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18<br />
Kolumne<br />
Die Explosion der freien Sicht<br />
Von Anno Bergmann<br />
Die Geschichte der Freiheit ist lang und untrennbar an die Geschichte<br />
der Sprache gebunden. In Jahrtausenden erlernen die<br />
Sprachteilnehmer neue Mittel des Ausdrucks: Was gestern als<br />
undifferenzierte Geste beginnt, ist heute audiovisuell dekodierte<br />
Zeichensequenz auf mobilen Endgeräten. Was vorgestern den<br />
Neandertaler überfordert, ist übermorgen interaktiver Kommunikationsstandard,<br />
den bereits Grundschüler souverän handhaben.<br />
Die Geschichte der Sprache und ihrer Teilnehmer ist auch eine<br />
Geschichte der Entbindung und Auslagerung. Die Technik der<br />
Schrift entbindet ihre Nutzer der überlebenswichtigen Strategie<br />
der Erinnerung, und lagert diese in die neue Technik, den Text, aus.<br />
Die Technik des bewegten Bildes verlagert die Imagination innerer<br />
Bilder, die Intuition auf die Leinwand. Jede neue Kompetenz im<br />
Ausdruck entbindet, d.h. befreit, ihre Nutzer von Notwendigkeiten<br />
und überführt diese in den Modus der Möglichkeit. Nach wie vor<br />
erinnern wir uns oder besitzen Fantasie; aber zunehmend weniger<br />
im Modus der Notwendigkeit. Wir alle können mit der Hand<br />
schreiben, Tastaturen entbinden uns jedoch der Pflicht handschriftlich<br />
kommunizieren zu müssen. Freiheit ist die technisch verfügte<br />
Verlagerung des Müssens ins Können.<br />
Wenn aus Müssen Können wird, bedarf es der Orientierung.<br />
Schließlich müssen im Modus optionaler Vielfalt eindeutige<br />
Bewegungen gefunden werden, da Geschichte andernfalls nicht<br />
erzählt werden kann, ihre Teilnehmer teilnahmslos bleiben. Daher<br />
erfindet sich die Geschichte der Freiheit einen Motor, dessen<br />
Treibstoff der sprachliche Wert ist. Der Motor, das ist die Kultur.<br />
Im Bauplan des Motors, diesem fragilen Komplex sprachlich kodierter<br />
Werte, tritt ein formaler Widerspruch zu Tage. Das Wesen<br />
der Sprache besteht darin, eine sinnstiftende Kombination zeitgleicher<br />
Werte und Nicht-Werte sein zu müssen: Wenn wir „Wir“ sagen,<br />
meinen wir auch „Nicht-Ihr“, und implizieren Weite und Differenz in<br />
der Gleichzeitigkeit von Wert und Nicht-Wert, zwischen „Uns“ und<br />
„Nicht-Euch“. Die Möglichkeit gleichzeitiger Zeichen suggeriert die<br />
Gleichzeitigkeit des Bezeichneten. Doch das Bezeichnete existiert<br />
vor oder nach, niemals in den Zeichen. Wir und Ihr, Du und ich –<br />
wir bleiben im Modus der Hoffnung hoffnungslos Getrennte: Der<br />
formale Widerspruch von Freiheit ist der, dass wir im Status des<br />
Könnens das Nicht-Können können müssen.<br />
Dieser Widerspruch vermag Unfrieden zu stiften, führt zu Missverständnis<br />
und Missbrauch – sofern man die Mühen um dieses letzte<br />
Müssen der Freiheit, die Hingabe an Weite und Differenz, einzugehen<br />
nicht bereit ist. Das Nicht-Können können müssen zu wollen<br />
bedeutet hingegen, die Leistungsgrenzen des Motors anzunehmen<br />
und zu respektieren.<br />
Bleibt dieser Respekt aus, folgt dem formalen zwangsläufig der<br />
inhaltliche Widerspruch, der vorübergehend für mediale Empörung<br />
sorgt. Wenn beispielsweise Geheimdienste im Namen der Freiheit<br />
nicht nur Glasfaserkabel, sondern auch das naive Vertrauen der<br />
Nutzer jener Kabel anzapfen. Wenn Freiheit ihre Teilnehmer des<br />
Risikos entbindet, im „Aufklärungsflug“ über andere Codes hinweg,<br />
Leib und Seele unmittelbar beanspruchen zu müssen. Wenn Freiheit<br />
zum bloßen Verfügungsakt über Raum und Zeit zu werden droht,<br />
auf dass mehr oder weniger wichtige Informationen kodiert und<br />
andernorts dekodiert werden können. Wenn Freiheit Tränengas<br />
zum souveränen Wert erhebt (weil man die Mühen des Dialogs<br />
scheut) und in der Bildschirmdiagonale mobiler Endgeräte bequem<br />
Platz findet.<br />
Dann missversteht, nein, missbraucht Freiheit den Bauplan der<br />
eigenen Motorik. Dann schneidet Freiheit ihren Teilnehmern die<br />
Sprache, die Kraft von Frage und Antwort ab. Aus Teilnehmern<br />
werden, Scheibe um Scheibe, normgerechte Nehmer, Nutznießer,<br />
gerade kompetent genug, sich zu Schwärmen formieren zu können,<br />
nein, zu dürfen. Spätestens dann verzweifelt Freiheit daran, das<br />
Nicht-Können können zu müssen.<br />
Die Geschichte der Freiheit droht damit, rasch in die bequemste<br />
aller Zielgeraden einzubiegen, entlang des gegenstandslosen<br />
Tugendwahns absoluter Identität, vorbei am paranoiden Totentanz<br />
nicht erinnerbarer Fragen und Antworten, hinein ins Feuerwerk<br />
gewesener Imagination.<br />
Irgendwann oder vielleicht, nach der Zerschlagung von Weite und<br />
Differenz, der Explosion der freien Sicht, dem Zauber der Sprache.<br />
Poesie allen Seins.