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Wenn einer den Mut hat, seine Träume zu verwirklichen<br />

Text und Bilder: Andreas Hutter Seit fast 30 Jahren verwirklicht Andreas Hutter seine<br />

Abenteuerträume: Bergsteigen in den Anden, grosse Kanu- oder Hundeschlittenexpeditionen<br />

im Norden Kanadas, die Durchquerung Patagoniens und der Mongolei mit Pferden…<br />

Ursprüngliche Naturerlebnisse und ehrliche Begegnungen mit den Menschen sind ihm<br />

dabei am wichtigsten. Seine Erlebnisse bringt der Abenteurer seit vielen Jahren in<br />

packenden Multivisionsvorträgen einem breiten Publikum näher. – Wie wurde der Luzerner<br />

zum Profiabenteurer, welches waren die Höhepunkte seines aufregenden Lebens?<br />

60 GLOBETROTTER-MAGAZIN 100 WINTER 2012


iografie<br />

Winter in der Mongolei. Andreas Hutter unterwegs mit seinem alten russischen Seitenwagenmotorrad.<br />

61


Eigentlich lag es nicht auf der<br />

Hand, dass ich einmal «Berufsabenteurer»<br />

werden<br />

würde. Erstens konnte ich<br />

mir lange nicht vorstellen,<br />

dass es einen solchen Beruf<br />

geben soll, und zweitens<br />

wird einem bei der Berufsberatung nicht gesagt,<br />

dass man mit etwas Flair und Ideenreichtum<br />

einen Beruf selber erfinden und gestalten<br />

kann. Also lernte ich etwas Anständiges, nämlich<br />

Elektroniker. Gut genug als sichere Geldquelle.<br />

Schon in der Lehre waren meine Vorbilder<br />

Abenteurer wie Rüdiger Nehberg oder der<br />

Bergsteiger Reinhold Messner. Ihr spannendes<br />

Leben faszinierte mich, und ich verschlang ihre<br />

Bücher. Inspiriert durch die Lektüre, begann<br />

ich an Wochenenden kleine «Expeditionen» zu<br />

machen. So übernachtete ich im Winter im Zelt<br />

auf Berggipfeln oder unternahm Ski- und Bergtouren.<br />

Meist war ich alleine unterwegs, meine<br />

Freunde hatten andere Interessen.<br />

Erstes Lehrgeld. Am Ende der Lehre startete<br />

ich zu meiner ersten Miniexpedition durch<br />

Korsika. Ich wollte die Insel auf dem bekannten<br />

GR20-Wanderweg vom Süden bis in den<br />

Norden durchqueren. Das Besondere war: Ich<br />

wollte im Frühling los, wenn die Berge noch<br />

tief verschneit und alle Hütten und Versorgungsstationen<br />

geschlossen sind. Die Tour artete<br />

zu einer Schinderei aus, da ich nicht nur<br />

Essen, Campingmaterial und Brennstoff für<br />

zwei Wochen tragen, sondern auch die gesamte<br />

Strecke spuren musste. Zudem war das Unternehmen<br />

nicht ungefährlich: Aus Gewichtsgründen<br />

hatte ich nur Grödel, sehr simple<br />

Steigeisen, dabei. Ohne Pickel und ordentliche<br />

Steigeisen war das Queren der verschneiten<br />

Berghänge gefährlich, ich stand unter permanenter<br />

Absturzgefahr. Nicht verwunderlich,<br />

schaffte ich in den zwei Wochen nur zwei Drittel<br />

der Strecke, was angesichts der vielen Umwege<br />

aber beachtlich war.<br />

Erste Miniexpedition. Im Frühling auf dem<br />

GR20-Wanderweg in Korsika (ganz oben).<br />

Nordschweden. Der Sarek-Nationalpark (rechts).<br />

In Nordafrika. Mit dem Velo und zu Fuss den<br />

Winter überbrücken (unten).<br />

Auslegeordnung. Ausrüstung für die Abenteuer-<br />

Premiere in Korsika (links unten).<br />

Ich hatte auf dieser ersten Tour viel gelernt,<br />

vor allem hatte ich das Projekt angepackt, obwohl<br />

sämtliche Tourenführer davon abgeraten<br />

hatten. – Die Lust auf mehr war geweckt!<br />

Mein Fernziel war, einmal in Kanada oder<br />

in der Arktis «richtige» Abenteuer zu erleben,<br />

Wochen oder gar Monate in der totalen Wildnis<br />

zu verbringen. Dass ich dazu aber erst mehr<br />

Erfahrung brauchte, war mir klar. So arbeitete<br />

ich vier Monate, sparte jeden Rappen und startete<br />

dann zu meiner ersten längeren Reise. Eigentlich<br />

wäre ich am liebsten gleich für sieben<br />

Monate in die Wildnis Lapplands gefahren.<br />

Doch meine erste grosse Reise gleich alleine<br />

und im Winter zu machen, schien mir doch<br />

etwas ambitiös. So überbrückte ich den Winter<br />

mit einer Veloreise durch Tunesien, Algerien<br />

und Marokko und bestieg mit löchrigen Trekkingschuhen<br />

und einer Umhängetasche meinen<br />

ersten 4000er. Dann fuhr ich – als es in<br />

Nordeuropa wärmer wurde – mit dem Zug von<br />

Südspanien zurück in die Schweiz und weiter<br />

nach Lappland.<br />

Ich wollte den wildesten Teil des Nordens,<br />

den Sarek-Nationalpark in Schweden, durchwandern.<br />

In sogenannten Expeditionsberichten<br />

hatte ich gelesen, dass dieser Teil Skandinaviens<br />

wirklich das Extremste<br />

ist, was es an nordischer Wildnis<br />

in Europa zu erleben gibt. Es war<br />

Mai, und mir war klar, dass ich<br />

für da oben noch extrem früh<br />

unterwegs war. In den Bergen<br />

lag noch sehr viel Schnee, die<br />

Flüsse und Bäche führten Hochwasser.<br />

Im Sarek gab es keine<br />

Brücken, viele Flussquerungen<br />

würden jetzt sehr gefährlich oder gar unmöglich<br />

sein. Also plante ich fürs Erste eine einfachere<br />

Tour. Sie führte mich in 21 Tagen durch<br />

den Padjelanta-Nationalpark, wo es einen<br />

Wanderweg mit Brücken gab, zum Virihaure-<br />

See und zurück über einen Teil des Sareks.<br />

Mein Rucksack war anfangs gut 35 Kilogramm<br />

schwer, wurde aber glücklicherweise mit jedem<br />

Tag etwas leichter. Mit Ausnahme der Flussquerungen<br />

war der Teil durch den Sarek gar<br />

nicht so extrem, wie ich gelesen hatte. Ich war<br />

nun sicher, dass mein Projekt machbar war.<br />

Mit Essen für drei Wochen startete ich die<br />

Durchquerung. Sie führte mich schliesslich<br />

nicht nur durch den Nationalpark, sondern die<br />

Zeit reichte, sternförmig beinahe jedes Tal des<br />

Mir war nun klar,<br />

dass jede Expedition<br />

vor allem<br />

von den eigenen<br />

Erfahrungen<br />

abhängt.<br />

Parks zu durchwandern und auf viele Berge zu<br />

trekken. Ich erlebte meinen ersten krassen<br />

Sturm, der mein Zelt beinahe in Stücke riss,<br />

und nach der Tour war meine Auffassung, was<br />

viele Moskitos sind, eine andere. Zudem hatte<br />

ich etwas Wichtiges gelernt: Wenn irgendwo<br />

geschrieben steht, dass eine Tour extrem ist,<br />

dann ist das relativ. Jetzt gab es für mich keine<br />

Schranken mehr. Mir war nun klar, dass jede<br />

Expedition vor allem von den eigenen Erfah-<br />

62 GLOBETROTTER-MAGAZIN 100 WINTER 2012


iografie<br />

Erste Yukon-Erfahrung. Zu Fuss in Kanadas<br />

Wildnis unterwegs (oben).<br />

Kanureise. Die Entdeckung der Langsamkeit auf<br />

dem Peel River in Westkanada (unten).<br />

Bergsteigen. Andreas Hutter macht in Ecuador<br />

und Peru erste Gipfelerfahrungen (rechts oben).<br />

Peru. Trekking mit Maultieren (rechts).<br />

rungen abhängt. Nach dem Sarek war mein<br />

Rucksack leer, ich dagegen voller Selbstvertrauen<br />

und extrem fit.<br />

Inzwischen war es Juli geworden. Per Bahn<br />

und Bus reiste ich nach Finnland und startete<br />

zu meiner ersten Kanutour. Mein Ziel war der<br />

Inari-See. Man soll ja klein anfangen. Der See<br />

hat über 3000 Inseln – ein beschaulicher, wunderschöner<br />

Flecken. Für Frischverliebte bestimmt<br />

traumhaft. Aber ich war alleine. Nach<br />

zwölf Tagen gemächlichen Umherpaddelns<br />

hatte ich genug vom Fischen und Lagerfeuermachen.<br />

Mir fehlte die Herausforderung. Ein<br />

neuer Plan musste her. Flüsse mit Strömung<br />

und Stromschnellen schienen mir eine gute<br />

Idee. Per Bus gelangte ich zum Oberlauf des<br />

Ivalojoki, den ich befuhr. Weitere Flüsse folgten,<br />

und trotz schlimmem Regenwetter machte<br />

mir das Kanuwandern sehr viel Spass. Die<br />

Wildnis auf diese Art zu entdecken, entsprach<br />

exakt meinen Wünschen. Ich musste nichts<br />

schleppen und kam gut voran. Zudem konnte<br />

ich vom Fluss aus, ohne schweres Gepäck, täglich<br />

Wanderungen unternehmen. Es zeigte sich<br />

jedoch, dass ich fürs Wildwasserfahren noch<br />

viel lernen musste. Aber ich war motiviert und<br />

hatte meine neue Leidenschaft gefunden.<br />

Gipfelerfahrungen. Im kommenden<br />

Jahr war ich mit dem<br />

Kanu auf vier langen Flüssen im<br />

kanadischen Yukon-Gebiet unterwegs.<br />

Auf dem Big Salmon<br />

River lernte ich Franz Six, einen<br />

österreichischen Profiabenteurer,<br />

kennen. Wir paddelten eine<br />

Zeit lang gemeinsam, unter anderem<br />

während einem Monat<br />

auf dem Peel River. Franz hatte<br />

den ganzen Winter in einer<br />

selbst gebauten Hütte in der<br />

Wildnis verbracht. Er erzählte<br />

mir von seinen Abenteuern im<br />

Himalaya, den Anden und der<br />

Südsee. Ich war begeistert und<br />

vor allem überrascht, dass hier<br />

einer war, der es geschafft hatte,<br />

von seinen Abenteuern zu leben.<br />

Franz verdiente sein Geld mit Diavorträgen<br />

über seine Reisen. Das wars! So wollte ich<br />

auch einmal leben.<br />

Acht Monate später kündigte ich meinen Zwischenjob<br />

in der Schweiz und startete erneut –<br />

zur längsten Reise meines Lebens. Ich wollte<br />

zwei Jahre am Stück durch Südamerika reisen.<br />

Das Vorhaben: Bergsteigen in Ecuador, Wandern<br />

in Peru, Patagonien zu Pferd durchqueren<br />

und Paddeln im Amazonas. Die ganzen Abenteuer<br />

wollte ich per Velo zusammenhängen.<br />

Nach zwei Wochen fand ich das Radfahren aber<br />

so langweilig, dass ich das Fahrrad verkaufte.<br />

Als erstes ambitioniertes bergsteigerisches<br />

Projekt in meinem Leben erschien mir der<br />

5897 Meter hohe Vulkan Cotopaxi in Ecuador<br />

eine gute Wahl. Bergschuhe, Pickel, Steigeisen<br />

und Seil konnte man in Quito mieten. Jetzt<br />

fehlte mir nur noch ein Seilpartner, denn ohne<br />

Partner braucht man auch kein Seil… dies war<br />

mir auch als Nichtbergsteiger klar. Doch wie<br />

findet man in Quito einen Seilpartner für den<br />

Cotopaxi? Ich hatte Glück, im Hotel sah ich<br />

einen Deutschen mit einem blauen Helly-Hansen-Pullover.<br />

Für mich war damals jeder Helly-<br />

Hansen-Träger ein Bergsteiger. Ich hatte richtig<br />

geraten. Heinrich aus Kempten war Bergsteiger<br />

und hatte die gleichen Pläne.<br />

Bereits zwei Tage später waren wir zur<br />

Schutzhütte José Ribas unterwegs. Dort angekommen,<br />

machten wir uns bei prächtigem<br />

Wetter noch in der gleichen Nacht im Schein<br />

unserer Stirnlampen auf Richtung Gipfel.<br />

Meine zu grossen Bergschuhe behinderten<br />

mich etwas, doch mit der Zeit hatte ich mich<br />

daran gewöhnt. Bald erreichten wir den Gletscher,<br />

wo wir die Steigeisen montierten und<br />

uns anseilten. Wir kamen gut voran. Mit den<br />

ersten wärmenden Sonnenstrahlen erreichten<br />

wir schon um 6.45 Uhr den Gipfel. Ich war<br />

überglücklich und genoss die tolle Aussicht.<br />

Schon um 9 Uhr waren wir zurück in der Hütte.<br />

63


Hier gestand ich Heinrich endlich, dass ich<br />

zum ersten Mal in meinem Leben richtige<br />

Steigeisen an den Füssen hatte. Gemeinsam<br />

ging es weiter zu den Vulkanen Chimborazo<br />

und Tungurahua. Danach fühlte ich mich<br />

schon als richtiger Bergsteiger und entschloss<br />

mich, in der Cordillera Blanca in Peru weitere<br />

Berge zu besteigen.<br />

Insgesamt gelangen mir in den nächsten<br />

Monaten weitere acht Gipfel, die bis 6768 Meter<br />

hoch waren. Darunter auch wunderschöne<br />

und technisch anspruchsvollere, wie der Alpamayo<br />

oder der Artesonrayu.<br />

Als das Wetter zum Bergsteigen zu unbeständig<br />

wurde, kaufte ich mir zwei Maultiere<br />

und umrundete die abgeschiedene Cordillera<br />

Huayhuash. Später zogen wir durch die Pampa<br />

de Lampas und quer durch die ganze Cordillera<br />

Blanca. Ich hatte zuvor noch nie etwas mit<br />

Pferden oder Eseln zu tun gehabt und musste<br />

auf der zehn Wochen dauernden Tour kräftig<br />

Lehrgeld zahlen. Aller Schwierigkeiten zum<br />

Trotz, war ich von dieser Art des Reisens so<br />

begeistert, dass ich mich gleich zur nächsten<br />

Pferdetour quer durch Patagonien aufmachte.<br />

Sechs Monate später hatte ich 2000 Kilometer<br />

zurückgelegt und Patagoniens schönste Plätze<br />

besucht, die nur zu Fuss oder auf dem Pferderücken<br />

zu erkunden waren.<br />

Auf meiner Südamerikareise war inzwischen<br />

Halbzeit und wieder Saison zum Bergsteigen.<br />

Nach zahlreichen weiteren Gipfeln in<br />

Bolivien und Peru war nur noch ein Abenteuer<br />

auf meiner Wunschliste offen:<br />

eine Kanutour durch Amazonien.<br />

Ich war gerade an den Vorbereitungen<br />

für diese Tour, als mich<br />

auf der Botschaft in La Paz eine<br />

Nachricht von Franz Six aus Österreich<br />

erreichte: «Ich brauche<br />

einen wie dich für eine Hundeschlittenexpedition<br />

durch das<br />

Yukon-Territorium. Die Tour soll<br />

vom Süden, quer durch die Mackenzie-Mountains<br />

nach Fort<br />

McPherson im äussersten Norden<br />

Kanadas führen…». Ich hielt<br />

den Brief in den Händen und<br />

überlegte. Mir war sofort klar,<br />

welche Dimension dieses Projekt<br />

hatte. Nach fünf Minuten hatte<br />

ich mich entschieden. Mein Amazonastrip<br />

wurde von sechs auf gute zwei Monate gekürzt.<br />

Amazonas. Nur zwei statt sechs Monate unterwegs<br />

– die Winterexpedion in Kanada rief (l. oben) .<br />

Auf dem Fluss. Viehtransport in Bolivien (oben).<br />

Patagonien. 2000 Kilometer mit Pferden durch<br />

die Pampa (links).<br />

Eiskalte Wildnis. Es war Mitte Dezember, das<br />

Thermometer zeigte Minus 22 Grad. Franz Six,<br />

Toni Stadler und ich waren seit einer Woche<br />

mit Hundeschlitten unterwegs zur Blockhütte<br />

von Franz am Big Salmon Lake. Ein Stück flussabwärts<br />

hatten wir uns vor zwei Jahren kennengelernt.<br />

Als wir die Hütte erreichten, waren<br />

die Hunde erschöpft. Auch wir konnten eine<br />

Pause gut gebrauchen. Wir richteten uns ein<br />

und begannen, die Tiere für die geplante siebenmonatige<br />

Yukon-Durchquerung zu trainieren.<br />

Es wurde eine der stimmigsten, aber wohl<br />

auch die extremste Tour meines Lebens. Noch<br />

nie war ich für so lange Zeit in der Wildnis gewesen.<br />

Täglich mussten wir neue Lösungen finden,<br />

damit wir ein Stück weiter kamen. Erst<br />

wollte uns der meterhohe Pulverschnee am<br />

Vorwärtskommen hindern, dann waren es<br />

Stürme in den Bergen, die uns zusetzten, und<br />

auf den letzten 700 Kilometern kämpften wir<br />

auf dem Snake und dem Peel River täglich gegen<br />

offenes Eis. Unsere Improvisationskunst<br />

wurde bis aufs Letzte gefordert. Das Essen war<br />

uns ausgegangen, nur dank dem Fleisch eines<br />

Bären, den wir notfallmässig erlegen mussten,<br />

überlebten wir den nicht eingeplanten Zusatzmonat<br />

in der Wildnis. Dann hatten wir das<br />

Unmögliche geschafft. Uns war die erste Süd-<br />

Nord-Durchquerung des Yukon-Territoriums<br />

gelungen. Dass alles zu einem guten Ende gekommen<br />

war, hatte nicht nur mit Glück zu tun.<br />

Im Verlaufe der Monate waren Franz, Toni und<br />

ich zu einem Team zusammengewachsen, das<br />

annähernd jedem Problem gewachsen war. Wir<br />

hatten gelernt, uns nicht der Natur entgegenzustellen,<br />

sondern uns ihr anzupassen. War das<br />

Wetter schlecht, machten wir Pause. Liessen es<br />

die Verhältnisse zu, waren wir vierzehn Stunden<br />

auf den Beinen.<br />

Seit ich das letzte Mal gearbeitet hatte, waren<br />

zweieinhalb Jahre vergangen. Wie konnte<br />

ich mir das leisten? Ich kann diejenigen beruhigen,<br />

die glauben, reiche Eltern hätten nachgeholfen.<br />

Ich habe nie irgendwelche Fremdunterstützung<br />

erhalten. Alles, was ich brauchte,<br />

habe ich mir immer selber erarbeitet.<br />

Die Yukon-<br />

Durchquerung<br />

im Winter<br />

wurde die<br />

extremste Tour<br />

meines Lebens.<br />

Zurück in der Schweiz, fand ich eine Stelle<br />

als Elektroniker in der Forschungsabteilung bei<br />

Roche Diagnostics. Dank dem toleranten Chef<br />

genoss ich viele Freiheiten und konnte meine<br />

Arbeitszeit flexibel einteilen. Wenn Termine<br />

drückten, arbeitete ich aber wenn nötig auch<br />

mal 16 Stunden pro Tag. Diese Flexibilität war<br />

mir wichtig, denn jetzt wollte ich endlich richtig<br />

Paddeln lernen. Im Winter war ich jede Woche<br />

im Hallenbad und trainierte die Eskimorolle<br />

bis zur Perfektion. Sobald der erste Schnee<br />

schmolz, ging es mehrmals pro Woche auf einen<br />

Bach. Ich machte technisch schnell Fortschritte.<br />

Und wie stand es um die Finanzen? Ich<br />

musste sparen, damit ich meine Träume finan-<br />

64 GLOBETROTTER-MAGAZIN 100 WINTER 2012


iografie<br />

zieren konnte. Wichtigster Sparfaktor war die<br />

Wohnungsmiete. Ich lebte in einer Wohnung,<br />

die im Monat nur 240 Franken kostete. Dieser<br />

Betrag teilte sich durch die drei Bewohner. Pro<br />

Person blieben also 80 Franken. Meinen Anteil<br />

teilte ich noch mit meiner Freundin. So blieben<br />

mir Nettowohnkosten von 40 Franken im Monat.<br />

Dazu kamen obligatorische Versicherungen<br />

von 60 Franken. Für Essen und Ausgang<br />

gingen rund 400 Franken pro Monat weg, für<br />

diverse Freizeitaktivitäten wie Paddeln etwa<br />

300 Franken. Auf ein Auto verzichtete ich. So<br />

lagen meine Monatsauslagen bei rund 800<br />

Franken, was mir ein monatliches Sparen von<br />

2800 Franken ermöglichte. Wenn ich zwei<br />

Jahre arbeitete, würde also ein stattlicher Betrag<br />

für weitere Expeditionen zusammenkommen.<br />

Abenteuer Island. Die zwei Jahre sollten aber<br />

nicht ganz reisefrei über die Bühne gehen. Meine<br />

Freundin Veronika wollte nach Island reisen.<br />

Als ich Island hörte, kamen mir gleich zwei Expeditionsberichte<br />

in den Sinn. Beide Teams<br />

hatten versucht, den wilden Fluss Jökulsá á<br />

Fjöllum, der dem Vatnajökull, dem grössten<br />

Gletscher Islands, entspringt, zu paddeln. Dies<br />

tönte nach einem herausfordernden Projekt,<br />

das mich reizte. Ich wollte den Fluss aber nicht<br />

mit dem Geländewagen, sondern aus eigener<br />

Muskelkraft über den Gletscher erreichen. Damit<br />

würde uns die erste Süd-Nord-Durchquerung<br />

der Insel mit dem Kanu gelingen.<br />

Hart und kalt. Während sieben Monaten mit<br />

Schlittenhunden durch das Yukon-Territorium. Die<br />

Expedition mit Franz Six und Toni Stadler gelang<br />

dank optimaler Anpassung an die Natur.<br />

Ausgangspunkt der Reise war Skaftafell an<br />

der Südküste der Insel. Leider waren die Gletscherzungen,<br />

die bis ans Meer reichen, so zerrissen,<br />

dass ein Aufstieg aufs Gletscherplateau<br />

unmöglich war. So folgten wir dem Tal der<br />

Morsa für einen Tag und versuchten unser<br />

Glück über die steilen Bergflanken. Über<br />

Schnee- und Geröllfelder kämpften wir uns die<br />

1000 Höhenmeter hinauf zum Gletscher. Als<br />

die erste Ladung Material oben war, hiess es<br />

wieder absteigen und den ganzen Weg noch<br />

zwei Mal zu machen. Eine Woche später war<br />

es so weit. Kanu, Skier, Ausrüstung, Treibstoff<br />

und Essen für fünf Wochen waren auf dem<br />

Gletscher. Leider regnete es in Strömen, und<br />

Nebel hüllte uns ein. Ans Losmarschieren war<br />

nicht zu denken.<br />

Nach einer Woche starteten wir trotz grauer<br />

Brühe hinaus auf den Gletscher. Veronika war<br />

mein einziger Fixpunkt im Whiteout. Am langen<br />

Seil gesichert, konnte ich sie gerade noch<br />

ausmachen. Alle 50 Meter kontrollierte ich mit<br />

dem Kompass die Richtung und schrie die Korrekturen<br />

nach vorne. Ich zog das schwerbeladene<br />

Schlauchbootkanu alleine, wir kamen nur<br />

im Schneckentempo voran. Schon nach wenigen<br />

Stunden regnete es wieder so stark, dass<br />

wir die Aktion abbrechen mussten. Weitere sieben<br />

Tage langen Wartens waren angesagt.<br />

Endlich, nach zwei Wochen, riss es morgens<br />

um 3 Uhr auf. Eine Stunde später waren<br />

wir unterwegs. Zu zweit zogen wir den Schlitten.<br />

16 Stunden später – wir waren fast ohne<br />

Pause gelaufen – hatte uns der Nebel wieder<br />

eingehüllt. Dies nahmen wir aber gelassen,<br />

denn wir waren 50 Kilometer weit gekommen<br />

und hatten den Kverkvjöll, mit 1800 Metern<br />

einer der höchsten Punkte des Gletschers, erreicht.<br />

Von hier gelang uns am nächsten Tag<br />

bei herrlichem Wetter der Abstieg. Über ein<br />

hochthermales Gebiet mit Seen, Dampf und<br />

Schwefel erreichten wir problemlos die Quelle<br />

der Jökulsá á Fjöllum.<br />

Endlich waren wir am Startpunkt der eigentlichen<br />

Expedition. Wir beluden das Kanu<br />

und fuhren los. Kaum hatten wir das schützende<br />

Kehrwasser verlassen, riss uns der Fluss<br />

65


in die Tiefe. Riesige Wellen,<br />

Schiebewasser und Walzen gab<br />

es selbst auf flacheren Abschnitten.<br />

Zwängte sich der Fluss<br />

durch Felsriegel oder Canyons,<br />

hiess es vorher aussteigen und<br />

besichtigen. So waren wir täglich<br />

mehr zu Fuss unterwegs als<br />

mit dem Kanu. Nach dem Besichtigen<br />

mussten wir uns entscheiden,<br />

ob wir eine Befahrung<br />

der Schlüsselstellen wagen<br />

konnten oder Boot und Material<br />

tragen mussten. Kurz vor der<br />

Küste wartete der Jökulsá-Canyon<br />

mit seinen fünf Wasserfällen auf uns. Der<br />

Dettifoss ist mit 44 Metern der höchste und<br />

eindrucksvollste. Umtragen mussten wir aber<br />

alle fünf. Dann besichtigten wir den Rest der<br />

Schlucht. Mit dem Feldstecher versuchten wir<br />

von weit oben, die Wucht des Wassers abzuschätzen.<br />

Schliesslich wagten wir es. Von oben<br />

hatte das Ganze jedoch einfacher ausgesehen,<br />

als es tatsächlich war. Trotz eisigem Wasser<br />

schwitzten wir in unseren Schutzanzügen und<br />

paddelten um unser Leben. Endlich öffnete<br />

sich der Canyon, und wir paddelten die letzten<br />

Kilometer gemütlich ans Meer.<br />

Über diese Reise verfasste ich meinen<br />

ersten Reisebericht und schickte ihn an<br />

verschiedene Zeitschriften. Zu meiner<br />

Überraschung wurde er von mehreren<br />

<strong>Magazin</strong>en abgedruckt. Das war doch ein<br />

Anfang!<br />

Umbruch. 1993 war das Jahr der grossen<br />

Veränderungen. Mitte Mai verunglückte<br />

mein Freund und Expedionspartner Franz<br />

Six bei einer Steilwandskiabfahrt in den<br />

heimischen Bergen tödlich. Seine Freundin<br />

war im sechsten Monat schwanger, das<br />

Leid der Familie unvorstellbar. Auch ich<br />

brauchte lange, um den Tod von Franz zu<br />

Island. Süd-Nord-Durchquerung der Insel mit dem<br />

Kanu. Andreas Hutter und Freundin Veronika unterwegs<br />

auf dem Gletscher (oben und links unten).<br />

Naturspektakel. Der Svartifoss-Wasserfall im<br />

Südosten Islands (links).<br />

verarbeiten. Franz war nicht nur mein Freund,<br />

sondern auch mein Mentor gewesen. Gemeinsam<br />

hatten wir grosse Zukunftspläne geschmiedet.<br />

Jetzt würde sich zeigen, ob ich auch<br />

alleine die Kraft haben würde, Teile davon umzusetzen.<br />

Ich kündigte meinen Job als Elektroniker<br />

endgültig und war fest entschlossen, in Zukunft<br />

vom Filmen, Fotografieren und Schreiben zu<br />

leben. Mein Chef, der mich immer animiert<br />

hatte, meinen eigenen Weg zu gehen, schenkte<br />

mir am letzten Arbeitstag das Kinderbuch<br />

«Fredrick». Ich war zu Tränen gerührt und<br />

hoffte, dass ich, wie die Maus Fredrick, in Zukunft<br />

den Menschen mit dem Erzählen meiner<br />

Abenteuer Freude bereiten konnte.<br />

Ende Mai flog ich einmal mehr ins kanadische<br />

Yukon-Gebiet. Mit verschiedenen Freunden<br />

erlebte ich grossartige Abenteuer: Trekkings<br />

in den Bergen, die Befahrung verschie-<br />

Ich kündigte<br />

meinen Job, fest<br />

entschlossen,<br />

vom Fotografieren<br />

und Schreiben<br />

zu leben.<br />

66 GLOBETROTTER-MAGAZIN 100 WINTER 2012


lösten sich auf der Abfahrt Bremsklötze<br />

und Pedale des Fahrrads.<br />

Meine Downhill-Fahrradtour<br />

durch Baltistan war deshalb nicht<br />

wirklich erholsam. Ich litt auch<br />

unter der grossen Hitze, konnte<br />

kaum schlafen und hatte nach jedem<br />

Essen Schweissausbrüche.<br />

Etwas stimmte nicht mit mir.<br />

In Gilgit verkaufte ich mein<br />

Velo und reiste weiter nach Skardu.<br />

Von dort wollte ich zu den spektakulären<br />

Trango Towers und zum<br />

Konkordiaplatz, dem Herz des Kabiografie<br />

Flossabenteuer. Für einmal etwas ruhigere Tage<br />

(oben und unten).<br />

Glück gehabt. Auf einem Trekking in Pakistan<br />

wird Andreas schwer krank. Nur dank der Hilfe<br />

eines Reisekollegen überlebt er (rechts).<br />

Immer flussabwärts. Auf dem Yukon (unten).<br />

dener Flüsse und im Herbst der Versuch, auf<br />

dem Landweg den Nahanni-River zu erreichen.<br />

Im Quellgebiet froren wir fast ein und schafften<br />

es nur mit viel Glück zurück in die Zivilisation.<br />

Dann schipperten wir, umringt von Eisschollen,<br />

mit einem Holzfloss auf dem Pelli<br />

und dem Yukon River 700 Kilometer nach<br />

Dawson.<br />

Zurück in der Schweiz, dauerte es nicht<br />

lange, und wir begannen, neue Pläne zu<br />

schmieden. Schon seit Patagonien hatte ich die<br />

Idee, die Mongolei zu Pferd zu durchqueren.<br />

Veronika als grosse Pferdenärrin<br />

wollte natürlich dabei sein. Die<br />

Tour sollte aber nicht bloss eine<br />

neue Reise werden, sondern auch<br />

der Start zum Profiabenteurer. Ich<br />

wollte einen Vortrag und ein Buch<br />

über den Trip machen. Deshalb<br />

musste alles etwas genauer recherchiert<br />

und vorbereitet sein.<br />

Die Mongolei konnte man erst<br />

seit zwei Jahren als Tourist auf eigene<br />

Faust bereisen, es gab noch<br />

kaum Infos. Ich beschloss, im<br />

Sommer eine Rekognoszierungstour<br />

zu machen. Nach einem Monat<br />

lief mein Touristenvisum aus,<br />

ich hatte aber genügend Informationen<br />

gesammelt, um die grosse<br />

Pferdereise für das kommende Jahr<br />

planen zu können. Da ich nun aber<br />

schon in Asien war, reiste ich über<br />

Urumqi nach Kashgar. Hatte ich in<br />

der Mongolei auch ohne Kenntnis<br />

der Sprache einen direkten Draht<br />

zu den Menschen gefunden,<br />

klappte dies in China nicht. Ich<br />

fühlte mich nicht besonders wohl,<br />

wollte schnell weiter nach Pakistan.<br />

Für 45 Dollar kaufte ich ein klassisches<br />

chinesisches Fahrrad und<br />

fuhr damit über den 4693 Meter<br />

hohen Khunjerab-Pass hinunter<br />

nach Gilgit. Schon am ersten Tag<br />

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Pferd gekauft. In den Hochtälern Ladakhs und<br />

Zanskars unterwegs mit dem treuen Gefährten.<br />

(oben).<br />

Scheuer Blick. Immer viel Kontakt zu den<br />

Einheimischen (rechts).<br />

rakorums, wandern. Auf der Fahrt nach Skardu<br />

begann ich, unter starken Bauchkrämpfen und<br />

Durchfall zu leiden. Als ich bei nächster Gelegenheit<br />

meine übelriechende Ausscheidung<br />

genauer betrachtete, entdeckte ich Tausende<br />

Würmer! Der Arzt in Skardu meinte mit Kennermiene:<br />

«Sie haben wohl rohes Fleisch gegessen.»<br />

Ich überlegte. In der Mongolei hatte<br />

ich tatsächlich aus Hunger und Dummheit rohes<br />

Hackfleisch konsumiert und zu viel Wodka<br />

getrunken. Danach musste ich die ganze Nacht<br />

erbrechen. Ich dachte, das komme vom Wodka.<br />

Tiefpunkt. Der Arzt verschrieb mir eine Packung<br />

Tabletten und Ruhe. Als Positivdenker<br />

glaubte ich, das Problem sei mit den Tabletten<br />

gelöst. So fuhr ich zusammen mit Christian aus<br />

Basel, den ich unterwegs kennengelernt hatte,<br />

weiter nach Askole. Da die Strasse verschüttet<br />

war, mussten wir ein Stück zu Fuss gehen. Auf<br />

dem Weg erbrach ich im Zweistundentakt,<br />

mein Stuhl bestand nur noch aus Schleim und<br />

Blut. Doch ich glaubte immer noch fest daran,<br />

das Trekking machen zu können. Die Polizei<br />

in Askole verbot uns jedoch, ohne<br />

Führer und Träger zu den Trango Towers<br />

zu gehen. Also entschieden wir, über den<br />

Biafo-Gletscher zurück ins Hunza-Tal zu<br />

wandern. Als wir Askole verliessen, hatte<br />

ich schon vier Tage nichts mehr gegessen.<br />

Unter schlimmen Schmerzen kämpfte ich<br />

68 GLOBETROTTER-MAGAZIN 100 WINTER 2012<br />

Live-Reportage<br />

Zwischen dem 6. Januar und dem 10. Februar<br />

2012 zeigt Andreas Hutter seine Multivisionsshow<br />

«Der Abenteurer» und erzählt Geschichten<br />

aus seinem aufregenden Leben.<br />

In 21 Städten der Deutschschweiz.<br />

Daten und Infos unter: www.explora.ch<br />

mich auf den Gletscher. Dann kam der<br />

Zusammenbruch. Ich konnte mich nicht<br />

mehr bewegen und hatte Lähmungserscheinungen<br />

auf der rechten Körperseite.<br />

Das Atmen fiel mir vor allem im<br />

Liegen schwer. «Ich werde hier sterben»,<br />

schoss es mir durch den Kopf.<br />

Christian erkannte den Ernst der<br />

Lage: Würde ich es nicht schaffen, selber<br />

vom Gletscher wegzukommen, wäre<br />

dies mein Ende. Ich hatte in der Zwischenzeit<br />

schon über eine Woche nichts<br />

mehr gegessen. Am nächsten Morgen<br />

mobilisierte ich meinen gesamten Überlebenswillen.<br />

Wir traten den Rückweg<br />

nach Askole und weiter bis zum ersten<br />

Strassenzugang an. Zwei Tage später sassen<br />

wir im rettenden Jeep nach Skardu.<br />

Auf der Fahrt verlor ich für kurze Zeit das Bewusstsein.<br />

Im Hotel in Skardu wurden meine<br />

Atembeschwerden immer schlimmer. Jetzt war<br />

ich überzeugt, dass es dem Ende zuging. Christian<br />

brachte mich mitten in der Nacht notfallmässig<br />

ins Krankenhaus. Die Lunge und das<br />

Herz waren glücklicherweise intakt. Aber<br />

meine entzündeten Därme blockierten den gesamten<br />

Unterleib bis hinauf in die Lungen.<br />

Während der Untersuchung wurde mein Zustand<br />

immer schlimmer. Die Ärzte spritzten<br />

mir Medikamente gegen Muskelverkrampfung<br />

und andere Drogen. Dann reservierten sie mir<br />

einen Notfallplatz im Flugzeug nach Islamabad.<br />

Die Medikamente wirkten, ich konnte einigermassen<br />

schlafen. Christian, mein rettender Engel,<br />

brachte mich am nächsten Tag zum Flughafen.<br />

Ihm verdanke ich mein Leben, denn ich<br />

weiss nicht, ob ich es ohne seine Hilfe zurück<br />

an die Strasse geschafft hätte.<br />

Die Schweizer Botschaft in Islamabad<br />

verwies mich an einen Arzt, der folgende<br />

Diagnose stellte: Zwei verschiedene Wurmarten<br />

im Darm und zusätzlich Amöben.<br />

Er verschrieb mir eine umfangreiche Medikamentenkur.<br />

Mein Gewicht war von 65<br />

auf 48 Kilogramm abgesackt. Zehn Tage<br />

verbrachte ich in Islamabad im Hotel mit


iografie<br />

Erste Vortragstournee. Wenige Monate später,<br />

nach intensiven Vorbereitungen, sass ich zusammen<br />

mit Veronika im Flugzeug Richtung<br />

Mongolei. Den ersten Monat verbrachten wir<br />

in Ulan Bator, um etwas von der Sprache zu<br />

lernen und das nötige Langzeitvisum zu erhalten.<br />

Von Juli bis Dezember durchstreiften wir<br />

mit vier Pferden das Land vom äussersten Westen<br />

über die Wüste Gobi durch das zentrale<br />

Hangay-Gebirge bis in den hohen Norden.<br />

Nach sechs Monaten und 2000 Kilometern erreichten<br />

wir bei minus 35 Grad über den zugefrorenen<br />

Delger-Murun-Fluss den Hövgöl-See.<br />

Diese Reise bot genug Stoff für spannende<br />

Reiseberichte, vielleicht sogar ein Buch und<br />

Vorträge. Ich versuchte, Sponsoren und einen<br />

Durch die Mongolei. Zu Pferd durchquerten<br />

Andreas und Veronika in sechs Monaten das<br />

riesige Land. Die Begegnung mit den Menschen<br />

stand im Vordergrund. Die Reise war Basis für die<br />

erste grosse Vortragstournee.<br />

Reisschleimessen, Lesen und Medikamenteeinwerfen.<br />

Die Hitze setzte mir auch hier zu.<br />

Sobald ich wieder einigermassen bei Kräften<br />

war, reiste ich weiter nach Manali in Indien.<br />

Auf dem Weg wurde ich schon wieder krank.<br />

Zum ersten Mal standen in meinem Tagebuch<br />

Zeilen, die Verzweiflung ausdrückten: Liege im<br />

Bett und bin krank, Fieber, Schnupfen, Scheisserei,<br />

bin alleine, will nach Hause. Nimmt das<br />

denn kein Ende?<br />

In Manali, auf 1950 Metern, war es glücklicherweise<br />

bedeutend kühler. Hier verbrachte<br />

ich weitere zehn Erholungstage und kam langsam<br />

wieder zu Kräften. Meine Stimmung hellte<br />

sich auf. Ich hatte doch noch nicht genug,<br />

wollte auf einem Pferdetrekking Ladakh und<br />

Zanskar erkunden. Ich besorgte mir einen Sattel,<br />

diverse Seile, Gurten, Decken, Packsäcke,<br />

Karten, Verpflegung und Brennstoff und verlud<br />

das Material in den Bus, der mich nach<br />

Darcha, Ausgangspunkt meiner Tour, bringen<br />

sollte. Hier wollte ich ein Pferd kaufen und über<br />

die Berge nach Padum wandern. Sollte ich am<br />

ersten 5100 Meter hohen Pass gesundheitliche<br />

Probleme bekommen, würde ich umkehren<br />

und nach Hause reisen.<br />

Ich erholte mich aber erstaunlich gut und<br />

durchwanderte mit meinem Pferd während<br />

zwei Monaten Ladakh und Zanskar. Über unzählige<br />

Pässe und durch wunderschöne Täler<br />

führte der Weg. Zuerst auf den bekannten Trekkingrouten,<br />

später durch abgelegenere und wildere<br />

Gegenden. Als der Winter langsam Einzug<br />

hielt, machte ich mich auf den Weg nach Kaschmir.<br />

Ein erneuter Amöbenanfall schwächte<br />

mich aber so stark, dass mir die Freude am<br />

Wandern verging. Mit letzter Kraft schaffte ich<br />

Die Beschwerden<br />

wurden immer<br />

schlimmer.<br />

Ich war überzeugt,<br />

dass es dem<br />

Ende zuging.<br />

es zurück an die Strasse. Dort verkaufte ich<br />

mein Pferd und fuhr mit dem Bus nach Srinagar<br />

und weiter nach Delhi. Dann flog ich zurück<br />

in die Schweiz. Ich war immer noch stark untergewichtig.<br />

Es sollte noch lange Jahre dauern,<br />

bis sich meine Verdauung wieder ganz erholte.<br />

Verleger für meine Pläne zu finden. Vorerst erhielt<br />

ich nur Absagen. Doch ich gab nicht auf,<br />

war überzeugt, es irgendwie zu schaffen, denn<br />

ich hatte einzigartige Abenteuer erlebt.<br />

Schliesslich meldete sich ein Verlag, der bereit<br />

war, zwei Bücher von mir zu veröffentlichen.<br />

Um finanziell einigermassen über die Runden<br />

zu kommen, begann ich, Kanutouren im<br />

Yukon zu organisieren. Kunden fand ich an<br />

meinen Vorträgen, die ich bei Kanuklubs hielt,<br />

und über Freunde. Im ersten Sommer konnte<br />

ich zwei Gruppen den wunderschönen Big Salmon<br />

River in Kanada zeigen.<br />

Im Oktober 1996 erschienen meine zwei<br />

Bücher über den Yukon und die Mongolei. Ich<br />

war stolz. Und auch für eine grosse Vortragstournee<br />

sah es gut aus: Ich hatte einige Sponsoren<br />

gefunden. Allen voran unterstützte mich<br />

Walter Kamm von <strong>Globetrotter</strong> mit einem zinslosen<br />

Darlehen, damit ich die Werbung und<br />

die Projektionsausrüstung finanzieren konnte.<br />

Als zweiten wichtigen Sponsor konnte ich Toyota<br />

überzeugen, mir für die Tournee einen<br />

Kleinbus zur Verfügung zu stellen. Leider hatte<br />

ich aber noch keinen Führerschein. Den hatte<br />

aber zum Glück Romano Schenk, ein Freund<br />

und zukünftiger Geschäftspartner. Zusammen<br />

mit ihm wollte ich die Tournee machen. Wir<br />

hatten uns darauf geeinigt, unsere Vorträge abwechselnd<br />

zu zeigen. Er eine Woche seinen Yukon-Vortrag,<br />

ich eine Woche meinen Mongo-<br />

69


Harte Männer. Auf den Spuren der Gauchos mit<br />

Pferden unterwegs in Patagonien (oben).<br />

Fahrfehler. Verhängnisvoller Unfall in der Heimat.<br />

Die Presse berichtete darüber (rechts oben).<br />

lei-Vortrag. So konnten wir nicht nur die Ausrüstung<br />

teilen, sondern uns auch gegenseitig<br />

helfen.<br />

Nachdem ich meinen Lehrfahrausweis bekommen<br />

hatte, glaubte ich, auch ohne Fahrstunden<br />

losfahren zu können. Es war am Tag<br />

meines ersten Vortrags. Bei der Abfahrt in Luzern<br />

verwechselte ich dummerweise Gas und<br />

Bremse, fuhr rückwärts durchs Schaufenster<br />

eines Möbelhauses und kam erst zwischen edlen<br />

Wohnzimmermöbeln zum Stehen.<br />

Es war ein Schaden von 140 000 Franken<br />

entstanden. Ich sah mich schon den Rest meines<br />

Lebens Schulden abstottern. Glücklicherweise<br />

wurde der Schaden von der Haftpflichtversicherung<br />

übernommen. Ich kam mit einem<br />

blauen Auge davon.<br />

Die Tournee lief zu Beginn unter den Erwartungen.<br />

Am ersten Abend, in Olten, kamen<br />

80 Leute und am zweiten Abend in Langental<br />

55. Ich war schockiert, denn ich hatte mit<br />

durchschnittlich 140 Zuschauern pro Vortrag<br />

kalkuliert. Wenn es so weiterging, würde ich<br />

am Ende der Tournee mit 30 000 Franken Verlust<br />

dastehen. Eine für meine Verhältnisse ungeheure<br />

Summe. Ich konnte kaum mehr schlafen.<br />

Doch dann gingen die Besucherzahlen<br />

langsam in die Höhe. Ich kam am Ende auf einen<br />

Zuschauerschnitt von 160 pro Abend.<br />

Trotzdem war ich ein wenig desillusioniert. Das<br />

begeisterte Feedback der Besucher gab mir aber<br />

die Energie, nicht aufzugeben.<br />

Auf meiner Tour durch die Mongolei hatte<br />

ich gemerkt, dass nicht das Reisen an sich das<br />

Interessanteste an meinen Trips war, sondern<br />

der Kontakt zu den Menschen. Geschichten<br />

solcher Begegnungen waren auch das, was ich<br />

am Liebsten erzählte. Und ich merkte, dass den<br />

Zuschauern genau diese Begegnungen unter<br />

die Haut gingen. Mein nächstes Projekt sollte<br />

deshalb vor allem das Leben von Einheimischen<br />

porträtieren und Menschenschicksale<br />

aufzeichnen. Natürlich sollte das Abenteuer dabei<br />

einen Teil der Geschichte ausmachen. Ich<br />

hatte die Idee, einmal mehr nach Patagonien<br />

zu reisen. Dort wollte ich das Leben auf den<br />

Estancias und Puestos noch besser kennenlernen<br />

und die Gauchos durch ihren Alltag begleiten.<br />

Ich wollte wieder zu Pferd unterwegs<br />

sein, um der ganzen Geschichte einen roten<br />

Faden zu geben. Im November 1997 ging es los.<br />

Die folgenden sieben Monate in Patagonien<br />

waren eine wunderbare Zeit auf den Spuren<br />

der Gauchos. Der Vortrag wurde ein grosser<br />

Erfolg, es schien endlich möglich, mir den Lebensunterhalt<br />

als Abenteurer zu verdienen.<br />

In den folgenden Jahren arbeitete ich intensiv<br />

an einem neuen Vortrag über den Yukon.<br />

Schliesslich hatte ich von diesem Gebiet, das<br />

ich über vier Jahre lang bereist hatte, noch<br />

keine Vortragstournee gemacht. Abenteuer<br />

Das neue Buch von Andreas Hutter:<br />

Der Abenteurer<br />

Grossformat / 212 Seiten / 500 Fotos<br />

ISBN 978-3-033-03216-3<br />

CHF 38.–<br />

Bezugsquelle: office@explora.ch<br />

hatte ich genug erlebt, doch das wichtigste Element<br />

für den Vortrag fehlte mir noch: die Einheimischen.<br />

Ich reiste in den Norden des Yukon-Territoriums<br />

nach Fort McPherson, wo<br />

wir vor vielen Jahren unsere Hundeschlittentour<br />

beendet und Indianer kennengelernt hatten.<br />

Dort begleitete ich zwei Kutschin-Indianer<br />

während Monaten beim Fischen, Jagen und<br />

Fallenstellen und porträtierte ihr Leben im<br />

Norden Kanadas. Daraus entstand mein erfolgreichster<br />

Vortrag, der über 17 000 Besucher begeisterte.<br />

In dieser Art Vortrag sah ich noch<br />

Es ist jetzt an<br />

der Zeit, wieder<br />

an längere<br />

Reisen und tolle<br />

Familienabenteuer<br />

zu denken.<br />

mehr Potenzial. Gemeinsam mit zwei Referenten<br />

gründete ich die Internet-Reservationsplattform<br />

explora.ch, deren Ziel es war, einem<br />

breiten Publikum hochstehende Reisevorträge<br />

zu präsentieren.<br />

Neuer Lebensabschnitt. Jetzt war es wieder<br />

Zeit für ein neues Reise- und Vortragsprojekt.<br />

Dafür fasste ich wieder die Mongolei ins Auge.<br />

Ich wollte die letzten Jäger und Rentierzüchter<br />

vom Volk der Tuwa im äussersten Norden der<br />

Mongolei besuchen und ein Porträt einer Nomadenfamilie<br />

machen. Mit einem alten russischen<br />

Seitenwagen-Motorrad aus dem Zweiten<br />

Weltkrieg machte ich mich 2001 auf die Suche<br />

nach meinem Nomadenfreund Monkkor, den<br />

ich 1995 kennengelernt hatte. Ich fand ihn in<br />

einem traurigen Zustand. Er hatte 1999 in einem<br />

Schneesturm fast alle Tiere verloren und<br />

nur dank der Grossfamilie überlebt. Über die<br />

nächsten fünf Jahre begleitete ich die Nomadenfamilie<br />

während aller Jahreszeiten. Ich er-<br />

70 GLOBETROTTER-MAGAZIN 100 WINTER 2012


iografie<br />

lebte sowohl die schönen als auch die harten<br />

Momente in ihrem Leben. Mit den eindrucksvollen<br />

Bildern entstand nicht nur ein eindrücklicher<br />

Vortrag, sondern gelang mir auch ein<br />

Zeitdokument über diese Familie, die stellvertretend<br />

für viele mongolische Nomaden steht.<br />

Damit berührte ich die Herzen vieler Besucher<br />

und schaffte das Interesse für den Nachfolgevortrag<br />

über die Tuwa-Rentiernomaden, eine<br />

kleine Volksminderheit in der Mongolei. Die<br />

Tuwa leben im äussersten Norden in der subarktischen<br />

Tundra.<br />

Auf meiner zweiten grossen Reise durch<br />

den mongolischen Norden lernte ich den Jäger<br />

Gomb kennen. In den folgenden Jahren machten<br />

wir viele gemeinsame Reisen in die karge<br />

Bei den Tuwa. Einblick ins Leben der Rentiernomaden<br />

im Norden der Mongolei (oben).<br />

Auf der Jagd. Mit Jäger Gomb unterwegs in der<br />

kargen Tundra (unten).<br />

Im Nomadenzelt. Freundschaftspfeife an einem<br />

kalten Winterabend (unten rechts).<br />

Tundra. Er zeigte mir auf ausgedehnten Jagdausflügen<br />

seine wunderschöne Heimat, und ich<br />

bekam Einblick ins einfache Leben seiner Nomadengruppe.<br />

Als Gegenleistung nahm ich<br />

Gomb, der noch nie in einer Stadt gewesen war,<br />

mit meinem Motorrad mit nach Ulan Bator.<br />

Später reisten wir gemeinsam nach Russland,<br />

um seinen Bruder zu suchen, den er 50 Jahre<br />

nicht mehr gesehen hatte. Das anspruchsvolle<br />

Thema konnte nicht ganz an den Publikumserfolg<br />

der letzten drei Tourneen anknüpfen.<br />

Für mich persönlich wurde «Tuwa» aber zum<br />

wichtigsten Vortrag.<br />

Finanziell war ich jetzt glücklicherweise<br />

nicht mehr nur vom Ertrag meiner eigenen<br />

Vorträge abhängig, denn ich hatte mittlerweile<br />

mit Walter Kamm die Reservationsplattform<br />

explora.ch zu einer Eventagentur ausgebaut. In<br />

den folgenden Jahren organisierten wir viele<br />

tolle Vortragstourneen, und Explora etablierte<br />

sich zur führenden Plattform für Reise-, Abenteuer-<br />

und Expeditionsvorträge. Heute arbeiten<br />

im Winter zehn Leute für Explora, es werden<br />

pro Saison zwischen 150 und 200 exklusive<br />

Vorträge gezeigt.<br />

Leider verlagerte sich mein Arbeitsort in<br />

den letzten Jahren immer mehr ins Büro. Doch<br />

mit der Geburt meines Sohnes Florian passte<br />

das ganz gut zusammen. Heute ist Florian bald<br />

vier Jahre alt, und gemeinsam mit meiner Frau<br />

Anita ist es an der Zeit, wieder an längere Reisen<br />

und tolle Familienabenteuer zu denken.<br />

Einmal mehr steht ein neuer, abenteuerlicher<br />

Abschnitt in meinem Leben an, auf den ich<br />

mich sehr freue.<br />

hutter@explora.ch<br />

© <strong>Globetrotter</strong> Club, Bern<br />

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