Heimat-Ort der Identität.pdf - Prof. Christoph Mäckler Architekten

„Heimat - Ort der Identität“
(Prof. Christoph Mäckler)
Vortrag gehalten am 17. Juni 2002
„Tag für Denkmalpflege“
Kurhaus Wiesbaden
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Als ich in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre in Berlin-Niederschönhausen mit dem Bau der
Residenz der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR begann, wurde ich
beim Besuch Ostberlins mit unserer deutschen Geschichte zum ersten Mal in ungewöhnlicher Nähe
und Intensität konfrontiert. Mit jedem Schritt, der mich durch diese Stadt führte, fühlte ich mehr von
einem Gestern, das 1945 abgeschlossen schien und für uns damit in weiter Ferne lag und das wir, trotz
der zeitlichen Nähe, nur aus dem Geschichtsbuch kannten. Es war eine mir fremde Vergangenheit, die
sich hier in der Taubenstraße mit ihrem Vorkriegspflaster und den stillgelegten Straßenbahngleisen als
die Vergangenheit meiner eigenen Familie darbot.
Da war die von Einschüssen durchsiebte Natursteinfassade jenes Hauses hinter der Staatsbibliothek
Unter den Linden, die mir jene letzten Tage des Krieges näher zu bringen schien und jenes übrig
gebliebene Fassadenmosaik in der Ruine des WMF-Kaufhauses an der Leipziger Straße, dort wo
meine Mutter seinerzeit die noch heute in Gebrauch befindlichen Schöpfkellen aus einer Art nicht
rostendem Edelstahl gekauft hatte.
Und da waren jene Reste von Kaffeehaustischen und den silbernen Tabletts des alten Café Bauers
Unter den Linden, die wir bei Ausgrabungen für das Lindencorso zu Tage förderten, und das Gebäude
des Reichspropagandaministeriums, dem man den die Welt beherrschenden Reichsadler abgenommen
hatte und wenige Schritte weiter das Reichsluftfahrtministerium Hermann Görings, beide Gebäude
streng bewacht von Volkspolizisten und in ihrer Architektur unnahbar und gerade so erschreckend,
wie man es uns im Studium gelehrt hat. Und als Jahre später die lächerlich dünn wirkenden und nicht
unüberwindbar erscheinenden Einzelteile der Berliner Mauer auf LKWs aus der Stadt gefahren
wurden und am Eingang des ehemaligen Reichsluftfahrtministeriums der Bundesadler zur
Kennzeichnung der Außenstelle des Bundeswirtschaftsministeriums prangte, ließ ich mich spontan auf
meinem Weg zur Ständigen Vertretung in Niederschönhausen von einem Pförtner durch die
Räumlichkeiten, Flure und den großen Sitzungssaal dieses Ministeriums führen, um den Ort in mich
aufzunehmen, an dem knapp 50 Jahre zuvor jener Reichsfeldmarschall Göring zugegen war.
Einem Ort, an dem Entscheidungen gefällt wurden, die das Leben in Europa, vor allem aber auch
unser Leben in Deutschland nach 1945 bis heute tiefgreifend verändern sollten. Lassen Sie mich dieser
persönlichen Erfahrung, die mir unsere jüngste Vergangenheit auf so einfache Weise näher zu bringen
vermochte und mich eintauchen ließ in eine Zeit, die mich bis dahin wie die Zeit eines anderen Landes
anmutete, lassen Sie mich dieser Erfahrung den folgenden Satz Dieter Hoffmann Axthelms
gegenüberstellen: (ich zitiere)
„Ich will wissen, wo Hegel gelebt hat, nicht wie sein Hausflur aussah.“
Dieses Wort steht im Widerspruch meiner persönlichen Erfahrungen, heißt dies doch, dass wir nur die
Fassade und nicht die dahinter liegenden Räume benötigen, oder, dass wir die Geschichte auf eine
Gedenktafel am Ort des Geschehens reduzieren könnten.
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Und um es vorweg zu nehmen: Wenn wir uns mit einem Ort identifizieren wollen, ihn als Teil unserer
Geschichte verstehen und als Teil unseres Zuhauses akzeptieren wollen, benötigen wir mehr als nur
eine Gedenktafel im öffentlichen Raum.
Im Folgenden möchte ich Ihnen drei Häuser des 20. Jahrhunderts vorstellen und den Versuch
unternehmen, deren unter-schiedlichen Wert in Bezug auf die Identifikation mit dem Ort für uns und
nachfolgende Generationen aufzuzeigen.
Da ist zunächst ein rotes Haus auf der Insel Capri, fertiggestellt 1942 von einem gewissen Kurt Erich
Suckert, der sich 1926 mit 28 Jahren das Pseudonym Curzio Malaparte zulegte. Es ist ein Bauwerk,
das weniger durch seine räumliche Disposition als durch seine einmalige Lage auf den Felsklippen der
Insel Capri im Mittelmeer und durch seine dunkelrote Farbe, die unser Auge im klaren Licht der
mediterranen Sonne in Kombination mit dem Azurblau des Wassers begeistert. Und es ist seine Form
mit dem schwanzartig zulaufenden Treppenlauf und einer Geschichte, in der irgendwo Jean-Luc
Godard und Brigitte Bardot und das faschistische Italien unter Mussolini vorkommen.
Dann gibt es als zweites ein weißes Haus in der ehemaligen Tschechoslowakei, 1929 von Mies van
der Rohe in Brünn für Fritz und Grete Tugendhat errichtet, ein Haus an einem steilen Hang in ähnlich
exponierter Lage über der Stadt liegend, mit Blick auf das Schloss Spielberg, ein Haus mit einem
fließenden Raum und der berühmt gewordenen Onyx-Wand und den vernickelten kreuzförmigen
Stahlstützen, ein Haus das zur gleichen Zeit wie der Barcelona Pavillon entstand und für die Moderne
trotzdem ein fast wichtigeres Bauwerk ist, weil es als Wohnhaus konzipiert und genutzt wurde. Ein
Haus, das vor allem durch den Architektennamen und sein architektonisch räumliches Konzept im
Inneren für die Geschichtsschreibung von besonderer Bedeutung ist und in dessen Geschichte der
Flugzeugkonstrukteur Willi Messerschmidt und die Rote Armee eine Rolle spielen.
Als drittes sei ein ockergelbes Haus in Deutschland aus dem Jahre 1951 benannt, dessen Vorbild das
Goethe-Haus aus dem 18. Jahrhundert ist, ein Nachbau, inner-städtisch im Zentrum der Stadt
Frankfurt am Main gelegen, ein ehemaliges Wohnhaus, das, wie das vorbeschriebene rote und weiße
Haus, heute eine Art Museum für interessierte Besucher ist. Ein Haus, das im 18. Jahrhundert als eines
der elegantesten seiner Zeit galt und dies, obwohl im Inneren bis auf ein großzügiges Treppenhaus
architektonisch nichts Bemerkenswertes zu verzeichnen war. Ein Haus, das, anders als das weiße und
das rote Haus, ausschließlich durch den Namen Goethe unter Denkmalschutz gestellt wurde.
Welches der drei Häuser mag für uns nun im Sinne einer Identifikation mit unserer Geschichte das
Bedeutendste sein:
das Rote von Kurt Erich Suckert, Sohn des Deutschen Erwin Suckert und Evelina Perelli,
das Weiße, als Produkt des deutschen Architekten Ludwig Mies van der Rohe, oder das Ockergelbe,
an dessen Ort Johann Wolfgang von Goethe einmal wohnte?
In allen drei Bauwerken, und das ist ihnen gemein, steckt ein Stück deutscher Geschichte.
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In allen drei Bauwerken steckt auch ein gewisser Mystizismus und, jedes für sich genommen, macht
den Ort, an dem es errichtet ist, zu etwas Besonderem, Beachtenswertem und Unverwechselbarem.
Wir lieben das rote Haus als einen Ort der Poesie,
wir schätzen das weiße Haus als Ort der Moderne,
ein Stück kultureller Heimat aber scheint sich mir nur im Ort des ockergelben Hauses wiederzufinden.
Und eben dies macht es uns zum Bedeutendsten der drei Häuser, obwohl es mit Sicherheit das für die
Baukultur uninteressanteste Gebäude ist, ist es doch nur noch der Ort, an dem und nicht das Haus in
dem Goethe einmal lebte.
Nichts in der heutigen Umgebung hatte Goethe mit seinen eigenen Augen sehen können, wurde doch
das gesamte mittelalterliche Zentrum Frankfurts in der Nacht des 22. März 1944, also an Goethes
Todestag, durch Brandbomben vernichtet.
Das Haus selbst, in jener Nacht ebenfalls bis auf die Grundmauern zerstört, ist ein not-dürftig
zusammengezimmertes Nachkriegshaus und nicht einmal das negativ beladene Wort des
„Zusammenzimmerns“ hält bei genauer Betrachtung dem kritischen Urteil des Betrachters stand,
wurden beim Wiederaufbau doch Stahlträger in das Holzfachwerk eingefügt, um die Konstruktion
zum Halten zu bringen.
Und nicht einmal als Goethes Geburtshaus kann man das Gebäude bezeichnen, basiert doch das
heutige Bild auf einem Totalumbau des Jahres 1756, also aus einer Zeit in der Johann Wolfgang als
schon siebenjähriger Bub durch Frankfurts Gassen streifte.
Und auch von dem ursprünglichen Mobiliar des Hauses ist kaum etwas geblieben, war Goethe doch
nach Weimar, seine Mutter aber an die Frankfurter Hauptwache gezogen und das Haus darüber in
Vergessenheit geraten, bis es die Gründer des Freien Deutschen Hochstifts 1859 wieder ins
Bewusstsein ihrer Zeitgenossen rückten.
Und so irren wir durch die Räume des ockergelben Hauses von 1951 und unsere Augen suchen nach
der Authentizität eines verloren gegangenen Ortes. Vielleicht zeigen die Räume etwas von dem, wie es
gewesen sein könnte zu Goethes Zeiten, etwas Zeitgeschichtliches also, aber zeigen sie mehr?
Allein das Foto der Ruine von 1944 gibt uns Gewissheit, dass die ausgetretenen Stufen am Eingang
des Hauses und die beiden rechten Fenster des Erdgeschosses mit ihren Sandsteingewänden und
Gittern Originale sein müssen, es sei denn, man hätte auch sie in deutscher Gründlichkeit beim
Wiederaufbau rekonstruiert.
Ja, wir wollen wissen, wie „Hegels Hausflur“ aussah!
Es ist eben diese Identität eines Ortes, die uns das sichere Gefühl von Tradition vermittelt, auf das
aufbauend wir unsere Zukunft gestalten und nicht ausschließlich das wissenschaftliche Bild einer
scheinbar anonymen Geschichte, einer Geschichte von Vorfahren, die wir nicht als unsere Vorfahren
wahrnehmen.
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Es ist die Identität, die Authentizität des Ortes, dem wir das Gefühl von Tradition, das Gefühl von
einem Zuhause zu entreißen suchen, ein Gefühl, das wir in den letzten
50 Jahren auf unsere eigenen vier Wände beschränkt haben und das im öffentlichen Raum als
„Heimat“ umschrieben war.
Und eben dieser Gedanke von Heimat, von Zuhause, scheint mir, muss zukünftig eine besondere Rolle
im Aufgabenbereich der Architektur und des Städtebaus innehaben. Heimat sei hierbei nicht
verstanden als ein nur emotional auf die Vergangenheit bezogenes, verschwommenes Gefühl, sondern
als inhaltliche Auseinandersetzung um die Gestaltung menschenwürdiger Verhältnisse in unserem
Land, aufbauend auf Vorhandenem, Gebautem und Erlebtem früherer Generationen.
Nicht nur das Einzelgebäude als Zeitzeuge einer besonderen Architektur, eines Stils oder einer
einmaligen Bautechnik, nicht nur das rote, weiße oder ockergelbe Haus sind schützenswert.
In einer Zeit, in der wir jährlich 60 Mio. Tonnen Bauschutt produzieren und in der der Bauherr als
verantwortlich handelnder Hausbesitzer eher zur Ausnahme geworden ist,
in einer Zeit, in der unsere Städte noch immer an den Zerstörungen des Krieges, und schlimmer noch,
an den Folgen des sogenannten „Wiederaufbaus“, der nur scheinbar ein Wiederaufbau war, leiden,
in einer Zeit, in der die Architektur mehr und mehr von anonymen Architekturbüros, den sogenannten
3 Buchstaben-Büros bestimmt wird, deren Qualität sich ausschließlich über die Qualität des
angestellten Mitarbeiters bestimmt,
in einer Zeit, in der dem Gestaltungsbedürfnis des freien Architekten darüber hinaus keine Grenzen
gesetzt sind, in einer solchen Zeit muss der Architektur und dem Städtebau eine andere Rolle
zukommen, eine Rolle, die den baukulturellen Gesamtzusammenhang eines Ortes höher bewertet als
den Einzelbau als Zeitdokument.
Wir benötigen eine Architektur, die sich mehr dem städtischen Ensemble denn der Selbstdarstellung
widmet,
eine Architektur, die sich von scheinbar avantgardistischen Strömungen befreit und sich die
Baugeschichte als Grundlage ihrer Ausformung zu eigen macht, ohne sich stilistisch anzubiedern.
Dabei ist es wichtig, zu erkennen, dass der Moderne eine gesellschaftspolitische Dimension
innewohnt, die eine stilistische Übernahme vergangener Bauepochen grundsätzlich ausschließt.
Auszuschließen dagegen aber sind nicht jene Bauelemente und Konstruktionen, die die Moderne als
unzeitgemäß und damit unzulässig verwarf. Sie zu erforschen und in unsere Zeit der Nachmoderne zu
übersetzen, empfinden wir als eine große Herausforderung.
Und so beschäftigen wir uns seit einigen Jahren mit der Konstruktion unter-schiedlicher Dachformen,
mit Dachgauben, Fenstergewänden, Fensterläden und der Ausbildung von Erkern. Wir versuchen uns
in der Anlage des Vollmauerwerkes mit der Erfahrung, dass komplizierte Fensteranschlüsse,
Hinterlüftungen, Abfangen von Vormauerschalen das aufwändige Unsichtbarmachen von Dehnfugen
entfallen können, wir erforschen die Anmutung des steinmetztechnisch bearbeiteten Natursteins und
die Wirkung verschiedener Steinformate und der unterschiedlichen Verbände des Ziegelmauerwerkes,
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tauschen den Balkon gegen die Loggia, die Aufständerung des Bauwerkes gegen den Arkadenraum
die Stütze gegen die Säule und den Pfeiler und ersetzen den Dreh-/ Kippbeschlag des Fensters durch
den einen einfachen Lüftungsflügel und vieles mehr.
All dies gibt uns die Möglichkeit, differenzierter auf den jeweiligen Ort, an dem neue Architektur
entsteht, einzugehen und in Selbstverständlichkeit zu reagieren.
Von großer Wichtigkeit für die Tradition eines Ortes scheint uns auch die Wahl der Materialien und
deren perfekte Verarbeitung in selbstverständliche Formen zu sein.
Erst sie garantieren Beständigkeit über Generationen und damit eine örtliche Tradition, die öffentlich
wahrgenommen werden kann. Viele unserer europäischen Plätze haben sich in ihrem Äußeren seit
Generationen kaum geändert. Ihr Äußeres hat Tradition, der Ort hat Tradition und er hat eine eigene
Identität, ein Wieder-erkennungswert, der für das Wohlbefinden des Menschen von unmessbarem
Wert ist.
Man kann den Ort der örtlichen Tradition am besten am eigenen Wohnzimmer ablesen. Um sich wohl
zu fühlen, um sich zu Hause zu fühlen, spielt die Beständigkeit der Anordnung des Mobiliars, die
Beständigkeit seiner Farbe, seiner Form und seiner Materialität eine unbedingte Rolle. Kein Mensch
ändert ununterbrochen das Aussehen seines Zuhauses, ohne dass dies eine Auswirkung auf sein
persönliches Wohlbefinden hätte. Lässt sich diese örtliche Tradition über das Wohnzimmer hinaus auf
das Haus, in dem sich das Wohnzimmer befindet, auf die Straße, den Platz oder gar den Ort hin
ausdehnen, steigt das persönliche Wohlbefinden des Stadtbewohners um ein Vielfaches.
Doch während wir auf die Beständigkeit unseres persönlichen Zuhauses selbstverständlich Einfluss
nehmen, scheinen uns die politischen Werkzeuge für die Einflussnahme auf die Beständigkeit der
örtlichen Tradition, der Straße, des Platzes oder gar eines gesamten Ortes zu fehlen.
Sie sind uns abhanden gekommen, weil uns das Bewusstsein für den Wert der Beständigkeit des Ortes,
für den Wert von Hegels Hausflur abhanden gekommen ist.
Obwohl man ohne Mühe die Regeln für den Erhalt und die Alterungsfähigkeit von Bauwerken
aufzuzählen vermag, scheint die Gesellschaft über diese Gesetzmäßigkeiten wenig informiert zu sein.
Wie sonst ließen sich die vielen architektonischen Fehlgriffe in unseren Städten und der Abriss von
nicht einmal 40 Jahre alten Gebäuden erklären?
Während wir dem funktionalen Städtebau unsere ganze Aufmerksamkeit widmen, bleiben die Wahl
und die Verarbeitung des Materials eines Bauwerkes und dessen architektonisches Erscheinungsbild
völlig unberücksichtigt und dies obwohl ein jedes Haus im Zusammenspiel mit den Nachbarhäusern
das städtebauliche Gesamtbild einer Straße oder eines Platzes prägt.
Wir beachten die Höhe eines Hauses, ob eine Fassade aber aus Sandstein, rotem Ziegel, Putz oder aus
Spiegelglas errichtet ist, entzieht sich dem öffentlichen Interesse.
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Man überlässt es vielmehr dem Architekten, seine Vorstellungen frei zu realisieren und überlässt die
städtebauliche Qualität und die Chance, eine örtliche Tradition zu stärken, damit dem Zufall.
Und eben hier kommt der Denkmalpflege eine besondere Rolle zu, denn zumindest an Orten von
historischer Bedeutung sollten wir über Gestaltungssatzungen auf die Integration von Neubauten in
das Ensemble einwirken. Nicht der architektonische Alleingang des Einzelhauses, sondern die
architektonische Gestalt, die sich dem Wohle des Gesamtbauwerkes, des Platzes oder der Straße
einfügt, schafft eine erkennbare Identität. Die Addition der sich einer Gestaltungssatzung
unterordnenden Bauwerke gibt der Gesamtgestaltung dieser Plätze eine gestalterische Kraft, die weit
über die Gestaltungsmöglichkeiten des Einzelbauwerkes hinausgehen.
Das Einzelbauwerk profitiert damit also vom Gesamterscheinungsbild des Platzes.
Und die Geschichte, die die Tradition dieses Platzes bis heute bestimmte, bildet die Grundlage der
aufzustellenden Gestaltungskriterien.
Die Gestaltungssatzung ist ein politisches Instrument, das die bisherigen Baugesetze ergänzt und
erweitert und Stadtparlamente in die Lage versetzt, fachlich fundierte Entscheidungen im Bereich des
Städtebaus zu treffen.
In einer Zeit, in der die Tradition der Platzgestaltung, wie wir sie seit Jahrhunderten in Europa kennen,
in Vergessenheit zu geraten droht, liegt es im Interesse des Gemeinwohls, die Idee der übergreifend
einheitlichen Gestaltung in einer Stadt wieder aufzugreifen und die vorhandenen historischen
Strukturen vor einer weiteren Zerstörung zu schützen.
Die Gestaltungssatzung ist zunächst also ein Schutz der Interessen des Gemeinwesens Stadt und ein
Instrument, das europäische Städte in ihrer Geschichte bis ins 19. Jahrhundert angewandt haben.
Im Baustatut der Stadt Frankfurt am Main aus dem Jahre 1809 ist zu lesen, ich zitiere:
„dass jemand, der aus Liebe zum Sonderbaren oder aus Eigensinn seinem Gebäude eine solche
Fassade geben wollte, durch welche ein offenbarer Missstand entstehen und die gemeine Straße
verunziert werden würde, zu der Ausführung die Erlaubnis versagt werden soll“.
Gestaltungssatzungen sind ein Regulativ, wie wir es aus anderen Lebensbereichen unserer
demokratischen Gesellschaft kennen und gesetzlich verankert haben. Architekten, die sich einer
Gestaltungssatzung wortreich verwehren, müssen sich die Frage stellen lassen, welchen Wert sie dem
Gemeinwohl in unserer Gesellschaft zuordnen. Eine Architekturausbildung, die Architekten
hervorbringt, die nur mit „ihrem Beton“, „ihrem Klinker“ oder „ihrer Glashaut“ umzugehen verstehen,
sollte man von Bauaufgaben innerhalb städtischer Ensembles fernhalten.
Allerdings dürfen wir nicht verkennen, dass unsere eigene Ausbildung und die unserer Studenten fast
ausschließlich dem Entwurf gewidmet war und ist, und es wird einige Zeit benötigen, bis wir die
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Tragweite dieser verfehlten Ausbildung erkannt und geändert haben werden. Ändern aber werden wir
sie nur, wenn die Gesellschaft ihren bereits unüberhörbaren Unmut dazu nutzt, auf die Politik unseres
Landes einzuwirken.
Sind wir wirklich Nostalgiker, die wir unsere Zukunft mit Vergangenem verbinden wollen, um unsere
eigene Kultur damit in selbstverständlicher Kontinuität fortschreiben zu können? Ich glaube nicht,
aber wir könnten als Architekten zu nostalgischem Gehabe gezwungen werden, wenn wir die
Unzufriedenheit in unserer Gesellschaft weiter ignorieren.
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