Leseprobe - Theiss-Verlag
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Das Gewerbe – vom bäuerlichen Heimwerk zur Gewerbelandschaft<br />
99<br />
IV.<br />
Vom Handwerk zur<br />
Manufaktur –<br />
die lange Vorgeschichte<br />
der Industrialisierung<br />
1. Das Gewerbe – vom bäuerlichen Heimwerk zur<br />
Gewerbelandschaft<br />
Während in vormittelalterlicher Zeit das Handwerk noch eng an die landwirtschaftliche<br />
Lebensweise gebunden war, verselbstständigte sich dieses mit der<br />
Herausbildung der königlichen, adeligen und klösterlichen landwirtschaftlichen<br />
Großbetriebe (Villikationen), vor allem dann mit der Herausbildung der<br />
Städte. Arbeitsteilung und Ausdifferenzierung führten in den Städten sowohl zur<br />
Verdichtung der handwerklichen und gewerblichen Produktion wie auch zur<br />
Spezialisierung der Berufstätigkeiten und einer zunehmenden Reglementierung<br />
durch die entstehenden Zünfte (je nach Region auch Gilden genannt), die<br />
seit den Zunftrevolutionen im Hochmittelalter auch an der städtischen Herrschaft<br />
beteiligt wurden. Trotz Verboten durch Städte und Territorialherren blieb<br />
die Konkurrenz des Landhandwerks, das aber vornehmlich auf die lokale Grundversorgung<br />
ausgerichtet war, bestehen.<br />
Innerhalb der Städte entwickelten sich soziale Schichtungen der Handwerker:<br />
Handwerke der Grundversorgung – Bäcker, Schneider, Schuster – standen<br />
in der gesellschaftlichen Achtung und Einkommens-Hierarchie zumeist nicht<br />
allzu hoch, hatten unter Preis- und Konjunkturschwankungen zu leiden und<br />
tendierten in der Frühen Neuzeit zum Eingesellen- oder gar nur Einmannbetrieb.<br />
Handwerksbetriebe, die mit teuren Rohmaterialien wie Gold oder Pelzen<br />
arbeiteten, bzw. Luxusbedarf produzierten, rangierten in der Sozial- und Einkommensskala<br />
weiter oben, gehörten oft zum wohlhabenden Bürgertum. Andere<br />
Handwerke wiederum tendierten angesichts ihrer Größe und Arbeitsteilung<br />
zu den Betriebsformen des <strong>Verlag</strong>es und der Manufaktur, die die<br />
technologisch fortgeschrittensten Varianten des vorindustriellen Gewerbes darstellten.<br />
Das Gewerbe und seine Betriebsformen<br />
Der Begriff „Gewerbe“ umfasst alle Tätigkeiten, die zur Aufbereitung, Formund<br />
Qualitätsveränderung von Roh- und Werkstoffen dienen und damit Waren<br />
für einzelne Kunden oder den Markt produzieren. Bis ins 19. Jahrhundert wurde<br />
auch der Handel noch zum Gewerbe gezählt, erst dann trennten sich Handel,<br />
Verkehr und Dienstleistungen von der gewerblichen Tätigkeit. Auf der anderen<br />
Seite unterscheidet sich das Gewerbe von der direkt naturgebundenen Produktion,<br />
auch Urproduktion genannt, also Landwirtschaft und Viehzucht sowie<br />
Jagd und Fischerei. Genau genommen werden auch Bergbau und Salinenwesen<br />
zu dieser Urproduktion gezählt, was sich aber wirtschaftsgeschichtlich als wenig<br />
sinnvoll erweist, da die Förderung von Metall oder Salz unmittelbar mit der<br />
Verarbeitung dieser Rohstoffe gekoppelt war, sodass in historischen Darstellungen<br />
im Regelfall das Berg-, Hütten- und Salinenwesen zum Gewerbe gezählt<br />
werden.<br />
Weshalb ist diese Definition wichtig? Sie ermöglicht die systematische Betrachtung<br />
ökonomischer Strukturen. Solche bilden das Heimgewerbe, das<br />
Handwerk, den <strong>Verlag</strong>, die Manufaktur und die Fabrik. Diese Begriffe sind nicht<br />
nur Spiegelbild unterschiedlicher sozialer Verhältnisse, sondern auch der technologischen<br />
Entwicklung. Sie entfalten sich im Verlauf der vorindustriellen Ge-<br />
Abb. 51<br />
Schuhmacherwerkstatt<br />
im Spätmittelalter.<br />
Die „Familie“<br />
des Handwerkers ist<br />
vollständig versammelt<br />
– die Frau am<br />
Verkaufstisch, die arbeitenden<br />
Gesellen,<br />
das spielende Kind.
100 Vom Handwerk zur Manufaktur – die lange Vorgeschichte der Industrialisierung Das Gewerbe – vom bäuerlichen Heimwerk zur Gewerbelandschaft<br />
101<br />
Abb. 52<br />
In den besten Zeiten des hausindustriellen Textilgewerbes war<br />
die ganze Familie an einem Produktionsabschnitt beteiligt. Die<br />
einzelnen Arbeiten wurden meistens nebeneinander in einem<br />
Raum ausgeführt.<br />
schichte, und ihre Analyse trägt wesentlich zum Verständnis der Entstehung des<br />
Industriesystems bei.<br />
Dies soll am Beispiel des – quantitativ – bedeutendsten Gewerbes der vorindustriellen<br />
Periode, des Textilgewerbes, veranschaulicht werden.<br />
Das Heimgewerbe (Die Hausindustrie)<br />
In der bäuerlichen Wirtschaft des Frühen Mittelalters waren einfache handwerkliche<br />
Tätigkeiten zur Deckung des Eigenbedarfes durchaus noch üblich. Der<br />
Bauer schnitzte sich Suppenlöffel oder Holzwerkzeuge selbst. Die Bäuerin, ihre<br />
Mägde und Kinder hechelten und verspannen den Flachs, der im Bauernhaus<br />
verwebt wurde. Diese Deckung des Eigenbedarfes wandelte sich allmählich zum<br />
nebenberuflich ausgeübten Heimgewerbe, auch Hausindustrie genannt. Die<br />
derart Tätigen stellten Waren für Abnehmer außerhalb ihres Haushaltes her.<br />
Meistens fiel die heimgewerbliche Arbeit in die Zeit, in der die Landwirtschaft<br />
ruhte. Verbreitet war es vor allem im Textilsektor und stellte hier den zentralen<br />
Pfeiler des <strong>Verlag</strong>ssystems und der Protoindustrialisierung dar. Es waren vorrangig<br />
die der armen, unterbäuerlichen Schichten, die hier beschäftigt wurden. So<br />
entstanden beispielsweise ganze „Weberdörfer“ mit nur noch wenigen Bauern.<br />
Das Handwerk und die Zünfte<br />
Im Handwerk verfügte der Betriebsinhaber als Eigentümer über sein Werkzeug<br />
und die sonstigen Produktionsmittel. Er arbeitete in der Regel in einer kleinen<br />
Werkstatt im eigenen Haus, zumeist unter Mithilfe der Familie, bei Bedarf mit<br />
Hilfskräften. Damit bildete das Handwerk eine Einheit von Warenproduktion,<br />
Warenverkauf und Familienverband. Die Arbeitshierarchie war klar gegliedert<br />
in Meister, Geselle und Lehrling.<br />
Das Handwerk organisierte sich im Verlauf des Hohen Mittelalters in städtischen<br />
Genossenschaften, Zünfte oder auch Gilden genannt. Die Zünfte regelten<br />
das soziale und gesellschaftliche Leben der Mitglieder. Sie bewachten die<br />
„Zunftlade“, eine Truhe, in der die Abgaben der Zunftmitglieder verwahrt wurden,<br />
um in Notfällen verarmte Kollegen oder deren Witwen und Waisen finanziell<br />
zu unterstützen. Auch die „Gebräuche“ des Handwerks wurden von ihnen<br />
gepflegt und kontrolliert, also berufsbezogene Rituale und Feste, die vom „Lehrbraten“,<br />
dem Fest zum Abschluss einer Lehre, bis zu religiösen Umzügen reichten.<br />
Das zentrale Betätigungsfeld der Zünfte jedoch war die Regelung der ökonomischen<br />
Struktur des Handwerks, zuerst also von Dauer und Form der<br />
Lehrlingsausbildung, der Rechte und Pflichten der Gesellen (u. a. Gesellenwandern),<br />
der Zahl der zugelassenen Meister und Gesellen. Seit ihrer Entstehung<br />
machten die Zünfte damit städtische Wirtschaftspolitik, weshalb es auch naheliegend<br />
war, dass sie sich um Sitze im Rat der Stadt bemühten. Ihr Einfluss regulierte<br />
den Arbeitsmarkt: Gab es beispielsweise zu große Nachwuchszahlen in<br />
einem Handwerk, so wurde die Wanderzeit der Gesellen auf mehrere Jahre verlängert,<br />
die „Handwerke geschlossen“.<br />
Von großer Bedeutung waren ferner die Festsetzung der Preise und die<br />
Schlusskontrolle der gefertigten Waren durch zünftisch-städtische „Beschau“ –<br />
hier liegt die Wurzel der Qualitätssicherung der handwerklichen Produktion und<br />
der Nachfrage nach solchen Qualitätsprodukten auch im Fernhandel. Etliche<br />
Städte wurden für ihre Produkte berühmt. Allerdings erstarrten die Zünfte zunehmend,<br />
bis sie im 18. Jahrhundert von der ökonomischen Entwicklung ohnehin<br />
überrollt und schließlich von der politischen Herrschaft gegen Ende des<br />
18. Jahrhunderts, Anfang des 19. Jahrhunderts abgeschafft wurden.<br />
Technikfeindlichkeit der Zünfte?<br />
Da sie sich oftmals gegen Neuerungen wehrten, wird den Zünften häufig Technikfeindschaft<br />
nachgesagt. Hier ist allerdings eine differenziertere Betrachtung<br />
angebracht. Sicher gab es ein Berufswissen, das nicht weitergegeben werden<br />
sollte, da es ja auch die Qualifikation des Handwerkers ausmachte (Rezepte,<br />
besonderes Gerätewissen, spezielle Verfahrenskniffe). Kennzeichen dieser Betriebsform<br />
war aber ohnehin vom Meister auf Gesellen und Lehrlinge tradiertes<br />
Berufswissen, andererseits die „handwerkliche Fertigkeit“, also die Übung und<br />
das Geschick. Über die Anwendung dieses Wissens und Könnens wachte die<br />
Zunft. Da das handwerkliche Produktionswissen erst seit dem 16. Jahrhundert<br />
vermehrt in schriftlichen Texten objektiviert wurde, blieb es über Jahrhunderte
102 Vom Handwerk zur Manufaktur – die lange Vorgeschichte der Industrialisierung Das Gewerbe – vom bäuerlichen Heimwerk zur Gewerbelandschaft<br />
103<br />
Abb. 53<br />
Auf dem Gemälde eines unbekannten Malers von der Wende des 16. zum 17. Jahrhundert sind die wichtigsten<br />
Arbeitsvorgänge bei der Aufbereitung von Rohwolle und der Wolltuchherstellung dargestellt.<br />
hinweg personengebunden. Dies galt auch beim Erfahrungszuwachs durch Gesellenwandern<br />
in bestimmten Handwerken. In anderen Handwerken war der<br />
Technologietransfer in der Tat blockiert. Als berühmtestes Beispiel gilt das Geheimhaltungsgebot<br />
der Glasmacher von Murano. Abwanderung und Verrat des<br />
Produktionsgeheimnisses konnten durchaus mit der Todesstrafe bedroht sein.<br />
Dennoch gelang es den an der Gewerbeförderung interessierten Territorialherren<br />
oder Kaufleuten immer wieder, Fachleute abzuwerben und damit Produktionswissen<br />
einzukaufen.<br />
Eine weitere Dimension ist die „soziale Komponente“ der Technikfeindlichkeit:<br />
Erfindungen wurden geduldet, wenn sie keinen bestehenden Berufsstand<br />
bedrohten, aber angefeindet und verfolgt, wenn sie „die Nahrung der Zunftgenossen<br />
schmälerten“.<br />
An unserem Beispiel des Textilgewerbes wollen wir dies veranschaulichen.<br />
Von der Beschäftigtenzahl her war das Textilgewerbe bis ins 19. Jahrhundert<br />
hinein der umfänglichste Gewerbesektor. Dabei ist allerdings zu beachten, dass<br />
viele Arbeitskräfte, vor allem Spinnerinnen und Spinner, nicht hauptberuflich in<br />
diesem Gewerbe tätig waren und auch die bäuerliche Nebenproduktion, also<br />
das Heimgewerbe, eine große Anzahl der Arbeitskräfte stellte.<br />
Grundsätzlich ist bei den Textilien zwischen zwei Gewebearten zu unterscheiden,<br />
die auch Auswirkungen auf die jeweilige Betriebsform der Produktion<br />
hatten: Der Tuchmacherei (später auch Zeugmacherei) und der Leinwandherstellung.<br />
Rohstoff der Tuche, deren Produktion in den Städten konzentriert war,<br />
war Schafwolle; Rohstoff der Leinwand waren Flachs und Hanf, sie wurde eher<br />
auf dem Lande produziert, oft aber in der Stadt veredelt.<br />
Für die Tuchproduktion bedeutete die Einführung der Walkmühle die Befreiung<br />
von der schweren körperlichen Arbeit des Walkens durch Treten. Da die<br />
Mühle größere Investitionen erforderte, wurde sie häufig von der Zunft, also<br />
genossenschaftlich, betrieben. Gegen diese neue Technologie kamen keinerlei<br />
Widerstände auf. Die Tuchmacher sahen sie als arbeitserleichternden Fortschritt,<br />
und die Walker konnten an anderer Stelle in der Tuchproduktion beschäftigt<br />
werden. Gleiches gilt für das Flügelspinnrad mit Tretantrieb, das sich<br />
um 1500 verbreitete. Sporadische Gegnerschaft hingegen fand die in Italien bereits<br />
seit dem 13./14. Jahrhundert in Gebrauch befindliche Seidenzwirnmühle,<br />
die aber ein Fernhandelskaufmann aus Lucca und Bologna trotz Verbotes 1412<br />
in Köln einführte. Für das Ende des 18. Jahrhunderts schätzt man die Zahl der<br />
Seidenzwirnmühlen in Europa auf bis zu 1000. So gab es – bei seiner ökonomischen<br />
Bedeutung keine Überraschung – im vorindustriellen Textilgewerbe eine<br />
Vielzahl an Innovationen, die meisten akzeptiert. Die mühseligen Arbeiten des<br />
Aufrauens, Appretierens und Pressens (Glätten) der gewalkten Tuche initiierten<br />
die Konstruktion von Raumaschinen, „Frisiermühlen“ (komplizierte Maschinen
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105<br />
Abb. 54<br />
Erhaltener Bandwebstuhl<br />
von 1820.<br />
bezeichnete man zu dieser Zeit ebenfalls als<br />
„Mühlen“ – weder die „Frisiermühle“ noch<br />
die „Bandmühle“ sind also mit Wind- oder<br />
Wasserkraft betrieben) und eisernen Spindelpressen.<br />
Außer den genannten Verbesserungen<br />
an den Spinnrädern blieben bei der<br />
Herstellung des „Gespinstes“ überraschenderweise<br />
technische Fortschritte aus, sodass<br />
im 18. Jahrhundert der „Garnhunger“ ein gesamteuropäisches<br />
Phänomen war. Der Garnbedarf<br />
der mittlerweile verbesserten und effektiveren<br />
Webstühle (Zug-, Zampel- oder<br />
Kegelstuhl; Erfindung der Schnelllade durch<br />
John Kay um 1733; Vorläufer des lochkartengesteuerten<br />
Jacquard-Webstuhls schon seit<br />
1725) konnte nur noch durch ständiges Anwachsen<br />
der Zahl an Spinnerinnen und Spinnern<br />
gedeckt werden.<br />
In diesen Bereichen gab es verständlicherweise<br />
keine Technikfeindschaft. Selbst<br />
der Strumpfwirkstuhl, 1589 in England präsentiert,<br />
stieß trotz zünftisch organisier -<br />
ter Handstricker kaum auf Widerstand. Ihn<br />
konnten sich die Handstricker leisten, er<br />
nahm ihnen mühseliges „Hand-Werk“ ab und steigerte durch Effektivität ihren<br />
Verdienst. Nach Berlin brachten ihn hugenottische Flüchtlinge, die dort 1721<br />
um die 140 Strumpfwirkstühle betrieben; 1737 waren es bereits 700 (Ulrich<br />
Troitzsch 1991, S. 166).<br />
Die Bandmühle (auch Bandmühlstuhl, Schnurmühle), vermutlich um 1586 in<br />
Danzig erfunden, verbreitete sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts<br />
trotz eines kaiserlichen Verbotes von 1685 (erneuert 1719) sowie etlicher städtischer<br />
Verbote wie schon am Ende des 16. Jahrhunderts in Brügge und Antwerpen.<br />
Bänder aus Seide oder sonstigen Stoffen zur Verzierung der Kleidung waren<br />
seinerzeit sehr begehrt. Diese Maschine bedrohte das zünftische Gewerbe der<br />
Bortenmacher oder Posamentierer, die auf dem herkömmlichen Bandwebstuhl<br />
nur jeweils ein Band produzieren konnten. Mit der Bandmühle hingegen waren<br />
6 bis 24, z. T. noch mehr Bänder in einem Arbeitsdurchgang zu fertigen; zudem<br />
war sie von Ungelernten zu bedienen. Anfang des 18. Jahrhunderts hatten sich<br />
im gesamten Reich mehrere Zentren der Bortenmacherei etabliert, zum Teil<br />
zünftisch und gegen die Bandmühle eingestellt, zum anderen Teil auf Basis der<br />
Bandmühle: Neben Frankreich und dem Baseler Gebiet fand dies auch in Köln,<br />
Krefeld, Frankfurt am Main und Augsburg statt.<br />
In Augsburg wurde die Bandmühle von der Zunft bekämpft, da sie wegen<br />
ihres hohen Preises nur von einigen wenigen Meistern hätte angeschafft werden<br />
können. Die zünftischen Bortenmacher sahen – nicht zu Unrecht – durch die<br />
Bandmühle ihre Arbeits- und Lebensweise bedroht. Durch Mehrarbeit versuchten<br />
sie, mit der Maschine zu konkurrieren. Die Zünfte anderer Städte hatten<br />
bereits im 17. Jahrhundert bemängelt, dass in Augsburg auch Meisterfrauen und<br />
Meistertöchter an den Bandstühlen arbeiten würden – mit einem Vergleich wurde<br />
1693 der Streit um die Augsburger Frauenarbeit beigelegt, diese durften nicht<br />
mehr an den Bandstühlen tätig sein.<br />
Den Handel der Kaufleute aber konnten die empörten Handwerker in Augsburg<br />
und anderswo nicht untersagen. Mit dem billigen Preis der Bänder aus den<br />
von Verlegern beherrschten protoindustriellen städtischen und ländlichen Revieren<br />
konnten sie auch nicht mithalten.<br />
Trotz Lohndrückerei gegenüber den Gesellen<br />
und Ausbeutung der Lehrlinge war es ihnen<br />
nicht möglich, zu konkurrieren. Etliche<br />
Streiks und Aufstände der Gesellen gegen die<br />
Lohndrückerei hatten keinen Erfolg, seit der<br />
Mitte des 18. Jahrhunderts sank die Zahl<br />
der Meister und Gesellen im Bortenmacherhandwerk<br />
rapide. Auch hier hatte sich die<br />
proto industrielle Produktionsweise des Ver -<br />
lags systems gegenüber dem Handwerk als<br />
ökonomisch überlebensfähiger erwiesen.<br />
Reinhold Reith hat herausgearbeitet, wie<br />
sehr sich beim Streit um die Bandmühle unterschiedliche<br />
historische Entwicklungsstränge<br />
verknüpften. Er betont zunächst die<br />
hohe Produktivität der Bandmühle und hebt<br />
wie schon Karl Marx hervor, dass sie durch ihre<br />
technischen Problemlösungen entscheidend<br />
zur Mechanisierung des Webprozesses<br />
insgesamt und damit zum Industrialisierungsprozess<br />
des Textilgewerbes beigetragen<br />
habe. Sie verschuldete jedoch in hohem Maße<br />
den Niedergang des (Augsburger) Bortenmacherhandwerkes<br />
und steht damit symbol-<br />
Abb. 55<br />
Darstellung eines<br />
Bortenwirkers in<br />
C. Weigels Ständebuch.
106 Vom Handwerk zur Manufaktur – die lange Vorgeschichte der Industrialisierung Das Gewerbe – vom bäuerlichen Heimwerk zur Gewerbelandschaft<br />
107<br />
haft für die prekäre Situation des Handwerks im 18. Jahrhundert. Während<br />
dieses durch städtische und kaiserliche Verbote die Maschine bekämpfte, konnte<br />
die Bandmühle innerhalb fortgeschrittenerer ökonomischer Strukturen,<br />
nämlich des <strong>Verlag</strong>ssystems, ihre produktive Wirkung voll entfalten.<br />
In Basel produzierten 1691 bereits rund 200 Bandmühlen, auch im niederrheinischen<br />
Krefeld wurde auf „protoindustrieller Basis“ mit Bandmühlen gearbeitet.<br />
Preußen schaffte 1749 das Verbot als „Handwerksmissbrauch“ ab, in Österreich<br />
wurde 1753 ein Privileg für Schweizer Bandmühlen erteilt, und am Ende<br />
des 18. Jahrhunderts produzierten in Wien rund 800 Bandmühlen.<br />
Abb. 56<br />
Das Züricher Baumwollgewerbe des 18. Jahrhunderts war weit verzweigt. Die Handelsherren der Stadt betätigten<br />
sich als Verleger und als Baumwollkaufleute. Einerseits ließen sie den ausländischen Rohstoff an ländliche<br />
Arbeiter zum Verspinnen verteilen, andererseits verkauften sie ihn an sogenannte Faktoren, die ihrerseits die in<br />
den entlegeneren Gebieten lebenden Bauern, Spinner und Weber verlegten.<br />
Der <strong>Verlag</strong><br />
Im <strong>Verlag</strong> büßten Handwerker ihre ökonomische Unabhängigkeit ein, blieben<br />
aber weiterhin Eigentümer ihres Werkzeuges und arbeiteten in eigenen Werkstätten<br />
(als „Verlegte“). Kaufleute oder andere Vermittler („Verleger“) beschafften<br />
ihnen Rohstoffe und nahmen ihre Produkte ab. Es gab viele Mischformen.<br />
Im Kaufsystem stellten die Produzenten Waren auf eigene Rechnung her, verkauften<br />
sie jedoch an einen fest umrissenen Kreis von Abnehmern, meistens an<br />
Kaufleute. Im Extremfalle wurden dem Verlegten auch noch die Produktionsmittel<br />
vom Verleger gestellt, sodass es sich bereits um unselbstständige Lohnarbeit<br />
handelte.<br />
So hob das <strong>Verlag</strong>ssystem die Arbeitshierarchie des Handwerks wie auch<br />
seine zünftische Regulierung auf und funktionierte nach frühkapitalistischen<br />
Prinzipien. Oftmals saßen die Verleger in den Städten, die Verlegten hingegen<br />
auf dem Lande, sodass mit der Verbreitung des <strong>Verlag</strong>ssystems auch eine Protoindustrialisierung<br />
des ländlichen Raumes stattfand.<br />
Protoindustrialisierung<br />
Das Konzept der Protoindustrialisierung („Industrialisierung vor der Industrialisierung“)<br />
wurde in jüngster Zeit in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte intensiv<br />
diskutiert. Es rückte die neben der Betriebsformdiskussion vernachlässigte<br />
frühkapitalistische Entwicklung auf dem flachen Lande in den Mittelpunkt<br />
des Interesses. Seit dem Hochmittelalter gab es schon die Arbeitsteilung zwischen<br />
Stadt und Land, wobei sich allerdings die Produktion in den Städten konzentrierte<br />
und die Landbevölkerung über das <strong>Verlag</strong>ssystem als Zulieferer (von<br />
Garn, Geweben etc.) in dieses Produktionssystem integriert wurde. Im 17. und<br />
vor allem 18. Jahrhundert wuchs auf dem Land die unterbäuerliche Schicht<br />
stark an, zudem hatten die Städte zu wenig Arbeitskräfte, um den Bedarf des<br />
Fernhandels zu decken. Das Handelskapital nutzte daher zunehmend das ländliche<br />
Produktionspotenzial. Regionen, in denen ein großer Teil der Bevölkerung<br />
in der gewerblichen Massenproduktion für den überregionalen Markt produzierte,<br />
werden als protoindustrielle Regionen bezeichnet. Hier wurde die herkömmliche<br />
Ordnung des feudalen Agrarsystems aufgebrochen und breite Kreise
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109<br />
der Bevölkerung in frühkapitalistische ökonomische Strukturen einbezogen.<br />
Heute ist das Konzept der Protoindustrialisierung ausdifferenziert und allgemein<br />
anerkannt (siehe Abschnitt über Gewerbelandschaften). „Proto-Industrie“<br />
und „Proto-Fabriken“ gab es nicht nur im Textilsektor und im <strong>Verlag</strong>swesen.<br />
Auch in der Eisen- und Stahlverarbeitung (Sensen und Messer, Draht, Schmiedeware),<br />
in der Spielzeugherstellung, Strohflechterei etc. entstand eine produktive<br />
Gemengelage zwischen Stadt und Land, die auch im Rahmen der dezentralen<br />
Manufaktur – die ohnehin nur schwierig vom <strong>Verlag</strong>swesen zu unterscheiden<br />
ist – stattfinden konnte.<br />
Diese Produktionsweise überschritt also zum Teil die alten ständischen und<br />
räumlichen Trennungen und „trainierte“ auch ländliche Bevölkerungsschichten<br />
in industriellen Tugenden. Allerdings wird meines Erachtens die Bedeutung der<br />
Mühlenmaschinerie in dieser Diskussion zu wenig gewürdigt oder gar übersehen.<br />
Dies sei bei der Betriebsform der Manufaktur näher beschrieben.<br />
Die Manufaktur<br />
Während die klassischen Definitionen der Manufaktur bei Adam Smith und Karl<br />
Marx auf das Strukturmerkmal der manuellen Arbeitsteilung abzielen, kennzeichneten<br />
(zumindest zum Teil) auch der Gebrauch der Mühlenmaschinerie<br />
oder die Beherrschung thermischer Prozesse diese Betriebsform. Es ist zuerst<br />
einmal durchaus sinnvoll, die kooperative Arbeitsteilung als zentrales Kriterium<br />
der Manufaktur zu sehen: Zwar herrschte eine gewisse Arbeitsteilung auch im<br />
<strong>Verlag</strong> vor, nun aber wurde sie durch die Zerlegung des Produktionsprozesses so<br />
diffizil, dass die arbeitsteilige Zusammenarbeit in einer zentralen Produktionsstätte<br />
notwendig wurde. Ein Unternehmer leitete diesen Betrieb, und die handwerkliche<br />
Einheit von Wohnen und Arbeiten wurde in der Manufaktur zunehmend<br />
aufgehoben. Die Manufakturarbeiter waren mehr oder weniger<br />
Lohnarbeiter, auch wenn sie sich in qualifizierte Handwerker und ungelernte<br />
Hilfskräfte unterscheiden ließen. Die Einführung der Mühlenmaschinerie führte<br />
zur zunehmenden Beschäftigung angelernter Kräfte. Karl Marx erwähnt in<br />
seiner klassischen Manufakturdefinition (Das Kapital, Band 1, 12. Kapitel: Teilung<br />
der Arbeit und Manufaktur) die Maschinerie nur am Rande (sporadischer<br />
Einsatz von Maschinen), betont aber die Differenzierung und Spezialisierung<br />
der „Arbeitsinstrumente“: Der Detailarbeiter und sein Werkzeug seien die einfachen<br />
Elemente der Manufaktur. Adam Smith nennt im berühmten ersten Kapitel<br />
„Die Arbeitsteilung“ seines Werkes „Der Wohlstand der Nationen“ die Maschine<br />
ganz zentral als Teil der Manufaktur, die er am Beispiel der Nadelfertigung<br />
analysiert: „Die enorme Steigerung der Arbeit, die die gleiche Anzahl Menschen<br />
nunmehr infolge der Arbeitsteilung zu leisten vermag, hängt von drei verschiedenen<br />
Faktoren ab: (1) der größeren Geschicklichkeit jedes einzelnen Arbeiters,<br />
(2) der Ersparnis an Zeit, die gewöhnlich beim Wechsel von einer Tätigkeit zur<br />
anderen verloren geht und (3) der Erfindung einer Reihe von Maschinen, welche<br />
die Arbeit erleichtern, die Arbeitszeit verkürzen und den Einzelnen in den Stand<br />
setzen, die Arbeit vieler zu leisten“ (Adam Smith 1978, S. 12).<br />
Auch dieses Beispiel belegt damit, dass die Maschinerie in den Rhythmus<br />
des Produktionsprozesses einbezogen war. Zeitgenossen zählten in den fortgeschrittenen<br />
Nadelmanufakturen am Ende des 18. Jahrhunderts rund 50 bis zu 80<br />
Einzelarbeitsschritte. Waren Nadeln im Spätmittelalter noch rein handwerklich<br />
hergestellt worden, so verfügte die Nadelmanufaktur des 18. Jahrhunderts über<br />
verschiedene durch Wasserkraftnutzung gekennzeichnete Arbeitsgänge: Wasserkraft<br />
konnte die Drahtschere, mit der der Draht in Nadellänge geschnitten<br />
wurde, bewegen, trieb die Schleifmühle und die Scheuermühle. Die mühseligsten<br />
Arbeitsschritte waren somit mechanisiert oder automatisiert. So vermischten<br />
sich in der Nadelproduktion wie in vielen Manufakturen rein manuelle Teilarbeiten<br />
mit Arbeitsvorgängen, die von mechanisierten Werkzeugen und in<br />
Einzelfällen bereits automatischen Maschinen ausgeführt wurden.<br />
Auch in der Papiermanufaktur (Papiermühle) war eine solche Mischform<br />
gegeben. Insbesondere die Aufbereitung des Rohstoffes Lumpen (in der vorindustriellen<br />
Papiermacherei wurde Papier aus zerschnittenen und bis auf die<br />
Fasern aufgelösten Textilien hergestellt) wurde wie auch das Veredeln des Papieres<br />
(Pressen, Glätten) maschinisiert. Seit Einführung der Papiermacherei in Europa<br />
im 13. Jahrhundert (zuerst Spanien und Italien; die erste deutsche Papier-<br />
Abb. 57<br />
Staatliche Rasiermessermanufaktur<br />
in Paris, 1783.<br />
Dieser Betrieb weist<br />
typische Merkmale<br />
einer zentralisierten<br />
Manufaktur<br />
auf: arbeitsteilige<br />
Kooperation, Einsatz<br />
von Muskelkraft<br />
zum Antrieb der<br />
Schleifräder, Frauenund<br />
Kinderarbeit für<br />
weniger qualifizierte<br />
Tätigkeiten.