Die Kunst der Hypothesenbildung – Objektive Hermeneutik in der ...
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Rubrik<br />
<strong>Die</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>der</strong> <strong>Hypothesenbildung</strong> <strong>–</strong> <strong>Objektive</strong><br />
<strong>Hermeneutik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> krim<strong>in</strong>alistischen Praxis<br />
von Marcus Stewen, KK, LR Rhe<strong>in</strong>-Erft-Kreis, ZKB, KK 11<br />
Mitglied <strong>der</strong> Deutschen Gesellschaft für Krim<strong>in</strong>alistik<br />
Ich möchte mich ganz beson<strong>der</strong>s bei Herrn Dr. Thomas Ley, FhöV Thür<strong>in</strong>gen,<br />
für die freundliche und tatkräftige Unterstützung bedanken.<br />
Qualität und Erfolg <strong>der</strong> e<strong>in</strong>geleiteten Maßnahmen hängen vom Erkennen und richtigen Bewerten <strong>der</strong> vorhandenen Informationen<br />
ab. Unser gesamtes Repertoire an Ermittlungstaktiken, Untersuchungs- und Interventionsmöglichkeiten<br />
kann erst dann wirklich zielgerichtet e<strong>in</strong>gesetzt werden, wenn wir den vorliegenden Befund richtig deuten. Umso erstaunlicher<br />
ist, wie wenig dieser Aspekt krim<strong>in</strong>alpolizeilichen Denkens, die Beurteilung unterschiedlichster Sachverhalte<br />
bzw. <strong>Hypothesenbildung</strong> thematisiert wird. E<strong>in</strong> Nachdenken darüber, warum, unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen und<br />
mit welchen Anteilen Intuition, Genauigkeit, Entschlusskraft, Fachwissen, Berufserfahrung und <strong>der</strong> gezielte E<strong>in</strong>satz<br />
von Methodik, zum Ermittlungserfolg führen können, f<strong>in</strong>det so gut wie nicht statt.<br />
Warum s<strong>in</strong>d Kenntnisse zur<br />
<strong>Objektive</strong>n <strong>Hermeneutik</strong> wichtig?<br />
<strong>Die</strong> polizeiliche Praxis muss nun schon<br />
seit Jahren ertragen, dass Fachbegriffe<br />
aus <strong>der</strong> Wirtschaft mehr o<strong>der</strong> weniger reflektiert<br />
auf sie übertragen werden. Nun<br />
e<strong>in</strong> Begriff aus <strong>der</strong> Soziologie <strong>–</strong> <strong>Objektive</strong><br />
<strong>Hermeneutik</strong>? Bei den meisten Praktikern<br />
dürfte die Überschrift dieses Artikels vermutlich<br />
eher e<strong>in</strong>e ablehnende Haltung<br />
verursachen. Möglicherweise ist das auch<br />
den Verantwortlichen beim BKA bewusst,<br />
die die Erkenntnisse <strong>der</strong> <strong>Objektive</strong>n <strong>Hermeneutik</strong><br />
(OH) bei <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> OFA<br />
<strong>Die</strong>nststellen nutzten, um e<strong>in</strong>e eigenständige,<br />
theoretisch fundierte Methode <strong>der</strong><br />
Fallanalyse zu entwickeln. Auch im Rahmen<br />
<strong>der</strong> Analyse von Bedrohungslagen,<br />
Erpresserschreiben und <strong>der</strong> Entwicklung<br />
e<strong>in</strong>es erweiterten Auswertebegriffes werden<br />
Überlegungen aus dem Bereich <strong>der</strong><br />
<strong>Objektive</strong>n <strong>Hermeneutik</strong> genutzt, ohne<br />
die Methodologie selbst zu propagieren.<br />
Dass ich diesen Begriff nun so <strong>in</strong> den<br />
Vor<strong>der</strong>grund rücke, geschieht nicht, um<br />
Marcus Stewen, KK,<br />
LR Rhe<strong>in</strong>-Erft-Kreis,<br />
ZKB, KK 11,<br />
Mitglied <strong>der</strong> Deutschen<br />
Gesellschaft für Krim<strong>in</strong>alistik<br />
<strong>der</strong> krim<strong>in</strong>alistischen Praxis etwas Artfremdes<br />
überzustülpen, son<strong>der</strong>n um e<strong>in</strong>e<br />
fundierte Diskussion über e<strong>in</strong>en Aspekt<br />
krim<strong>in</strong>alistischen Handelns zu ermöglichen,<br />
<strong>der</strong> <strong>der</strong>zeit me<strong>in</strong>es Erachtens vernachlässigt<br />
wird. Sogar im Rahmen <strong>der</strong><br />
Fachhochschulausbildung werden geisteswissenschaftliche<br />
Überlegungen überwiegend<br />
schlaglichtartig und ohne <strong>in</strong>neren<br />
Zusammenhang präsentiert 1 , was zur<br />
Folge hat, dass <strong>der</strong> Kern unseres späteren<br />
Handelns, die eigene Hypothesen- und<br />
Entschlussbildung, nur eher checklistenartig<br />
Berücksichtigung f<strong>in</strong>det.<br />
1 mit Ausnahme <strong>der</strong> polizeilichen Fachhochschulausbildung<br />
<strong>in</strong> Thür<strong>in</strong>gen, vgl. Ley 2004: <strong>Objektive</strong><br />
<strong>Hermeneutik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Polizeiausbildung. Berl<strong>in</strong>:<br />
Duncker & Humblot; und Würstl 2004: Analyse e<strong>in</strong>es<br />
Erpresserschreibens. Frankfurt am Ma<strong>in</strong>: Verlag<br />
für Polizeiwissenschaft<br />
Me<strong>in</strong>es Erachtens s<strong>in</strong>d <strong>der</strong>artige Überlegungen<br />
jedoch geboten, denn durch e<strong>in</strong>e<br />
ständig wachsende Anzahl von Ermittlungs-<br />
und Analysemöglichkeiten und vor<br />
dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> sich ausdifferenzierenden<br />
Krim<strong>in</strong>alitätsphänomene kommt<br />
es um so mehr darauf an, fallorientiert die<br />
effektiven und effizienten Vorgehensweisen<br />
zu bestimmen. Es reicht eben auf<br />
Dauer nicht aus, die Vorgänge lediglich<br />
rout<strong>in</strong>iert zu verwalten. Das entsprechende<br />
Problemfeld wächst uns <strong>in</strong> diesen<br />
Fällen dann schnell über den Kopf. Auch<br />
Rout<strong>in</strong>en, die sich naturwüchsig als<br />
zweckmäßige, praktische Herangehensweise<br />
an Fälle heraus gebildet haben, werden<br />
unter dem E<strong>in</strong>druck zahlreicher Neuerungen<br />
nicht weiterentwickelt, son<strong>der</strong>n<br />
im Gegenteil sogar als lästige Relikte vernachlässigt.<br />
So geraten wir <strong>in</strong> die Gefahr,<br />
Qualitätsstandards, die wir schon hatten,<br />
aufzugeben.<br />
Unabhängig davon, ob wir bei e<strong>in</strong>er Todesermittlung<br />
e<strong>in</strong>gesetzt s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong> Erpresserschreiben<br />
analysieren, die Angaben<br />
<strong>der</strong> Geschädigten e<strong>in</strong>es Sexualdeliktes<br />
beurteilen, die Gefahrensituation nach e<strong>in</strong>em<br />
Fall von häuslicher Gewalt, e<strong>in</strong>er<br />
Stalk<strong>in</strong>g-Attacke o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er Bedrohung<br />
e<strong>in</strong>schätzen müssen, müssen wir Hypothesen<br />
bilden, um daraus Ermittlungsmaßnahmen<br />
und Entschlüsse abzuleiten.<br />
Was br<strong>in</strong>gt <strong>Objektive</strong> <strong>Hermeneutik</strong>?<br />
<strong>Die</strong> <strong>Objektive</strong> <strong>Hermeneutik</strong> bietet sich <strong>in</strong><br />
zweierlei H<strong>in</strong>sicht an, um <strong>in</strong> Anbetracht<br />
steigen<strong>der</strong> Ansprüche, drohenden Qualitätsverlusten<br />
gegenzusteuern. Zum e<strong>in</strong>en<br />
erkennt und begründet sie, dass sich bei<br />
unseren Aufgabenstellungen unvermeidbar<br />
Denk- und Vorgehensweisen herausbilden,<br />
mit <strong>der</strong>en Hilfe wir Befunde problemgerecht<br />
beurteilen können. Sie beschäftigt<br />
sich aber auch damit, wie dies<br />
vonstatten geht, und liefert damit neben<br />
e<strong>in</strong>er theoretisch begründeten Methodologie,<br />
die bei <strong>der</strong> Beurteilung und Weiterentwicklung<br />
krim<strong>in</strong>alistischer Standards<br />
hilfreich se<strong>in</strong> kann, zugleich e<strong>in</strong>e forschungspraktische<br />
<strong>Kunst</strong>lehre für die systematische<br />
Auswertung von Daten und<br />
Befunden.<br />
1 | Seite<br />
<strong>der</strong> krim<strong>in</strong>alist 05/2006 Bund Deutscher Krim<strong>in</strong>albeamter
Rubrik<br />
Mit forschungspraktischer <strong>Kunst</strong>lehre<br />
wird dabei ausgedrückt, dass ke<strong>in</strong>e abstrakte<br />
Verfahrensweise <strong>der</strong> S<strong>in</strong>n<strong>in</strong>terpretation<br />
geme<strong>in</strong>t ist, die, e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Schulbank vermittelt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis über<br />
die tatsächlichen Problemstellungen gestülpt<br />
werden kann. Es handelt sich vielmehr<br />
um e<strong>in</strong>e Denk- und Vorgehensweise,<br />
die auch krim<strong>in</strong>alistischem Handeln eigen<br />
ist. Sie wird durch ständige Anwendung,<br />
ähnlich e<strong>in</strong>em handwerklichen Können,<br />
angeeignet, um sich an den jeweiligen<br />
Fall, die Fragestellung, bzw. das Problem<br />
anpassen zu können. Wie <strong>der</strong> <strong>Hermeneutik</strong>er<br />
s<strong>in</strong>d Krim<strong>in</strong>alisten nämlich<br />
bei ihrer Arbeit darauf angewiesen,<br />
zunächst rekonstruktiv vorzugehen<br />
und auf <strong>der</strong> Grundlage e<strong>in</strong>es Befundes<br />
e<strong>in</strong>e objektiv gültige und nachvollziehbare<br />
S<strong>in</strong>nstruktur bezüglich<br />
<strong>der</strong> Fragestellung, bzw. des Problems<br />
zu erkennen, um geeignete Maßnahmen<br />
zu ergreifen. <strong>Die</strong>s geschieht <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Praxis meist durch Bildung von<br />
Hypothesen zum Fall, die bezogen auf<br />
ihre Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit gewichtet<br />
und dann überprüft und überarbeitet<br />
werden. Aus unterschiedlichen Gründen<br />
kann <strong>der</strong> Krim<strong>in</strong>alist hierbei jedoch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
„Krise“ geraten. So ist denkbar, dass es<br />
schwer fällt, wirklich schlüssige Hypothesen<br />
zum vorliegenden Befund zu entwickeln,<br />
sie zu gewichten, o<strong>der</strong> aber, dass<br />
die Überprüfung e<strong>in</strong>er Hypothese die Verfolgung<br />
weiterer Hypothesen erschweren<br />
würde. Denkbar ist schließlich, dass man<br />
<strong>in</strong> bestimmten Situationen nur „e<strong>in</strong>e<br />
Chance“ hat, den Fall richtig e<strong>in</strong>zuschätzen.<br />
Zu <strong>der</strong>artigen Problematiken behauptet<br />
Oevermann 2 , dass die <strong>Objektive</strong> <strong>Hermeneutik</strong><br />
„sich gerade deshalb dann,<br />
wenn die naturwüchsigen, zum Pol <strong>der</strong> Intuition<br />
h<strong>in</strong>neigenden Operationen des<br />
Fallverstehens, (...) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Krise geraten<br />
s<strong>in</strong>d, zur praktisch folgenreichen Klärung<br />
(eignet). Man nimmt dann sozusagen e<strong>in</strong>e<br />
praktische Auszeit, um handlungsentlastet<br />
<strong>in</strong> detaillierter Sequenzanalyse das<br />
<strong>in</strong>tuitive Fallverstehen aus se<strong>in</strong>er Krise<br />
herauszuführen.“<br />
<strong>Die</strong> Methode<br />
2 Oevermann, 2000, S. 154<br />
Ich möchte nun zunächst methodische<br />
Grundsätze aufzeigen, die im Rahmen <strong>der</strong><br />
<strong>Objektive</strong>n <strong>Hermeneutik</strong> entwickelt wurden,<br />
um im Anschluss beispielhaft Praxisfel<strong>der</strong><br />
zu nennen, bei denen diese Grundsätze<br />
berücksichtigt und entsprechend<br />
<strong>der</strong> Aufgabenstellung weiterentwickelt<br />
werden können. E<strong>in</strong>e Diskussion über die<br />
h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> Methodik stehende Methodologie<br />
würde hier den Rahmen sprengen.<br />
Texte/Protokolle<br />
In <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> <strong>Objektive</strong>n <strong>Hermeneutik</strong><br />
wird soziale Realität, also etwa e<strong>in</strong><br />
Tathergang o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Bedrohungslage, als<br />
textförmig aufgefasst. Wie bei e<strong>in</strong>em<br />
schriftlichen Text wird durch e<strong>in</strong>e vorangegangene<br />
Handlung <strong>der</strong> Spielraum möglicher<br />
s<strong>in</strong>nhafter Anschlüsse (Folgehandlungen)<br />
begrenzt. Somit ist soziale Realität,<br />
auch wenn sie nur bruchstückhaft<br />
protokolliert wurde, grundsätzlich rekonstruierbar.<br />
<strong>Die</strong> Art und Weise, wie e<strong>in</strong> Subjekt<br />
diesen s<strong>in</strong>nhaften Spielraum nutzt,<br />
kann sozusagen als se<strong>in</strong>e Handschrift aufgefasst<br />
werden. Der Verursacher des Lebenssachverhaltes<br />
und damit des „Protokolls“<br />
kann jede soziale E<strong>in</strong>heit se<strong>in</strong>, handeln<br />
kann also sowohl e<strong>in</strong> Individuum als<br />
auch e<strong>in</strong>e Gruppe o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Institution.<br />
Alles, was durch die Handlungen materiell<br />
zurückbleibt, kann als Protokoll dieser<br />
sozialen Realität e<strong>in</strong>er Analyse unterzogen<br />
werden. Aus diesem, hier nur grob umrissenen<br />
Textbegriff resultiert, dass er sehr<br />
umfangreich ist. So lassen sich die methodischen<br />
Grundsätze beispielsweise auf<br />
Schriftstücke, Tatorte, Gemälde, Landschaftsverän<strong>der</strong>ungen,<br />
o<strong>der</strong> aber e<strong>in</strong> Tatgeschehen,<br />
soweit es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Ablauf rekonstruiert<br />
werden konnte, anwenden.<br />
<strong>Die</strong> Anwendung auf zuvor rekonstruierte<br />
Abläufe stellt allerd<strong>in</strong>gs schon e<strong>in</strong>e, spezifisch<br />
krim<strong>in</strong>alistische, Weiterentwicklung<br />
<strong>der</strong> Methodik dar, bei <strong>der</strong> gewisse Problematiken<br />
zu beachten s<strong>in</strong>d. Der hier genutzte<br />
S<strong>in</strong>nbegriff geht dabei weit über<br />
Begriffe wie Norm, Wert, Moral, etc. h<strong>in</strong>aus.<br />
Auch e<strong>in</strong> Verhalten, das, normativ betrachtet,<br />
lediglich als abweichend beschrieben<br />
werden kann, hat e<strong>in</strong>en objektiven<br />
S<strong>in</strong>n, <strong>der</strong> Rückschlüsse auf das Subjekt<br />
erlaubt.<br />
Aufgrund <strong>der</strong> Vielzahl von Handlungsverpflichtungen<br />
und -entscheidungen<br />
kann das Subjekt diesen S<strong>in</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen<br />
Praxis nur sehr begrenzt reflektieren<br />
und nachvollziehen, sofern es sich überhaupt<br />
<strong>der</strong> entsprechenden Handlungen<br />
bewusst ist. <strong>Die</strong>s bedeutet, dass es zunächst<br />
gerade nicht darum geht, sich „<strong>in</strong><br />
den Täter“ h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> zu versetzen. Es geht<br />
mith<strong>in</strong> nicht um e<strong>in</strong>e Nachvollzugshermeneutik.<br />
Wenn gerade krim<strong>in</strong>elles Verhalten<br />
sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen durch<br />
überdurchschnittlich reflektiertes<br />
Handeln äußert, lassen sich aus den<br />
Wi<strong>der</strong>sprüchen zwischen Protokollteilen,<br />
die e<strong>in</strong>er Reflektion unterlagen,<br />
und solchen, die nicht reflektiert<br />
o<strong>der</strong> gar unbewusst nie<strong>der</strong>gelegt<br />
wurden, wertvolle Informationen erheben.<br />
<strong>Die</strong> subjektive Repräsentation<br />
des Handelns beim „Produzenten“,<br />
die Ebene <strong>der</strong> Motive und Eigenschaften,<br />
wird somit erst auf <strong>der</strong> Grundlage<br />
<strong>der</strong> rekonstruierten objektiven S<strong>in</strong>nstruktur<br />
erschlossen.<br />
Grundsätzlich wird gerade bei <strong>der</strong> Arbeit<br />
mit <strong>der</strong> OH deutlich, dass beim Lösen des<br />
Protokolls aus se<strong>in</strong>er ursprünglichen Umgebung,<br />
etwa <strong>der</strong> Dokumentation e<strong>in</strong>es<br />
Tatortes, technische Aufzeichnungen und<br />
damit apparatevermittelte Aufzeichnungen<br />
untechnischen vorzuziehen s<strong>in</strong>d, da<br />
sich Selektivität und subjektive Verzerrungen<br />
des letzteren Protokolltyps schwerer<br />
nachzuvollziehen lassen. In <strong>der</strong> Praxis<br />
wird diesem Umstand im Rahmen <strong>der</strong> Protokollierung<br />
des Tatortes bei Kapitaldelikten<br />
beispielsweise rout<strong>in</strong>emäßig Rechnung<br />
getragen. <strong>Objektive</strong> Befun<strong>der</strong>hebungen<br />
könnten jedoch <strong>in</strong> umfassen<strong>der</strong>er<br />
H<strong>in</strong>sicht daraufh<strong>in</strong> beurteilt werden, <strong>in</strong><br />
welchen Fällen weniger Schrift und mehr<br />
technische Aufzeichnung geboten ist.<br />
Gleiches gilt für die Protokollierung von<br />
Vernehmungen.<br />
Unterstellt man, dass die Protokollierung<br />
des Krim<strong>in</strong>alisten e<strong>in</strong>e Kommunikations-,<br />
Registrier- und Kontrollfunktion<br />
hat, ist m. E. sogar e<strong>in</strong>e problematische<br />
Tendenz erkennbar. Im Vor<strong>der</strong>grund des<br />
so genannten objektiven Befundes sche<strong>in</strong>t<br />
zunehmend die Kontrollfunktion als Legitimation<br />
des eigenen Verhaltens zu stehen.<br />
Er dient oftmals nur noch dazu, dass<br />
die Schlussfolgerungen, die zuweilen<br />
schon an den Ereignisort herangetragen<br />
wurden, möglichst nachvollziehbar „objektiviert“<br />
werden. Der Aufbau e<strong>in</strong>es Tatortbefundes,<br />
<strong>der</strong> sich aus <strong>der</strong> Praxis als<br />
zweckmäßig entwickelt hat, wird so jedoch<br />
unterlaufen und hat vorwiegend Ali-<br />
Bund Deutscher Krim<strong>in</strong>albeamter <strong>der</strong> krim<strong>in</strong>alist 05/2006 Seite | 2
Rubrik<br />
bifunktion. <strong>Die</strong>s mag e<strong>in</strong> Vorgehen im<br />
S<strong>in</strong>ne rout<strong>in</strong>ierter Praxis und effizienter<br />
Vorgangsökonomie se<strong>in</strong>, wie<strong>der</strong>spricht jedoch<br />
den hier vorgetragenen rekonstruktionslogischen<br />
Überlegungen und begünstigt<br />
Fehlschlüsse, wie sie durch Mäetzler<br />
3 , aber auch durch Rückert 4 angemahnt<br />
werden.<br />
Kontextwissen/Normalitätsfolie<br />
<strong>Die</strong> Qualität <strong>der</strong> Analysen steigt sicherlich<br />
mit den Wissensbeständen, über die<br />
die Beteiligten verfügen. <strong>Die</strong> <strong>Objektive</strong><br />
<strong>Hermeneutik</strong> toleriert nicht nur an<strong>der</strong>e<br />
Wissensbereiche aus Naturwissenschaften,<br />
Psychologie, Sprachwissenschaften,<br />
etc.. Sie ist sogar darauf angewiesen, im<br />
Rahmen <strong>der</strong> Analyse auf möglichst viele<br />
Wissensbestände zurückgreifen zu können.<br />
Auch Informationen zum Milieu, zu<br />
biografischen Verläufen bekannter Beteiligter,<br />
das sogenannte Kontextwissen, ist<br />
willkommen, um e<strong>in</strong>e sogenannte Normalitätsfolie<br />
zu zeichnen. Hypothesenüberprüfungen<br />
erfolgen <strong>in</strong>des aber ausschließlich<br />
am Protokoll. Hier darf ke<strong>in</strong> Kontextwissen<br />
herangezogen werden, da die Auswahl<br />
dieses Wissens stets hoch selektiv<br />
wäre und man nur das Auswählen würde,<br />
was die Vorvermutungen unterstützt. Es<br />
geht schließlich letztlich darum, sich<br />
zu zw<strong>in</strong>gen, nicht die eigenen Normalitätsvorstellungen<br />
auf den Fall zu<br />
übertragen. <strong>Die</strong> Fülle an Anhaltspunkten,<br />
die sich selbst aus e<strong>in</strong>em bruchstückhaften<br />
Protokoll ergibt, wenn man es konzentriert<br />
betrachtet, wird grundsätzlich<br />
unterschätzt. Es bedarf lediglich e<strong>in</strong>iger<br />
Übung, sie nicht nur gegenständlich zu sehen,<br />
son<strong>der</strong>n auch als Anhaltspunkte zu<br />
erkennen.<br />
Sequenzanalyse<br />
3 vgl. Mäetzler, 2003<br />
4 (2000) Tote haben ke<strong>in</strong>e Lobby<br />
Soziale Praxis wird nicht nur zeitlich,<br />
son<strong>der</strong>n auch s<strong>in</strong>nlogisch als sequentiell<br />
angesehen. Entsprechend wird auch bei<br />
<strong>der</strong> Analyse vorgegangen: Man betrachtet<br />
das vorliegende Protokoll Handlungssequenz<br />
für Handlungssequenz. Unter Beachtung<br />
<strong>der</strong> Eigenheiten und Entstehungsbed<strong>in</strong>gungen<br />
des Protokolls wird die<br />
auf die Fragestellung bezogene Struktur,<br />
mit <strong>der</strong> die s<strong>in</strong>nlogisch begrenzten Handlungsspielräume<br />
genutzt werden, auch<br />
streitsüchtig diskutiert. Es werden bei je<strong>der</strong><br />
Sequenz möglichst zahlreiche Hypothesen<br />
dazu aufgestellt, warum sie sich so<br />
und nicht an<strong>der</strong>s realisiert hat. Warum hat<br />
e<strong>in</strong> Täter dies und nicht jenes getan? <strong>Die</strong><br />
<strong>Hypothesenbildung</strong> beschränkt sich dabei<br />
auf das vorhandene Protokoll, welches jedoch<br />
unter Beachtung <strong>der</strong> Sparsamkeitsregel<br />
möglichst extensiv ausgelegt wird.<br />
Es werden möglichst viele, auch zunächst<br />
weniger wahrsche<strong>in</strong>liche Hypothesen generiert.<br />
Zugleich werden die konkreten Erfüllungsbed<strong>in</strong>gungen<br />
<strong>in</strong> folgenden Sequenzen<br />
genannt. (Wenn er X aus dem<br />
Grund Y getan hat, müsste er nun...). Anhand<br />
<strong>der</strong> nächsten Sequenz wird überprüft,<br />
welche Hypothesen sich damit nicht<br />
mehr vere<strong>in</strong>baren lassen. Dabei gelten e<strong>in</strong>ige<br />
Pr<strong>in</strong>zipien, die hier kurz dargestellt<br />
werden sollen:<br />
Totalitätspr<strong>in</strong>zip<br />
Nach dem Totalitätspr<strong>in</strong>zip verdient jedes<br />
auch noch so kle<strong>in</strong>e Detail, ja gerade<br />
dieses, beson<strong>der</strong>e Würdigung, da es oft<br />
beson<strong>der</strong>s aufschlussreich ist. Für den Krim<strong>in</strong>alisten<br />
<strong>in</strong>teressant ist dabei, dass Details<br />
und Unsche<strong>in</strong>barkeiten etwaigen Manipulationen<br />
o<strong>der</strong> Täuschungen durch den<br />
Produzenten oft nicht zugänglich, da sie<br />
unbeachtet o<strong>der</strong> für ihn im Unbewussten<br />
verborgen s<strong>in</strong>d. Ihre Diskrepanz zu dem<br />
Augensche<strong>in</strong>lichen führt im Rahmen <strong>der</strong><br />
Methode u.a. zur Aufdeckung von Täuschungsversuchen,<br />
die immer <strong>in</strong>teressante<br />
Ermittlungsansätze darstellen.<br />
Wörtlichkeitspr<strong>in</strong>zip<br />
Das Wörtlichkeitspr<strong>in</strong>zip, nachdem nur<br />
genau das <strong>in</strong> die Argumentation e<strong>in</strong>bezogen<br />
werden darf, was sich im Protokoll<br />
wie<strong>der</strong>f<strong>in</strong>det, ist zu beachten, da ansonsten<br />
Interpretationen entstehen, die nicht<br />
durch den Text gedeckt s<strong>in</strong>d. Das Falsifikationspr<strong>in</strong>zip<br />
würde bei Nichtbeachtung<br />
zirkulär e<strong>in</strong>geschränkt. Im krim<strong>in</strong>alistischen<br />
Anwendungsbereich wird es <strong>in</strong> diesem<br />
Zusammenhang bei Anwendung <strong>der</strong><br />
OH immer wie<strong>der</strong> zu <strong>der</strong> Frage kommen,<br />
wie genau, unverzerrt und vollständig<br />
denn nun das vorliegende Protokoll ist.<br />
<strong>Hypothesenbildung</strong><br />
<strong>Die</strong> Hypothesen werden nur aus <strong>der</strong> vorliegenden<br />
Sequenz generiert. Der tatsächliche<br />
o<strong>der</strong> vermutete Fortgang des Protokolls<br />
wird „ausgeblendet“ und erst im Fortgang<br />
<strong>der</strong> Analyse zur Falsifikation genutzt.<br />
So entsteht im Rahmen e<strong>in</strong>er sich nicht<br />
selten lebhaft entwickelnden Diskussion<br />
e<strong>in</strong>e fortlaufende Hypothesengenerierung<br />
und Falsifikation am Protokoll. <strong>Die</strong>ses<br />
„sich e<strong>in</strong>lassen“ auf den Sachverhalt<br />
sche<strong>in</strong>t aus me<strong>in</strong>er Sicht geeignet, den e<strong>in</strong><br />
o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Aha-Effekt zu provozieren.<br />
<strong>Die</strong> Sicherheit, dass man richtig liegt,<br />
steigt mit <strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> Details, die mit<br />
<strong>der</strong> gefundenen Struktur erklärt werden<br />
können.<br />
Analyse <strong>in</strong> Gruppen<br />
<strong>Die</strong> Interpretation von Protokollen erfolgt<br />
am besten <strong>in</strong> Teams, um durch den<br />
E<strong>in</strong>bezug möglichst vieler Wissensbestände<br />
möglichst <strong>in</strong>formationsreich argumentieren<br />
zu können und um subjektive<br />
„Verzerrungen“ nach Möglichkeit auszuschalten.<br />
Des Weiteren entwickeln sich oft<br />
erst im streitsüchtigen <strong>–</strong> nicht auf schnelle<br />
E<strong>in</strong>igung zielenden <strong>–</strong> Diskussionsprozess<br />
allgeme<strong>in</strong> begründbare E<strong>in</strong>sichten, die<br />
über subjektive Me<strong>in</strong>ungen h<strong>in</strong>ausgehen.<br />
Behandlung von „Texttypen“<br />
H<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Interpretation von Bil<strong>der</strong>n<br />
kann man sich dabei am sogenannten<br />
ikonischen Pfad o<strong>der</strong> am Aufmerksamkeitsfokus<br />
orientieren, bei Umweltgestaltungen,<br />
wie etwa auch e<strong>in</strong>em Tatort,<br />
an <strong>der</strong> mutmaßlichen Reihenfolge <strong>der</strong> E<strong>in</strong>griffe,<br />
etc.<br />
E<strong>in</strong>satzgebiete <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis <strong>–</strong><br />
<strong>Hypothesenbildung</strong> und<br />
Krisen<strong>in</strong>tervention<br />
Oevermann und <strong>der</strong> Autor sehen <strong>in</strong> dieser<br />
Methodik nun <strong>in</strong> mehrfacher H<strong>in</strong>sicht<br />
e<strong>in</strong>en Nutzen für die Praxis. Sie kann explizit<br />
auf Fragestellungen angewendet<br />
werden, die ansonsten nicht, o<strong>der</strong> nur mit<br />
erheblichen Verzug zufriedenstellend beurteilt<br />
werden. Vorzugsweise geschieht<br />
dies durch Teams, die weitestgehend<br />
handlungsentlastet s<strong>in</strong>d. <strong>Die</strong>sem denklogischen<br />
Konzept wurde bereits bei den Todes-<br />
und Sexualdelikten durch Etablie-<br />
3 | Seite<br />
<strong>der</strong> krim<strong>in</strong>alist 05/2006 Bund Deutscher Krim<strong>in</strong>albeamter
Rubrik<br />
rung von OFA-<strong>Die</strong>nststellen Rechnung getragen.<br />
Ebenfalls denkbar ist <strong>der</strong> E<strong>in</strong>satz<br />
<strong>der</strong>artiger Gruppen unter dem Stichwort<br />
<strong>der</strong> „stellvertretenden Krisenbewältigung“<br />
im Bereich <strong>der</strong> Prävention und des Opferschutzes,<br />
wobei dies sicher e<strong>in</strong>e Aufgabe<br />
von Kooperationspartnerschaftlichen Teams,<br />
ggf. unter Beteiligung <strong>der</strong> Polizei,<br />
wäre. In vielen Fällen benötigt <strong>der</strong> Klient<br />
Hilfe, weil er e<strong>in</strong>e Lebenskrise als nicht<br />
mehr lösbar betrachtet, wodurch e<strong>in</strong> beständiger<br />
Leidensdruck entsteht. <strong>Die</strong> Krise<br />
wird sozusagen manifester Bestandteil<br />
<strong>der</strong> Lebenspraxis. In diesen Fällen werden<br />
rout<strong>in</strong>ehafte Handlungsmuster des Klienten<br />
vor dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>es Krisenkonzeptes,<br />
das über se<strong>in</strong> subjektives Krisenempf<strong>in</strong>den<br />
h<strong>in</strong>ausgeht, problematisiert<br />
und aufgebrochen.<br />
<strong>Die</strong>se Art von Tätigkeit wird jedoch selten<br />
alle<strong>in</strong> polizeiliche Aufgabe se<strong>in</strong>, obwohl<br />
sie, etwa <strong>in</strong> chronischen Fällen häuslicher<br />
Gewalt, regelmäßig <strong>in</strong>volviert ist<br />
und hilfreiches Fachwissen entwickelt.<br />
Gerade vor dem H<strong>in</strong>tergrund, dass die<br />
<strong>Objektive</strong> <strong>Hermeneutik</strong> <strong>in</strong> ihrer Methodik<br />
auf Teams angewiesen ist,<br />
liegt e<strong>in</strong> weiteres Argument dafür,<br />
dass die Etablierung <strong>in</strong>stitutionsübergreifen<strong>der</strong><br />
Strukturen hierzu weiter<br />
verfolgt werden sollte. So sollten <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong>artigen Fällen Vertreter <strong>der</strong> polizeilichen<br />
Prävention e<strong>in</strong>zelfallbezogen mit<br />
Vertretern <strong>der</strong> Familienberatungsstelle,<br />
des Sozialamtes, etc. zusammenarbeiten.<br />
Weitere E<strong>in</strong>satzmöglichkeiten liegen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Analyse von Vernehmungsprotokollen,<br />
unter Berücksichtigung vorhandener Konzepte,<br />
wie <strong>der</strong> „Merkmalsorientierten Aussageanalyse<br />
(MOA)“. Sowohl h<strong>in</strong>sichtlich<br />
<strong>der</strong> Anfor<strong>der</strong>ungen an das Protokoll als<br />
auch bezüglich <strong>der</strong> Relevanz <strong>der</strong> konkreten<br />
Vernehmungssituation sowie <strong>der</strong> sich<br />
äußernden Lebenspraxis im E<strong>in</strong>zelfall lassen<br />
sich deutliche Schnittstellen feststellen.<br />
Es wurde also mit <strong>der</strong> „MOA“ e<strong>in</strong> spezifisches<br />
Wissen entwickelt, das sich <strong>in</strong><br />
Komb<strong>in</strong>ation mit <strong>der</strong> Methodik <strong>der</strong> <strong>Objektive</strong>n<br />
<strong>Hermeneutik</strong> möglicherweise noch<br />
besser entfalten lässt.<br />
<strong>Die</strong>se Überlegung muss ke<strong>in</strong>esfalls lediglich<br />
auf die Analyse von Vernehmungsprotokollen<br />
beschränkt bleiben. Auch im<br />
Bereich <strong>der</strong> Tatortarbeit existieren längst<br />
wertvolle Überlegungen zum Umgang mit<br />
spezifisch krim<strong>in</strong>alistischen Protokollen,<br />
wie etwa das Leitspurenkonzept, die vor<br />
dem erkenntnistheoretischen H<strong>in</strong>tergrund<br />
<strong>der</strong> <strong>Objektive</strong>n <strong>Hermeneutik</strong> erneut diskutiert<br />
und weiterentwickelt werden könnten.<br />
Ebenfalls ist es denkbar, die OH bei<br />
Methoden zur Erstellung von Gefährdungsanalysen<br />
zu berücksichtigen. So ist<br />
die Polzei zunehmend mit dem Bedürfnis<br />
<strong>der</strong> Bevölkerung konfrontiert, dass Fälle<br />
des Stalk<strong>in</strong>gs o<strong>der</strong> häuslicher Gewalt auch<br />
im Versuchsstadium fundiert e<strong>in</strong>geschätzt<br />
werden müssen. Gerade hier liegt im objektiven<br />
S<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Handlungen des „Störers“<br />
<strong>der</strong> Schlüssel zur tatsächlichen Motivation<br />
von Handlungen. Mit <strong>der</strong> Veröffentlichung<br />
von Heike Würstl 5 liegt weiterh<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong> Beispiel für den Umgang mit schriftlichen<br />
Protokolltypen, hier e<strong>in</strong>em Erpresserschreiben,<br />
vor. In ihrem, anlässlich <strong>der</strong><br />
15. Arbeitstagung <strong>der</strong> Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />
<strong>Objektive</strong> <strong>Hermeneutik</strong>, gehaltenem<br />
unveröffentlichten Vortrag von 2005<br />
zeigt sie auf, dass die Anwendung <strong>der</strong> Methodik<br />
ebenso vielversprechend auf Drohbriefe<br />
angewendet werden kann. In ähnlicher<br />
Weise werden me<strong>in</strong>es Erachtens<br />
<strong>der</strong>artige Protokolltypen bereits durch das<br />
BKA analysiert.<br />
Schlummerndes Wissen pflegen?<br />
Oevermann spricht darüber h<strong>in</strong>aus auch<br />
von e<strong>in</strong>er Reflektionsgrundlage. Dem Begriff<br />
kann me<strong>in</strong>es Erachtens auch <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Identifikationsgrundlage beigefügt werden.<br />
Gerade im Bereich des Ersten Angriffs<br />
bei Todesermittlungen ist es<br />
durchaus hilfreich, e<strong>in</strong>en mentalen<br />
Rückzug vorzunehmen, alle Vorvermutungen<br />
e<strong>in</strong>mal zurückzustellen<br />
und sich darum zu bemühen, den S<strong>in</strong>n<br />
5 Analyse e<strong>in</strong>es Erpresserschreibens, 2004<br />
je<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Auffälligkeit zu<br />
h<strong>in</strong>terfragen bzw. diese konzentriert<br />
zunächst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fortlaufenden Sequenz<br />
zu vere<strong>in</strong>igen. Es ist durchaus<br />
motivierend, wenn sich Schlüsse e<strong>in</strong>stellen,<br />
die viele „E<strong>in</strong>zelheiten“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />
Verhältnis zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> setzen und erklären.<br />
Es fehlt hier e<strong>in</strong> wenig an e<strong>in</strong>er bewussten<br />
Profession, die gezielt weiterentwickelt<br />
werden kann. <strong>Die</strong>se Professionalität<br />
vermittelt dem Ermittler wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />
Selbstbild, e<strong>in</strong>en Bezugspunkt se<strong>in</strong>er<br />
Kompetenz und Fähigkeit sowie e<strong>in</strong>e<br />
Grundlage, an <strong>der</strong> er se<strong>in</strong>e Ergebnisse und<br />
<strong>der</strong>en Zustandekommen messen kann.<br />
<strong>Die</strong> sich ständig ausdifferenzierenden<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen aus dem Arbeitsumfeld<br />
bergen ansonsten die Gefahr, dass sich<br />
das Berufs- und Selbstbild des Ermittlers<br />
<strong>in</strong> das e<strong>in</strong>es verwaltenden Bürokraten<br />
wandelt, <strong>der</strong> lediglich die Vorgangsabwicklung<br />
zu organisieren hat. Nun soll die<br />
<strong>Objektive</strong> <strong>Hermeneutik</strong> nicht als „Allheilmittel“<br />
angepriesen und ,über den Klee‘<br />
gelobt werden. Sie wird auch <strong>in</strong>nerhalb<br />
<strong>der</strong> Sozialwissenschaften durchaus kontrovers<br />
diskutiert. Auch ist zu beachten,<br />
dass rekonstruktionslogische Tätigkeiten<br />
lediglich e<strong>in</strong>en Teilbereich krim<strong>in</strong>alistischen<br />
Handelns wie<strong>der</strong>spiegeln, <strong>in</strong> dem<br />
viele Aufgaben auch aus e<strong>in</strong>er sich selbstständig<br />
entwickelnden Profession heraus<br />
erledigt werden können. Dennoch ist die<br />
<strong>Objektive</strong> <strong>Hermeneutik</strong> nach me<strong>in</strong>er Überzeugung<br />
als Grundlage unserer Entscheidungen<br />
elementar genug, um <strong>in</strong>nerhalb<br />
<strong>der</strong> Polizei reflektiert und diskutiert zu<br />
werden.<br />
Krim<strong>in</strong>alisten werden umso erfolgreicher<br />
se<strong>in</strong>, je mehr sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage<br />
s<strong>in</strong>d, objektive Fakten am Tatort mit<br />
ihrem aus vielen Wissensbereichen<br />
begründeten Expertenwissen auch<br />
über mögliches und wahrsche<strong>in</strong>liches<br />
Täterverhalten zu Hypothesen zu entwickeln,<br />
die zunächst die Grundlage<br />
für weitere Ermittlungen bilden und<br />
von denen die richtige zum Täter führen<br />
wird.<br />
Bund Deutscher Krim<strong>in</strong>albeamter <strong>der</strong> krim<strong>in</strong>alist 05/2006 Seite | 4