,<br />
berührendes, beeindruckendes etc. Detail aus der Biografie von Biografie Johann „Rukeli“<br />
Trollmann aufschreiben.<br />
Es ist nett sich in einem Sesselkreis einzufinden und untereinander die interessanten<br />
biografischen Details auszutauschen und zu begründen warum man sich gerade diesen<br />
Aspekt oder dieses Detail der Biografie ausgesucht hat.<br />
ERINNERUNG UND BEGEGNUNGEN<br />
Sich an gestern erinnern<br />
Leiten sie die SchülerInnen mit folgendem Text durch diese Übung. Es geht um ein sich<br />
Erinnern mit allen Sinnen, das sogenannte Sinnesgedächtnis zu schärfen.<br />
Wir sitzen entspannt, mit geschlossen Augen, bewegen langsam alle Körperteile und<br />
werden uns ihrer einzeln bewusst. Nun versuchen wir uns an den gestrigen Abend zu<br />
erinnern. Wir lassen vor unserem inneren Auge alles vorbeiziehen, was gestern abend vor<br />
sich gegangen ist, wir versuchen alle unsere Empfindungen nochmal zu erleben. Wir<br />
erinnern uns an das Hände waschen, versuchen, den Wasserstrahl auf unserer Haut zu<br />
spüren oder wir sehen uns vielleicht durch die Wohnung gehen, bewegen die Beine, die<br />
Arme jede Einzelheit wird ganz deutlich. Wir vergegenwärtigen uns den Geschmack des<br />
Abendessens und bewegen den Mund, die Lippen, die Zunge.<br />
Nun erinnern wir uns an heute morgen. Wie sind wir aufgewacht? Hat uns der Wecker<br />
geweckt? oder eine Stimme? Wir erinnern uns an das Gesicht der ersten Person, die wir<br />
heute früh gesehen haben. Dann an alle Einzelheiten des Zimmers in dem wir geschlafen<br />
haben. Wir sehen uns beim Frühstück, erinnern Gerüche, Farben, Klänge, Geräusche.<br />
Wir erinnern uns an das Zuschlagen der Haustür, an das Verkehrsmittel – U-Bahn, Fahrrad,<br />
Bus, Auto -, die Mitfahrer. An möglichst viele Einzelheuten von körperlichen<br />
22
Empfindungen. Wir erinnern uns: Wo sind wir angekommen? Wie? Was haben wir als erstes<br />
gesehen, welche Stimme haben wir als erstes gehört? Wir stellen uns den Raum vor mit all<br />
seinen Einzelheiten.<br />
Und Schließlich: Wo befinden wir uns jetzt? Wer sitzt neben mir? Wie sind die anderen<br />
gekleidet? Was für Gegenstände gibt es im Raum?<br />
Ich öffne die Augen und vergleiche meine Erinnerung mit der Realität.<br />
Storytelling: Begegnungen<br />
Die Begegnung von Hans und Ruki in „<strong>Zigeuner</strong>-<strong>Boxer</strong>“ ist ein zentrales und folgenschweres<br />
Erlebnis für Hans gewesen. Begegnungen entwickeln sich zu Freundschaften, verändern<br />
sich in unserer Erinnerung, werfen Fragen auf, sind emotional und hinterlassen Spuren.<br />
Lassen Sie die SchülerInnen eine Kurzgeschichte oder auch einen inneren Monolog aus der<br />
Ich-Perspektive schreiben (nicht mehr als eine halbe bis ganze DIN A4 Seite). Es geht um<br />
eine persönliche Erinnerung an eine Begegnung mit einem Menschen in ihrem Leben, die<br />
sie sehr geprägt hat. Es kann eine Momentaufnahme an diese Begegnung sein .<br />
Wie hat dieser Mensch ausgesehen?<br />
Wie habe ich mich gefühlt?<br />
Hat mich dieser Mensch beeindruckt, verstört?<br />
Warum hat diese Begegnung Spuren hinterlassen?<br />
In einem zweiten Schritt schaffen Sie eine entspannte Unterrichtsatmosphäre. Das Erzählen<br />
von Geschichten ist ein soziales Erlebnis, das oft mit körperlicher Nähe (z.B. Sesselkreis)<br />
und mit Anlässen zu gemeinsamen Reaktionen einhergeht. Wichtig, ist den SchülerInnen<br />
vorher zu erklären, den Geschichten der anderen mit Respekt zu begegnen, einander<br />
zuzuhören und die Geschichten so zu nehmen wie sie kommen ohne zu kommentieren. Wer<br />
die vorher verfasste Geschichte nicht vorlesen oder erzählen will – kein Problem. Vielleicht<br />
gibt es einige die ihre Geschichte mit den anderen teilen wollen.<br />
NONVERBALE KOMMUNIKATION<br />
Im Stück „<strong>Zigeuner</strong>-<strong>Boxer</strong>“ ist nicht nur die gesprochene Sprache, der Text des<br />
Schauspielers, Transportmittel der Geschichte, sondern auch die Körperlichkeit, der<br />
Ausdruck, die Mimik und Gestik spielen eine ebenso große Rolle.<br />
Aufwärmübung: Boxen<br />
23
Die SchülerInnen bilden Zweier-Gruppen und simulieren einen Boxkampf. Es darf dabei<br />
nicht gesprochen werden und die Personen berühren sich dabei nicht. Sie zeigen aber<br />
Boxbewegungen und „Treffer“<br />
Nonverbale Kettengeschichte<br />
Ein/e SchülerIn erzählt einem anderen eine Geschichte oder einen Vorfall – in Bildern, nur<br />
mimisch und gestisch – ohne Worte. Der erzählt sie einem dritten, dieser einem vierten<br />
(der nur den dritten beobachtet, nicht den zweiten oder den ersten). Am Schluss werden<br />
alle Varianten mit dem „Originial“ verglichen. Es kann zu sehr amüsanten in vielfacher<br />
Hinsicht aufschlussreichen Fehlinterpretationen kommen.<br />
Variante: Ein/e SchülerIn beginnt eine Geschichte, ein zweiter/eine zweite ergänzt sie um<br />
ein Detail, ein dritter ergänzt sie um ein weiteres Detail usw.<br />
EINGREIFEN UND ZIVILCOURAGE<br />
HANS: Ich habe mich einfach rausgehalten und nichts gesagt. Ruki hat mich angesehen, als<br />
ob er auf etwas warte. Aber gesagt hat er auch nichts.<br />
Über die Reaktionen bzw. fehlenden Reaktionen von Hans auf die Diskriminierungen die<br />
Ruki erfährt kann man sich über das Thema Zivilcourage unterhalten. In einer Demokratie<br />
ist es natürlich oft leichter öffentlich zu zeigen, wenn man mit einem bestimmten<br />
Verhalten nicht einverstanden ist. Das Hans zur Zeit des Nationalsozialismus mit<br />
verheerenden Nachteilen zu rechnen gehabt hätte ist klar. Dennoch beginnt Zivilcourage<br />
im Kleinen und hat auch mit einer gewissen Haltung zu tun, die in der heutigen Zeit oft<br />
fehlt.<br />
Was wäre, wenn<br />
Jede Bühnenhandlung, jede Geschichte enthält zugleich eine andere Handlung, die nicht<br />
stattfindet, eine Gegengeschichte, die die stattfindende Geschichte nicht akzeptiert.<br />
Wichtig ist, sich bewusst zu werden, dass jede Geschichte auch einen anderen Verlauf<br />
nehmen kann das Geschichte umgeschrieben werden kann.<br />
24
Auch in der Geschichte „<strong>Zigeuner</strong>-<strong>Boxer</strong>“ gibt es viele Momente bei denen man sich mit<br />
den SchülerInnen nach Besuch des Stückes die Frage stellen kann: Was wäre wenn die Figur<br />
Hans in dieser oder jener Situation anders gehandelt hätte?<br />
Zivilcourage Trockenübung<br />
Definition Zivilcourage:<br />
Der Begriff Zivilcourage setzt sich aus den beiden Wörtern zivil (lateinisch für bürgerlich)<br />
und courage (französisch für Mut) zusammen und bedeutet mutig menschliche Werte<br />
zu vertreten. Unter den menschlichen Werten verstehen wir beispielsweise<br />
Hilfsbereitschaft, einen fairen Umgang mit unseren Mitmenschen, Ehrlichkeit oder den<br />
Einsatz gegen Mobbing oder Gewalt.<br />
Zivilcourage beweist eine Person, die Schwächere schützt oder ihnen hilft. Zivilcourage<br />
heißt z.B., sich in Schulklassen für Außenseiter und Außenseiterinnen einzusetzen und sie<br />
nicht auszugrenzen. Zivilcourage bedeutet auch, eine Meinung, von der man überzeugt ist,<br />
offen kundzutun, auch wenn man befürchtet, dass man selbst daraus Nachteile erleidet.<br />
Zivilcourage heißt, etwas zu tun, was nicht populär ist, von dem man aber überzeugt ist.<br />
Für die folgende Übung ist es förderlich wenn Sie sich genügend Zeit dafür nehmen (ca. 60<br />
min.). Ziel dieser Übung ist ein erweitertes Verständnis für diskriminierende Übergriffe,<br />
Erkennen von unterschiedlichen Möglichkeiten des Eingreifens und der Grenzen einzelner<br />
Reaktionen.<br />
Teilen Sie die SchülerInnen in drei Gruppen mit der Vorgabe sich eine kurze Szene in einer<br />
speziellen Situation zu überlegen, in der jemand körperlich oder verbal angegriffen wird.<br />
Gleichzeitig sollen sie sich eine Reaktionsmöglichkeit überlegen. Dabei sollte darauf<br />
hingewiesen werden, dass es nicht nur um körperliche Übergriffe geht, sondern auch<br />
Szenen mit rassistischen Witzen oder diskriminierenden Äußerungen.<br />
Folgende Szenarien werden verteilt:<br />
a) In der U-Bahn<br />
b) In der Schulklasse<br />
c) In einem Lokal mit FreundInnen oder Familie<br />
Jede Gruppe hat nur 15 Minuten Zeit, eine solche Szene auszuarbeiten. Die Szenen müssen<br />
nicht perfekt vorbereitet sein, die SchülerInnen sollen nur kurz vorspielen, worum es geht.<br />
Die Szenen werden hintereinander von den Gruppen vorgestellt. Bevor sie ihre eigene<br />
Reaktion präsentieren, wird gestoppt und die anderen TeilnehmerInnen werden gefragt,<br />
25
wie man in einer solchen Situation reagieren kann. Die Vorschläge werden auf einem<br />
Flipchart festgehalten. Danach präsentiert die Gruppe ihre eigene Reaktionsmöglichkeit,<br />
auch diese wird auf dem Flipchart festgehalten. Im Anschluss folgt die nächste Gruppe.<br />
Zum Abschluss werden die vorgeschlagenen Reaktionsmöglichkeiten nochmals besprochen<br />
und ihre Chancen, vor allem aber auch ihre Grenzen (Selbstschutz) diskutiert.<br />
ZUSCHREIBUNGEN UND DISKRIMINIERUNG<br />
HANS. Ich war wütend. Auf die Zeitungsleute, die vom Verein, die Zuschauer. Die hatten<br />
ihm den Namen gegeben. <strong>Zigeuner</strong>-<strong>Boxer</strong> (…) Damals hab ich mich gefragt, warum Ruki für<br />
einen Moment aufhörte zu lächeln, wenn man ihm <strong>Zigeuner</strong>-<strong>Boxer</strong> zurief. Es war mir nicht<br />
in den Sinn gekommen, dass die Leute da draußen etwas anderes meinen könnten, wenn<br />
sie <strong>Zigeuner</strong> sagten. Etwas anderes als ich. Vielleicht etwas, das man nicht hören möchte<br />
wenn man <strong>Zigeuner</strong> ist.<br />
Bis heute zeigt sich gegenüber Sinti und Roma eine Ablehnung. Diese Haltung zeigt sich<br />
ebenso durch Diskriminierung und Dämonisierung der Minderheit wie auch in der<br />
Verklärung des „lustigen <strong>Zigeuner</strong>lebens“. Die gängigen Bilder von „den <strong>Zigeuner</strong>n“, sind<br />
keine realistischen Abbilder lebender Menschen, sondern spiegeln Vorurteile, Ängste und<br />
Wünsche der Mehrheit und werden von ihr auf Sinti und Roma projiziert. Der sogenannte<br />
Antiziganismus (rassistisch begründete Ablehnung von Sinti und Roma) ist im Unterschied<br />
zum Antisemitismus bis heute in allen Schichten gesellschaftsfähig.<br />
Teilen Sie Ihre SchülerInnen in Kleingruppen und geben Sie Ihnen den untenstehenden<br />
Songtext der Austro-Pop Band STS.<br />
Jede/r soll sich den Songtext im Stillen durchlesen und dann in den Kleingruppen sammeln<br />
welches Bild von der Gruppe der „<strong>Zigeuner</strong>Innen“ am Anfang des Textes transportiert wird<br />
am und wie ein Bruch passiert?<br />
Der Sternenhimmel wär mein Zelt<br />
Mei' Heimat wär die ganze Welt<br />
Rassig-braune Frauen in knallig--bunte Röck'<br />
Niemals lang am selben Fleck<br />
Am weißen Strand tät i Flamenco spiel'n<br />
Oder mit an' Tanzbär'n durch die Lande zieh'n<br />
Jede Nacht am Lagerfeuer<br />
26
Jeder Tag ein Abenteuer<br />
A <strong>Zigeuner</strong> möcht i sein<br />
A <strong>Zigeuner</strong> sein, das wär fein<br />
Geheimnisvolle weise alte Frauen<br />
Täten pfeifenrauchend in mei' Zukunft schau'n<br />
Mei' Braut, die mit die großen Ohrring'<br />
Die wär eines Kesselflickers Kind<br />
Und sie tanzert' wild, ganz wild im Pusstawind<br />
A <strong>Zigeuner</strong> möcht i sein<br />
A <strong>Zigeuner</strong> sein, das wär fein<br />
Wenn i a <strong>Zigeuner</strong> wär, wär mei' Welt riesengroß<br />
I tät mit an' Wohnwag'n fahr'n oder mit die Roß<br />
Wenn i a <strong>Zigeuner</strong> wär, wär i alle Sorgen los<br />
Und mei' <strong>Zigeuner</strong>freiheit wär grenzenlos<br />
In Oberwart tät i im Getto leb'n<br />
Gleich hinter'm Sturzplatz, das wär wirklich schön<br />
Im Wirtshaus hörert' i: "Schleich di!<br />
<strong>Zigeuner</strong> kommen da net eina!"<br />
Es heißt <strong>Zigeuner</strong> lüg'n und stehl'n<br />
Sind arbeitsscheu, dafür mit'n Messer schnell<br />
Meine Eltern wär'n vergast word'n im KZ<br />
A <strong>Zigeuner</strong> sein wär wirklich nett<br />
A <strong>Zigeuner</strong> möcht i sein<br />
A <strong>Zigeuner</strong> sein, das wär fein<br />
Wenn i a <strong>Zigeuner</strong> wär, wär mei' Welt riesengroß<br />
I tät mit an' Wohnwag'n fahr'n oder mit die Roß<br />
Wenn i a <strong>Zigeuner</strong> wär, wär i alle Sorgen los<br />
Und mei' <strong>Zigeuner</strong>freiheit wär grenzenlos<br />
Der Liedtext kann auch als Ausgangspunkt genommen werden um über Stereotypisierungen<br />
(Eigenschaften, Verhaltensweisen, die bestimmten Personengruppen zugeschrieben<br />
werden, oft aber verallgemeinernden Charakter haben) und Zuschreibungen zu sprechen.<br />
27
Wo haben wir in unserem Umfeld, Leben mit Stereotypisierungen zu tun? Wo sind wir<br />
davon betroffen?<br />
Wann sind Stereotype hilfreich und wann beginnen sie Menschen zu diskriminieren? Ist die<br />
Realität nicht oft anders als es Stereotypen beschreiben und werden damit vielleicht<br />
Benachteiligungen und Diskriminierungen wie im Falle der Roma und Sinti begründet bzw.<br />
verdeckt?<br />
Anmerkung zum Songtext: Das Lied „<strong>Zigeuner</strong>“der Austropop-Band STS von ihrem 1985 erschienenen<br />
Album „Grenzenlos“. Während der Text anfangs ebenso Stereotypen und Klischees(„rassige Frauen,<br />
Musik, Lagerfeuer etc.)aufgreift, kommt es im zweiten Teil zueinem plötzlichen Bruch und die<br />
Lebensrealität der österreichischen Roma/Romnija<br />
rückt in den Mittelpunkt. Segregation, Diskriminierung, Rassismus werden direkt und ohne<br />
Umschweife angesprochen. Als besonders bemerkenswert muss angeführt werden, dass explizit der<br />
Roma-Holocaust angesprochen wird – und dies zu einem Zeitpunkt als die österreichischen Nicht-<br />
Roma-Gesellschaft über Massenmord an den Roma/Romnija kaum etwas wusste bzw. auch nicht<br />
wissen wollte, wodurch der Liedtext als sehr couragiert bezeichnet werden kann.<br />
28
10. WEITERFÜHRENDE LINKS<br />
Infoquellen Roma und Sinti:<br />
http://fra.europa.eu/fraWebsite/attachments/roma-travellers-factsheet_de.pdf<br />
http://www.amnesty.at/aktiv_werden/jedes_kind_hat_das_recht_auf_bildung_ohne_unter<br />
schied/#1720<br />
http://www.amnesty.at/service_links/presse/pressemitteilungen/roma_gipfel_europa_mu<br />
ss_teufelskreis_der_diskriminierung_durchbrechen/#2146<br />
http://www.coe.int/de/what-we-do/human-rights/roma-and-travellers<br />
http://romani.uni-graz.at/romani/download/files/ling_rom_at_d.pdf<br />
http://www.romano-centro.org<br />
http://www.romanosvato.at<br />
http://www.doew.at/<br />
Infoquellen Zivilcourage, Diskriminierung und Anti-Rassismus<br />
http: //www.zara.or.at<br />
http://www.oegg.de<br />
http://www.eingreifen.de/html/uebungen-zivilcourage-eingreifen.de.html<br />
29