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6<br />
<strong>Kirchen</strong><strong>musikalische</strong> <strong>Mitteilungen</strong> Juli 2013<br />
Schwerpunktthema<br />
7<br />
D A S K I R C H E N L I E D –<br />
22) Vgl. Hermann<br />
Ühlein, <strong>Kirchen</strong>lied<br />
und Textgeschichte.<br />
Literarische Traditionsbildung<br />
am Beispiel<br />
des deutschen<br />
Himmelfahrtsliedes<br />
von der Aufklärung<br />
bis zur Gegenwart,<br />
Würzburg 1995,<br />
S. 278.<br />
23) Vgl. Hermann<br />
Ühlein, ebd., S. 279.<br />
24) Kurzke.<br />
tarisiert wird, haben wir Zeit, dem einzelnen<br />
Wort und seinen Auslösungen<br />
in uns viel mehr Zeit zu geben, wir können<br />
ihm viel mehr nachlauschen. So<br />
prägen sich eher einzelne Wörter oder<br />
Satzstücke ein als weite Zusammenhänge.<br />
Aus poetologischer Perspektive<br />
ist bei der Textbearbeitung ernst zu<br />
nehmen, dass <strong>Kirchen</strong>lieder in actu<br />
Gesänge sind. Für die Realisierung des<br />
Textes ergeben sich daraus Konsequenzen<br />
von eminenter Bedeutung:<br />
„Im Singen spielt der reflektierende<br />
Verstand eine untergeordnete oder gar<br />
keine Rolle“ (Ph. Harnoncourt – Die<br />
Wirkmacht der Töne ist größer als die<br />
der Worte). Hinzu kommt, dass der<br />
„Text durch das Singen fragmentarisiert<br />
wird“ (Hermann Kurzke).“ 22) Der<br />
Gesang „atomisiert“ die Texte; sie zerfallen<br />
in lexikalische Moleküle, und<br />
bisweilen sind es nur diese, die Bedeutung<br />
und Sinn eines Liedes <strong>für</strong> den<br />
einzelnen ausmachen oder gar eine individuelle<br />
Vorliebe begründen. An den<br />
Text eines <strong>Kirchen</strong>liedes sind von daher<br />
besondere sprachliche Anforderungen<br />
zu stellen. Um im Vollzug sinnstiftend<br />
zu werden, das heißt, spirituelle<br />
Valenz zu erreichen, muss der<br />
Text die „Atomisierung“ ermöglichen<br />
und zugleich aushalten. Ermöglichen<br />
wird er sie, wenn das einzelne Wort,<br />
das syntaktische Fragment, der herausgelöste<br />
Vers unabhängig vom<br />
innertextuellen Zusammenhang in der<br />
Lage sind, ein semantisches Eigenleben<br />
zu führen. Er wird sie aushalten,<br />
wenn Motive und Themen über sprachliche<br />
Referenzen miteinander verwoben<br />
sind, und sich gegenseitig (immer<br />
wieder neu und anders) interpretieren,<br />
wenn ein vielschichtiges Konnotationsnetz<br />
vorhanden ist. (Anders gesprochen:<br />
Die Worte müssen in ihrer<br />
Atomisierung etwas miteinander zu<br />
tun haben). Diesem hohen poetologischen<br />
Anspruch kann auf der Ebene<br />
der Redeformen bildliches Sprechen<br />
am ehesten gerecht werden. Metaphorische<br />
Redeweise ist konkret und eigenständig,<br />
zugleich aber instabil und<br />
in der Schwebe; sie gibt Anstoß, legt<br />
aber nicht fest; sie ist weder eindeutig<br />
noch beliebig interpretierbar. Das Analogon<br />
zur Metapher auf der strukturellen<br />
Ebene eines Textes bildet das<br />
Verhältnis von Leerstellen und Bestimmtheitsstellen.23)<br />
Es gibt Versabschnitte,<br />
da reimt sich es halt, da löst<br />
sich die Dichtheit der theologischen<br />
Aussage plötzlich etwas auf. Kurzke:<br />
„Bestimmtheitsstellen sind Worte,<br />
Wendungen, Bilder, grammatische<br />
Strukturen, Sätze oder Strophen, die<br />
einen eindeutig festgelegten Sinn haben.<br />
Leerstellen sind Worte, Wendungen,<br />
Bilder, grammatische Strukturen,<br />
Sätze oder Strophen, deren Sinn nicht<br />
eindeutig ist, bei denen also erst der<br />
Leser oder Sänger über die inhaltliche<br />
Füllung der Sprachhülse entscheidet.<br />
Ein Lied sollte genug Leerstellen enthalten,<br />
damit <strong>für</strong> die Realisierungsaktivität<br />
durch den jeweiligen Leser/Sänger<br />
Raum bleibt. An Leerstellen springt<br />
seine Phantasie, sein Denken sein<br />
Glauben in die Sprachhülse. Es sollte<br />
aber auch genügend Bestimmtheitsstellen<br />
enthalten, damit Kristallisationskeime<br />
<strong>für</strong> eine Realisierung da<br />
sind und das Verschwimmen ins Beliebige<br />
verhindert wird“.24)<br />
Von den Sprachformen theologischer<br />
Reflexion<br />
Hinsichtlich der Erstellung von Liedtexten<br />
liegt eine „Spannung“ hinsichtlich<br />
des Produktionsprozesses in der Natur<br />
der Sache. Ein Theologe entwirft einen<br />
Text, weil er erfüllt ist von einer<br />
theologischen Botschaft, die er an den<br />
Mann, an die Frau bringen will. Dabei<br />
ist die poetische Struktur, die literari-<br />
O R T D E R T H E O L O G I E ?<br />
25) Vgl. Hermann<br />
Ühlein, ebd., S. 279.<br />
26) Vgl. Hermann<br />
Ühlein, ebd., S. 282.<br />
27) Vgl. Hermann<br />
Ühlein, Das neue<br />
geistliche Lied. Versuch<br />
einer Bestandsaufnahme.<br />
Aspekte<br />
einer Kriteriologie,<br />
in: Hermann Kurzke,<br />
Hermann Ühlein<br />
(Hgg.), <strong>Kirchen</strong>lied<br />
interdisziplinär.<br />
Hymnologische Beiträge<br />
aus Germanistik,<br />
Theologie und<br />
Musikwissenschaft,<br />
Frankfurt am Main<br />
1999, S. 77.<br />
28) Vgl. Ansgar<br />
Franz, a.a.O., S. 183.<br />
sche Gestalt dieses Textes ganz entscheidend,<br />
ob sie Eingang finden kann<br />
in eine <strong>musikalische</strong> Struktur.25)<br />
So stellt sich die Spannung zwischen<br />
drei Sprachformen, in denen theologische<br />
Reflexion geschieht:<br />
1. die diskursive Sprachform – sie<br />
prägt die Sprache der systematischen<br />
Theologie<br />
2. die lehramtliche Sprachform im<br />
Sinne einer autoritativ-definitorischen<br />
Auslegung<br />
3. die metaphorische Sprachform: Sie<br />
ist die poetische Sprachform innerhalb<br />
der Theologie und findet sich in<br />
den biblischen Gesängen, Geschichten<br />
und Gleichnissen. Wer pri mär die<br />
„theologisch richtige Aussage“ eines<br />
Liedes im Sinn hat, sollte sich<br />
über zwei Dinge im Klaren sein: Er<br />
muss vorgangig zu jeglicher Liedbearbeitung<br />
wissen, was richtig ist, und<br />
er braucht den dem Richtigen angemessenen<br />
sprachlichen Ausdruck.<br />
Es wird ihm eher um die „Verständlichkeit“<br />
eines Inhaltes als um die<br />
Möglichkeiten seiner sprachlichen<br />
Vermittlung gehen; er wird der<br />
Mehrdeutigkeit der Sprache misstrauen<br />
und das eindeutige Wort suchen.<br />
Ein solcherart akzentuierter<br />
Kriterienkatalog führt zwangsläufig<br />
zur Diskreditierung der metaphorischen<br />
Sprachform.26)<br />
Daraus folgt <strong>für</strong> die Lieddichtung: Ein<br />
Lied hat dann die besten Chancen, als<br />
„geistliches“ Lied verinnerlicht zu werden,<br />
wenn es bildhaft und metaphernreich<br />
ist, wenn es also aus sprachlichen<br />
Elementen besteht, die so etwas<br />
wie ein Eigenleben entwickeln<br />
können, auch wenn sie aus einem Satz<br />
herausgelöst werden. Metaphern, also<br />
sprachliche Bilder, setzen in singenden<br />
und hörenden Menschen etwas in<br />
Gang, das geistliche Innenleben kann<br />
mit ihnen etwas anfangen, immer wieder<br />
aufs Neue.27)<br />
Da bei Liedern der emotional-affektive<br />
Zugang im Vordergrund steht (die musikalisch-melodische<br />
Gestalt dominiert<br />
über die textliche), sollte von Zeit zu Zeit<br />
auch die kognitive Dimension hervorgehoben<br />
werden, will man der Bedeutung<br />
des Liedes als eines liturgischen Textes<br />
gerecht werden (gottesdienstliches Singen<br />
ist mehr als Feeling).28)<br />
Nicht das mechanische Abspulen von<br />
Liedern wird auf Dauer genügen, sondern<br />
wir müssen uns auch kognitiv mit<br />
den Inhalten des Liedes auseinandersetzen<br />
und diese in Liedpredigten entfalten.<br />
Aktualität der Sprache und Liturgie<br />
Ein Lied vergegenwärtigt Grunderfahrungen.<br />
Auf dem Wege symbolischer<br />
Repräsentation stellt es Übereinstimmung<br />
her zu dem, was die einzelnen<br />
Christen in persönlicher Tiefe schon erfahren<br />
haben oder zu erfahren hoffen.<br />
Von Liedtextern heutiger Zeit wird immer<br />
wieder verlangt, dass ihre Aussagen<br />
aktuell sein müssen, up to date,<br />
dass sie Inhalte verwenden, die wir in<br />
der Zeitung lesen, in der Tagesschau<br />
hören. Im Zusammenhang dieser Herausforderung<br />
prägte Jürgen Henkys einen<br />
Begriff, der uns als Musiker sehr<br />
vertraut ist. Es ist der Begriff „Tönung“.<br />
Die Forderung, dass typische Gegenwartserfahrungen<br />
des Glaubens in<br />
herkömmlichen Liedern nicht zureichend<br />
artikuliert werden können, darf<br />
nicht missverstanden werden. Es<br />
kommt nicht auf Aktualität im publizistischen<br />
Sinne an, sondern eben auf<br />
menschliche Grunderfahrungen in ihrer<br />
Tönung durch Situationen der