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Kolumne<br />

Die Explosion der freien Sicht<br />

Von Anno Bergmann<br />

Die Geschichte der Freiheit ist lang und untrennbar an die Geschichte<br />

der Sprache gebunden. In Jahrtausenden erlernen die<br />

Sprachteilnehmer neue Mittel des Ausdrucks: Was gestern als<br />

undifferenzierte Geste beginnt, ist heute audiovisuell dekodierte<br />

Zeichensequenz auf mobilen Endgeräten. Was vorgestern den<br />

Neandertaler überfordert, ist übermorgen interaktiver Kommunikationsstandard,<br />

den bereits Grundschüler souverän handhaben.<br />

Die Geschichte der Sprache und ihrer Teilnehmer ist auch eine<br />

Geschichte der Entbindung und Auslagerung. Die Technik der<br />

Schrift entbindet ihre Nutzer der überlebenswichtigen Strategie<br />

der Erinnerung, und lagert diese in die neue Technik, den Text, aus.<br />

Die Technik des bewegten Bildes verlagert die Imagination innerer<br />

Bilder, die Intuition auf die Leinwand. Jede neue Kompetenz im<br />

Ausdruck entbindet, d.h. befreit, ihre Nutzer von Notwendigkeiten<br />

und überführt diese in den Modus der Möglichkeit. Nach wie vor<br />

erinnern wir uns oder besitzen Fantasie; aber zunehmend weniger<br />

im Modus der Notwendigkeit. Wir alle können mit der Hand<br />

schreiben, Tastaturen entbinden uns jedoch der Pflicht handschriftlich<br />

kommunizieren zu müssen. Freiheit ist die technisch verfügte<br />

Verlagerung des Müssens ins Können.<br />

Wenn aus Müssen Können wird, bedarf es der Orientierung.<br />

Schließlich müssen im Modus optionaler Vielfalt eindeutige<br />

Bewegungen gefunden werden, da Geschichte andernfalls nicht<br />

erzählt werden kann, ihre Teilnehmer teilnahmslos bleiben. Daher<br />

erfindet sich die Geschichte der Freiheit einen Motor, dessen<br />

Treibstoff der sprachliche Wert ist. Der Motor, das ist die Kultur.<br />

Im Bauplan des Motors, diesem fragilen Komplex sprachlich kodierter<br />

Werte, tritt ein formaler Widerspruch zu Tage. Das Wesen<br />

der Sprache besteht darin, eine sinnstiftende Kombination zeitgleicher<br />

Werte und Nicht-Werte sein zu müssen: Wenn wir „Wir“ sagen,<br />

meinen wir auch „Nicht-Ihr“, und implizieren Weite und Differenz in<br />

der Gleichzeitigkeit von Wert und Nicht-Wert, zwischen „Uns“ und<br />

„Nicht-Euch“. Die Möglichkeit gleichzeitiger Zeichen suggeriert die<br />

Gleichzeitigkeit des Bezeichneten. Doch das Bezeichnete existiert<br />

vor oder nach, niemals in den Zeichen. Wir und Ihr, Du und ich –<br />

wir bleiben im Modus der Hoffnung hoffnungslos Getrennte: Der<br />

formale Widerspruch von Freiheit ist der, dass wir im Status des<br />

Könnens das Nicht-Können können müssen.<br />

Dieser Widerspruch vermag Unfrieden zu stiften, führt zu Missverständnis<br />

und Missbrauch – sofern man die Mühen um dieses letzte<br />

Müssen der Freiheit, die Hingabe an Weite und Differenz, einzugehen<br />

nicht bereit ist. Das Nicht-Können können müssen zu wollen<br />

bedeutet hingegen, die Leistungsgrenzen des Motors anzunehmen<br />

und zu respektieren.<br />

Bleibt dieser Respekt aus, folgt dem formalen zwangsläufig der<br />

inhaltliche Widerspruch, der vorübergehend für mediale Empörung<br />

sorgt. Wenn beispielsweise Geheimdienste im Namen der Freiheit<br />

nicht nur Glasfaserkabel, sondern auch das naive Vertrauen der<br />

Nutzer jener Kabel anzapfen. Wenn Freiheit ihre Teilnehmer des<br />

Risikos entbindet, im „Aufklärungsflug“ über andere Codes hinweg,<br />

Leib und Seele unmittelbar beanspruchen zu müssen. Wenn Freiheit<br />

zum bloßen Verfügungsakt über Raum und Zeit zu werden droht,<br />

auf dass mehr oder weniger wichtige Informationen kodiert und<br />

andernorts dekodiert werden können. Wenn Freiheit Tränengas<br />

zum souveränen Wert erhebt (weil man die Mühen des Dialogs<br />

scheut) und in der Bildschirmdiagonale mobiler Endgeräte bequem<br />

Platz findet.<br />

Dann missversteht, nein, missbraucht Freiheit den Bauplan der<br />

eigenen Motorik. Dann schneidet Freiheit ihren Teilnehmern die<br />

Sprache, die Kraft von Frage und Antwort ab. Aus Teilnehmern<br />

werden, Scheibe um Scheibe, normgerechte Nehmer, Nutznießer,<br />

gerade kompetent genug, sich zu Schwärmen formieren zu können,<br />

nein, zu dürfen. Spätestens dann verzweifelt Freiheit daran, das<br />

Nicht-Können können zu müssen.<br />

Die Geschichte der Freiheit droht damit, rasch in die bequemste<br />

aller Zielgeraden einzubiegen, entlang des gegenstandslosen<br />

Tugendwahns absoluter Identität, vorbei am paranoiden Totentanz<br />

nicht erinnerbarer Fragen und Antworten, hinein ins Feuerwerk<br />

gewesener Imagination.<br />

Irgendwann oder vielleicht, nach der Zerschlagung von Weite und<br />

Differenz, der Explosion der freien Sicht, dem Zauber der Sprache.<br />

Poesie allen Seins.

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