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Roter Mond (PDF-Version) - Arathas.de

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<strong>Roter</strong> <strong>Mond</strong><br />

von Dirk Wonhöfer (<strong>Arathas</strong>@pratchett-fanclub.<strong>de</strong>)<br />

Einleitung<br />

In <strong>de</strong>n frühesten Tagen, in <strong>de</strong>nen die Welt noch grau war und kalt, so heißt es <strong>de</strong>r Legen<strong>de</strong> nach, fand <strong>de</strong>r Drachen<br />

Jarondai Himmelfeuer das leblose Land. So schwarz und kühl war es, daß <strong>de</strong>r Drachen sich vor Sorge um die junge<br />

Welt verzehrte. Er legte seinen riesigen, schlangenförmigen Körper um die Er<strong>de</strong>, wärmte das Land mit seinem heißen<br />

Leib. Dann erhob er sich in die Lüfte, hinauf, bis in das tiefe, klare Schwarz <strong>de</strong>s Firmaments. Er öffnete ein Auge, und<br />

Licht umspülte die Welt.<br />

Jarondai sah, daß es <strong>de</strong>m Land noch immer an Leben mangelte, und so entschied er, Nachkommen zu zeugen, die die<br />

neue Welt bevölkern sollten. Tausen<strong>de</strong>n und Abertausen<strong>de</strong>n schenkte er das Leben, doch die mächtigsten und größten<br />

von ihnen waren mit Sicherheit die bei<strong>de</strong>n Erstgeborenen. Und Zwillinge waren es, wie sie unterschiedlicher nicht<br />

hätten sein können.<br />

Weißklaue war <strong>de</strong>r eine, prächtig anzusehen von Kopf bis Schwanz, funkelnd in schimmern<strong>de</strong>m Perlmutt. Schnell<br />

lernte er von seinem Vater, wachte weise über das Land Ruben, das Himmelfeuer ihm schenkte.<br />

Der an<strong>de</strong>re war Grauseele, und er war kaltherzig und voller Seltsamkeit. Er hielt sich abseits von Bru<strong>de</strong>r und Vater,<br />

unterwarf sich die weiten Län<strong>de</strong>r, die um das fruchtbare Ruben verteilt waren. Himmelfeuer ließ ihn gewähren und<br />

hoffte darauf, daß Grauseele sich schließlich doch belehren lassen wür<strong>de</strong>. Aber das Herz <strong>de</strong>s Drachen war unrein, und<br />

so verwan<strong>de</strong>lte er sein Reich in ein schwarzes Land voll von Abscheu und Wi<strong>de</strong>rlichkeit.<br />

Weißklaue, <strong>de</strong>ssen Königreich <strong>de</strong>rweil in Pracht und Farbe erblühte, hatte sich eine Gefährtin gesucht, um gemeinsam<br />

mit ihr zu herrschen und Kin<strong>de</strong>r zu haben. Fayla Sonnenglanz, ein Drachen von gol<strong>de</strong>ner Herrlichkeit und Güte, lebte<br />

an seiner Seite und gebar ihm zwei Söhne und eine Tochter. Und allesamt waren die Kin<strong>de</strong>r groß und stark, und ein<br />

je<strong>de</strong>s von ihnen hatte beson<strong>de</strong>re Fertigkeiten, mit <strong>de</strong>nen es <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> half.<br />

Blauschnei<strong>de</strong> war flink, und niemand konnte es mit seinen schnellen Flügen aufnehmen, wenn er über die Ebenen<br />

raste. Windwolke war weise, und sein Verstand löste je<strong>de</strong>s noch so gewaltige Problem. Der bei<strong>de</strong>n Drachen Schwester,<br />

Jalia Sanftkralle, voller Phantasie, empfand Zuneigung für die Völker, die sich auf Rubens Antlitz ausbreiteten, und so<br />

lebte sie für dahin mit ihnen am Bo<strong>de</strong>n, lehrte sie Himmelfeuers Worte und ersann Geschichten, die ihnen das Leben<br />

leichter machten.<br />

Grauseele, <strong>de</strong>r die Güte und Großherzigkeit seines Bru<strong>de</strong>rs mit blankem Neid betrachtete, schwor sich, <strong>de</strong>n<br />

abstoßen<strong>de</strong>n Drachen zu stürzen und an <strong>de</strong>ssen Stelle über Ruben zu herrschen. In finsterer Nacht und mit bösen<br />

Absichten schlich sich <strong>de</strong>r Zwilling in das herrliche Reich ein, und als die Sonne aufging und Licht warf auf das<br />

Land, hatte er sich bis an Blauschnei<strong>de</strong>s Schlafplatz herangewagt. Doch in seiner Feigheit traute er sich nicht, <strong>de</strong>n<br />

Sohn Weißklaues inmitten <strong>de</strong>ssen eigenen Königreiches anzugreifen, und so wartete er, bis <strong>de</strong>r Drachen erwacht war<br />

und einen ersten Flug unternahm. Hinterhältig und verstohlen folgte Grauseele ihm in sicherer Entfernung.<br />

Als Blauschnei<strong>de</strong> Halt machte, um sich an einem abgelegenen Fluß zu laben, brach <strong>de</strong>r Verschwörer aus einem Wald<br />

hervor und versetzte <strong>de</strong>m Drachen einen donnern<strong>de</strong>n Hieb mit <strong>de</strong>r Tatze. Eine schwere, klaffen<strong>de</strong> Wun<strong>de</strong> zog sich tief<br />

durch Blauschnei<strong>de</strong>s Fleisch, doch mutig stellte er sich <strong>de</strong>m erbosten Grauseele, und ein erbitterter Kampf begann.<br />

Stun<strong>de</strong>nlang tänzelte Weißklaues Sohn um seinen Gegner, täuschte ihn mit seiner Geschicklichkeit und fügte ihm ein<br />

paar flinke Schläge zu. Aber Grauseele war nicht dumm, und als Blauschnei<strong>de</strong> sich <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n zu sehr näherte,<br />

verbiß er sich in <strong>de</strong>m Drachen und zerrte ihn zur Er<strong>de</strong>. Wenig später hatte er <strong>de</strong>n verhaßten Abkömmling seines<br />

Bru<strong>de</strong>rs getötet, und sein kaltes Herz lachte zufrie<strong>de</strong>n.<br />

Die Kun<strong>de</strong> von Prinz Blauschnei<strong>de</strong>s Tod verbreitete sich in Win<strong>de</strong>seile über ganz Ruben, und als Weißklaue von<br />

Grauseeles unheiliger Tat erfuhr, vergrub er seine Sinne in tiefen Gram. Er flog hinaus, um <strong>de</strong>n Mord seines Sohnes<br />

zu rächen, und in seiner rasen<strong>de</strong>n Wut fand er Grauseele schließlich an <strong>de</strong>n Grenzen seines Lan<strong>de</strong>s. In blin<strong>de</strong>m Zorn<br />

entbrannte eine Schlacht auf Leben und Tod, als die gewaltigen Leiber sich in <strong>de</strong>n Lüften angriffen. Die Wut<br />

Weißklaues war unermeßlich, und schon bald hatte er seinem Bru<strong>de</strong>r so tiefe Wun<strong>de</strong>n zugefügt, daß dieser sichtlich<br />

geschwächt war. Ein letzter, schwerer Hieb riß Grauseeles Schwingen von <strong>de</strong>ssen Körper, und <strong>de</strong>r entstellte Drachen<br />

fiel <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n entgegen.<br />

2


Weißklaue, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Sturz seines Bru<strong>de</strong>rs mit Bedauern und zugleich Befriedigung beiwohnte, schwebte in <strong>de</strong>r Luft<br />

und senkte das Haupt, als Grauseeles Leib auf die harte Er<strong>de</strong> schlug. Doch anstatt auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n zerschmettert zu<br />

wer<strong>de</strong>n, drang <strong>de</strong>r riesige Wurm in das Erdreich ein, verschwand in einem dunklen Loch. Verwirrt begab sich<br />

Weißklaue hinab, um <strong>de</strong>n seltsamen Schacht zu betrachten, <strong>de</strong>r sich nun durch <strong>de</strong>n Grund schlängelte. Von diesem<br />

Zeitpunkt an blieb sein Zwillingsbru<strong>de</strong>r verschwun<strong>de</strong>n und tauchte niemals mehr im Lan<strong>de</strong> Ruben auf.<br />

Man erzählt sich, daß er unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> ein neues Zuhause gefun<strong>de</strong>n hätte, zwischen <strong>de</strong>n kalten Schichten <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s<br />

wohnt, umgeben nur von Schlamm und blin<strong>de</strong>n Geschöpfen, und daß sein Zorn größer ist als jemals zuvor. Untaten<br />

und Übles ersinnend fristet er sein Dasein in <strong>de</strong>n Gebeinen <strong>de</strong>r Welt, darauf hoffend, irgendwann wie<strong>de</strong>r an die<br />

Oberfläche hervorzubrechen und sich an <strong>de</strong>nen zu rächen, die sein Schicksal besiegelten...<br />

3


I<br />

Aufbruchstimmung<br />

Wäge stets ab, welcher Schritt <strong>de</strong>r bessere war.<br />

Der Schritt nach vorn o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Schritt nach hinten.<br />

O<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Schritt zur Seite, <strong>de</strong>r dich forttrug von Deinesgleichen.<br />

Keldar Uleandaris<br />

Der diesjährige Sommer war kühl und verfroren.<br />

Wei<strong>de</strong>n schaukelten zitternd im reinen, kalten Wind, ihre langen Äste wie Schleier <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n zugeneigt. Ein kleines<br />

Grüppchen dieser Bäume hatte sich inmitten von riesigen Kiefern und Eichen seinen festen Platz bewahrt, bil<strong>de</strong>te<br />

einen lichten Wei<strong>de</strong>nzirkel mitten im tiefsten Wald. Die Zweige einer <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong>n raschelten, und eine lange,<br />

schlanke Gestalt kletterte von ihnen herab.<br />

Mit flinken Bewegungen ließ sich die Person nach unten rutschen, vom krachen<strong>de</strong>n Getöse splittern<strong>de</strong>r Äste begleitet.<br />

Als ihre Füße festen Bo<strong>de</strong>n berührten, schien sie zu verharren und <strong>de</strong>n Geräuschen <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s zu lauschen, dann<br />

jedoch schüttelte sie <strong>de</strong>n Kopf, schien sich eines Besseren zu besinnen und legte sich auf das Gras am Fuße <strong>de</strong>s<br />

Baumes. Sie schloß die Augen, und die ruhige Atmosphäre schien wie Geschaffen zum Einschlummern, die wogen<strong>de</strong><br />

Melodie <strong>de</strong>r Zweige wie ein hölzernes Wiegenlied. Ein entspanntes Lächeln breitete sich auf <strong>de</strong>n Zügen <strong>de</strong>r Gestalt<br />

aus, und mit einem Seufzer legte sie die Hän<strong>de</strong> auf die Brust und ließ die frische Luft tief in ihre Lungen fließen.<br />

Der Tag zählte nur noch wenige Stun<strong>de</strong>n, bis die Nacht erneut über <strong>de</strong>n Weilerwald hereinbrechen wür<strong>de</strong>, doch<br />

Indigo verspürte nicht <strong>de</strong>n geringsten Drang, noch weiteren Tätigkeiten nachzugehen o<strong>de</strong>r sich gar nützlich zu<br />

machen. Das nahegelegene Walddorf, Eldraja’aro, wür<strong>de</strong> auch ohne sein Zutun weiter existieren, und die letzten<br />

Jurakai, die noch in dieser Stadt lebten, wür<strong>de</strong>n auch ohne seine Hilfe zurechtkommen. Es war das erste Jahr, in<br />

<strong>de</strong>ssen Sommer er nicht mitsamt seines Volkes in die Täler gezogen war, um die dortigen Jagdmöglichkeiten zu<br />

nutzen und die Her<strong>de</strong>n wei<strong>de</strong>n zu lassen. Sein Vater, Teagar, hatte diesen Entschluß zwar mißbilligt, sich jedoch eines<br />

abfälligen Kommentars enthalten. Seine Mutter hatte ein Gleiches getan, und so war Indigo nun <strong>de</strong>r einzige junge<br />

Jurakai, <strong>de</strong>r sich gegen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Hochsommers noch in Eldraja’aro aufhielt. Alle restlichen Bewohner waren<br />

entwe<strong>de</strong>r alt o<strong>de</strong>r krank, doch sie waren versorgt und geborgen in <strong>de</strong>n Tiefen <strong>de</strong>s Weilerwal<strong>de</strong>s.<br />

Nun war er allein, abgeschie<strong>de</strong>n von all seinen Freun<strong>de</strong>n und Bekannten, und er wußte, daß er diese Zeit brauchte, ja,<br />

sie sogar herbeigesehnt hatte. Er mußte endlich mit seinen Gedanken ins Reine kommen, konnte sein Leben nicht wie<br />

bisher leben. Ständig war er hin- und hergerissen zwischen zwei Seiten, die so unterschiedlich waren und ihm bei<strong>de</strong><br />

doch so nah.<br />

Einerseits wollte Teagar, <strong>de</strong>r für <strong>de</strong>n Jurakaistamm Eldraja’aros die Verantwortung trug, seinen einzigen Sohn zum<br />

Diplomaten ausbil<strong>de</strong>n und ihn an <strong>de</strong>n Hof <strong>de</strong>r Manur schicken, <strong>de</strong>n Sitz <strong>de</strong>s Hochkönigs. Der alte, fürsorgliche Mann<br />

hatte sich in <strong>de</strong>n letzten sechzig Sommern alle Mühe gegeben, Indigo beizubringen, was er wußte, doch die<br />

Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s Jungen wur<strong>de</strong> ausgerechnet vom besten Freund seines Vaters abgelenkt. Naigaras, ein Jurakai,<br />

<strong>de</strong>r weitläufig nur unter <strong>de</strong>m Namen Nachtfalke bekannt war, nutzte je<strong>de</strong> freie Sekun<strong>de</strong>, die er mit Indigo verbringen<br />

konnte, um ihn nach seiner Auffassung von Recht und Ordnung aufzuziehen.<br />

Von Kin<strong>de</strong>sbeinen an war Nachtfalke bei ihm gewesen, war sein Begleiter, als er die ersten Streifzüge durch die<br />

Wäl<strong>de</strong>r unternommen, seine ersten Jagdversuche gewagt hatte. Der seltsame Jurakai war einer <strong>de</strong>r Ältesten seiner<br />

Rasse, die überhaupt noch auf Rubens Antlitz lebten, und doch war er auch gleichzeitig <strong>de</strong>r Erfahrenste und<br />

Geschickteste von ihnen. Ungeachtet seines enormen Alters, das Erzählungen zufolge bereits ein ganzes Jahrtausend<br />

währte, übte er sich mit Indigo im Schwertkampf und verschie<strong>de</strong>nen an<strong>de</strong>ren Disziplinen, als wäre er ein junger<br />

Spund von vielleicht hun<strong>de</strong>rt Sommern, gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Blüte seiner Jugend und so ausgelassen wie ein tollen<strong>de</strong>r Hund.<br />

Im Gegensatz zu Indigos Vater, <strong>de</strong>r die Hälfte <strong>de</strong>ssen Lebens auf Reisen zu Manurstädten verbrachte, hatte Nachtfalke<br />

die Nächte an <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>s Jungen verbracht, ihn gelehrt, die Gaben <strong>de</strong>r Natur zu nutzen und in <strong>de</strong>n Wäl<strong>de</strong>rn<br />

zurechtzukommen. Zwar war auch Nachtfalke oft in Ruben unterwegs, hatte manchmal sogar mehrere Jahre lang<br />

nichts von sich hören lassen, doch wenigstens verbrachten sie all die Zeit miteinan<strong>de</strong>r, die <strong>de</strong>r alte Kauz sich in<br />

Eldraja’aro aufhielt. Der Jurakai betrachtete <strong>de</strong>n Alten vielmehr wie einen Freund, nicht als <strong>de</strong>n Lehrer, <strong>de</strong>r er<br />

tatsächlich war. Und vielleicht schmerzte die Einsamkeit, die Indigo nun empfand auch gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb so sehr, weil<br />

Nachtfalke zusammen mit <strong>de</strong>m Volk in die Täler gezogen war, um die dortige Jagd zu beaufsichtigen.<br />

4


Er rollte sich auf die an<strong>de</strong>re Seite, blickte hinauf in die hohen Baumwipfel, in die verästelten Kunstwerke <strong>de</strong>r Zweige,<br />

die sich über seinem Kopf erstreckten. Ein Eichhörnchen kraxelte geschwind über das Spinnennetz aus verwobenen<br />

Ästen, und wo <strong>de</strong>r Weg abrupt en<strong>de</strong>te, sprang es ohne erkennbare Schwierigkeit einfach zum nächstbesten Zweiglein,<br />

fe<strong>de</strong>rte davon ab und wuselte weiter. Wie dieses kleine Nagetier wollte er sein, so unbeschwert und frei; je<strong>de</strong> Sekun<strong>de</strong><br />

konnte <strong>de</strong>n Tod bergen, <strong>de</strong>r mit tausend verschie<strong>de</strong>nen Gesichtern auf das winzige Geschöpf herabsah, doch er wäre<br />

auch lebendig, viel lebendiger, als er es wohl jemals sein wür<strong>de</strong>...<br />

Nun, er wür<strong>de</strong> sich letztendlich zu einer Entscheidung durchringen müssen. Sein Vater hätte ihn bestimmt schon<br />

dieses Jahr dazu gezwungen, sich von <strong>de</strong>njenigen Jurakai unterrichten zu lassen, die <strong>de</strong>n meisten Umgang mit <strong>de</strong>n<br />

Manur pflegten, doch Indigos spontaner Entschluß, <strong>de</strong>n Sommer über in Eldraja’aro zu bleiben, gewährte ihm einen<br />

letzten Aufschub, eine Gna<strong>de</strong>nfrist, bevor er tatsächlich beginnen wür<strong>de</strong>, sich mit <strong>de</strong>n Menschen und ihren<br />

Gewohnheiten auseinan<strong>de</strong>rzusetzen. Die größte Angst hatte er davor, daß sein Vater ihm möglicherweise sogar <strong>de</strong>n<br />

Kontakt zu Nachtfalke verbieten könnte, doch diese Sorge schien unberechtigt. Nachtfalke und Teagar waren die<br />

besten Freun<strong>de</strong>, und Indigo argwöhnte, daß Vater sich <strong>de</strong>m alten Waldläufer zu etwas schuldig fühlte, an<strong>de</strong>rerseits er<br />

ihn wohl niemals so lange hätte gewähren lassen. Wie <strong>de</strong>m auch sei, die Gedanken an Nachtfalke hatten ihn angeregt,<br />

seine erzielten Tagesleistungen ein wenig zu verbessern. Das Herumklettern auf Wei<strong>de</strong>nbäumen konnte wohl kaum<br />

als nützliche Tätigkeit angesehen wer<strong>de</strong>n.<br />

Unter Ächzen und Stöhnen erhob er sich von seinem schönen Fleckchen auf <strong>de</strong>r Wiese, dankte <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> mit einem<br />

neckischen Knicks fürs bereitwillige zur Verfügung stellen von Schatten und schlen<strong>de</strong>rte langsam einen alten<br />

Waldpfad entlang, <strong>de</strong>r zum Übungsring führte. Die dortigen Bäume, allesamt Eichen, die heute wohl schon tot sein<br />

mußten, soviele fehlplazierte Pfeile sich in ihre wun<strong>de</strong> Borkenhaut gebohrt hatten, reihten sich aneinan<strong>de</strong>r wie eine<br />

Gruppe von Tänzern, bil<strong>de</strong>ten einen fröhlichen Ringelreigen. Das Licht, das sich seinen Weg durch das Blätterdach<br />

hart erkämpfen mußte, erhellte die Umgebung nur spärlich, machte das Zielen auf die vielen an <strong>de</strong>n Eichen<br />

angebrachten Scheiben zu einer wahren Herausfor<strong>de</strong>rung.<br />

Indigo nahm seinen Bogen vom Rücken, zückte einen Pfeil und visierte sein potentielles Opfer an. Ein alter, dicker<br />

Baum war es, auf <strong>de</strong>n sich nun eine metallene Spitze richtete. Wie bei so vielen Dingen, <strong>de</strong>nen Indigo eine bevorzugte<br />

Behandlungsweise ange<strong>de</strong>ihen ließ, zählte auch <strong>de</strong>r Baum zu <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>rs in Mitlei<strong>de</strong>nschaft gezogenen<br />

Übungsobjekten <strong>de</strong>s Jurakai. Viele Jahre hatte er nun schon als Fänger für danebengeschossene Pfeile herhalten<br />

müssen, doch in letzter Zeit wur<strong>de</strong>n die Fehltreffer immer seltener, blieben die Schüsse aus, die <strong>de</strong>m Baum sein<br />

heutiges vernarbtes Aussehen gegeben hatten. Indigo wur<strong>de</strong> von Tag zu Tag besser, und das, obwohl Nachtfalke erst<br />

letzten Sommer damit begonnen hatte, ihn in die Technik <strong>de</strong>s professionellen Bogenschießens einzuweihen. Er kniff<br />

das linke Auge zu, zielte sorgfältig und ließ die gespannte Sehne mit einem Zischen in ihre Ausgangsposition<br />

zurückschnellen. Das Projektil raste durch die Luft, um zitternd in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>r Zielscheibe steckenzubleiben.<br />

Zufrie<strong>de</strong>n betrachtete Indigo das Ergebnis. Viel besser konnte es wohl kaum wer<strong>de</strong>n. Er erwog kurz die Möglichkeit,<br />

das Bogenschießen für Heute aufzugeben, da er seine Leistung wohl sowieso nicht steigern konnte, verwarf sie jedoch<br />

sogleich, als er sich an Nachtfalkes Lehren erinnerte: „Niemand ist so gut, daß er keine Übung mehr gebrauchen<br />

könnte.“<br />

Indigo nickte leicht, legte dann einen zweiten Pfeil an die Sehne und spitzte die Lippen, als ein leichter Wind aufkam.<br />

Die Brise wür<strong>de</strong> die Flugbahn zwar nicht entschei<strong>de</strong>nd verän<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>nnoch aber <strong>de</strong>n Schuß interessanter gestalten.<br />

Wenn er <strong>de</strong>n Pfeil ein wenig mehr nach rechts ausrichtete...<br />

„Indigo!“<br />

Die Hand <strong>de</strong>s Jurakai zuckte, das Geschoß entfloh seinem Griff, wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Sehne geschleu<strong>de</strong>rt und suchte sich<br />

seinen Weg durch <strong>de</strong>n Wald. Mit einem lauten Krachen fuhr es ins Holz <strong>de</strong>r alten Eiche, fügte <strong>de</strong>n bereits verheilten<br />

eine neue Wun<strong>de</strong> hinzu. Ein Fluch legte sich auf Indigos Lippen, als er sich umdrehte, verschwand jedoch sogleich,<br />

als er erkannte, wer sich ihm im Schattenlicht <strong>de</strong>r Wäl<strong>de</strong>r genähert hatte.<br />

„Indigo“ rief die große Gestalt erneut und ließ einen skeptischen Blick zur getroffenen Eiche schweifen. „Hm. Falls es<br />

<strong>de</strong>ine Absicht war, diesen Baum zu erlegen, so muß ich dir lei<strong>de</strong>r mitteilen, daß Holz nicht sehr nahrhaft ist...“<br />

„Falke!“ rief Indigo seinerseits und umarmte die vertraute Gestalt erfreut. „Falke“ wie<strong>de</strong>rholte er, als er <strong>de</strong>n alten<br />

Jurakai betrachtete. „Es ist schön, dich zu sehen! Ich... ich dachte, du wärst in <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sommers, beim Volk?“<br />

Nachtfalke zögerte einen Moment zu lange, bevor er antwortete: „Ich war dort. Mein Rat wur<strong>de</strong> nicht länger benötigt,<br />

<strong>de</strong>shalb dachte ich, es wäre nicht falsch, dir einen Besuch abzustatten. Und zwar genau zum richtigen Zeitpunkt, wie<br />

ich sehe. Deine Schießkünste scheinen noch schlechter zu sein als <strong>de</strong>in Schwertkampf.“<br />

Indigo hob die Brauen. „Du hast mich abgelenkt. Mir blieb keine Zeit, um zu zielen...“<br />

„Auch im echten Kampf bleiben Ablenkungen nicht aus, törichter Narr.“<br />

„Ja, Falke, aber dann bin ich darauf vorbereitet...“ wandte Indigo ein, wollte sich jedoch auf kein Streitgespräch mit<br />

seinem Freund einlassen. Nachtfalke war bei ihm, und nun wür<strong>de</strong> die Einsamkeit, mit <strong>de</strong>r er zu kämpfen hatte, ein<br />

En<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>n.<br />

„Aber mal im Ernst, was tust du zu dieser Jahreszeit in <strong>de</strong>n Wäl<strong>de</strong>rn, Falke? Du kannst mir doch nicht weismachen,<br />

daß man <strong>de</strong>in Jagdgespür nicht benötigt!“<br />

5


„Ich habe mich entschie<strong>de</strong>n, dich noch etwas zu unterrichten, bevor <strong>de</strong>in Vater mir diese Verantwortung abnimmt. Ich<br />

habe das Gefühl, daß er langsam ungeduldig wird. Wahrscheinlich täten wir gut daran, die Zeit zu nutzen, die uns<br />

noch zur Verfügung steht.“<br />

Indigo verzog die Lippen. „Das gleiche ging mir auch schon durch <strong>de</strong>n Kopf. Aber ich wer<strong>de</strong> alles tun, um nicht an<br />

<strong>de</strong>n Königlichen Hof zu müssen. Mein ganzes Leben lang habe ich von dir gelernt, in <strong>de</strong>n Wäl<strong>de</strong>rn zu leben und die<br />

Natur zu nutzen... und nun will Vater mich zur Hochburg schicken?“<br />

„Es wird einst die Zeit kommen, da Teagars Bür<strong>de</strong> auf dich übergeht, Indigo. Deine Eltern haben innerhalb <strong>de</strong>r letzten<br />

Jahre ein besseres Verhältnis zwischen Jurakai und Manur aufgebaut, als es ihre Vorgänger in Jahrhun<strong>de</strong>rten<br />

vermochten. Es besteht zwar ein dünnes Band zwischen <strong>de</strong>n Völkern, das jedoch noch sehr zart und fein ist und je<strong>de</strong>n<br />

Moment zu zerreißen droht. Freundschaft wür<strong>de</strong> ich es nicht nennen, <strong>de</strong>nn man sieht unser Volk noch immer schief<br />

an, wenn wir uns in Manurstädte begeben o<strong>de</strong>r ihr Land durchqueren... aber am Hof haben sich Teagars Lehren<br />

bereits soviel Gehör verschafft, daß unsereins dort ungehin<strong>de</strong>rt ein- und ausgehen kann.“<br />

„Ich habe gehört, daß <strong>de</strong>r <strong>de</strong>rzeitige Hochkönig nicht viel von uns hält...“<br />

„Das mag stimmen. Doch er wird ersetzt wer<strong>de</strong>n, genauso wie all die Monarchen <strong>de</strong>r Manur vor ihm. Die<br />

Lebensspanne dieser Menschenwesen ist so kurz, daß sie uns manchmal wie ein Augenzwinkern vorkommt. Auch<br />

wenn <strong>de</strong>r jetzige König vielleicht streitsüchtiger ist als seine Vorgänger, so wird er schon bald einem neuen Platz<br />

machen müssen. Und wenigstens ist er so klug, <strong>de</strong>n alten Krieg zwischen Manur und Dverjae nicht wie<strong>de</strong>r<br />

anzufachen.“<br />

„Oh ja, die Dverjae“ murmelte Indigo, an einen Baum gelehnt. „ Sie wer<strong>de</strong>n wohl noch schlechter mit König Westfald<br />

zurechtkommen, vermute ich.“<br />

„Sie sind ein starkes Volk. Sie haben <strong>de</strong>n Manur seit jeher Wi<strong>de</strong>rstand geleistet, ohne sich einfach feige<br />

zurückzuziehen..."<br />

„Also bist du doch dieser Meinung!“ warf Indigo unvermittelt ein. „Ich war mir nie schlüssig darüber, wie du zur<br />

Entscheidung meines Vaters stan<strong>de</strong>st, <strong>de</strong>n Manur die Grenzen <strong>de</strong>s Hochlands zu überlassen!“<br />

„Es wäre auf einen Krieg hinausgelaufen, wenn <strong>de</strong>in Vater ihnen dieses Stück Land nicht anerkannt hätte. Das Volk<br />

<strong>de</strong>r Menschen <strong>de</strong>hnt sich immer mehr aus, und sie beanspruchen Platz, <strong>de</strong>r seit Urzeiten <strong>de</strong>n Jurakai gehört. Doch wir<br />

sind ein friedfertiges Volk, und ich <strong>de</strong>nke, <strong>de</strong>in Vater hat nicht falsch gehan<strong>de</strong>lt. Doch auf lange Sicht gesehen... wird<br />

es irgendwann im Blut en<strong>de</strong>n. Teagar will das nicht begreifen, <strong>de</strong>nn er hält noch immer an <strong>de</strong>r Vorstellung fest, daß<br />

unsere Rassen in Frie<strong>de</strong>n nebeneinan<strong>de</strong>r existieren können.“<br />

„Aber die Menschen breiten sich aus...“ sagte Indigo leise, und bei<strong>de</strong> führten sie im Geiste die Gedankenkette weiter.<br />

Bei<strong>de</strong> schüttelten sie <strong>de</strong>n Kopf.<br />

Nachtfalke ergriff als erster wie<strong>de</strong>r das Wort. „Es wird noch lange dauern, bis es soweit ist, Indigo. Viele Herrscher<br />

aus <strong>de</strong>n Reihen <strong>de</strong>r Manur wer<strong>de</strong>n sich noch <strong>de</strong>s Thrones bemächtigen, und wer weiß, vielleicht wird einst einer unter<br />

ihnen sein, <strong>de</strong>r eine an<strong>de</strong>re Denkweise an <strong>de</strong>n Tag legt und <strong>de</strong>n Jurakai Freundschaft und Vertrauen entgegenbringt?<br />

Doch vielleicht auch nicht, und unter Umstän<strong>de</strong>n wirst du es sein, Indigo, <strong>de</strong>m die Jurakai folgen wer<strong>de</strong>n, wenn es zu<br />

einem Krieg zwischen Menschen und Jurakai kommen sollte.“<br />

Indigo seufzte. „Deswegen frage ich mich, warum Vater mich unbedingt in seine Politik einbeziehen muß. Er lehrt<br />

mich, die Manur zu verstehen... doch sie versuchen erst gar nicht, uns zu verstehen! Viel lieber lerne ich von dir,<br />

Falke! Du bringst mir wenigstens bei, mich zu wehren, anstatt mich rückgratlos zu verstecken, so wie Vater es tut.“<br />

Indigo blickte auf und empfing voller Überraschung eine schmettern<strong>de</strong> Ohrfeige. Nachtfalkes Gesicht war verbissen,<br />

jedoch nicht zornig.<br />

„Indigo! Keine abfälligen Bemerkungen über Teagar! Du kennst ihn nicht halb so gut wie ich, auch wenn er <strong>de</strong>in<br />

Vater ist! Er tut dies alles, weil viel Schmerz in ihm verborgen ist. Es ist seine Philosophie, und wenigstens Zeitweise<br />

können die Jurakai glücklich leben, ohne einen Krieg befürchten zu müssen!“<br />

„Ich... es tut mir leid“ gestand <strong>de</strong>r Junge sich ein und neigte das Haupt. „Manchmal kommt es mir so vor, als wür<strong>de</strong><br />

ich nur <strong>de</strong>ine Gedanken aussprechen o<strong>de</strong>r zu En<strong>de</strong> führen.“<br />

„Ich habe niemals schlecht über <strong>de</strong>inen Vater gedacht, und ich wer<strong>de</strong> es niemals tun. Unser ganzes Volk sieht ihn als<br />

<strong>de</strong>n größten Mann, <strong>de</strong>n die Welt jemals hervorgebracht hat. Und was zählt in dieser Hinsicht schon die Meinung eines<br />

alten, verdrehten Schwachkopfes, <strong>de</strong>r gern durch die Wäl<strong>de</strong>r zieht und <strong>de</strong>r Stimme <strong>de</strong>s Win<strong>de</strong>s lauscht...“<br />

„... doch vielleicht kann dieser Schwachkopf wenigstens <strong>de</strong>m Sohn dieses Mannes zeigen, was es heißt, ein Jurakai zu<br />

sein...“ warf Indigo ein, und in Nachtfalkes Augen blitzte es.<br />

„Möglicherweise“ flüsterte <strong>de</strong>r Alte und legte Indigo eine Hand auf die Schulter. „Ich versuche nur, dir ein wenig<br />

Kampfgeist einzuprägen, verstehst du? Ich will nicht, daß du einmal, wenn ich schon lange nicht mehr bin, in <strong>de</strong>ines<br />

Vaters Fußstapfen trittst, und plötzlich bemerken mußt, daß diese Spuren dich und unser Volk in <strong>de</strong>n sicheren Tod<br />

führen. Denn dann wird es zu spät sein, um die Jurakai wachzurütteln. Ich behaupte nicht, daß du schon jetzt damit<br />

beginnen solltest... doch ich will, daß du selber erwachst, Junge. Daß <strong>de</strong>r Kämpfer erwacht. Ohne ihn... sind wir nur<br />

Gestalten, die sich im Laufe <strong>de</strong>r Zeit immer mehr verlieren wer<strong>de</strong>n.“ Die Hand noch immer an Indigos Schulter,<br />

drückte Nachtfalke plötzlich zu, und ruckartig blickten sich Schüler und Lehrer in die Augen.<br />

„Der Kämpfer muß erwachen!“ flüsterte Nachtfalke. „Der Kämpfer muß erwachen ...“<br />

6


Das dämmrige Licht erblühen<strong>de</strong>r Sterne sponn das Netz <strong>de</strong>r Nacht über Eldraja’aro, als Indigo und Nachtfalke sich<br />

<strong>de</strong>r Waldstadt näherten. Die fahlen Strahlen drangen durch die Baumwipfel und erhellten das schlummern<strong>de</strong> Dorf.<br />

Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schlafes wur<strong>de</strong> es von <strong>de</strong>n Jurakai auch genannt, und tatsächlich mutete Eldraja’aro ruhig an, fast<br />

verträumt, als läge es in einem tiefen, zauberhaften Schlaf und wür<strong>de</strong> selbst dann nicht wie<strong>de</strong>r erwachen, wenn die<br />

Sonne am nächsten Morgen über die Stätte schlich. Von allen Seiten her kommend führten Pfa<strong>de</strong> in die Waldstadt,<br />

gesäumt von langen Pfählen, welche die Eingänge <strong>de</strong>r Siedlung markierten. Auch wenn sie im Sommer verlassen<br />

schien und die übrigen Jurakai nur wie umherirren<strong>de</strong> Geister wirkten, so war sie doch so lebendig wie <strong>de</strong>r Wald selbst,<br />

ja, sie war <strong>de</strong>r Wald.<br />

Hier wuchsen die Giganten <strong>de</strong>s Weilerwalds, die Könige unter <strong>de</strong>n Bäumen. Stämme, <strong>de</strong>ren Umfang keine zehn<br />

erwachsenen Männer mit ausgestreckten Armen zu umfassen vermochten, ragten aus <strong>de</strong>m bemoosten Bo<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n<br />

Himmel empor. Ihre Borke so alt, daß selbst die Schnitzer und Einkerbungen, die die ältesten <strong>de</strong>r Jurakai in ihrer<br />

Kindheit hineingeritzt hatten, längst verwachsen und vergessen waren, verharrten sie stoisch auf ihrem Platz,<br />

unbeirrbar und zeitlos wie die Berge.<br />

In ihren riesigen Leibern klafften Löcher, das Innere <strong>de</strong>r Bäume war ausgehöhlt auf Bo<strong>de</strong>nhöhe, die Waldriesen waren<br />

zu Behausungen umgeformt. Doch die geschickten Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Jurakai hatten gera<strong>de</strong> soviel Holz entfernt, wie <strong>de</strong>r<br />

Baum entbehren konnte, nicht einen Splitter mehr. Noch immer floß Leben durch die Stämme, pulsierten die A<strong>de</strong>rn<br />

<strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s im selben gleichmäßigen Takt.<br />

Dünne, verschlungene Pfa<strong>de</strong> zogen sich kreuz und quer durch die Siedlung, wan<strong>de</strong>n sich schlangengleich zwischen<br />

<strong>de</strong>n Bäumen und bil<strong>de</strong>ten ein phantastisches, blühen<strong>de</strong>s Labyrinth. Nebeneinan<strong>de</strong>r und gelegentlich sogar<br />

übereinan<strong>de</strong>r liefen sie, manchmal bil<strong>de</strong>ten hölzerne Brücken Verbindungen zwischen zwei höher gelegenen Stellen,<br />

jedoch schienen die Wege keiner inneren Ordnung zu folgen. Die Stimme <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s war hier allgegenwärtig, doch<br />

die Natur schien sich nur dort aufzuhalten, wo es ihr erlaubt war. Keine Büsche o<strong>de</strong>r Gräser hatten sich auf <strong>de</strong>n<br />

Pfa<strong>de</strong>n ausgebreitet, kein Pilz wuchs dort, wo er nicht erwünscht war. Es war, als wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Wald sich selbst in<br />

Zurückhaltung üben, als wolle er das Kunstwerk, das er an diesem Ort geschaffen hatte, nicht zerstören – wie ein<br />

Künstler, <strong>de</strong>r darauf bedacht ist, sein Bild nicht zu überfüllen, um damit <strong>de</strong>ssen Wirkung nicht zunichte zu machen.<br />

Nachtfalke, <strong>de</strong>r nun zum ersten Mal seit mehreren Monaten wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schlafes war, füllte seine Lunge<br />

mit mehreren tiefen Atemzügen, spürte das Gleichgewicht und die Ausgewogenheit, die an diesem Orte herrschten. Er<br />

zwinkerte, als sie das Sa’e Indigos erreichten.<br />

„Meine Güte“ murmelte er beeindruckt und merkte nicht, wie seinem Gefährten ein Lächeln über die Züge huschte.<br />

Der Waldriese, in <strong>de</strong>ssen Bauch Indigo wohnte, war vollkommen bewehrt mit Bannern und bunten Schnüren, die sich<br />

um seine Rin<strong>de</strong> legten und bis hinauf in die höchsten Äste spannten, so daß er wie ein flatterhaftes Zelt wirkte, o<strong>de</strong>r<br />

wie eine übergroße Marionette. Trotz <strong>de</strong>r Farbenpracht fügte sich <strong>de</strong>r Gigant reibungslos ins übrige Bild Eldraja’aros,<br />

<strong>de</strong>nn die Farben schienen zu fließen, reichten von Grün über ein schattiges Rot bis hin zu laubfarbenem Braun. Indigo<br />

strahlte förmlich, als Nachtfalke sein Werk bewun<strong>de</strong>rte.<br />

„Ich habe mir viel Mühe gegeben“ bemerkte er, doch zu seinem Erstaunen verzog sich das Gesicht seines Freun<strong>de</strong>s,<br />

und Mißfallen glänzte in seinen Augen.<br />

„Wenn ich gewußt hätte, wofür du <strong>de</strong>ine freie Zeit nutzt, dann hätte ich <strong>de</strong>inem Vater beigestimmt, als er dir befahl,<br />

mit <strong>de</strong>m Volk in die Täler zu reisen“ sagte Nachtfalke düster. „Ich hätte mehr von dir erwartet als ein geschmücktes<br />

Sa’e, Junge.“<br />

Betrübt blickte Indigo zu Bo<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Zorn seines alten Freun<strong>de</strong>s schien ernst gemeint. Im übrigen hatte Falke<br />

Recht, gestand Indigo sich ein. Er war zurückgeblieben, um mit seinen Gedanken ins Reine zu kommen und zu Üben,<br />

was Falke ihn gelehrt hatte. Aber an<strong>de</strong>rerseits hatte ihn die Arbeit an seiner Wohnung von überdrüssigen Gedanken<br />

befreit und ihm Platz zum Denken gelassen. Er zuckte die Achseln, als er die Vorhänge beiseite schob, die das<br />

Eingangsloch im Baum be<strong>de</strong>ckten. Stärkere Türen waren nicht notwendig, da sich keine größeren Tiere ungela<strong>de</strong>n in<br />

<strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schlafes aufhielten, und je<strong>de</strong>r Sturm, <strong>de</strong>r über die Wipfel <strong>de</strong>s Weilerwalds peitschte, unterhalb <strong>de</strong>r<br />

Kronen zu einem bloßen Lüftchen zerrann.<br />

„Kommst du mit hinein o<strong>de</strong>r nicht?“ verlangte er zu wissen, und Nachtfalke ließ sich nicht zweimal bitten. Immerhin<br />

lagerten viele Flaschen guten Weins sowie an<strong>de</strong>re Leckereien im Inneren <strong>de</strong>s Baumes. Nach<strong>de</strong>m Indigo ein kleines<br />

Lämpchen entzün<strong>de</strong>t hatte, erfüllte ein flackern<strong>de</strong>r Schein <strong>de</strong>n doch recht großen Raum. Die Luft roch nach Harz,<br />

doch auch viele an<strong>de</strong>re Gerüche mischten sich dazu; alles in allem konnte man kaum sagen, welche Düfte sich in <strong>de</strong>r<br />

Behausung zusammentaten, doch das Resultat war durchaus angenehm.<br />

„Ah...“ seufzte Nachtfalke und ließ sich auf <strong>de</strong>m harten Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Sa’e nie<strong>de</strong>r. „Es geht doch nichts über die gute alte<br />

Wei<strong>de</strong>.“ Er verschränkte die Arme hinter <strong>de</strong>m Kopf und starrte zur gemaserten Decke. Tausen<strong>de</strong> von Jahresringen<br />

breiteten sich dort in konzentrischen Kreisen aus, verliefen wellenförmig, manchmal im Zickzack. „So oft ich auch in<br />

<strong>de</strong>n Weiten Rubens unterwegs bin... nichts ersetzt <strong>de</strong>n Geruch im Innern eines Sa’e.“<br />

Indigo nickte. „Ich wäre froh, wenn ich wenigstens ein einziges Mal eine <strong>de</strong>iner Reisen unternehmen dürfte, Falke.<br />

Ich wür<strong>de</strong> je<strong>de</strong>n Duft dafür aufgeben.“<br />

7


„Vielleicht wird es bald soweit sein“ murmelte Nachtfalke, doch ehe Indigo auf die seltsamen Worte eingehen konnte,<br />

sprach sein Freund erneut: „Möchtest du <strong>de</strong>inem alten Lehrer nichts zu trinken anbieten, Indigo?“<br />

Schuldbewußt verzog Indigo die Lippen. „Natürlich. Entschuldige, ich hatte es einfach vergessen.“ Mit einem Satz<br />

war <strong>de</strong>r Jurakai auf <strong>de</strong>n Beinen, begann eine kleine Odyssee durch die Schubla<strong>de</strong>n seiner Schränke, um anschließend<br />

mit zwei Gläsern und einer Flasche Wein zurückzukehren.<br />

„Er stammt aus <strong>de</strong>m Hochland“ erläuterte Indigo mit Blick auf die rötliche Flüssigkeit. „Ein Perdobles.“<br />

Nachtfalke nickte anerkennend. Er lebte schon lange genug, um auf weitreichen<strong>de</strong> Erfahrung in Hinblick auf Wein<br />

zurückblicken zu können. Außer<strong>de</strong>m stieg ihm <strong>de</strong>r leicht säuerliche Duft in die Nase, und dieser Geruch hätte je<strong>de</strong>n<br />

Zweifler überzeugt. „Ausgezeichnet“ kommentierte er nach <strong>de</strong>m ersten Schluck. Dann leerte er sein Glas in einem<br />

Zug und füllte es wie<strong>de</strong>r auf.<br />

Geduldig wartete Indigo, bis <strong>de</strong>r Durst seines Freun<strong>de</strong>s gestillt schien. Dann sah er ihm fragend in die Augen.<br />

„Du hast mir nicht die Wahrheit gesagt, als ich vorhin wissen wollte, warum du nach Eldraja’aro gekommen bist,<br />

Falke.“<br />

Nachtfalke überlegte, füllte sich sein Glas erneut, verzichtete jedoch diesmal darauf, es zu völlig zu leeren, so daß die<br />

Hälfte <strong>de</strong>r roten Flüssigkeit darin verblieb. Er <strong>de</strong>utete darauf.<br />

„Die halbe Wahrheit, Indigo. Ich habe dir nur einen Teil von ihr verraten. Möglicherweise habe ich nicht alles gesagt,<br />

was ich weiß, aber ich habe dich auch nicht belogen. Es ist wahr, daß ich noch so viel Zeit wie möglich mit dir<br />

verbringen möchte, bevor <strong>de</strong>in Vater sich endgültig dafür entschei<strong>de</strong>t, dich in <strong>de</strong>r Etikette <strong>de</strong>s Hofes zu unterrichten.<br />

Ich selbst war noch nie in <strong>de</strong>r Hochburg, auch wenn ich schon hun<strong>de</strong>rt an<strong>de</strong>re Städte <strong>de</strong>r Manur besucht habe. Ich<br />

bedauere es nicht. Die an<strong>de</strong>re Sache ist die: Die Jagd läuft mehr schlecht als recht dieses Jahr. Es ist, als ob sich das<br />

Wild und die Vögel in an<strong>de</strong>re Regionen zurückgezogen hätten, <strong>de</strong>nn die Beutezüge fallen sehr spärlich aus. Selbst<br />

nach Ausweitung <strong>de</strong>r Jagdgrün<strong>de</strong> stießen wir nicht auf die erhofften Tiere, son<strong>de</strong>rn auf eine Gruppe von Jurakai, die<br />

sich weiter westlich im Weilerwald nie<strong>de</strong>rgelassen hatte und ebenfalls auf <strong>de</strong>r Suche nach Wild war.“<br />

Indigo zögerte. „Dann... dann verstehe ich es umso weniger, daß du hier bei mir bist, Falke. Das Volk ist doch<br />

sicherlich auf <strong>de</strong>in Geschick angewiesen?“<br />

„Einer mehr o<strong>de</strong>r weniger... das ist so gut wie egal“ meinte Nachtfalke, doch diese vage Antwort befriedigte Indigo<br />

keineswegs, <strong>de</strong>r argwöhnte, daß sich mehr hinter <strong>de</strong>m Besuch seines Freun<strong>de</strong>s verbarg. Wieviel mehr es tatsächlich<br />

war, das sollte er erst viel später erfahren.<br />

Wind zerrte an <strong>de</strong>n befestigten Zelten <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sommers, als ein weißes Laken zurückgeschlagen wur<strong>de</strong>. Eine<br />

hochgewachsene, schlanke Person warf die Plane beiseite, achtete nicht auf das Geräusch zerreißen<strong>de</strong>r Sei<strong>de</strong>. Noch<br />

bevor sie das Zelt ganz verlassen hatte, trat eine zweite Gestalt hinter ihr hervor und faßte sie am Arm. Wütend<br />

wandte sie sich ihr zu.<br />

„Laß mich los!“ fauchte sie aufgebracht und versuchte, sich ihrem Griff zu entwin<strong>de</strong>n.<br />

„Nein! Hör mir doch bitte erst einmal zu! Talamà!“<br />

Das Mädchen drehte sich um, funkelte <strong>de</strong>n Mann an, <strong>de</strong>r ihren Arm umklammert hielt. „Was?“<br />

Der Mann schlug sofort die Augen nie<strong>de</strong>r.<br />

„Es tut mir leid.“<br />

„Es ist ein wenig spät für diese Erkenntnis, fin<strong>de</strong>st du nicht?“<br />

„Ich habe nicht nachgedacht, und...“<br />

„Dann <strong>de</strong>nk das nächste Mal! Allerdings wird sich dir bei mir keine Gelegenheit mehr dafür bieten!“<br />

Die junge Frau namens Talamà schüttelte die Hand ab und rannte davon. Nach<strong>de</strong>m sie die Sicherheit mehrerer Zelte<br />

zwischen sich und Mandas wußte, blieb sie stehen, um zu verschnaufen. „Verdammt“ murmelte sie leise. Aber was<br />

hatte sie auch an<strong>de</strong>res erwarten können? Es war von vornherein klar gewesen, daß dieser Mistkerl nichts für sie<br />

empfand. Nun, auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite konnte sie nicht behaupten, ihrerseits jemals etwas <strong>de</strong>rartiges wie Gefühle für<br />

<strong>de</strong>n Jurakai entwickelt zu haben, aber es kränkte sie <strong>de</strong>nnoch, daß er untreu gewor<strong>de</strong>n war. Es war wie ein Messer, das<br />

sich in eine Wun<strong>de</strong> bohrte und darin herumstocherte, nur um zu sehen, wo es am meisten weh tat. Sie hatte ihn<br />

gemocht. Er hatte sie nett behan<strong>de</strong>lt, ihr Geschenke gemacht. Er... war einfach da gewesen. Auch wenn es kein Band<br />

<strong>de</strong>r Liebe gegeben hatte, das die Stärke ihrer Beziehung festigte, so hatte sie in ihm doch eine Person gefun<strong>de</strong>n, die sie<br />

in <strong>de</strong>n Armen hielt, <strong>de</strong>r sie vertrauen konnte... dachte sie je<strong>de</strong>nfalls.<br />

Talamà blickte sich um, ob sie beobachtet wur<strong>de</strong>. Doch die meisten Jurakai befan<strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>rzeit auf <strong>de</strong>r Jagd, das<br />

Dorf war so gut wie leer. Sie verzog die Lippen und erlaubte sich ein paar Tränen <strong>de</strong>s Schmerzes und <strong>de</strong>s Verlustes.<br />

Sie hatten eine schöne gemeinsame Zeit gehabt. Auch wenn ihr von Anfang an klar gewesen war, daß sich bei<strong>de</strong><br />

Seiten zwar auf die Beziehung einlassen, jedoch nicht ihre Augen von an<strong>de</strong>ren Jurakai lassen wür<strong>de</strong>n. Es war nicht<br />

viel mehr als das Abkommen, während <strong>de</strong>r Suche nach jemand Besserem mit <strong>de</strong>m Nächstbesten Vorlieb zu nehmen...<br />

Hätte er es nicht getan, wäre sie diejenige gewesen...<br />

Doch die ganze Überzeugungsarbeit ihres Selbsts konnte trotz<strong>de</strong>m nicht das flaue Gefühl verschwin<strong>de</strong>n lassen, das<br />

sich nun in ihrem Magen ausbreitete. Sie fluchte. Wieso hatte sie nicht diejenige sein können? Er hätte es wahrhaft<br />

verdient gehabt! Talamà sah auf und bemerkte, daß ihre Füße sie unterbewußt durch das Dorf geführt hatten, daß die<br />

8


hoch aufragen<strong>de</strong>n Zelte an ihrer Seite weitab von Mandas Behausung lagen. Das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Lagers war erreicht, und<br />

vor ihren Augen breiteten sich die schier unendlichen Weiten <strong>de</strong>r Täler aus. Grüne Flächen, in <strong>de</strong>nen vereinzelte<br />

Baumgrüppchen und Seen kleine Anhaltspunkte boten, jedoch schnell von <strong>de</strong>r umfassen<strong>de</strong>n Landschaft verschluckt<br />

wur<strong>de</strong>n.<br />

Mit ein paar langen Schritten ließ Talamà das Lager hinter sich, erstieg die kleine Anhöhe, an <strong>de</strong>ren Spitze sich ein<br />

Wäldchen erstreckte. Die Luft hier oben roch schärfer, und im Licht <strong>de</strong>r untergehen<strong>de</strong>n Sonne wirkte sie farbig,<br />

beinahe rötlich.<br />

Eine leichte Brise kam auf und zerrte an Talamàs Haar, spielte mit ihm und ließ es wie<strong>de</strong>r los, um es alsbald auf ein<br />

neues zu umgarnen. Ihre Zehenspitzen benetzt vom kalten Tau, <strong>de</strong>r sich bereits auf die Gräser legte, trat sie einmal,<br />

zweimal mit <strong>de</strong>n Füßen auf die harte Er<strong>de</strong>, bis die Halme sich geglättet hatten. Die junge Jurakai blickte auf, sah zur<br />

sinken<strong>de</strong>n Sonne und seufzte leise. Ein rot schimmern<strong>de</strong>r Punkt spiegelte sich in Talamàs Pupillen wie<strong>de</strong>r, glühte wie<br />

<strong>de</strong>r Funken eines erlöschen<strong>de</strong>n Feuers. Sie seufzte erneut.<br />

Es lag etwas in <strong>de</strong>r Luft. Etwas, das sich nicht durch bloßes Schnuppern erahnen ließ. Talamà füllte ihre Lungen mit<br />

einem tiefen Zug und versuchte, <strong>de</strong>n Geruch zu <strong>de</strong>uten, doch er war noch zu schwach. Vielleicht wür<strong>de</strong> er zu<br />

gegebener Zeit stärker wer<strong>de</strong>n, und vielleicht wür<strong>de</strong> sie dann wissen, was das son<strong>de</strong>rbare Gefühl zu be<strong>de</strong>uten hatte,<br />

das sich hier oben so <strong>de</strong>utlich gegen <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>r Welt abzeichnete. Aber noch war es nicht so weit. Noch schien sie<br />

darauf angewiesen zu sein, zu warten.<br />

Noch lange bis nach Sonnenuntergang stand sie auf <strong>de</strong>m Hügel und ließ ihre Gedanken treiben.<br />

Die Kälte <strong>de</strong>r Nacht drang durch die Öffnung <strong>de</strong>s großen Baumes, bis Indigo sich endlich dazu durchringen konnte,<br />

aufzustehen und <strong>de</strong>n Vorhang so zu verschließen, daß er dicht war. Trotz<strong>de</strong>m fröstelte <strong>de</strong>r Junge noch, als er sich<br />

wie<strong>de</strong>r zu seinem alten Freund setzte und <strong>de</strong>n Geschichten lauschte, die Nachtfalke zu erzählen hatte. Der alte Jurakai<br />

berichtete von <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sommers, von Indigos Eltern und allen an<strong>de</strong>ren Personen, <strong>de</strong>ren Han<strong>de</strong>ln für <strong>de</strong>n Jungen<br />

interessant war. Nach all <strong>de</strong>r Zeit, die Nachtfalke zusammen mit Teagar, Indigos Vater, verbracht hatte, wußte er so<br />

vieles zu berichten, daß <strong>de</strong>r junge Zuhörer manchmal wie gebannt vor <strong>de</strong>m kleinen Feuer saß, das im Innern <strong>de</strong>s Sa’e<br />

lo<strong>de</strong>rte.<br />

Erst als Nachtfalkes nicht en<strong>de</strong>n wollen<strong>de</strong>r Strom <strong>de</strong>r Worte abriß und die Laute <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>s Feuers wie<strong>de</strong>r<br />

die Oberhand gewannen, zwinkerte Indigo mit <strong>de</strong>n Augen und besann sich seiner Umgebung. Es war spät gewor<strong>de</strong>n,<br />

viel später, als es seinen normalen Schlafgewohnheiten entsprach, doch die Begier<strong>de</strong>, selbst die letzten Informationen<br />

aus seinem Freund herauszukitzeln, hielt ihn wach.<br />

„Wie lange wart ihr draußen auf <strong>de</strong>m See, Falke?“ fragte er und unterdrückte mühsam ein Gähnen.<br />

„Zwei Tage lang waren wir abwechselnd auf <strong>de</strong>m Geriadru und auf <strong>de</strong>m Ginslet. Und es ließen sich nicht ein einziges<br />

Mal irgendwelche Fische blicken, Indigo. Ganz so, als ob die Seen ausgestorben wären. Ich kann es mir einfach nicht<br />

erklären.“<br />

„Wenn ich es nicht von dir erfahren hätte, wür<strong>de</strong> ich es nicht glauben“ gab <strong>de</strong>r Junge zu und starrte gedankenverloren<br />

ins Feuer. „Zwei Tage! Das ist wirklich eine lange Zeit, und ihr habt kein einziges Mal einen Fisch zu Gesicht<br />

bekommen... wo können sie nur alle hin sein? Und warum sollten sie plötzlich verschwin<strong>de</strong>n?“<br />

„Ich bezweifle, daß sie einfach so verschwun<strong>de</strong>n sind“ antwortete Nachtfalke nach einigem Überlegen.<br />

„Wahrscheinlich sind sie bloß in tiefere Regionen <strong>de</strong>r Seen geschwommen, aber wieso und warum... das weiß ich<br />

nicht.“<br />

„Fische sind nicht gera<strong>de</strong> dafür bekannt, sich viele Gedanken über ihr Verhalten zu machen...“ dachte Indigo laut.<br />

„Das heißt vielleicht, daß es etwas zu be<strong>de</strong>uten hat, wenn sie alle gleichzeitig ihr Verhalten än<strong>de</strong>rn. Sie wer<strong>de</strong>n... wohl<br />

kaum...“<br />

Indigos Stimme wur<strong>de</strong>n langsamer, verstummte dann gänzlich. Seine Augen starrten ins Leere, als lausche er<br />

angestrengt einer schönen Melodie o<strong>de</strong>r einem Geräusch. Nachtfalke bedachte seinen Schüler mit einem verwun<strong>de</strong>rten<br />

Blick, lauschte dann jedoch ebenfalls, konnte aber nichts beson<strong>de</strong>res vernehmen. Doch er war erfahren genug, Indigo<br />

nicht auf sein Verhalten anzusprechen, son<strong>de</strong>rn ihm seine Frage durch Gebär<strong>de</strong>n verständlich zu machen. Ebenfalls in<br />

Zeichensprache gab ihm <strong>de</strong>r Junge zu verstehen, leise zu sein, dann stand er auf und schlich zur verhangenen Öffnung<br />

<strong>de</strong>s Sa’e.<br />

Nach<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Vorhang mit unendlicher Langsamkeit zurückgezogen hatte, glitt er vorsichtig nach draußen, darauf<br />

bedacht, keinen einzigen Laut zu erzeugen. Er sah sich um und schien nach etwas zu suchen.<br />

Die Nacht war kühl, sehr kühl sogar, wenn man in Betracht zog, daß es noch immer Sommer war. Trotz<strong>de</strong>m kam das<br />

Frösteln, das Indigo nun empfand, nicht von <strong>de</strong>r bloßen Kälte. Er hatte etwas gehört, während er zu Falke gesprochen<br />

hatte, <strong>de</strong>ssen war er sich völlig sicher. Möglicherweise hatte er es nicht wirklich gehört, son<strong>de</strong>rn vielmehr gespürt,<br />

was es auch sein mochte. Es war wie... das plötzliche Empfin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Belauscht- o<strong>de</strong>r Beobachtetwer<strong>de</strong>ns, und in <strong>de</strong>m<br />

Moment, in <strong>de</strong>m sich in seinen Gedanken die son<strong>de</strong>rbare Empfindung geregt hatte, waren auch seine Beine weich<br />

gewor<strong>de</strong>n, hatten zu zittern begonnen. Es lauerte etwas in <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schlafes, das nicht an diesem Ort gehörte.<br />

Doch alles, was er erkennen konnte, waren die Umrisse <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Sa’e, von <strong>de</strong>nen die meisten sowieso unbewohnt<br />

waren. Die wenigen, in <strong>de</strong>nen sich noch Jurakai aufhielten, spen<strong>de</strong>ten kein Licht, da die Alten längst zu Bett<br />

9


gegangen waren. Also mußte er sich im Dunklen zurechtfin<strong>de</strong>n. Indigo kniff die Lippen zusammen und wagte sich<br />

weiter hinaus.<br />

Die großen Bäume, die wie Monolithen in <strong>de</strong>n Himmel ragten, regten sich nicht. Zwischen manchen <strong>de</strong>r Giganten<br />

sprossen kleinere Gewächse und Bäumchen, die neben ihren riesenhaften Nachbarn wie winzige Nachbildungen<br />

wirkten. Das spärliche Licht <strong>de</strong>r Sterne, das noch seinen Weg durch das dichte Blätterdach fand, war zwar keineswegs<br />

ausreichend, aber es half doch ein wenig. Indigo wagte sich ein paar Schritte nach vorn, bis er einen kleinen Weg<br />

überquert hatte und an einem an<strong>de</strong>ren Sa’e lehnte. Schweiß perlte von seiner Stirn, obwohl es jetzt eisig kalt zu sein<br />

schien. Aber vielleicht bil<strong>de</strong>te er sich das ja auch nur ein...<br />

Er beobachtete die Silhouette zweier kleiner Bäume, und in genau diesem Moment vernahm er ein winziges Zucken<br />

an einem von ihnen. Dort war es! Indigo hastete vor, doch als er die Bäumchen erreichte, erwiesen sie sich nur als<br />

dünne Stämme, die jeglichem Geheimnis entbehrten. Die Kälte jedoch war noch nicht gewichen.<br />

Komm heraus, flüsterte Indigo im Geiste, als er die Umgebung absuchte.<br />

Zeig dich! Ich kann dich spüren...<br />

Es mußte hier irgendwo sein, <strong>de</strong>nn in unmittelbarer Umgebung ließen sich keine Zufluchtsorte fin<strong>de</strong>n. Indigo<br />

konzentrierte sich, suchte in <strong>de</strong>n Schatten, doch es war schwer, etwas zu erkennen, <strong>de</strong>nn sie schienen sich direkt vor<br />

seinen Augen zu verdichten.<br />

Du bist hier! Komm heraus!<br />

Noch mehr fließen<strong>de</strong> Schatten, noch weniger Sicht. Es war schwer, selbst die eigene Hand vor Augen zu sehen. Wenn<br />

er doch nur –<br />

Jetzt war dort etwas! Einer <strong>de</strong>r Schatten bewegte sich auf unnatürliche Art und Weise, verriet die Anwesenheit eines<br />

größeren Geschöpfs. Indigo hielt <strong>de</strong>n Atem an, und alle seine Muskeln wollten in seinem Körper bersten vor<br />

Anspannung. Er schlich nach vorn, weiter auf das Wesen zu, das sich dort in <strong>de</strong>n Büschen versteckt haben musste.<br />

Ein bitterer Wind schien aufzukommen, unwirklich und kalt.<br />

Die verkanteten Schatten, die so an dieser Stelle nicht vorkommen durften, erbebten, und langsam aber sicher näherte<br />

sich Indigo, glitt wie ein geschmeidiges Wiesel an sein Opfer heran.<br />

Näher...<br />

... und noch näher...<br />

... die Schatten flossen, verdichteten sich noch mehr...<br />

... und noch ein winziges Stück näher, bloß eine Handbreit...<br />

... und dann verflüchtigte sich das seltsame Gefühl <strong>de</strong>s Beobachtetwer<strong>de</strong>ns plötzlich, die Schatten lichteten sich, und<br />

Sternenlicht fiel auf die langen Zweige. Wie ein Gerippe stachen die Äste aus <strong>de</strong>m Dickicht hervor, erinnerten Indigo<br />

an <strong>de</strong>n Brustkorb eines Tieres. Doch die seltsamen Knochen waren tot, trugen kein Leben mehr in sich, keine Regung.<br />

Das Wesen war fort.<br />

Die Stimme <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s kehrte zurück, laut, majestätisch, und erst jetzt bemerkte Indigo, daß er die ganze Zeit über<br />

nichts gehört hatte als völlige Stille.<br />

Der Wald hatte geschwiegen. Und hatte sein Geheimnis zusammen mit <strong>de</strong>m Schweigen wie<strong>de</strong>r in sich aufgesogen.<br />

Indigo schüttelte sich, um das Gefühl abzuwerfen, das sich wie ein Affe an seine Schultern geklammert hatte. Es war<br />

vorbei. Was auch immer es gewesen war, das sich unerlaubt in <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schlafes aufgehalten hatte – es war fort.<br />

Ein unheimliches Bild drängte sich unwillkürlich in Indigos Gedanken: Früher, als er noch ein Kind war und tollend<br />

durch <strong>de</strong>n Weilerwald lief, hatte er einmal ein son<strong>de</strong>rbares Geschöpf ent<strong>de</strong>ckt. Er war auf einen Baum geklettert,<br />

höher und höher hinauf, hatte, knapp unter <strong>de</strong>m Wipfel angelangt, die Hand nach einem dürren Zweig ausgestreckt,<br />

um sich zu stützen. Doch als sich seine Hand um das Ästchen geschlossen hatte, begann das vermeintliche Holzstück<br />

auf einmal zu zittern und sich unter seinem Griff zu win<strong>de</strong>n. Erschrocken hatte Indigo aufgeschrien und wäre beinahe<br />

vom Baum gestürzt, doch die kindliche Neugier war stärker als <strong>de</strong>r Ekel. Er öffnete die Hand, um nachzusehen,<br />

warum <strong>de</strong>r Ast plötzlich lebendig gewor<strong>de</strong>n war, und sah zum ersten Mal eine Stabheuschrecke. Das klapprige<br />

Geschöpf stakste auf seiner Haut, bis <strong>de</strong>r Jurakai es wie<strong>de</strong>r an die Borke <strong>de</strong>r Schierlingstanne legte. Dort, auf<br />

vertrautem Terrain, begann das Wesen sicheren Schrittes die Zweige entlangzutrotten, bis es einen geeigneten Platz<br />

gefun<strong>de</strong>n hatte, um sich erneut auf die Lauer zu legen. Es ordnete seine Beine, versteifte sich, und hätte Indigo nicht<br />

gewußt, wonach es Ausschau zu halten galt, hätte er die Heuschrecke mit Sicherheit wie<strong>de</strong>r übersehen.<br />

Und hier, im finsteren Weiler seiner Kindheit, formte sich aus <strong>de</strong>n Erfahrungen früherer Tage ein Bild in seinem<br />

Geiste, das sich nicht wie<strong>de</strong>r abschütteln ließ: Ein groteskes Geschöpf, eine monströse Stabheuschrecke, die größer<br />

war als ein Jurakai und sich durch das Unterholz wand, sich vor Ent<strong>de</strong>ckung einfach dadurch schützte, daß es eins<br />

wur<strong>de</strong> mit seiner Umgebung...<br />

Indigo schüttelte sich, doch so unwahrscheinlich <strong>de</strong>r Gedanke auch war, so verlockend schien er zu erklären, was<br />

gera<strong>de</strong> vorgefallen war. Erst <strong>de</strong>r Ruf Nachtfalkes brachte ihn wie<strong>de</strong>r zurück in die Wirklichkeit.<br />

„Indigo!“<br />

„Ich komme!“ gab <strong>de</strong>r Junge zurück und warf einen letzten Blick auf die verknoteten Äste vor sich, versuchte einen<br />

Kopf o<strong>de</strong>r Augen zu erkennen, die nicht in das Dickicht hineinpassten. Doch da war nichts, abgesehen von bleichen<br />

Zweigen und starren Ästen...<br />

10


„Indigo?“<br />

„Sofort.“ Er wandte sich ab und fand Nachtfalke vor seinem Sa’e, mit verschränkten Armen und erbostem Ausdruck.<br />

Der Alte nahm Indigo bei <strong>de</strong>r Hand und zerrte ihn in die Höhle <strong>de</strong>s Baumes.<br />

„Es ist weg“ sagte er mit vorwurfsvoller, jedoch väterlicher Stimme, um <strong>de</strong>n aufgebrachten Jungen zu beruhigen.<br />

„Kurz nach dir habe auch ich es gespürt, doch es ist weg.“<br />

„Ich weiß“ erwi<strong>de</strong>rte Indigo. „Ganz kurz dachte ich, daß ich es erwischen könnte...“<br />

Nachtfalke musterte ihn grimmig. „Bist du dir im Klaren darüber, welcher Gefahr du dich gera<strong>de</strong> ausgesetzt hast,<br />

Junge? Dort draußen war etwas, das uns unbekannt ist, und das erste, was dir einfällt, ist, ihm nachzuspringen.<br />

Ebensogut hättest du dir auch ein Messer an die Kehle setzen können.“<br />

„Ich wollte es fin<strong>de</strong>n, Falke! Und glaubst du wirklich, daß es etwas Böses hier in Eldraja’aro geben könnte? Daß<br />

jemand o<strong>de</strong>r etwas es schaffen könnte, bis hierher vorzudringen und—„<br />

„Verlaß dich nicht auf eine Sicherheit, die du dir nicht selbst geschaffen hast, Indigo. Diese Weisheit kann dir eine<br />

Menge Ärger ersparen.“<br />

Obwohl auch Indigo die Fremdartigkeit <strong>de</strong>s Wesens gespürt hatte, so war er sich doch unschlüssig darüber, ob es<br />

tatsächlich etwas Böses im Schil<strong>de</strong> geführt hatte. „Ich <strong>de</strong>nke, die Wissen<strong>de</strong>n Gräser hätten uns mitgeteilt—„<br />

„Nichts bietet einen völligen Schutz, Indigo. Kein Schild ist so sicher, daß man es nicht umgehen könnte, keine Falle<br />

so perfekt, daß man sie nicht sieht. Wir dürfen uns nichts vormachen: Wenn jemand o<strong>de</strong>r etwas es tatsächlich darauf<br />

anlegt, bis ins Innere von Eldraja’aro vorzudringen... so kann er es durchaus schaffen. Nichts ist völlig sicher. Hüte<br />

dich vor <strong>de</strong>rlei Gedanken. Sie führen zu Torheit.“<br />

Indigo blinzelte. Was war nur mit Falke los? Er war so an<strong>de</strong>rs, seit er von <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sommers zurückgekehrt war.<br />

In allem sah er etwas Schlechtes o<strong>de</strong>r eine Bedrohung... doch so war er früher nicht gewesen. Was veranlaßte ihn bloß<br />

dazu, <strong>de</strong>rart schwarz zu sehen?<br />

„Ich war doch vorsichtig, Falke!“ rechtfertigte sich Indigo und setzte in einem Versuch von Auflockerung hinzu: „Du<br />

selbst hast mir beigebracht, wie ich mich anschleichen muß, weißt du nicht mehr?“<br />

Nachtfalkes altes Gesicht runzelte sich, dann glätteten sich die Falten, und ein gutmütiger Ausdruck trat statt <strong>de</strong>ssen<br />

auf sein Antlitz. „Ja, ich erinnere mich an all die Wochen und Monate voll Qualen, als wäre es Gestern gewesen. Bei<br />

<strong>de</strong>inem ersten Versuch hätte ein Bär dich auf tausend Meilen ent<strong>de</strong>ckt. Und er hätte nicht einmal beson<strong>de</strong>rs gute<br />

Augen haben müssen“, lachte er. Der Alte brach in fröhliche Heiterkeit aus, in die auch Indigo einfiel. Gemeinsam<br />

leerten sie, Erinnerungen an alte Zeiten auffrischend, die kümmerlichen Reste <strong>de</strong>s Weines, und lange starrten sie noch<br />

gedankenverloren, je<strong>de</strong>r für sich selbst, in die züngeln<strong>de</strong>n Flammen.<br />

Erst, als die bei<strong>de</strong>n sich wie<strong>de</strong>r gesammelt hatten, fuhr <strong>de</strong>r erfahrene Jurakai ein wenig ernster fort: „Das, was heute<br />

Nacht dort draußen war, hat nach etwas gesucht. Ich weiß nicht, ob es fand, wonach es Ausschau hielt, aber es ist fort.<br />

Doch das heißt nicht, daß es nicht wie<strong>de</strong>rkommen kann! Wir müssen auf je<strong>de</strong>n Fall gewarnt sein, Indigo. Wenn es<br />

wie<strong>de</strong>r auftaucht, wer<strong>de</strong>n wir es stellen. Was immer es sein mag.“<br />

Indigo nickte mü<strong>de</strong>. Die Züge aus <strong>de</strong>m Weinschlauch hatten zusammen mit <strong>de</strong>r fortgeschrittenen Uhrzeit ihren<br />

Gutteil dazu beigetragen, daß <strong>de</strong>r Jurakai es sich auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Sa’e bequem machte und sich nach einer<br />

geeigneten Schlafstätte umsah. Er gähnte herzhaft und verschränkte die Arme hinter <strong>de</strong>m Kopf. Ohne Zweifel wür<strong>de</strong>n<br />

sie das Wesen fin<strong>de</strong>n, das <strong>de</strong>n nächtlichen Wald durchstreift hatte. Natürlich. Aber das konnte bis Morgen warten.<br />

O<strong>de</strong>r länger. Je<strong>de</strong>nfalls wür<strong>de</strong> es heute nicht wie<strong>de</strong>rkehren, <strong>de</strong>ssen war Indigo sich sicher.<br />

„Ich wünsche dir einen erholsamen Schlaf, Falke. Es ist schön, dich wie<strong>de</strong>r in Eldraja’aro zu sehen. Ich hoffe, du<br />

kannst mir noch viel von <strong>de</strong>n Tälern und <strong>de</strong>r Jagd in diesem Jahr erzählen, aber laß’ uns das bitte auf morgen<br />

verschieben...“<br />

„Ich wünsche dir ebenfalls einen erholsamen Schlaf, Indigo. Möge Jarondai dir schöne Träume schenken.“ Nachtfalke<br />

setzte sich vor das Feuer, das sich langsam in Glut verwan<strong>de</strong>lte, und stützte das Gesicht auf die Hän<strong>de</strong>. Irgendwann<br />

beugte auch er sich hintenüber und fiel in einen unruhigen Schlaf.<br />

Als die ersten Strahlen <strong>de</strong>r aufgehen<strong>de</strong>n Sonne die Zinnen <strong>de</strong>r Hochburg berührten und <strong>de</strong>n grauen Stein, <strong>de</strong>r direkt<br />

aus <strong>de</strong>n eisigen Höhlen <strong>de</strong>s Ra’an-Gebirges geschlagen und mühsam bis ins Innere Reich transportiert wor<strong>de</strong>n war, in<br />

ein gol<strong>de</strong>nes Licht tauchten, war <strong>Arathas</strong> Dynes bereits lange wach.<br />

Noch vor Dämmerung war er aus einem schlechten Traum erwacht und nicht mehr in <strong>de</strong>r Lage gewesen, wie<strong>de</strong>r<br />

einzuschlafen, jedoch erinnerte er sich auch nicht mehr daran, was genau er geträumt hatte. Bloß <strong>de</strong>r Schrecken war<br />

noch allgegenwärtig und ließ seine Glie<strong>de</strong>r zittern. So war er aufgestan<strong>de</strong>n, um unruhig auf <strong>de</strong>n Anbruch <strong>de</strong>s Tages zu<br />

warten. Aber die Stun<strong>de</strong>n hatten sich in die Länge gezogen, und bis zum Turnier dauerte es noch eine Weile.<br />

Jetzt, da die Sonne sich am östlichsten Rand <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s zeigte, wür<strong>de</strong>n die Spiele bald beginnen. Der Hof war bereit,<br />

die Pfer<strong>de</strong> gesattelt und die Knappen in heller Aufruhr. Überall in <strong>de</strong>r großen Burg wuselten Putzkolonnen und<br />

brachten verstaubte Zimmer in Ordnung, die jahrelang keinen Putzlappen gesehen hatten. Tausen<strong>de</strong> von Menschen<br />

hatten sich eingefun<strong>de</strong>n, um ein beson<strong>de</strong>res Schauspiel zu verfolgen. Denn wie in je<strong>de</strong>m dritten Jahr hielt <strong>de</strong>r König<br />

das Turnier <strong>de</strong>r Sommerwen<strong>de</strong> ab, in <strong>de</strong>r letzten Woche vor Herbstbeginn. Es war eine alte Tradition, die die<br />

Herrscher <strong>de</strong>r Manur schon so lange vollzogen, daß niemand mehr genau wußte, warum o<strong>de</strong>r wofür sie abgehalten<br />

11


wur<strong>de</strong>, noch, warum sie genau alle drei Jahre stattfand. Nichts<strong>de</strong>stotrotz wur<strong>de</strong> es je<strong>de</strong>smal ein einziges, riesiges Fest,<br />

das nicht nur die Hochburg in eine Arena <strong>de</strong>r Heiterkeit verwan<strong>de</strong>lte, son<strong>de</strong>rn auch die anliegen<strong>de</strong> Königsstadt Neru<br />

und die umliegen<strong>de</strong>n Dörfer. So kam es, daß trotz ihrer gewaltigen Größe die Burg aus allen Nähten zu platzen<br />

schien, erfüllt war vom Lachen <strong>de</strong>r Hofdamen und <strong>de</strong>n Schreien spielen<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r.<br />

Nur eine einzige kleine Nische, die so zugig und dreckig war, daß niemand in ihr einen Gast hatte unterbringen<br />

wollen, war so abgelegen gewesen von all <strong>de</strong>m Trubel, daß Dynes sich sofort für sie entschie<strong>de</strong>n hatte. Es war <strong>de</strong>r<br />

zweithöchste Turm <strong>de</strong>r Burg, nur noch übertroffen von <strong>de</strong>r Königszinne, und so verfallen und brüchig mutete er an,<br />

daß selbst Dynes seine Entscheidung fast bereut hätte, als er gestern dort einzog. Es stellte sich allerdings heraus, daß<br />

die Wän<strong>de</strong> zwar in schlechter Verfassung, jedoch allemal stabil genug waren, einem starken Sturm zu trotzen, und<br />

auch sonst erwies sich die luftig hohe Resi<strong>de</strong>nz als wahres Juwel <strong>de</strong>r Einsamkeit. Ungestört und ruhig lag sie abseits<br />

<strong>de</strong>s Hofes, das Stimmgewirr <strong>de</strong>r Menschen drang nicht hier herauf.<br />

<strong>Arathas</strong> lehnte sich über die Brüstung eines kleinen Fensters, <strong>de</strong>ssen Glasscheiben zerbrochen auf <strong>de</strong>m Steinbo<strong>de</strong>n<br />

lagen, und blickte hinunter auf die Arbeiten, die sich jetzt, da das Fest bald beginnen wür<strong>de</strong> und die Vorbereitungen<br />

sich <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> zuneigten, noch verdoppelten. Es glich fast einem Ritual, mit welchem Eifer sich die verschie<strong>de</strong>nen<br />

Belegschaften ins Zeug legten, wenn <strong>de</strong>r endgültige Augenblick in sichtbare Nähe rückte. Anstatt mehrere Wochen<br />

zuvor zu beginnen, wur<strong>de</strong>n die Arbeiten lieber zur Seite geschoben, um dann letzten En<strong>de</strong>s <strong>de</strong>n Streß und <strong>de</strong>n<br />

Zeitdruck bis zur völligen Erschöpfung auskosten zu können. Vor allem die Köche und Köchinnen durften heute nicht<br />

einmal Luft holen, so sehr wur<strong>de</strong> ihre Zeit in Anspruch genommen, <strong>de</strong>nn schließlich mußten noch tausen<strong>de</strong> von<br />

Suppen gekocht und Millionen von Kuchen gebacken wer<strong>de</strong>n, wenn die hohen Herrschaften <strong>de</strong>s A<strong>de</strong>ls sich hungernd<br />

und dürstend im Kern <strong>de</strong>s Inneren Reiches einfan<strong>de</strong>n.<br />

Dynes Blick fixierte eine Stelle am unteren En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Turnierplatzes, wo gera<strong>de</strong> ein lauter Schrei ertönte, als einem <strong>de</strong>r<br />

Knappen ein Pferd durchging. Die braune Stute trabte in neu errungener Freiheit über <strong>de</strong>n Hof, überrannte beinahe<br />

einen jungen Mann, <strong>de</strong>r sich nur noch durch einen halsbrecherischen Sprung aus <strong>de</strong>r Bahn <strong>de</strong>s Pfer<strong>de</strong>s werfen konnte,<br />

und kam erst zum Stehen, als sie die lange Reihe von kleinen Stän<strong>de</strong>n und schnell zusammengezimmerten Lä<strong>de</strong>n<br />

erreicht hatte, die die ganze Seite einer Burgmauer in Anspruch nahm. Mit einem wiehern<strong>de</strong>n Laut, <strong>de</strong>r vielleicht<br />

Zufrie<strong>de</strong>nheit zum Ausdruck brachte, verspeiste sie seelenruhig die Torten und Obststücke, die fein säuberlich auf<br />

<strong>de</strong>n Tellern plaziert wor<strong>de</strong>n waren. Nur das beherzte Eingreifen eines großen muskulösen Mannes, <strong>de</strong>r sich gut mit<br />

Pfer<strong>de</strong>n auszukennen schien, verhin<strong>de</strong>rte ein konditorisches Desaster, das wahrscheinlich so manchen Koch ins Grab<br />

gebracht hätte – und <strong>de</strong>n unvorsichtigen Knappen obendrein. Der stämmige Mann führte die Stute an ihrer Leine<br />

zurück zu ihrem Herren, <strong>de</strong>r sich mit hochrotem Kopf und schuldigem Blick schleunigst aus <strong>de</strong>m Staub machte.<br />

<strong>Arathas</strong> mußte unwillkürlich schmunzeln, als er einen kleines Mädchen beobachtete, das sich die Verwirrung <strong>de</strong>s<br />

Augenblicks zu Nutze gemacht und ein paar günstige Einkäufe getätigt hatte. Mit <strong>de</strong>n breiten Taschen voll von<br />

Früchten wollte auch sie gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Masse <strong>de</strong>r Menschen untertauchen, als ein schlaksiger Mann aus <strong>de</strong>n Reihen<br />

trat und die Kleine am Arm packte. Noch während das Mädchen <strong>de</strong>n Kopf nach oben wandte, empfing sie eine brutale<br />

Ohrfeige, die ihr eine rote Wange bescherte. Dynes kniff die Augen zusammen, <strong>de</strong>nn die schlanke Gestalt, die eine<br />

buschige und ungepflegte Frisur auf <strong>de</strong>m Schä<strong>de</strong>l trug, kam ihm bekannt vor.<br />

„Fegget!“ fluchte er im Stillen und sah zu, wie <strong>de</strong>r Ritter <strong>de</strong>m Mädchen die stibitzten Gegenstän<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>r Tasche<br />

zog. Ein arrogantes Grinsen zog sich dabei wie eine bösartige Narbe von einem Ohr zum an<strong>de</strong>ren, ganz so, als ob er<br />

gera<strong>de</strong> eine Hel<strong>de</strong>ntat vollbracht hätte. Nun, wahrscheinlich war das Schnappen <strong>de</strong>r kleinen Diebin sogar tatsächlich<br />

um einiges heroischer als die Dinge, die er geleistet hatte, um in <strong>de</strong>n Ritterstand gehoben zu wer<strong>de</strong>n. Der angeberische<br />

Emporkömmling wur<strong>de</strong> wegen seiner verpickelten Haut von allen nur „Krater“ genannt – natürlich ausschließlich<br />

hinter vorgehaltener Hand, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Bursche war <strong>de</strong>r Schwager <strong>de</strong>s Prinzen, und zu<strong>de</strong>m sein bester Freund. Nach<strong>de</strong>m<br />

Fegget sicher sein konnte, auch wirklich alle gestohlenen Schätze wie<strong>de</strong>rbekommen zu haben, ließ er die Hand <strong>de</strong>s<br />

Mädchens los, nicht jedoch, ohne ihr vorher noch eine saftige Ohrfeige mitgegeben zu haben.<br />

„Man sollte dich aufhängen, zusammen mit <strong>de</strong>inem verdammten Prinzchen und <strong>de</strong>inem gesamten Gefolge“ knurrte<br />

Dynes und ließ seine geballte Rechte auf <strong>de</strong>n Fenstersims nie<strong>de</strong>rkrachen. Er wandte sich ab und prüfte sein<br />

Erscheinungsbild, bevor er sich hinunter begab. Nicht, daß es ihm beson<strong>de</strong>rs wichtig gewesen wäre, wenn an<strong>de</strong>re<br />

Leute sich über sein unrasiertes Gesicht beschwert hätten, doch <strong>de</strong>r König verlangte ein ta<strong>de</strong>lloses Äußeres am Tage<br />

<strong>de</strong>s Turniers. <strong>Arathas</strong> sah in <strong>de</strong>n Spiegel und fuhr sich mit <strong>de</strong>r Hand durch die Haare. Graue Strähnchen mischten<br />

sich an <strong>de</strong>n Schläfen unter die kurzen Braunen. Er drehte <strong>de</strong>n Kopf ein Stück. Die Strähnen zogen sich sogar noch<br />

weiter hinab. Es wür<strong>de</strong> nicht mehr lange dauern, bis sich all seine Haare verfärbt hatten...<br />

Dynes wandte <strong>de</strong>n Kopf, um sich von vorn zu betrachten. Seine hageren Züge bekamen etwas grimmiges durch die<br />

Augenringe, die er schon seit Jahren mit sich herumtrug, fand er. Gut. Es half, Abstand zu wahren.<br />

Er riß die Tür auf, die <strong>de</strong>m wüten<strong>de</strong>n Griff beinahe erlag und fast aus <strong>de</strong>n Angeln brach. Auf <strong>de</strong>r langen, gewun<strong>de</strong>nen<br />

Treppe <strong>de</strong>s Turmes nahm er zwei Stufen auf einmal.<br />

Er hatte es sich nicht ausgesucht, heute hier zu sein. Seine Lehen, die sich weit im Osten erstreckten, waren ihm<br />

wichtiger als je<strong>de</strong>s Turnier. Sie waren zwar klein und bestan<strong>de</strong>n hauptsächlich aus Bauernhöfen und Siedlungen, die<br />

die größeren Städte im Hochland mit Nahrung versorgten, doch er mochte die einfachen Leute, die dort lebten, und<br />

ihr einfaches Denken. Für sie war es unbe<strong>de</strong>utend, wer bei welchem Ritterspiel wo gewann, o<strong>de</strong>r ob <strong>de</strong>r Prinz sich nun<br />

12


diese o<strong>de</strong>r jene zur Frau nahm. Die größten Sorgen waren das Wetter und die Willigkeit <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s, und keines dieser<br />

Bei<strong>de</strong>n unterstand <strong>de</strong>m Gesetz <strong>de</strong>s Königs.<br />

Dynes verabscheute die meisten <strong>de</strong>r Ritter, nicht <strong>de</strong>swegen, weil sie sich für etwas Besseres hielten, son<strong>de</strong>rn vielmehr,<br />

weil sich die übrigen Menschen in ihrer Gegenwart für etwas Schlechteres hielten. Den Bauern und Landleuten wur<strong>de</strong><br />

in diesen Teilen <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s von klein auf beigebracht, daß ein Ritter etwas Hohes, etwas Beson<strong>de</strong>res war, und<br />

<strong>de</strong>swegen glaubten sie an diese Tatsache. Für einen Ritter war es im Inneren Reich fast unmöglich, sich nicht wie<br />

etwas Besseres zu fühlen, <strong>de</strong>nn von überall her wur<strong>de</strong> ihm dieses Gefühl entgegengebracht, strahlte wie das Feuer <strong>de</strong>s<br />

Glaubens in <strong>de</strong>n Augen eines Priesters.<br />

Dynes hingegen war unbekannt am Hof, und außer<strong>de</strong>m achtete er darauf, keine Kleidung zu tragen, die seinem Stand<br />

gerecht wur<strong>de</strong>. Überhaupt trug er <strong>de</strong>n A<strong>de</strong>lstitel nur, weil er ihm in die Wiege gelegt wor<strong>de</strong>n war, <strong>de</strong>nn die Dienste,<br />

die er seinem Land erwies, waren nicht von <strong>de</strong>r Sorte, wie <strong>de</strong>r König sie ehren wür<strong>de</strong>.<br />

So zollten ihm die Burgjungen nicht mehr Achtung, als er durch die Gänge schritt, die sich durch die Burg<br />

schlängelten und hinaus auf <strong>de</strong>n Hof führten, als man einem Hin<strong>de</strong>rnis beimißt, das es zu umgehen gilt. Nur ein paar<br />

<strong>de</strong>r Gesichter, die ihm begegneten, erkannten ihn, doch er hastete an ihnen vorüber und ließ sich absichtlich auf kein<br />

Gespräch ein. Erst, als er <strong>de</strong>n großen Saal erreicht hatte, wur<strong>de</strong>n seine Schritte gemächlicher, sein Blick wachsamer<br />

und nicht nur starr gera<strong>de</strong>aus gerichtet. Im hellen Licht <strong>de</strong>r Sonne, mitten auf <strong>de</strong>m Turnierplatz, wo bald Ritter gegen<br />

Ritter reiten wür<strong>de</strong>, um die Herzen <strong>de</strong>r Damen zu erfreuen, fand er, wonach er Ausschau gehalten hatte: Fegget! Ein<br />

paar große Schritte brachten ihn seinem Ziel näher, doch bevor die erzürnten Worte, die sich in seiner Brust gestaut<br />

hatten, seinen Mund verlassen konnten, bemerkte er eine weitere Gestalt an <strong>de</strong>ssen Seite, und <strong>de</strong>r aufgesparte Zorn<br />

verblaßte wie ein Pfütze unter brennen<strong>de</strong>r Sonne.<br />

„Ah, Sir <strong>Arathas</strong>“ stellte Leonart, <strong>de</strong>r Kronprinz, zuckersüß fest. „Wie schön, Euch an unserem Hof begrüßen zu<br />

dürfen.“<br />

Obwohl die gesprochenen Worte im Gegensatz zu <strong>de</strong>m Funkeln in <strong>de</strong>s Prinzen Augen stan<strong>de</strong>n, antwortete Dynes<br />

höflich und neigte leicht <strong>de</strong>n Kopf.<br />

„Mein Prinz.“<br />

Fegget legte seine Hand auf <strong>Arathas</strong> Arm und beugte sich vor. „Aras, wißt Ihr, ob wir bei<strong>de</strong> uns heute<br />

gegenüberstehen? Auf <strong>de</strong>m Turnierplatz, meine ich?“ Obwohl Dynes niemals versucht hatte, <strong>de</strong>n Anschein zu<br />

erwecken, als wür<strong>de</strong> er Fegget mögen, betrachtete ihn dieser als engen Freund und nutzte je<strong>de</strong> Möglichkeit, mit ihm in<br />

Kontakt zu treten. Bei Fegget allerdings lag dies wohl jedoch nur an <strong>de</strong>ssen grenzenloser Dummheit und Verrohtheit,<br />

<strong>de</strong>nn er wußte, daß Leonart, <strong>de</strong>n er nicht an<strong>de</strong>rs behan<strong>de</strong>lte, in auf <strong>de</strong>n Tod haßte, dies aber hinter einer Maske <strong>de</strong>r<br />

Freundlichkeit verbarg.<br />

„Womöglich“ gab Dynes zurück und versprach sich, sich irgendwann dafür zu rächen, daß <strong>de</strong>r Emporkömmling ihn<br />

mit „Aras“ ansprach, wie er es nur seinen besten Freun<strong>de</strong>n erlaubte.<br />

„Womöglich treffen wir tatsächlich aufeinan<strong>de</strong>r...“ Wenn es auch nicht hier und heute geschehen sollte.<br />

Leonart lachte leise. „Höre ich etwa einen Anflug von Gereiztheit, Sir <strong>Arathas</strong>? Ihr solltet Euch einmal richtig<br />

ausschlafen, <strong>de</strong>nn Ihr seht aus, als hätte ein Pferd auf Euch genächtigt. Ein wenig Schlaf täte Euch sicherlich gut,<br />

<strong>de</strong>nn Ihr scheint mir aggressiv und gestreßt.“<br />

Dynes nickte. „Ihr habt Recht. Ich wer<strong>de</strong> mich besser zurückziehen...“ begann er und versuchte, nach hinten zu<br />

weichen. Leonart trat ihm in <strong>de</strong>n Weg. Ein schmales Lächeln stand auf seinen Lippen, als er seinen Freund Fegget<br />

betrachtete.<br />

„Ralf, wie wäre es mit einem kleinen Vorab-Turnier mit Sir <strong>Arathas</strong>?“<br />

Fegget, <strong>de</strong>r nach einer Möglichkeit suchte, sich seiner Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r Diebin zu rühmen, konnte sich sofort für <strong>de</strong>n<br />

Vorschlag begeistern.<br />

„Ich habe gehört, daß die Bogenzielscheiben schon aufgestellt seien“ fuhr <strong>de</strong>r Prinz fort und lächelte unverwandt.<br />

Dynes verspürte <strong>de</strong>n nur schwer zu zügeln<strong>de</strong>n Drang, <strong>de</strong>m Lächeln <strong>de</strong>s Prinzen mit einem Faustschlag ein En<strong>de</strong> zu<br />

bereiten.<br />

„Ich schätze, daß mein Knappe meine Ausrüstung noch nicht vorbereitet hat“ wollte er sich herauswin<strong>de</strong>n, doch<br />

wie<strong>de</strong>r machte Leonart einen Strich durch seine Rechnung.<br />

„Ihr braucht Euch doch darum keine Sorgen zu machen, Sir <strong>Arathas</strong>! Ich wer<strong>de</strong> einen Bogen für Euch und meinen<br />

Freund bereitstellen, damit niemand im Nachteil ist.“<br />

„Und außer<strong>de</strong>m solltet Ihr Eurem Knappen ein wenig mehr Gehorsam einprügeln. In <strong>de</strong>n jungen Jahren lernen sie<br />

noch am meisten“ schnaubte Fegget, <strong>de</strong>m die Jugendlichkeit selbst noch in vollen Zügen ins Gesicht geschrieben<br />

stand.<br />

Gera<strong>de</strong> als Dynes sich zu einer Bemerkung hinreißen lassen wollte, die ihm in Gegenwart <strong>de</strong>s Prinzen beträchtlichen<br />

Ärger hätte einbringen können, wur<strong>de</strong>n die drei von einem Boten unterbrochen.<br />

„Was willst du?“ fragte Leonart ärgerlich, und es hätte nicht viel gefehlt, daß er <strong>de</strong>m Mann einen Hieb versetzt hätte.<br />

„Ich bringe eine Botschaft von Eurem Vater“ sagte <strong>de</strong>r Mann und wich vorsichtshalber einen Schritt zurück. Er führte<br />

zwar einen königlichen Befehl aus, doch die Reizbarkeit <strong>de</strong>s Prinzen war allgemein bekannt. „Er möchte mit Sir<br />

<strong>Arathas</strong> sprechen. Sofort“ setzte er hinzu.<br />

13


„Geh“ winkte <strong>de</strong>r Prinz <strong>de</strong>m Boten zu, dann, an Dynes gewandt: „Scha<strong>de</strong>, fin<strong>de</strong>t Ihr nicht auch? Es wäre sicherlich<br />

ein interessantes Schauspiel gewesen, wenn Ihr Eure Geschicklichkeit mit <strong>de</strong>r meines Schwagers gemessen hättet.<br />

Doch es ist nicht zu än<strong>de</strong>rn. Bitte geht Euren Pflichten nach und mel<strong>de</strong>t Euch bei meinem Vater, was immer er auch<br />

von Euch will...“<br />

„Es war mir eine Ehre, mein Prinz“ verabschie<strong>de</strong>te sich Dynes und konnte <strong>de</strong>n Zorn Leonarts förmlich spüren, <strong>de</strong>r wie<br />

ihn wie eine Wolke umgab. Es dauerte eine Weile, bis er sich durch das Gewirr <strong>de</strong>r Menschen gedrängt, die von <strong>de</strong>r<br />

Putzkolonne belegten Gänge umlaufen und die Strecke zwischen Hof und Thronsaal zurückgelegt hatte. Der König<br />

empfing ihn – wie immer – förmlich. Von seinem großen, mit rotem Samt besticktem Thron aus blickte er auf, als<br />

Dynes in seine Gemächer trat. Ein Ausdruck <strong>de</strong>r Langeweile huschte über sein Antlitz.<br />

„Ich habe Euch erwartet, Sir <strong>Arathas</strong>.“<br />

„Herr?“<br />

„Es gibt eine unerfreuliche Nachricht, über die ich gern mit Euch sprechen möchte.“<br />

„Ja, Herr.“<br />

„Ich weiß sehr wohl, daß Ihr erst gestern angereist seid, um uns beim Turnier mit Euren Künsten zu erfreuen, Sir<br />

<strong>Arathas</strong>. Doch ich fürchte, daß Ihr nicht lange bleiben wer<strong>de</strong>n könnt. Ein Falke traf bei Sonnenaufgang ein – er<br />

brachte eine Botschaft mit <strong>de</strong>m Siegel Djenhalms, <strong>de</strong>m Lehnsherren Yarks.“<br />

„Herr?“<br />

„Djenhalm berichtet, daß ungewöhnliche Dinge vor sich gehen in <strong>de</strong>n Hochlan<strong>de</strong>n, daß einige <strong>de</strong>r Bauern aus Eueren<br />

Lehen sich in seine Städte geflüchtet hätten, Dynes.“<br />

Dynes blickte auf. „Herr?“<br />

„Ihr wißt davon?“<br />

„Als ich aufbrach, war mir nichts <strong>de</strong>rartiges bekannt, Herr.“<br />

„Gleichviel. Die Bauern berichten von seltsamen Dingen, die in ihren Dörfern vorgehen, und <strong>de</strong>r Stoßtrupp, <strong>de</strong>n<br />

Djenhalm daraufhin aussandte, kehrte nicht zurück. Wovor fürchten sich diese Bauern, Dynes?“<br />

Dynes verzog das Gesicht. „Oh, sie fürchten sich vor allem, was sie nicht kennen, Herr.“ Aber meist haben sie einen<br />

guten Grund dafür, fügte er in Gedanken hinzu.<br />

„Also kein Anlaß zur Sorge?“<br />

Dynes witterte die Gelegenheit, <strong>de</strong>m Festbetrieb entgehen zu können. „Möglicherweise. Vielleicht sollte ich<br />

aufbrechen, um nach <strong>de</strong>m Rechten zu sehen, Herr.“<br />

Der König nickte. „Gut. Ihr dürft natürlich noch am Turnier teilnehmen, Sir <strong>Arathas</strong>, wenn auch nicht die vollen<br />

sieben Tage“ fügte er mit einem Lächeln hinzu, das <strong>de</strong>m seines Sohnes aufs Haar genau glich. „Ihr wer<strong>de</strong>t heute<br />

Abend abreisen. Wenn wir Euren Kampf vorverlegen, wer<strong>de</strong>n die Leute Euch trotz<strong>de</strong>m kämpfen sehen.“<br />

„Ja, Herr.“<br />

Dynes tat sein möglichstes, das Gesicht nicht zu verziehen. Verdammt! Nun, <strong>de</strong>r Apfel fiel nicht weit vom Stamm,<br />

wie es so schön hieß.<br />

„Ich bin fertig, Dynes. Ihr dürft gehen.“<br />

„Herr.“<br />

Dynes erhob sich aus seiner knieen<strong>de</strong>n Position und trat ein paar Schritte zurück, bevor er <strong>de</strong>m König <strong>de</strong>n Rücken<br />

zuwandte. Zwei Wächter öffneten die Tore <strong>de</strong>s Thronsaals und ließen ihn hinaustreten. Mit vollkommen<br />

ausdruckslosem Gesicht schlen<strong>de</strong>rte er durch die langen Gänge, bis er einen Flur erreicht hatte, in <strong>de</strong>m er sich endlich<br />

allein glaubte. Er vergewisserte sich noch einmal, dann verzogen sich seine Mundwinkel und machten einem<br />

verbissenen Ausdruck Platz. Mit entfachter Wut schlug er seine geballte Faust gegen die steinerne Mauer, bis <strong>de</strong>r<br />

Schmerz so groß war, daß er keinen weiteren Schlag zustan<strong>de</strong> brachte.<br />

Erst, als das Brennen nachgelassen hatte, setzte er seinen Weg in die Gemächer <strong>de</strong>r Turmzinne fort.<br />

Finsternis umgab Indigo, als er seine Augen aufriß. Der harte Untergrund hatte ihn aus <strong>de</strong>m Schlaf geholt, ihn zurück<br />

in die wache Welt gebracht. Doch obwohl er nicht imstan<strong>de</strong> war, in <strong>de</strong>r Dunkelheit zu sehen, wußte er doch, daß<br />

etwas an diesem Ort schrecklich falsch war. Mit angespannten Gedanken richtete er sich auf, und mit einem leichten<br />

Schreck fuhr er in die Höhe.<br />

Seine Hän<strong>de</strong>, die er auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n stützte, berührten nicht etwa Holz, son<strong>de</strong>rn kalten, festen Stein. Doch das durfte<br />

nicht sein! Nicht in diesem Sa’e, <strong>de</strong>ssen hölzerne Auskleidung warm und... vertraut war. Ängstlich tastete er sich<br />

nach vorn, doch auch hier, inmitten <strong>de</strong>r seltsamen Düsternis, fand er nichts weiter als erkalteten Stein, unnachgiebig<br />

und hart.<br />

Wo befand er sich? An welchen dunklen, unheilvollen Ort hatte es ihn verschlagen? Er stand auf, und aus einem<br />

Reflex heraus verschränkte er die Arme vor <strong>de</strong>r Brust, rieb sich bibbernd die Haut. Es war kalt hier. Und es win<strong>de</strong>te.<br />

Das fiel ihm zwar erst jetzt auf, dafür aber umso stärker. Ein Sturm zog heran. Indigos Gedanken rasten, als er sich in<br />

<strong>de</strong>r frem<strong>de</strong>n Umgebung zurechtzufin<strong>de</strong>n versuchte. Ein Sturm war im Anzug, und er brachte nur Kälte und<br />

Unbarmherzigkeit...<br />

14


Zitternd trat <strong>de</strong>r Jurakai nach hinten, schritt langsam zurück, in <strong>de</strong>r Hoffnung, an einen an<strong>de</strong>ren, freundlicheren Platz<br />

zu gelangen. Unförmiger Bo<strong>de</strong>n war unter ihm, vernarbt und voller Tücken. Sein Fuß, <strong>de</strong>r eigentlich auf festen Bo<strong>de</strong>n<br />

hätte treten sollen, glitt plötzlich nur noch durch leere Luft, und mit einem kurzen Aufschrei fiel Indigo nach hinten.<br />

Nur durch Glück konnte er sein Gleichgewicht soweit wahren, daß er nicht haltlos stürzte, son<strong>de</strong>rn mit pochen<strong>de</strong>m<br />

Herzen auf festem Stein zum Liegen kam. Erleichtert atmete er tief durch, dann fuhr er tastend mit <strong>de</strong>r Hand <strong>de</strong>n<br />

Untergrund ab, fand bald, wonach er gesucht hatte. Knapp neben ihm en<strong>de</strong>te <strong>de</strong>r Stein abrupt, mün<strong>de</strong>te in einem<br />

tiefen, alles verschlingen<strong>de</strong>m Loch, aus <strong>de</strong>m Kälte emporströmte. Instinktiv wußte <strong>de</strong>r Jurakai, daß es <strong>de</strong>n<br />

unweigerlichen Tod be<strong>de</strong>utet hätte, dort hinabzustürzen, und zitternd schob er seinen Körper fort von <strong>de</strong>r<br />

unheimlichen Grube.<br />

Während er mit durchdringen<strong>de</strong>r Angst über <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n krabbelte, schien sich die Dunkelheit aufzulösen, einem<br />

unwirklichen und fahlen Licht nachzugeben, das sich schwerfällig ausbreitete. Er erkannte das felsige Gestein, auf<br />

<strong>de</strong>m er robbte, wie sich kleine, spitze Steinchen unter seine Fingernägel gruben, und wie Blut aus ihnen hervorquoll<br />

und <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n benetzte.<br />

Er rollte sich auf <strong>de</strong>n Rücken, sah hinauf zum Himmel, an <strong>de</strong>m keine Sterne leuchteten, keine Wolken schwebten.<br />

Statt <strong>de</strong>ssen erhob sich ein dunkler, roter <strong>Mond</strong> am Firmament, <strong>de</strong>ssen unheiliges Licht die Welt überflutete. Im<br />

Schein <strong>de</strong>s grotesken <strong>Mond</strong>es richtete Indigo sich auf, und Grauen machte sich in ihm breit, als er sah, wo er sich<br />

befand. Er stand auf einem Felspfeiler, tausen<strong>de</strong> von Fuß über <strong>de</strong>m Land. Die Säule, die sich wie eine schlanke Na<strong>de</strong>l<br />

aus <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> erhob und in <strong>de</strong>n Himmel stach, schien zu schwanken, als <strong>de</strong>r Sturm an Heftigkeit gewann und sie<br />

mitsamt ihrem Gefangenen durchrüttelte. Panisch ließ Indigo sich zu Bo<strong>de</strong>n sinken und seinen Blick über die Ebene<br />

schweifen, die tief unter ihm lag.<br />

Nebel wogte am Bo<strong>de</strong>n, und durch die Schleier <strong>de</strong>s Dunstes brachen immer wie<strong>de</strong>r alptraumhafte Kreaturen,<br />

wurmähnlich und schwarz, die sich wan<strong>de</strong>n und ringelten. Manche <strong>de</strong>r riesigen Leiber, die aus <strong>de</strong>n Nebeln<br />

hervorstießen, versuchten, sich <strong>de</strong>n rauhen Fels <strong>de</strong>s Pfeilers emporzuschlängeln, und mit Grauen dachte Indigo an die<br />

Möglichkeit, daß eines <strong>de</strong>r Monster es tatsächlich schaffen könnte.<br />

Angewi<strong>de</strong>rt wandte er sich ab, sank auf <strong>de</strong>n Stein und umklammerte seine Klei<strong>de</strong>r, die im stärker wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Wind<br />

flatterten. Der Sturm riß an seinen Haaren, zog an seiner Haut und schob ihn über die Plattform, die zur Zeit seine<br />

einzige Sicherheit be<strong>de</strong>utete. Der Jurakai wehrte sich gegen die Gewalt <strong>de</strong>s Orkans, doch er wußte, daß <strong>de</strong>r Kampf<br />

aussichtslos war. Die scharlachfarbene Nacht selbst, <strong>de</strong>ren blin<strong>de</strong>s Auge <strong>de</strong>r rote <strong>Mond</strong> war, zerrte an ihm und<br />

verlangte nach seiner Wärme.<br />

Indigo krallte sich an <strong>de</strong>n felsigen Vorsprüngen fest, die sich am schwanken<strong>de</strong>n Untergrund boten, doch <strong>de</strong>r Stein<br />

bekam Risse, ein plötzliches Gitternetz aus feinen Linien breitete sich auf ihm aus. Entsetzt ließ <strong>de</strong>r junge Mann los,<br />

doch <strong>de</strong>r Zerfall <strong>de</strong>r Säule hatte begonnen und war unaufhaltsam. Die schwarzen Spalten verbreiterten sich, und am<br />

Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Pfeilers brachen bereits die ersten Stücke, fielen hinab in die Tiefe, hinab zu <strong>de</strong>n sich win<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Würmern.<br />

Indigo richtete sich auf, balancierte auf <strong>de</strong>n kippen<strong>de</strong>n Teilen, kämpfte gleichzeitig gegen <strong>de</strong>n Sturm an, <strong>de</strong>r ihn mit<br />

Eiseskälte umspülte.<br />

Und dann hing <strong>de</strong>r Jurakai in <strong>de</strong>r Luft, <strong>de</strong>r Fels unter seinen Füßen nur noch eine bloße Ansammlung von<br />

zerbersten<strong>de</strong>n Steinen. Für eine Sekun<strong>de</strong> blickte er zum Himmel empor, und das rote Antlitz <strong>de</strong>s <strong>Mond</strong>es schien auf<br />

ihn herabzusehen, ihn zu betrachten. Dann verlangte das Gesetz <strong>de</strong>r Schwerkraft <strong>de</strong>m Leib ihren Tribut ab, und<br />

Indigo stürzte <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n entgegen. Eine Stimme drang durch seinen Kopf, eine Stimme, die älter als die Zeit selbst<br />

klang, hart und donnernd.<br />

Hüte dich, schoben sich die Worte in seinen Geist, als er in die Würmer fiel. Die schlangengleichen Körper umringten<br />

ihn, und Köpfe, aus <strong>de</strong>nen blin<strong>de</strong>, milchige Augen blickten, schnellten auf ihn zu.<br />

Hüte dich vor <strong>de</strong>m dunklen Blut.<br />

Der angenehme Duft nach gebratenem Fisch riß <strong>de</strong>n jungen Jurakai schließlich aus seinem Schlaf. Er wälzte sich<br />

unruhig auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n und dachte mit einem Schauern an <strong>de</strong>n Alptraum <strong>de</strong>r letzten Nacht. Der Sturm war noch<br />

immer gegenwärtig in seinen Glie<strong>de</strong>rn, und die Stimme, diese uralte Stimme, hallte noch in seinem Kopf wi<strong>de</strong>r. Er<br />

rieb sich die Schläfen, sah sich im Sa’e um.<br />

„Ich wünsche dir einen guten Morgen, Indigo.“ Nachtfalke kauerte an einem kleinen Feuer und briet eine Forelle aus<br />

<strong>de</strong>m Bestand <strong>de</strong>r Jael’vre. „Wenn du schon keine gute Nacht hattest...“<br />

Erstaunt sah Indigo seinem Freund ins Gesicht. Dieser lächelte und betrachtete seinen Schüler mit Interesse. „Es war<br />

nicht schwer, das zu erkennen. Dein Körper hat gebebt, und Schweiß stand auf <strong>de</strong>iner Stirn. Es war ganz bestimmt<br />

kein vergnüglicher Traum, <strong>de</strong>r dich in dieser Nacht beschäftigt hat, nicht wahr?“<br />

„Ich möchte nicht darüber re<strong>de</strong>n, Falke. Es war nur ein Alptraum, weiter nichts. Ich habe ihn bereits fast vergessen“,<br />

log er.<br />

„Nun, dann darf ich dir zur Stärkung <strong>de</strong>ines Körpers und zur Belebung <strong>de</strong>ines Geistes sicherlich ein Stück von diesem<br />

Fisch anbieten?“<br />

15


Grinsend nahm Indigo einen Teil <strong>de</strong>r Forelle entgegen, die Nachtfalke gebraten hatte. „Eine sehr gute I<strong>de</strong>e, Fisch zum<br />

Frühstück“, bemerkte er beim Kauen. „Ich war mir sowieso noch nicht ganz im Klaren darüber, woraus meine heutige<br />

Mahlzeit bestehen sollte.“<br />

„Ich weiß“, bemerkte Falke ein wenig ernster. „Die Vorräte sind recht spärlich ausgefallen dieses Jahr. Ich hoffe, daß<br />

<strong>de</strong>m Volk das Jagdglück wohlgesonnen ist. Ansonsten könnte es ein harter Winter wer<strong>de</strong>n für die Jurakai.“<br />

„Oh, mach dir <strong>de</strong>swegen keine Sorgen. Wir haben noch soviele getrocknete Vorräte, daß es für zwei Winter reichen<br />

wür<strong>de</strong>.“<br />

„Trotz<strong>de</strong>m solltest du <strong>de</strong>inen Fisch genießen, Indigo. Es kann ein harter Tag wer<strong>de</strong>n, wenn wir meinen Übungsplan<br />

auch schaffen wollen.“<br />

„Welchen Übungsplan meinst du, Falke?“<br />

„Ich bin nicht umsonst hier, du törichter Kerl“ sagte Nachtfalke mit grollen<strong>de</strong>r Stimme. „Ich will dir etwas<br />

beibringen, wie ich es schon die letzten sechzig Sommer versucht habe - allerdings mit wenig Erfolg, wie ich zugeben<br />

muß.“<br />

Indigo grinste breit. „Na, dann wird es hoffentlich auch etwas sein, das mir nützen wird, Falke. Dein Schwertkampf<br />

ist ein wenig eingerostet, wie mir scheint. Und <strong>de</strong>ine Augen können es mit meinen auch nicht mehr aufnehmen, o<strong>de</strong>r<br />

irre ich mich?“<br />

„Hüte <strong>de</strong>ine Zunge“, fauchte Nachtfalke. „Ich mag alt sein, aber das sagt nichts über meine Kräfte aus. Merk dir das,<br />

du junger Narr: Der Schein trügt nur allzu oft. Gib dich niemals mit <strong>de</strong>m zufrie<strong>de</strong>n, was du siehst. Schau dahinter -<br />

dann erkennst du vielleicht mehr.“<br />

„Dann schlage ich vor, daß wir mit <strong>de</strong>m Spiel aufhören und uns <strong>de</strong>m Kampf zuwen<strong>de</strong>n.“ Indigo erhob sich rasch und<br />

verstaute ein wenig Proviant in seinem Rucksack. Sein Schwert balancierte er mehrere Sekun<strong>de</strong>n lang am Heft auf<br />

<strong>de</strong>m Finger, um es anschließend an seinem Gürtel zu befestigen. Zum Abmarsch bereit stand er im Eingang <strong>de</strong>s Sa’e<br />

und wartete auf seinen Lehrer. „Ich bin fertig, Falke.“<br />

„Geduld, Indigo, Geduld. So schnell du auch han<strong>de</strong>ln magst, in Zeiten <strong>de</strong>r Ruhe ist die Bedachtsamkeit <strong>de</strong>in<br />

mächtigster Verbün<strong>de</strong>ter.“ Auch Nachtfalke packte seine Sachen und wandte sich <strong>de</strong>m Ausgang zu, nach<strong>de</strong>m er die<br />

Glut gelöscht hatte. „Jetzt geh, wenn du es schon nicht erwarten kannst.“<br />

Die Jurakai wan<strong>de</strong>rten durch die Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schlafes, und die wenigen zu dieser Jahreszeit bewohnten Sa’e lagen noch<br />

still im Morgengrauen. Die Dämmerung zog schnell heran und tauchte die Stadt in eine rötliche Oase <strong>de</strong>s Lichtes.<br />

Beim Anblick <strong>de</strong>s roten Himmels erinnerte Indigo sich wie<strong>de</strong>r an seinen Traum und fragte sich, was er wohl zu<br />

be<strong>de</strong>uten hatte. Doch er beschloß, ihn erst einmal auf sich ruhen zu lassen. Vielleicht konnte er später in Erfahrung<br />

bringen, was die son<strong>de</strong>rbaren Worte meinten. Und wenn nicht - nun, es war wohl nicht von allzu großer Be<strong>de</strong>utung.<br />

Hüte dich vor <strong>de</strong>m dunklen Blut...<br />

„Die Singarische Steppe ist heutzutage kein friedlicher Ort“, begann Nachtfalke unvermittelt zu erzählen. „Nahe am<br />

Waldrand ereigneten sich... Vorfälle. Die Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sommers ist uns nicht wohlgesonnen dieses Jahr.“<br />

Interessiert wan<strong>de</strong>rte Indigo neben seinem Freund. „Was für... Vorfälle?“<br />

Nachtfalke zögerte. „Vorfälle von... alarmieren<strong>de</strong>n Ausmaßen. Geschlachtetes Vieh. Tote Her<strong>de</strong>n.“<br />

Indigo glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. „Was für Vieh, Falke? Ich dachte, ihr hättet keine Jagdgelegenheiten<br />

gefun<strong>de</strong>n?“<br />

„Es ergaben sich auch keine. Das Vieh... war nicht von uns geschlachtet wor<strong>de</strong>n. Ich bezweifle, daß es Manur o<strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>re Jurakai waren, die diese Tat vollbrachten. Die Tiere waren verstümmelt und oft zur Unkenntlichkeit zerfetzt.<br />

Als wären sie zerrissen wor<strong>de</strong>n. Rehe, Hirsche, Wölfe... es wur<strong>de</strong>n keine Ausnahmen gemacht. Wir fan<strong>de</strong>n die<br />

Kadaver überall... vor allem in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Hochlands...“ Nachtfalke verstummte, als die Erinnerung hochstieg.<br />

Seine Augen wur<strong>de</strong>n glasig.<br />

„Also könnten es Manur gewesen sein?“ sagte Indigo aufgebracht. „In <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Hochlands... wer sonst sollte sich<br />

dort aufhalten? Die Dverjae kommen bestimmt nicht vom Ra’an herunter, um Tiere zu schlachten.“<br />

„Nein, es waren keine Menschen.“ Nachtfalkes Stimme klang so fest, daß Indigo kein Raum für Zweifel blieb. Er<br />

wußte, daß Nachtfalke ihn nicht belog.<br />

„Es waren Blutbä<strong>de</strong>r“ fuhr <strong>de</strong>r Alte fort, noch immer <strong>de</strong>n glasigen Blick in <strong>de</strong>n Augen, durch <strong>de</strong>n er auf Szenarien<br />

blickte, die sich seinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt hatten. „Aufgequollene Leichen, zerschmetterte<br />

Körper... nichts, an das du dich gern erinnern wür<strong>de</strong>st, glaub mir...“<br />

„Und wer meinst du, ist für so etwas verantwortlich?“<br />

„Ich weiß es nicht. Ich habe wirklich keine Ahnung. Ich weiß bloß, daß es schwierig wer<strong>de</strong>n wird, Nahrung zu fin<strong>de</strong>n.<br />

Es wäre eine Schan<strong>de</strong>, wenn wir unser Vieh notschlachten müssten. O<strong>de</strong>r auch nur Teile davon. Es ist ein verfluchtes<br />

Jahr, Indigo.“<br />

„Das nächste wird dafür umso besser“, beschwichtigte Indigo seinen alten Freund. „Du wirst sehen, es gibt genug zu<br />

essen für alle.“<br />

„Nun, <strong>de</strong>ine Eltern sehen <strong>de</strong>r Sache nicht ganz so wohlgelaunt entgegen. Immerhin ist es die Pflicht <strong>de</strong>ines Vaters,<br />

ganz Eldraja’aro durchzufüttern. Und das ist keine leichte Aufgabe, glaube mir. Irgendwann wird diese Pflicht auch<br />

auf dich übergehen. Und bis dir <strong>de</strong>in Vater Politik und Verstand eintrichtert, will ich dir lieber zeigen, was du<br />

16


auchst, um in <strong>de</strong>r Wildnis zu überleben. Sei froh, daß <strong>de</strong>ine Eltern dich noch in meine Lehre schicken. Sie selbst<br />

haben nicht halb so viel für <strong>de</strong>n Kampf und das Bogenschießen übrig wie ich. Wür<strong>de</strong> es nach ihnen gehen, wür<strong>de</strong>st du<br />

bereits die Floskeln lernen, die du am Hofe <strong>de</strong>r Manur besitzen mußt, um dich auszudrücken. Dort kann allein die<br />

Frage nach <strong>de</strong>m Essen eine tödliche Beleidigung sein, wenn du sie falsch hervorbringst.“ Der Alte lachte schnaubend.<br />

„Aber jetzt konzentrierst du dich wohl lieber auf unser Training. Denn wenn du hier durchfällst, wer<strong>de</strong> ich <strong>de</strong>inen<br />

Eltern lei<strong>de</strong>r schlechten Bericht erstatten müssen, fürchte ich.“<br />

„Kein Angst, Falke. Komm, lass' mich dir zeigen, daß <strong>de</strong>r Schüler seinen Lehrer weit hinter sich gelassen hat!“ Er<br />

lächelte zuversichtlich. „Ich möchte sehen, ob ich es schaffe, dich noch ein wenig früher in die Knie zu zwingen als<br />

sonst.“<br />

Mit einem gewandten Schwung zog er seine Klinge und ließ sie in <strong>de</strong>r Luft rotieren. Die Schnei<strong>de</strong> blitzte bei je<strong>de</strong>r<br />

Umdrehung in <strong>de</strong>r frühen Morgensonne, aber die Kälte <strong>de</strong>r Nacht war noch in <strong>de</strong>r Luft zu spüren.<br />

„Nun, wenn du es nicht abwarten kannst, eine Nie<strong>de</strong>rlage hinnehmen zu müssen, junger Narr.“ Nachtfalke zog sein<br />

Schwert aus <strong>de</strong>r am Rücken hängen<strong>de</strong>n Schei<strong>de</strong>, und ging in Angriffsstellung über. Auf einer kleinen Lichtung mitten<br />

in Eldraja’aro umkreisten sich die Kontrahenten langsam und vorsichtig, achteten auf je<strong>de</strong> winzigste Bewegung ihres<br />

Gegenübers. Von einem son<strong>de</strong>rbaren Hochgefühl zehrend und ein wenig unvorsichtig, versuchte Indigo, seinen ersten<br />

Schlag zu lan<strong>de</strong>n. Als das Schwert nie<strong>de</strong>rfuhr, befand sich Nachtfalke bereits an einem völlig an<strong>de</strong>ren Platz, und die<br />

Klinge schnitt nur leere Luft.<br />

„Wer<strong>de</strong> niemals übermütig, mein Schüler. Übermut ist <strong>de</strong>r Tod <strong>de</strong>s Geistes.“ Nachtfalke griff seinerseits an, und<br />

Indigo konnte die Schläge nur mit Mühe abwehren. Immer weiter und weiter trieb <strong>de</strong>r alte Jurakai ihn zurück, direkt<br />

auf die Wand eines Sa’e zu. Dort wäre seine Bewegungsfreiheit immens eingeschränkt, erkannte Indigo mit<br />

Schrecken, und er versuchte, nach links zu entkommen. Schlag auf Schlag traf sein Schwert, und es kostete ihn seine<br />

ganze Konzentration, die gegnerische Klinge abzuwehren. Nachtfalke war alles an<strong>de</strong>re als ungeschickt. Wie ein<br />

junger Krieger, <strong>de</strong>ssen Geist sich ganz <strong>de</strong>m Kampf widmet, bewegte sich <strong>de</strong>r Alte vor ihm, ließ wie<strong>de</strong>r und wie<strong>de</strong>r<br />

seine Klinge nie<strong>de</strong>rfahren. Wie ein Hammer krachten die Schläge jetzt auf sein Schwert ein, fuhren durch seine Arme<br />

und ließen seine Muskeln zittern. Indigo wur<strong>de</strong> mehr und mehr zurückgedrängt. Er keuchte erschöpft, ließ seinen<br />

Körper fallen, sprang zur Seite und entkam nur knapp einem weiteren Hieb von Nachtfalke. Dieser drehte sich um<br />

und ging wie<strong>de</strong>rum seinerseits in eine Abwehrhaltung über, während Indigo sich ein paar Schritte entfernte.<br />

Er hat die Energie eines jungen Pumas, dachte <strong>de</strong>r junge Jurakai bei sich, während er sein Gegenüber musterte.<br />

Leichtfüßig tänzelte Nachtfalke, sein Alter vollkommen mißachtend, um Indigo herum. Ohne Mühe fuhr seine Klinge<br />

durch die Luft und erzeugte pfeifen<strong>de</strong> Geräusche. Woher nimmt er nur all diese Kraft?<br />

Indigo stieß vor und vollführte einen Ausfall, drehte sich um die eigene Achse und kam hinter Nachtfalke zu stehen.<br />

Sofort mußte er einen meisterhaft geführten Schlag abfangen, <strong>de</strong>r ihm <strong>de</strong>n Arm hätte kosten können. Verdammt, er<br />

kämpft, als wolle er mich umbringen. Was ist nur in ihn gefahren?<br />

Indigo zog sich zurück, vorbei an einem kleinen Sa’e, als ihm eine I<strong>de</strong>e in <strong>de</strong>n Geist sprang. Auch er tänzelte ein paar<br />

Schritte zur Seite, und in einem vorgetäuschten Angriff ließ er absichtlich eine kleine Lücke in seiner Verteidigung.<br />

Nachtfalke erkannte <strong>de</strong>n Fehler und lenkte sein Schwert in die entsprechen<strong>de</strong> Richtung. Indigo, <strong>de</strong>r diesen Zug<br />

erwartet hatte, hob seine eigene Klinge, riß sie nach rechts und lenkte Nachtfalkes Schwert an ihm vorbei. Die Waffe<br />

<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren bohrte sich in das Holz <strong>de</strong>s Sa’e, wo sie zitternd verharrte. Anschließend setzte Indigo Nachtfalke die<br />

Klinge an die Brust und keuchte erschöpft.<br />

„Das war’s. Du wärst tot, Falke“, brachte er unter Schnaufen hervor. Und er atmet noch nicht einmal schwer.<br />

Nachtfalke nickte anerkennend. „Du hast dich zweifellos gut geschlagen und <strong>de</strong>ine Phantasie benutzt. Ein schöner<br />

Kampf, Indigo.“ Der Alte hob eine Augenbraue. Der Junge war einfallsreich und geschickt. Seine kämpferische<br />

Leistung war zwar nicht perfekt, doch er konnte noch viel lernen. Sein Vater hatte Recht – er war zweifellos <strong>de</strong>r beste<br />

Schüler, <strong>de</strong>n Nachtfalke je gehabt hatte.<br />

„Falke?“ fragte Indigo nach Luft schnappend.<br />

„Hat <strong>de</strong>r Kampf dir zugesagt?“<br />

„Ja, das hat er“, keuchte <strong>de</strong>r Junge. „Aber was ist nur in dich gefahren... wieso hast du gekämpft, als wür<strong>de</strong> es um<br />

Leben und Tod gehen? Wolltest du mich verletzen? Du hättest es beinah geschafft!“<br />

„Ich wollte dir eine Lektion erteilen, Indigo. Und wenn du nicht mit allen Kräften und Mitteln gekämpft hättest, die<br />

dir zur Verfügung stan<strong>de</strong>n, dann hätte ich dir als An<strong>de</strong>nken eine Wun<strong>de</strong> verpaßt. Du mußt lernen, <strong>de</strong>inen Gegner<br />

niemals zu unterschätzen. Das kann schnell <strong>de</strong>in Ver<strong>de</strong>rben sein.“<br />

„Danke, Falke. Aber beim nächsten Mal bitte ich dich, etwas nachsichtiger mit mir zu sein. Es ist noch früh am<br />

Morgen, und meine Knochen sind unausgeschlafen. Du hast Recht gehabt. Ich habe dich zu Anfang noch<br />

unterschätzt. Ich dachte, ich hätte genug gelernt, um es mit dir aufnehmen zu können - du hast mich eines Besseren<br />

belehrt.“ Er lächelte mü<strong>de</strong>, um sein fehlerhaftes Verhalten zu entschuldigen.<br />

„Es tut mir leid, daß unsere Übungsstun<strong>de</strong>n nicht mehr so leichtfertig wie früher ausfallen können, Indigo. In letzter<br />

Zeit geschehen merkwürdige Dinge in Ruben, und die Kälte <strong>de</strong>s Sommers und <strong>de</strong>r Tierschwund sind nur ein geringer<br />

Teil davon. Im Herzen spüre ich, daß etwas son<strong>de</strong>rbares naht. Und ich möchte nicht, daß du unvorbereitet in eine<br />

Sache hineingezogen wirst, die <strong>de</strong>inen Tod be<strong>de</strong>uten kann.“<br />

17


„Wovon sprichst du eigentlich, Falke?“ fragte Indigo aufgebracht. Er setzte sich auf einen bemoosten Stein. Der<br />

Morgentau durchdrang seine luftigen Klei<strong>de</strong>r und benäßte seine Haut. „Was verschweigst du mir? Ist etwas<br />

geschehen, von <strong>de</strong>m ich eigentlich wissen sollte? Warum kämpfen wir plötzlich, als ginge es um Leben und Tod?<br />

Nicht, daß ich damit nicht fertig wer<strong>de</strong>n könnte - es ist nur, daß ich gern mehr erfahren wür<strong>de</strong>. Du läßt mich im<br />

Dunkeln tappen, wenn es um diese Sache geht, aber wie soll ich mich vorbereiten, wenn ich nicht weiß, worauf es sich<br />

vorzubereiten gilt? Sprich mit mir, Falke!“<br />

Nachtfalkes Gesicht zeugte von Unruhe und Unzufrie<strong>de</strong>nheit. Der Jurakai sah mit einem Mal sehr, sehr alt und sehr<br />

gebrechlich aus. Die Falten in seinem Gesicht schienen sich zu verhärten, als er über die Worte Indigos nachsann. Er<br />

fasste einen Gedanken und drehte sich in Richtung <strong>de</strong>s Westtores Eldraja’aros.<br />

„Folge mir, und ich will dir erklären, was du zu erfahren verlangst. Aber es sind unerfreuliche Neuigkeiten von großer<br />

Wichtigkeit, und <strong>de</strong>swegen ist es ratsam, an einen... ruhigen Ort zu gehen.“ Mit schnellem Schritt verließ <strong>de</strong>r Jurakai<br />

die Lichtung, dicht gefolgt vom neugierigen Indigo. Sie passierten das Westtor, und ihre Spur führte weiter hinaus,<br />

direkt in <strong>de</strong>n Weilerwald hinein. Grüne, taufeuchte Zweige streiften die bei<strong>de</strong>n Gesichter und <strong>de</strong>ren Körper, während<br />

sich die zwei einen Weg durch das Dickicht bahnten. Auf einer Lichtung, die mehrere Wegminuten von Eldraja’aro<br />

entfernt lag, machte Nachtfalke halt.<br />

„Die Stadt hat Ohren, Indigo“ erklärte er seinem Begleiter. „Es gibt zwar keinen Jurakai, <strong>de</strong>r sich unaufgefor<strong>de</strong>rt in<br />

die Angelegenheiten eines an<strong>de</strong>ren einmischen wür<strong>de</strong>, aber Vorsicht ist besser als Nachsicht, vor allem nach <strong>de</strong>m, was<br />

am gestrigen Abend geschehen ist. Nicht viele wissen von <strong>de</strong>n Dingen, die ich erfahren habe. Und in nächster Zeit<br />

wer<strong>de</strong>n auch nicht viel mehr davon erfahren. Es ist eine Sache, die nur beunruhigt, und <strong>de</strong>swegen keinen Frie<strong>de</strong>n in<br />

die Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schlafes bringen wür<strong>de</strong>. Nur ein paar Jurakai wissen überhaupt davon, und nicht einmal wir haben<br />

ausreichen<strong>de</strong> Informationen. Es sind Vermutungen, gepaart mit Gerüchten, und das erste Opfer dieser zwei ist die<br />

Wahrheit. Dennoch ist genug bekannt, um wenigstens ein paar Dinge zu... schlußfolgern.“<br />

Nachtfalke mühte sich um ein gelassenes Gesicht und fuhr fort: „Diejenigen vom Volk, die im Nor<strong>de</strong>n wohnen, ließen<br />

uns Nachricht zukommen. Nachricht von Zerstörung und Leid. Es gab zahllose Tote, aber keine—„<br />

„Das Volk wur<strong>de</strong> angegriffen?“ unterbrach Indigo entsetzt. Es war seit Jahrhun<strong>de</strong>rten nicht mehr vorgekommen, daß<br />

das Volk einen Krieg gefochten hatte.<br />

„Langsam, Junge. Nicht das Volk wur<strong>de</strong> angegriffen. Die Manursiedlungen, die unterhalb <strong>de</strong>r Ra’an-Gebirge liegen,<br />

waren das Opfer <strong>de</strong>r Attacken. Auch die Dverjaestädte wur<strong>de</strong>n nicht verschont. Glücklicherweise wur<strong>de</strong>n bis jetzt<br />

noch keine Jurakai in diese Kämpfe verwickelt. Obwohl das vielleicht sogar ein Segen wäre - <strong>de</strong>nn wir wissen nichts<br />

von <strong>de</strong>m Etwas, das imstan<strong>de</strong> ist, ganze Siedlungen auszulöschen. Wür<strong>de</strong>n erst ein paar Jurakai miterleben, was <strong>de</strong>n<br />

Manur und Dverjae wi<strong>de</strong>rfuhr, könnten wir vielleicht mehr sagen.“ Nachtfalke zögerte einen Moment. „Aber auch das<br />

ist unwahrscheinlich. In <strong>de</strong>n überfallenen Städten gab es niemals Überleben<strong>de</strong>. Und falls doch, dann waren sie so<br />

grausam verstümmelt, daß kein Wort mehr über ihre Lippen kam. Es ist alles sehr seltsam, was sich dort oben zuträgt.<br />

Sehr kalt.“<br />

Mit Grauen hatte <strong>de</strong>r junge Jurakai gelauscht, um nun heftig <strong>de</strong>n Kopf zu schütteln. „Aber das kann nicht sein. Wieso<br />

wissen wir nichts? Gibt es <strong>de</strong>nn keine Spuren?“<br />

Nachtfalke lachte verbittert. „Spuren? Du meinst, abgesehen von zerfetzten Körpern und brennen<strong>de</strong>n Häusern? Nein,<br />

an<strong>de</strong>re Spuren lassen sich nicht fin<strong>de</strong>n. Es ist, als wäre ein Alptraum über die Siedlungen hereingebrochen, hätte<br />

gemor<strong>de</strong>t und vernichtet, um anschließend wie<strong>de</strong>r zu verschwin<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>n Trümmern wur<strong>de</strong> nichts gefun<strong>de</strong>n - ganz<br />

so, als hätten Schatten die Attacken verübt, um anschließend wie<strong>de</strong>r eins mit <strong>de</strong>m Dunkel zu wer<strong>de</strong>n, aus <strong>de</strong>m sie<br />

kamen.“<br />

„Das... das hatte ich nicht erwartet, Falke. Ich dachte nicht an ein solches Übel. Jetzt verstehe ich, warum du vorhin so<br />

hart mit mir umgesprungen bist.“ Die Blicke <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Jurakai trafen sich und wechselten stumm eine vielsagen<strong>de</strong><br />

Botschaft.<br />

„Ja, das ist <strong>de</strong>r Grund für meine Besorgnis, Indigo. Und auch <strong>de</strong>r Grund, warum ich vorzeitig von <strong>de</strong>n Jagdgrün<strong>de</strong>n<br />

aufbrach, um nach Eldraja’aro zu kommen. Sie hätten mich bei <strong>de</strong>r Jagd sicherlich gut gebrauchen können, aber ich<br />

wollte nicht, daß du allein - o<strong>de</strong>r doch zumin<strong>de</strong>st fast allein - durch die Wäl<strong>de</strong>r streifst. Die wenigen, die noch in <strong>de</strong>r<br />

Wei<strong>de</strong> anzutreffen sind, wären dir keine große Hilfe. Und da ich <strong>de</strong>inem Vater einen Treueeid auf <strong>de</strong>in Leben geleistet<br />

habe, fühlte ich mich verpflichtet, dich aufzusuchen, nach<strong>de</strong>m ich die schreckliche Nachricht bekam.“<br />

„Danke“, murmelte <strong>de</strong>r junge Jurakai leise. „Aber was wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>ine Anwesenheit hier nutzen, wenn dieses Etwas<br />

tatsächlich keine Gefangenen macht? Dann wärst auch du machtlos, und wür<strong>de</strong>st nur unnütz hier mit mir sterben.<br />

Nein, ich kann mir weitaus bessere Dinge vorstellen, die dir zustoßen, Falke. Der Tod ist ganz bestimmt keines<br />

davon.“<br />

„Falls Eldraja’aro angegriffen wer<strong>de</strong>n sollte, könnte ich wenigstens meinen Eid leisten und dich beschützen. Wenn<br />

Himmelfeuer es so will, dann wer<strong>de</strong>n wir eben gemeinsam sterben. Aber ich habe eigentlich an etwas an<strong>de</strong>res gedacht.<br />

Es sind ein paar Jurakai aufgebrochen, um am Hof <strong>de</strong>s Hochkönigs vorzusprechen und ihm von <strong>de</strong>m Unheil zu<br />

berichten. Die Geschehnisse fan<strong>de</strong>n viel zu weit Abseits statt, als daß die Informationen schnell ins Innere Reich<br />

gelangen könnten. Deswegen haben wir einige Boten entsandt, die <strong>de</strong>m König zutragen sollen, was wir in Erfahrung<br />

bringen konnten.“<br />

18


„Kenne ich diejenigen, die gegangen sind, Falke?“<br />

„Ich <strong>de</strong>nke, daß es nur zwei sind, mit <strong>de</strong>nen du vertraut bist. Beltiar und Kemlian, ansonsten nur ein paar ältere<br />

Jurakai.“<br />

„Glaubst du, daß sie es schaffen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m König die Nachricht rechtzeitig zu bringen?“<br />

„Erstens ist nicht gesagt, daß sie tatsächlich lebend bis zum Hof vordringen.“ Indigos schmerzerfüllter Blick ließ ihn<br />

das Haupt senken. „Es ist wahr, Junge. Sie brachen nicht auf, um von einem frohen Ereignis zu berichten. Es ist<br />

gefährlich, die Reise durch das Hochland zu wagen, und es ist nicht sicher, daß sie jemals ihr Ziel erreichen, so leid es<br />

mir tut. Und zweitens ist <strong>de</strong>r Hochkönig keinesfalls verpflichtet, uns Glauben zu schenken o<strong>de</strong>r uns gar zu helfen. Es<br />

sind nur die Siedlungen und Dörfer im Äußeren Reich, die das grausame Schicksal ereilte. Nichts, was König<br />

Westfald auch nur im geringsten tangieren wür<strong>de</strong>.“<br />

Indigo wollte zu einer Erwi<strong>de</strong>rung ansetzen, doch sein Freund kam ihm zuvor.<br />

„Ich habe einen Gedanken, <strong>de</strong>n ich unbedingt verfolgen will. Und es wäre mir sehr recht, wenn du mir dabei<br />

behilflich sein könntest.“<br />

„Von was sprichst du, Falke?“ Indigos Wissensdurst war für <strong>de</strong>n heutigen Tag gestillt. Er wäre am liebsten erst einmal<br />

auf <strong>de</strong>n Waldbo<strong>de</strong>n gesunken, um das Gehörte zu verdauen. Zerstörte Manurstädte! Die Zwerge angegriffen von<br />

einem Etwas, das mor<strong>de</strong>nd und zerstörend über die Siedlungen herfiel! Was konnte <strong>de</strong>nn Nachtfalke jetzt von ihm<br />

verlangen?<br />

„Dein Vater wollte meinen Rat nicht befolgen, die Entsandten in mehreren, kleineren Gruppen losmarschieren zu<br />

lassen. Er verharrte auf <strong>de</strong>m Standpunkt, daß eine größere Gruppe viel mehr Stärke und Macht besäße als eine kleine.<br />

In diesem Punkt hat er Recht, doch ich wies ihn darauf hin, daß die Boten getötet wer<strong>de</strong>n konnten. Was, wenn dieses<br />

Etwas nun auch die Jurakai angreifen wür<strong>de</strong>? Zu diesem Zweck erläuterte ich ihm meinen Plan, verschie<strong>de</strong>ne Boten<br />

zu verschie<strong>de</strong>nen Zeiten loszuschicken. So wäre zwar die Gesamtstärke <strong>de</strong>r Gruppe gemin<strong>de</strong>rt, aber die<br />

Wahrscheinlichkeit, daß die Nachricht zum königlichen Hofe gelangt, wäre um einiges höher. Nun, <strong>de</strong>in Vater blieb<br />

stur, und so marschierten alle acht am selben Tage los. Besser gesagt, in <strong>de</strong>r selben Nacht. Das ist nun über einen<br />

<strong>Mond</strong> her. Inzwischen müßten sie die Täler hinter sich gelassen haben und die Hochlän<strong>de</strong>r durchqueren. Und<br />

ausgerechnet dort haben sich diese Zwischenfälle ereignet, Indigo! Aber <strong>de</strong>r kürzeste Weg ist ja bekanntlich <strong>de</strong>r<br />

schnellste...“<br />

In Indigo keimte eine Ahnung, <strong>de</strong>n Gefallen, um <strong>de</strong>n Nachtfalke ihn beten wollte, betreffend. Er fühlte sich geehrt,<br />

daß sein Freund ihm eine Sache solcher Wichtigkeit abverlangte.<br />

„Du willst selbst zum Hof reisen, habe ich Recht? Du willst sichergehen, daß <strong>de</strong>r König die Nachricht erhält?“ Er<br />

betrachtete seinen Freund aufmerksam. Nachtfalke bestätigte die Vermutung mit einem traurigen Nicken.<br />

„Die I<strong>de</strong>e ist bloßer Wahnsinn, Indigo. Ich weiß nicht, warum ich dich da mit hineinziehen will, aber ich <strong>de</strong>nke, du<br />

wärst mir eine große Hilfe. Außer<strong>de</strong>m wäre es schön, einen Freund dabei zuhaben.“<br />

Und außer<strong>de</strong>m hatte <strong>de</strong>r Junge noch etwas an<strong>de</strong>res an sich... wenn er auch nicht genau sagen konnte, was es war!<br />

Etwas, das ihm sagte, daß es richtig wäre, ihn mitzunehmen. Nun, er wür<strong>de</strong> es herausfin<strong>de</strong>n...<br />

Nachtfalke verwarf seine Gedanken und klopfte <strong>de</strong>m Jurakai auf die Schulter. „Ich brauche dich, Indigo. Es wäre mir<br />

eine Freu<strong>de</strong>, dich an meiner Seite zu haben.“<br />

„Natürlich wer<strong>de</strong> ich dich begleiten, Falke. Es ist mir eine Ehre.“<br />

„Freue dich nicht zu früh. Wir wissen nicht, was uns erwartet auf unserer Reise. Der Sitz <strong>de</strong>s Hochkönigs ist viele<br />

hun<strong>de</strong>rt Meilen entfernt, und ein unheiliger Krieg ist zwischen <strong>de</strong>n Völkern und einem unbekannten Angreifer<br />

entbrannt. Wir könnten genau zwischen die Fronten geraten. O<strong>de</strong>r wir treffen zufällig auf das Objekt <strong>de</strong>s Anstoßes<br />

selbst, die Wurzel <strong>de</strong>s Übels. Aber dann, <strong>de</strong>nke ich, wür<strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>n Hof wohl niemals erreichen. Es gibt so viele<br />

Dinge, die schiefgehen können bei diesem Unterfangen, daß ich mich hasse, dich mit hineingezogen zu haben. Nein,<br />

eine Ehre ist das sicherlich nicht, mein junger Freund. Wohl eher ein sicherer Marsch ins Ver<strong>de</strong>rben.“<br />

„Ist es so schlimm?“ erkundigte sich Indigo. „Wieso sollte die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>nn ausgerechnet auf zwei Wan<strong>de</strong>rer<br />

fallen, die das Land durchqueren? Warum <strong>de</strong>nkst du, daß unser Weg so beschwerlich wer<strong>de</strong>n wird, obwohl wir zum<br />

Volk gehören... du kennst das Land wie <strong>de</strong>in eigenes Sa’e! Auch wenn uns tausend Gefahren drohen sollten, Falke:<br />

Mit dir zusammen wird mir nichts passieren. Ich vertraue darauf.“ Indigos Lächeln stärkte das Selbstvertrauen <strong>de</strong>s<br />

alten Jurakai ein wenig.<br />

„Danke“, flüsterte er leise.<br />

Die Bil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r verstümmelten Tierkadaver krochen noch immer durch seinen Geist.<br />

Stechen<strong>de</strong>r Schmerz fuhr durch Dynes Beine, als sich ein Scharnier seiner Rüstung genau in seine Wa<strong>de</strong> bohrte.<br />

Fluchend wollte er sich bücken, doch die starre Rüstung ließ keine <strong>de</strong>rartige Bewegung zu. Mit einem unter seinem<br />

silbernen Helm verborgenen Zähnefletschen rief er nach Paves, seinem Knappen.<br />

Als <strong>de</strong>r Junge endlich angetrabt kam, meinte Dynes schon, sein Bein nicht mehr spüren zu können. Der rotschöpfige<br />

Kerl – vielleicht gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Pubertät entwachsen – war anscheinend nicht so dumm, wie er aussah, <strong>de</strong>nn sofort<br />

erkannte er das verbogene Scharnier und begann, es mit einer Zange aus Dynes Wa<strong>de</strong> zu ziehen. <strong>Arathas</strong> musterte <strong>de</strong>n<br />

19


Jungen, <strong>de</strong>r sich alle Mühe gab, trotz verpickeltem Gesicht erwachsen auszusehen. Nun, vom Verhalten her bewies er<br />

auf alle Fälle ein höheres Alter als Graf Fegget...<br />

„Schon draußen“ murmelte Paves mit fragen<strong>de</strong>m Blick.<br />

„Danke“ antwortete <strong>de</strong>r Ritter und <strong>de</strong>utete auf die Tür <strong>de</strong>s Stalles, in <strong>de</strong>m sein Roß wartete. Ohne zu zögern sprintete<br />

<strong>de</strong>r Knabe los, um nach <strong>de</strong>m Pferd zu sehen. Helles Köpfchen, dachte Dynes, während er vorsichtig ein paar Schritte<br />

in <strong>de</strong>r ungewohnten Rüstung tat. Er selbst war natürlich ohne Knappen angereist – woher hätte er auch einen nehmen<br />

sollen? – doch <strong>de</strong>r Hochkönig hatte ihm freundlicherweise diesen Jungen zugewiesen. <strong>Arathas</strong> hatte die Vorstellung,<br />

einen Bediensteten zu haben, nie zugesagt, doch in diesem Falle mußte er wohl eine Ausnahme machen, <strong>de</strong>nn die<br />

Etikette verlangte es.<br />

Als Dynes bei seinen Gehversuchen zu fest auftrat, rutschte sein Visier herunter und nahm ihm im ersten Augenblick<br />

vollends die Sicht. Erst nach ein paar Sekun<strong>de</strong>n hatte er sich an die kleinen Sehschlitze gewöhnt, die seinen Blick auf<br />

die Außenwelt auf das Nötigste reduzierten. Zu <strong>de</strong>n Seiten hin konnte er nun überhaupt nichts mehr erkennen, nur<br />

sein direktes Gegenüber wür<strong>de</strong> sichtbar sein, wenn es zum Kampfe kam. Erneut quoll ein Fluch über seine Lippen und<br />

er versuchte, das Visier zurechtzurücken. Er dachte an seine Kontrahenten. Wie konnten die Bastar<strong>de</strong> sich in diesen<br />

verdammten Rüstungen nur wohl fühlen? Der Schrotthaufen schränkte je<strong>de</strong> nur er<strong>de</strong>nkliche Bewegungsfreiheit ein,<br />

o<strong>de</strong>r besser gesagt, ließ sie sich gar nicht erst entfalten. Wenn es tatsächlich jeman<strong>de</strong>n geben sollte, <strong>de</strong>r in einer<br />

solchen Rüstung in <strong>de</strong>n Kampf zog... er hatte Dynes vollstes Mitgefühl.<br />

Er beobachtete, wie Paves seinen Hengst Sturmauge aus <strong>de</strong>n Ställen führte und zum Kran brachte. Das Pferd scheute<br />

nicht und zeigte auch keine Furcht, obwohl es über und über mit klimpern<strong>de</strong>n und funkeln<strong>de</strong>n Gegenstän<strong>de</strong>n behängt<br />

wor<strong>de</strong>n war, die ihm das Aussehen eines zum Julfest geschmückten Tannenbaums gaben. <strong>Arathas</strong> richtete seine<br />

Aufmerksamkeit auf die gegenüberliegen<strong>de</strong> Seite <strong>de</strong>s Hofes, wo <strong>de</strong>r letzte Kampf sich seinem En<strong>de</strong> näherte. Es war<br />

ein Wettbewerb im Bogenschießen, und nach dieser Übung sollten die Ritter im Turnier gegeneinan<strong>de</strong>r antreten. Nun,<br />

die Zeit schien gekommen. Unter ächzen<strong>de</strong>m Stöhnen stakste Dynes über <strong>de</strong>n kopfsteingepflasterten Teil <strong>de</strong>s Hofes zu<br />

seinem Pferd, das ihn mit aufmerksamem Blick erwartete.<br />

Er unterließ es, <strong>de</strong>m Tier über die Schnauze zu fahren, aus Angst, es mit <strong>de</strong>r Rüstung zu verletzten. „Du hast es gut“<br />

murmelte er leise zu seinem Hengst, <strong>de</strong>r ihn wissend musterte. „Du bist nur an <strong>de</strong>n Füßen beschlagen... ich bin es am<br />

gesamten Körper. Sieh mich an! Diese Mistkerle haben mich in eine Büchse gesteckt wie ein Angler einen<br />

Regenwurm!“<br />

Die Augen <strong>de</strong>s Pfer<strong>de</strong>s leuchteten, erinnerten Dynes daran, was ihn dazu veranlaßt hatte, ihm seinen Namen zu geben:<br />

Sturmauge. Er hatte ihn eines Tages einer Bauersfrau abgekauft, <strong>de</strong>ren Mann verstorben war und die das Geld<br />

dringen<strong>de</strong>r gebrauchen konnte als das Pferd. Natürlich hatte er ihr weit mehr gegeben, als selbst <strong>de</strong>r beste Gaul <strong>de</strong>r<br />

Welt wert gewesen wäre... doch <strong>de</strong>r Hengst hatte Dynes mehr als einmal verblüfft. In seinen Augen lo<strong>de</strong>rte ein Feuer,<br />

ein brennen<strong>de</strong>r Sturm, <strong>de</strong>r niemals zu versiegen schien, und wenn Sturmauge erst einmal galoppierte, dann hielt kein<br />

an<strong>de</strong>res leben<strong>de</strong>s Wesen mit ihm mit.<br />

Jetzt sah ihn Sturmauge mit eben diesem Feuer an, das ihn einst so verwun<strong>de</strong>rt hatte. Der strahlen<strong>de</strong>, glänzen<strong>de</strong> Blick<br />

for<strong>de</strong>rte, und <strong>Arathas</strong> atmete tief ein unter <strong>de</strong>r Rüstung und streckte seinen Körper. Nun gut. Sie sollten ihren Kampf<br />

bekommen. Auch wenn er diesen Schwachsinn niemals übte und für die Turniere trainierte...<br />

Ein Schrei ertönte von irgendwo über seinem Kopf, Seile wur<strong>de</strong>n herabgelassen und eine Schlaufe um Dynes Körper<br />

gebun<strong>de</strong>n. Die le<strong>de</strong>rnen Riemen <strong>de</strong>s Flaschenzugs strafften sich, als <strong>de</strong>r Ritter nach oben gehievt wur<strong>de</strong>, immer höher,<br />

bis er weit über Sturmauge baumelte. Der Knappe Paves kam herbei und hielt <strong>de</strong>n Hengst am Zaumzeug, während ein<br />

paar an<strong>de</strong>re Männer ruckartig Seil gaben und <strong>Arathas</strong> herunterließen. Langsam senkte er sich auf das Roß herab, das<br />

ruhig und gelassen stand. Mit einem Knarren wie bei einer quietschen<strong>de</strong>n Tür schob sich Dynes‘ Rüstung in <strong>de</strong>n<br />

Sattel, und als er fest saß, wur<strong>de</strong>n die Stricke um seinen Körper wie<strong>de</strong>r gelöst.<br />

Stoisch verharrte Sturmauge noch immer reglos an seinem Platz, und Dynes brach fast das Herz, als er an das<br />

unglaubliche Gewicht dachte, das <strong>de</strong>r Hengst nun zu tragen hatte. Verdammt, es war eine Schan<strong>de</strong>, ein unschuldiges<br />

Tier so zu quälen! Wahrscheinlich ruhten jetzt hun<strong>de</strong>rte von Pfund auf <strong>de</strong>m armen Pfer<strong>de</strong>rücken, doch das Roß ließ<br />

sich nichts von etwaigen Schmerzen anmerken.<br />

„Ich... ich glaube, ich sollte Euch zum Turnierplatz führen“ stotterte <strong>de</strong>r Knabe Paves mit hochrotem Kopf, für <strong>de</strong>n es<br />

das erstemal war, daß er vor so viele Leute trat. <strong>Arathas</strong> brachte ein Nicken zustan<strong>de</strong>, und geschwind machte <strong>de</strong>r<br />

Junge sich auf <strong>de</strong>n Weg, gefolgt von Sturmauge.<br />

Als Dynes die Tribünen passierte, die zu bei<strong>de</strong>n Seiten aufgestellt wor<strong>de</strong>n waren, erfüllte <strong>de</strong>r ohrenbetäuben<strong>de</strong> Lärm<br />

von mehr als tausend klatschen<strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n die Luft. Dynes atmete auf. Sturmauge schien mit <strong>de</strong>r Situation besser<br />

umgehen zu können als <strong>de</strong>r junge Paves, <strong>de</strong>r vor Konzentration beinahe das Atmen vergaß.<br />

Fahnen wur<strong>de</strong>n in die Luft gestreckt, Fahnen mit <strong>de</strong>m königlichen Wappen, und Fanfaren erklangen, als Dynes samt<br />

Gefolge vor <strong>de</strong>n König geführt wur<strong>de</strong>. Auf Handzeichen Westfalds hin verstummten die Trompeten, und auch die<br />

übrigen Geräusche rückten in <strong>de</strong>n Hintergrund. Westfald, auf einer erhöhten Bank sitzend, mit seinem Sohn an <strong>de</strong>r<br />

Seite, beugte sich lächelnd vor.<br />

„Und nun...“ intonierte er, und erwartungsvolles Schweigen füllte die Luft, „ist es Zeit für das Turnierreiten!“<br />

20


Donnern<strong>de</strong>r Applaus begleitete die letzten Silben <strong>de</strong>s Satzes, und zufrie<strong>de</strong>n lehnte <strong>de</strong>r König sich zurück. Nun war es<br />

an seinem Sohn, vorzutreten und ein kleines Po<strong>de</strong>st als Podium zu benutzen. Die Jubelschreie verebbten, und gebannte<br />

Ohren klebten an <strong>de</strong>n Worten <strong>de</strong>s Thronfolgers.<br />

„Zu meiner Linken“ rief Leonart, und für eine Sekun<strong>de</strong> trafen sich die Blicke <strong>de</strong>s Prinzen und <strong>de</strong>s Ritters, „Sir<br />

<strong>Arathas</strong> Dynes aus <strong>de</strong>m Äußeren Reich. Sein Lehnsort und sein Gut sind lei<strong>de</strong>r so klein, daß ich mich gera<strong>de</strong> nicht an<br />

ihren Namen erinnern kann...“<br />

Leises Gelächter zu bei<strong>de</strong>n Seiten, und ein selbstgefälliges Lächeln auf Leonarts Antlitz.<br />

„Und zu meiner Rechten...“ Er verharrte, während ein schlaksiger Knappe ein Pferd samt Ritter auf <strong>de</strong>n Platz führte<br />

und vor Dynes stehenblieb, „Graf Fegget von Mid<strong>de</strong>nstrey. Daß er hier ist, hat er nur seiner Schwester<br />

beziehungsweise meiner Gemahlin zu verdanken, die mir im Falle seiner Nichtteilnahme mit... verschie<strong>de</strong>nen<br />

Maßnahmen drohte...“<br />

Verhaltene „Aaahs“ und „Ooohs“, dann erneutes Lachen. Leonart, <strong>de</strong>ssen Ansprache noch nicht vorbei war, wandte<br />

sich <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Rittern zu.<br />

„Für die Ehre König Westfalds“ rief er, und Dynes sowie Fegget taten es ihm gleich. „Auf daß es ein faires Turnier<br />

wer<strong>de</strong>“ fügte Leonart hinzu und begab sich unter Applaus an seinen Platz zurück, wo sein Vater ihn mit stolzem<br />

Gesicht empfing.<br />

Die bei<strong>de</strong>n Knappen, die tagelang für eben diese Situation trainiert hatten, führten die Pfer<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Ritter an die<br />

entgegengesetzten En<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Turnierplatzes und besorgten <strong>de</strong>n Kontrahenten ihre Waffen. Dynes nahm seine<br />

hölzerne Lanze, auf <strong>de</strong>r sein violettes Wappen – ein von Flammen umgebenes Auge – eingebrannt war, entgegen und<br />

bedankte sich bei Paves, <strong>de</strong>r sofort errötete und zur Seite trat.<br />

<strong>Arathas</strong> blinzelte. Gleich wür<strong>de</strong> es soweit sein. Der Fanfarenstoß wür<strong>de</strong> erklingen, und er und Fegget wür<strong>de</strong>n<br />

aufeinan<strong>de</strong>r zureiten und versuchen, <strong>de</strong>n Gegner mit <strong>de</strong>r Lanze aus <strong>de</strong>m Sattel zu stoßen. Verflucht sollte <strong>de</strong>r Prinz<br />

sein! Hatte er es doch tatsächlich geschafft, diesen Bastard von Fegget gegen ihn aufzustellen. Aber egal, es ließ sich<br />

nichts mehr daran än<strong>de</strong>rn. Er wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Kampf hinter sich bringen, und anschließend wür<strong>de</strong> er vom gesamten<br />

restlichen Tumult befreit sein...<br />

Drei kurze Trompetenstöße kündigten <strong>de</strong>n Beginn <strong>de</strong>s Wettkampfes an, und die eine Hand an <strong>de</strong>n Zügeln, in <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren die Lanze, <strong>de</strong>ren Spitze gen Himmel ragte, for<strong>de</strong>rte Dynes Sturmauge zum Laufen auf. Mit einem Wiehern<br />

trabte das Pferd los, die vorgefertigte Bahn entlang, in <strong>de</strong>ren Mitte sich die Ritter begegnen wür<strong>de</strong>n. Auch Fegget,<br />

ebenfalls in einer blitzen<strong>de</strong>n Rüstung, hatte seinem Pferd die Sporen gegeben und stürmte nun auf ihn zu. Doch im<br />

Gegensatz zu Dynes, <strong>de</strong>r noch lange keinen Galopp von Sturmauge verlangte, ritt <strong>de</strong>r Graf mit zunehmend höherer<br />

Geschwindigkeit.<br />

<strong>Arathas</strong> spürte seine Knochen überall, spürte, wie <strong>de</strong>r metallene Käfig um ihn herum ihn zwar schützen sollte,<br />

an<strong>de</strong>rerseits aber auch eine To<strong>de</strong>sfalle darstellen konnte, stürzte er falsch vom Pferd. Und wie es aussah, wollte Fegget<br />

genau dies erreichen, <strong>de</strong>nn er war mit seinem Hengst bereits in einen so schnellen Galopp verfallen, daß sie sich weit<br />

hinter <strong>de</strong>r Mitte treffen wür<strong>de</strong>n.<br />

Jetzt spornte auch Dynes seinen Hengst an, gab Sturmauge zu verstehen, daß es nun auf ihn ankam.<br />

„Zeig’s <strong>de</strong>m verdammten Mistkerl“ flüsterte er <strong>de</strong>m Roß zu, und als wür<strong>de</strong> das Tier ihn verstehen, wieherte es erregt<br />

und ließ die Hufe wuchtig in die staubige Er<strong>de</strong> einfahren. Schlag auf Schlag rollte durch Sir <strong>Arathas</strong> Körper, während<br />

er sich Fegget näherte, <strong>de</strong>r schon längst seine Lanze nach vorn gerichtet hatte. Dynes Waffe, die noch immer in <strong>de</strong>r<br />

Vertikalen lagerte, senkte sich ebenfalls herab, <strong>de</strong>nn die Entfernung min<strong>de</strong>rte sich zusehends. Fegget war jetzt nah,<br />

sehr nah, nur noch wenige Fuß entfernt, und er streckte seinen Waffenarm mit <strong>de</strong>r Lanze von sich weg, auf daß sie<br />

Dynes so früh wie möglich berührte und aus <strong>de</strong>m Sattel stieß.<br />

„Na warte, Bürschchen“ keuchte <strong>de</strong>r alte Lehnsherr aufgebracht und zog an <strong>de</strong>n Zügeln. „Kannst es wohl nicht<br />

erwarten, du Bastard!“ Sturmauge wur<strong>de</strong> langsamer, und Dynes fletschte die Zähne, als genau das eintraf, worauf er<br />

spekuliert hatte: Das Gewicht <strong>de</strong>r Lanze zog an Feggets Armen, <strong>de</strong>r die Waffe nicht lange in <strong>de</strong>r ausgestreckten<br />

Position halten konnte. Bevor er etwas dagegen unternehmen konnte, kippte die Spitze abwärts, knallte auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n<br />

und verfing sich dort. Nur durch Glück riß es <strong>de</strong>n Grafen nicht aus <strong>de</strong>m Sattel, als er übertölpelt auf <strong>de</strong>n langsam<br />

traben<strong>de</strong>n Sturmauge zuritt.<br />

Dynes richtete gemächlich seine Lanze aus, und unfähig, sein Roß noch zu verlangsamen o<strong>de</strong>r gar in eine an<strong>de</strong>re<br />

Richtung zu lenken, hielt Fegget genau auf die Spitze <strong>de</strong>r Holzleiste zu. Sir <strong>Arathas</strong> Miene wur<strong>de</strong> zu einem<br />

verbissenen Grinsen, während er versuchte, unter <strong>de</strong>n Helm seines Gegners zu schauen. Was mußte Feggets Antlitz<br />

für ein wun<strong>de</strong>rbarer Anblick sein, so verblüfft, wie er von Dynes Verhalten war!<br />

„Guten Flug“ schnaubte Dynes, doch noch im selben Moment riß er entsetzt die Augen auf. Erst jetzt, wo Fegget so<br />

nah heran war, sah er, daß mehrere lange Gurte <strong>de</strong>n Grafen mit Sattel und Geschirr seines Pfer<strong>de</strong>s verban<strong>de</strong>n! Der<br />

verdammte Narr hatte sich tatsächlich an seinen Gaul bin<strong>de</strong>n lassen, wahrscheinlich in <strong>de</strong>r Hoffnung, dadurch<br />

schwieriger aus <strong>de</strong>m Sattel zu stoßen zu sein! Dynes verfluchte Fegget, doch für ein Umlenken <strong>de</strong>r Lanze war es jetzt<br />

viel zu spät. Mit stocken<strong>de</strong>m Herzen beobachtete er, wie die Spitze auf <strong>de</strong>s Grafen Brustplatte prallte und ihn nach<br />

hinten drückte. Doch anstatt durch <strong>de</strong>n Aufprall vom Roß zu fliegen, rutschte er bloß, von <strong>de</strong>n Gurten und Striemen<br />

gehalten, am Rücken <strong>de</strong>s Pfer<strong>de</strong>s herab.<br />

21


Dynes schlimmste Befürchtungen wur<strong>de</strong>n wahr, als die Gurte sich nicht lösten, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Grafen am<br />

galoppieren<strong>de</strong>n Hengst festzurrten. Die baumeln<strong>de</strong> Gestalt Feggets hing kopfüber von seinem Roß herab und schleifte<br />

mit <strong>de</strong>m Kopf auf <strong>de</strong>m staubigen Untergrund. Wie<strong>de</strong>r und wie<strong>de</strong>r schepperte es, als die Hinterläufe <strong>de</strong>s Rosses gegen<br />

die Rüstung stießen und Fegget durchrüttelten, bis ein Huf <strong>de</strong>s Tieres sich letztendlich an einem Arm <strong>de</strong>s Grafen<br />

verfing und das Pferd die Kontrolle verlor.<br />

In einem einzigen Gewirr aus Beinen und Metall brach das bemitlei<strong>de</strong>nswerte Tier mitten im schnellsten Galopp<br />

zusammen. Schreie gingen durch das Publikum, als das ungleiche Paar zu Bo<strong>de</strong>n ging, und grauenerfülltes Entsetzen<br />

stand in <strong>de</strong>s Prinzen Gesicht geschrieben. Scheppernd und krachend und in einer Wolke aus Staub rutschten Pferd<br />

und Reiter weiter, bis sie nach einer Zeit, die wie die Ewigkeit anmutete, endlich zum Liegen kamen.<br />

Eine blutige Spur zog sich über <strong>de</strong>n Turniersplatz und en<strong>de</strong>te an einem Knäuel aus Metall und Fleisch, <strong>de</strong>r nichts<br />

Tierisches o<strong>de</strong>r Menschliches mehr an sich hatte. Die schreien<strong>de</strong> Menge war verstummt, Grabesstille herrschte auf<br />

<strong>de</strong>m sonnenbeschienenen Hof. Niemand wagte es, auch nur einen Ton von sich zu geben. Irgendwann wur<strong>de</strong>n<br />

einzelne Stimmen laut, Schluchzer o<strong>de</strong>r verhaltenes Stöhnen.<br />

Dynes, <strong>de</strong>r Sturmauge inzwischen gewen<strong>de</strong>t hatte, blieb vom Anblick seines einstigen Gegners nicht verschont.<br />

Kopfschüttelnd schob er sein Visier zurück, während die ersten Helfer über <strong>de</strong>n Platz strömten, um zu retten, was<br />

noch zu retten war.<br />

Talamà schickte sich an, die Fährte ihrer Beute nicht zu verlieren.<br />

Sie konnten es sich einfach nicht erlauben, diesen Hirsch entkommen zu lassen, <strong>de</strong>r sich hier, tief in <strong>de</strong>r Singarischen<br />

Steppe, gezeigt hatte. Und das, obwohl niemand von <strong>de</strong>r kleinen Gruppe, die aus fünf Jurakai bestand, tatsächlich<br />

daran geglaubt hatte, so weit entfernt von <strong>de</strong>n Wäl<strong>de</strong>rn noch Nahrung zu fin<strong>de</strong>n.<br />

Die kleinen, gedrungenen Bäume und das hüfthohe Gras waren einfach nicht <strong>de</strong>r geeignete Lebensraum für solch<br />

große Geschöpfe, und ob es nun Zufall war o<strong>de</strong>r Glück, je<strong>de</strong>nfalls folgten sie nun einem <strong>de</strong>r mächtigsten<br />

Waldbewohner Rubens. Die Spur <strong>de</strong>s Hirsches war nicht zu verkennen, die bei<strong>de</strong>n Fährtenleser hatten es leicht, <strong>de</strong>n<br />

geknickten Halmen und <strong>de</strong>r zertrampelten Er<strong>de</strong> zu folgen. Talamà lief ein Stück weit hinter ihnen, ihre Armbrust<br />

geschultert und mit zusammengebun<strong>de</strong>nen Haaren. Sie hasste es zwar, die Haare nicht offen tragen zu können, doch<br />

gera<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>r Jagd war es wenig vorteilhaft, wenn ein plötzlicher Windstoß die lange Mähne flattern ließ und einen<br />

verriet.<br />

Normalerweise hätte sie niemals zugestimmt, als Teagar Jael’vre, das Stammesoberhaupt, sie bat, bei <strong>de</strong>r Jagd zu<br />

helfen. Normalerweise hätte sie dankend abgelehnt und ihre Zeit mit <strong>de</strong>r Valae verbracht, um sich immer tiefer in die<br />

Geheimnisse <strong>de</strong>r Worte einweisen zu lassen, welche die alte Frau wie eine zweite Stimme beherrschte.<br />

Doch dieser Sommer war alles an<strong>de</strong>re als normal, und sie hieß die Jagd diesmal sogar willkommen, da sie<br />

Abwechslung und Ablenkung von Mandas brachte. Auf diese Weise mußte sie nicht ständig an ihn <strong>de</strong>nken, wur<strong>de</strong><br />

nicht andauernd an ihn erinnert. Die Zelte und Pfa<strong>de</strong>, all die Jurakai um sie herum hatten sie fast verrückt gemacht,<br />

hatten sie sich wünschen lassen, daß sie wenigstens für ein paar Tage alleine sein könnte, o<strong>de</strong>r doch zumin<strong>de</strong>st für ein<br />

paar Stun<strong>de</strong>n. Zwar war sie nun nicht allein mit <strong>de</strong>n vier Jägern um sich herum, doch da kaum mehr als<br />

Augenkontakt gehalten und noch weniger gesprochen wur<strong>de</strong>, fühlte sie sich gnädigerweise ein wenig zufrie<strong>de</strong>ner.<br />

Sie wußte, daß es nicht schwer sein wür<strong>de</strong>, sich von Mandas loszureißen. Er hatte keine einzige Saite in ihrem Herzen<br />

berührt, hatte nicht einmal <strong>de</strong>ssen Oberfläche gekitzelt. Allerdings hatte er an<strong>de</strong>re Qualitäten vorzuweisen gehabt...<br />

Nein, diese Gedanken führten zu nichts. Sie schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. Sie hatte eingewilligt, die Jäger zu begleiten, doch<br />

wenn sie sich jetzt nicht zusammenriß, dann wür<strong>de</strong> sie womöglich noch das Wild verscheuchen, vermutlich das letzte,<br />

das sie dieses Jahr noch fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n! Auf leisen Sohlen folgte sie Jensai, <strong>de</strong>r nur wenige Schritte vor ihr lief, sich<br />

langsam umdrehte und <strong>de</strong>n Finger an die Lippen legte. Talamà gemahnte sich zur Ruhe, versetzte sich innerlich eine<br />

Ohrfeige für ihre Unvorsichtigkeit. Das Steppengras war bei weitem nicht so hoch, als daß es sie und ihren<br />

konfliktzerrissenen Körper ver<strong>de</strong>ckt hätte, wenn es darauf angekommen wäre.<br />

„Er ist ganz nah“ flüsterte Jensai und <strong>de</strong>utete auf einen Hain nur wenige Fuß vor ihnen. Talamà blickte angestrengt<br />

auf, doch ihre Augen erblickten nichts als wehen<strong>de</strong> Halme und knorrige Bäume.<br />

„Wo?“ fragte sie, doch <strong>de</strong>r Jurakai hatte sich schon auf die Knie gestützt und wankte wie ein Frosch durch die Gräser.<br />

Ein Lachen unterdrückend tat die junge Frau es ihm gleich, obwohl ihre Beine schon nach wenigen Schritten in dieser<br />

unüblichen Haltung ihren Tribut for<strong>de</strong>rten und sie Schmerzen spüren ließen. Talamà fluchte leise; Jensai drehte sich<br />

um und schenkte ihr ein wissen<strong>de</strong>s Lächeln. Seine Hand fuhr erneut nach oben und zeigte direkt auf eine Lücke<br />

zwischen zwei Bäumen. Dahinter sollte sich also <strong>de</strong>r Hirsch verstecken. Die Jurakai verzog die Lippen, mißachtete<br />

ihre Knie, die Morgen noch genug Zeit haben wür<strong>de</strong>n, sich zu beschweren, und stakste weiter.<br />

Sie versuchte, die an<strong>de</strong>ren Jäger auszumachen, doch bis auf Jensai konnte sie keinen von ihnen ent<strong>de</strong>cken, was jedoch<br />

nichts zu be<strong>de</strong>uten hatte. Auch Jensai verschmolz wie ein Chamälion mit seiner Umgebung, passte sich mit seiner<br />

laubbraunen Kleidung perfekt in die beige Umgebung ein.<br />

Langsam umrun<strong>de</strong>ten sie <strong>de</strong>n Hain <strong>de</strong>r Knorpelbäume, und jetzt kam auch <strong>de</strong>r Hirsch in Sicht, <strong>de</strong>r tatsächlich wie<br />

eine Zielscheibe im Grasland stand. Sie waren nun nah genug, um einen sicheren Schuß zu lan<strong>de</strong>n, doch Jensai wollte<br />

die gute Gelegenheit beim Schopfe fassen. Er schlich sich so nah, daß noch genug Zeit für einen zweiten Pfeil bleiben<br />

22


wür<strong>de</strong>, sollte sein erster nicht ins Ziel fin<strong>de</strong>n. Seine Muskeln spannten sich, als er seinen Bogen hob, <strong>de</strong>n angelegten<br />

Pfeil zurückzog und auf das Tier richtete, das sich noch immer nicht regte.<br />

Aufgeregt trat Talamà einen weiteren Schritt vor, und in <strong>de</strong>m Moment stieß ihr Fuß gegen ein aus <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n<br />

ragen<strong>de</strong>s Hin<strong>de</strong>rnis, und mit einem lauten Aufschrei ging sie zu Bo<strong>de</strong>n. Jensai, erschreckt vom Lärm, ließ <strong>de</strong>n Pfeil<br />

unkontrolliert fliegen, und das Geschoß fuhr krachend in die Äste <strong>de</strong>r Bäume ein, wo es endgültig verharrte.<br />

Doch noch im selben Moment, in <strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Pfeil losgelassen hatte, wußte <strong>de</strong>r erfahrene Jäger, daß etwas nicht<br />

stimmte. Der Hirsch hätte bereits bei Talamàs hastiger Bewegung das Weite suchen müssen, hätte <strong>de</strong>n Schrei <strong>de</strong>r<br />

Jurakai gar nicht abwarten dürfen... und trotz<strong>de</strong>m stand er noch immer an Ort und Stelle, reglos wie eine aus <strong>de</strong>m Fels<br />

geschlagene Statue. Den Kopf gesenkt starrte das Tier gera<strong>de</strong>aus, auf einen Punkt, <strong>de</strong>n we<strong>de</strong>r Jensai noch Talamà o<strong>de</strong>r<br />

einer <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Jäger einsehen konnte.<br />

Weitere Köpfe tauchten nun um die Baumgruppe aus <strong>de</strong>m Gras heraus auf, einem je<strong>de</strong>n ein ungläubiger Blick ins<br />

Gesicht geschrieben. Talamà, von ihrem Sturz erholt, war die erste, die wie<strong>de</strong>r zu Worten fand.<br />

„Wieso... wieso läuft er nicht weg?“ fragte sie stirnrunzelnd. „Er müßte doch vor Angst schier rasen...“<br />

„Das stimmt“ hauchte Jensai und nahm ihre Hand, zog sie näher zu sich heran. „Aber es kommt manchmal – sehr<br />

selten zwar, aber doch manchmal – vor, daß ein Tier nicht davonrennt, son<strong>de</strong>rn wie leblos stehenbleibt und <strong>de</strong>m Tod<br />

ins Auge sieht.“<br />

„Aber warum...“<br />

„Oft geschieht es einfach, und niemand weiß, warum es passiert ist“ flüsterte <strong>de</strong>r Jäger. „Aber... manchmal flüchten<br />

die Tiere nicht, weil... es etwas gibt, vor <strong>de</strong>m sie noch mehr Angst haben...“ Jensais Stimme wur<strong>de</strong> leiser, bis sie sich<br />

im Rauschen <strong>de</strong>r Halme verlor. Talamà blickte ihm in die Augen, und sie sah, daß er noch mehr zitterte, als die<br />

Gräser im Wind es taten.<br />

Sie holte tief Luft und betrachtete das große Tier, <strong>de</strong>ssen Kopf gesenkt war, so daß das Geweih nach vorn zeigte, wie,<br />

um sich vor etwas zu verteidigen. Talamà blickte zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Jägern, doch keiner von ihnen regte sich. Keiner von<br />

ihnen sah sie an.<br />

Nun, wenn keiner dieser harten Kerle <strong>de</strong>n Mumm dazu hatte... dann wür<strong>de</strong> sie sich ein Herz fassen müssen. Sie<br />

richtete sich auf und ging erhobenen Hauptes durch die Gräser auf <strong>de</strong>n Hirsch zu, bereit, beim kleinsten Anzeichen<br />

einer Gefahr zu flüchten. Doch die Halme blieben ruhig, wiegten sich nur im Wind, wie ein endloses goldbraunes<br />

Meer.<br />

Als sie <strong>de</strong>n Hirsch fast erreicht hatte, fiel ihr etwas son<strong>de</strong>rbares auf... über <strong>de</strong>m Gras direkt vor <strong>de</strong>m Tier schienen<br />

kleine Wölkchen zu sein, schwarze Schatten, die schwebten. Bei näherer Betrachtung erkannte Talamà, daß es we<strong>de</strong>r<br />

Wolken noch Schatten, son<strong>de</strong>rn tausen<strong>de</strong> von kleinen Fliegen waren, die sich dort in <strong>de</strong>r Luft sammelten. Sie schritt<br />

nach vorn, zollte dabei <strong>de</strong>m großen Waldbewohner, <strong>de</strong>m sie bis hierher gefolgt waren, kaum Beachtung, bis sie die<br />

erste Wolke <strong>de</strong>r Fliegen erreichte. Die kleinen Biester machten keine Anstalten, auseinan<strong>de</strong>rzustieben, so wie die<br />

Jurakai es erwartet hatte, sie machten ihr nur kurz Platz, um anschließend wie<strong>de</strong>r schwirrend aufzusteigen.<br />

Der Blick <strong>de</strong>r jungen Frau fiel auf <strong>de</strong>n Grund für die enorme Fliegenpopulation. Brechreiz keimte in ihr, doch<br />

inmitten <strong>de</strong>r Insektenwolke blieb sie stehen und drehte sich zu <strong>de</strong>n Jägern um, die sie mit furchtsamen Augen<br />

betrachteten. Doch es schien keine Gefahr auszugehen von <strong>de</strong>m Ort, an <strong>de</strong>m Talamà stand, und so wagten sie sich aus<br />

ihren Verstecken hervor, um ebenfalls zu sehen, was <strong>de</strong>n Hirsch veranlaßte, noch immer leblos vor <strong>de</strong>n Bäumen zu<br />

verharren.<br />

Talamà wandte ihnen <strong>de</strong>n Rücken zu, um wie<strong>de</strong>r auf das Etwas zu starren, das in <strong>de</strong>n Gräsern lag und Ungeziefer<br />

anzog. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie jetzt auch Blutschlieren, die sich über die Halme und die Er<strong>de</strong> zogen,<br />

doch sie waren schon alt, vertrocknet und braun. Auch das Objekt <strong>de</strong>s Anstoßes wirkte nicht sehr frisch, war dafür<br />

umso abscheulicher.<br />

Es war <strong>de</strong>r Kadaver eines Wildpfer<strong>de</strong>s, o<strong>de</strong>r besser gesagt, das, was davon noch übrig war. Es schien nicht in zwei<br />

Hälften gerissen, son<strong>de</strong>rn regelrecht zerfetzt wor<strong>de</strong>n zu sein. Verklebte Überreste <strong>de</strong>s Kopfes waren etwas weiter<br />

Abseits auszumachen, und in unmittelbarer Nähe waren Beine und Teile <strong>de</strong>s Brustkorbes zu fin<strong>de</strong>n. Das meiste<br />

Fleisch war bereits abgenagt, nur die Knochen ragten vielerorts noch aus <strong>de</strong>r harten Masse, von <strong>de</strong>r Sonne schon<br />

gebleicht und sprö<strong>de</strong>.<br />

Talamà ging weiter, am ersten Pferd vorbei, das auf bestialische Weise getötet wor<strong>de</strong>n war, und fand ein weiteres vor.<br />

Es war, wenn überhaupt möglich, noch schrecklicher zugerichtet als das vorherige, und die junge Frau sank zitternd<br />

auf die Knie und übergab sich ins Gras. Als sie endlich wie<strong>de</strong>r aufsah, fiel ihr das getrocknete Blut in die Augen, und<br />

sie sank erneut zu Bo<strong>de</strong>n. Jensai trat hinter sie und legte seine Hand auf ihren Rücken, doch sie bemerkte es gar nicht.<br />

Niemand sprach ein Wort, während sie durch das Grasland gingen. Nur die Geräusche sich erbrechen<strong>de</strong>r Jurakai<br />

hallten über die Ebene.<br />

Hinterher, als sie eine Umgebung von mehreren Wegminuten abgelaufen hatten, fan<strong>de</strong>n sie die Kadaver von<br />

insgesamt acht Wildpfer<strong>de</strong>n, alle auf die gleiche grausame Weise zerrissen und verstümmelt. Niemand wagte es, die<br />

Leichname anzurühren o<strong>de</strong>r sich ihnen auch nur zu nähern, aus Angst, daß das, was ihnen wi<strong>de</strong>rfahren war, sich<br />

übertragen könnte o<strong>de</strong>r zurückkehren.<br />

23


Später – viel, viel später – trafen die fünf Jurakai wie<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> ein, um zu berichten, was sie vorgefun<strong>de</strong>n<br />

hatten. Den Hirsch hatten sie zurückgelassen.<br />

Die Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schlafes lag unruhig in <strong>de</strong>n Win<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s neuen Tages. Die mächtigen alten Stämme <strong>de</strong>r Behausungen<br />

ächzten unter <strong>de</strong>n stürmischen Launen <strong>de</strong>r Natur, wenn erneut eine Bö über Eldraja’aro fegte und altes Laub<br />

aufwirbelte und auf <strong>de</strong>n Wegen verteilte. Die Blätter tanzten in kleinen Wirbeln auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, verfingen sich in <strong>de</strong>n<br />

Ritzen <strong>de</strong>r Sa’e und umspielten die Gestalten zweier Jurakai, die <strong>de</strong>n Weg zu Indigos Heim beschritten. Einer <strong>de</strong>r<br />

bei<strong>de</strong>n war zutiefst in Gedanken verloren, als er durch das heimatliche Dorf ging. Seine Nach<strong>de</strong>nklichkeit war auch<br />

zum Teil Sorge und böse Vorahnung, und er schüttelte ab und zu <strong>de</strong>n Kopf über sein Verhalten.<br />

Den ganzen Weg über schwieg Nachtfalke, auch wenn sein jüngerer Gefährte gerne mehr Einzelheiten und Details<br />

über die Reise erfahren hätte. „Alles zu seiner Zeit“, hatte <strong>de</strong>r Alte verwiesen und war in stummer Versunkenheit<br />

weitergelaufen. Sein Haupt gesenkt und <strong>de</strong>n Blick auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n gerichtet, lief er doch <strong>de</strong>n kürzesten Weg zum Sa’e,<br />

so als ob er die äußeren Sinne gar nicht brauchen wür<strong>de</strong>. Indigo spürte, daß sich tief in <strong>de</strong>r Person, die er seinen<br />

Freund nannte, zahlreiche Wun<strong>de</strong>r und Dinge versteckten, die noch nicht ans Tageslicht gelangt waren. Er hoffte,<br />

vieles davon noch kennenlernen zu dürfen.<br />

„Wir müssen packen und uns bald auf <strong>de</strong>n Weg machen“, sagte Nachtfalke unvermittelt, als sie das große Sa’e<br />

betraten. „Uns bleibt nicht viel Zeit. Es könnten Tage zählen, wenn meine Vermutungen stimmen.“ Nachtfalke sah<br />

auf, und in seinen Augen blitzte ein Funkeln von Stärke und Kraft. „Wenn überhaupt etwas helfen kann... <strong>de</strong>nn falls<br />

ich recht behalten sollte mit meinen Vermutungen... dann wäre es vergeblich, <strong>de</strong>n Hochkönig aufzusuchen. Trotz<strong>de</strong>m<br />

müssen wir es versuchen.“ Die letzten Sätze hatte er mehr zu sich selbst gesagt, in immer leiser wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>m Tonfall<br />

vor sich hin gemurmelt.<br />

Indigo legte seinen Kopf schief und studierte das Gesicht <strong>de</strong>s Alten eingehend. „Du hast mir nicht verraten, was <strong>de</strong>ine<br />

Vermutungen sind, Falke. Ich wür<strong>de</strong> auch das gern wissen, bevor wir aufbrechen.“<br />

„Nein, Indigo. Dafür ist es noch zu früh. Viel zu früh. Ich habe nur etwas berechnet und ein paar Gedanken angestellt.<br />

Um etwas genaueres zu sagen, brauche ich mehr Zeit und vor allem mehr Informationen. Diese paar Fetzen über<br />

vernichtete Siedlungen und brennen<strong>de</strong> Städte helfen mir nicht viel weiter. Ich muß dich enttäuschen, aber noch kann<br />

ich dir nicht alles erzählen. Noch nicht, junger Freund.“<br />

Zornig wandte sich Indigo von seinem Lehrmeister ab. Wun<strong>de</strong>rbar! Nachtfalke erzählte ihm von Dingen, die nichts<br />

Gutes zu verheißen hatten, nahm ihn auf eine Reise mit, <strong>de</strong>ren Ausgang alles an<strong>de</strong>re als gewiß war - und trotz<strong>de</strong>m<br />

wollte er ihm nicht einmal sagen, mit welchen Mächten sie sich seiner Meinung nach einließen! Es war unmöglich,<br />

<strong>de</strong>n alten Kauz vollkommen zu verstehen!<br />

„Ich wer<strong>de</strong> die nötigsten Dinge zusammensuchen“, murmelte er und begab sich in eine an<strong>de</strong>re Ecke <strong>de</strong>s Sa’e.<br />

Besorgt sah Nachtfalke auf. Der verwirrte Junge tat ihm leid, doch manche Dinge konnte er ihm jetzt noch nicht<br />

mitteilen. Sie waren ihm selbst noch nicht gänzlich klar, und er durfte einfach nieman<strong>de</strong>n mit unhaltbaren<br />

Vermutungen belasten. Auf <strong>de</strong>r Karte seines Wissens gab es viel zu viele weiße Flecken...<br />

Der alte Jurakai besah sein Hab und Gut skeptisch und mit einigermaßen unzufrie<strong>de</strong>nem Ausdruck. „Indigo, ich habe<br />

etwas in meinem Sa’e vergessen“ sagte er zu seinem Schüler gewandt. „Ich wer<strong>de</strong> es holen gehen. Wenn ich<br />

zurückkomme, <strong>de</strong>nke ich, wer<strong>de</strong>n wir soweit sein, aufzubrechen. Wir benötigen nicht viel - vielleicht einen Bogen, ein<br />

wenig Proviant, ein paar Angelhaken und ein paar Waffen. Zieh dir dicke Kleidung an, <strong>de</strong>nn je höher wir ins<br />

Nordland vordringen, <strong>de</strong>sto schneller wer<strong>de</strong>n die Temperaturen fallen, vor allem in diesem kalten Sommer. Benutze<br />

hauptsächlich braune und graue Klei<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>nn ein helles Grün wäre viel zu auffallend in <strong>de</strong>n meisten Gegen<strong>de</strong>n. Denk<br />

auch daran, Dinge <strong>de</strong>r Sauberkeit einzustecken: eine Bürste o<strong>de</strong>r einen Schwamm vielleicht. Wir wollen doch nicht<br />

anfangen zu stinken, wenn wir <strong>de</strong>n königlichen Hof besuchen, o<strong>de</strong>r? Ach ja, und vergiß nicht, etwas zur<br />

Wun<strong>de</strong>nbehandlung mitzunehmen. Um alles übrige wer<strong>de</strong> ich mich kümmern.“<br />

Mit diesen Worten verließ <strong>de</strong>r Alte die Baumbehausung und machte sich rasch auf, seine eigene Wohnung<br />

aufzusuchen. Indigo blieb zurück mit einer Vielzahl von Dingen, die ihm im Kopf herumschwirrten, und er versuchte,<br />

möglichst schnell möglichst viel zusammenzusuchen, bevor ihm etwas davon wie<strong>de</strong>r entfiel.<br />

Nach einiger Zeit kehrte Nachtfalke zurück. Er sah so aus, wie Indigo ihn schon viele Male hatte gehen sehen, wenn<br />

<strong>de</strong>r Jurakai auf eine neuerliche Reise aufbrach: Sein Wams war vollgepackt mit <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nsten Utensilien, und<br />

seine dicken Klei<strong>de</strong>r schienen <strong>de</strong>m jungen Jurakai etwas unangemessen für <strong>de</strong>n späten Hochsommer. Sein Gesicht,<br />

wettergegerbt und roh, jedoch nicht einer gewissen Sanftheit entbehrend, war zu einer Maske <strong>de</strong>r grimmigen<br />

Entschlossenheit verzerrt.<br />

„Sag <strong>de</strong>inem Heim Lebewohl, Junge. Es wird für lange Zeit das letzte Mal sein, daß du es zu sehen bekommst. Wenn<br />

du dich noch von irgendjeman<strong>de</strong>m verabschie<strong>de</strong>n möchtest in <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong>, dann ist jetzt <strong>de</strong>r passen<strong>de</strong> Zeitpunkt dafür<br />

gekommen. Ansonsten <strong>de</strong>nke ich, daß wir aufbruchbereit sind, o<strong>de</strong>r?“<br />

Indigo verzog die Lippen zu einem Schmollmund und betrachtete das elterliche Sa’e mit Wehmut. „Es ist in <strong>de</strong>r Tat<br />

nicht leicht, loszulassen. Aber da ich es in nicht allzu langer Zeit wie<strong>de</strong>rsehen wer<strong>de</strong>, und zwar um viele Erfahrungen<br />

reicher, sage ich nur: Bis bald. Alle meine Freun<strong>de</strong> sind beim Volk, das in <strong>de</strong>n Tälern auf <strong>de</strong>r Jagd ist, o<strong>de</strong>r<br />

aufgebrochen, um <strong>de</strong>m König Nachricht zu erstatten, ebenso wie ich es jetzt tun wer<strong>de</strong>. Nein, ich lasse keine<br />

24


Gedanken zurück in Eldraja’aro. Dieses langweilige Dorf mit seinen langweiligen Bewohnern lasse ich hinter mir<br />

zurück. All mein Denken ist auf unsere Aufgabe gerichtet.“<br />

Nachtfalke nickte lobend. „Tapfere Worte, junger Freund. Dein Verhalten verdient Anerkennung, wenn es tatsächlich<br />

so ist, wie du sagst. Aber ich verspreche dir: Irgendwann wirst du dir wünschen, wie<strong>de</strong>r hier zu sein, am Feuer zu<br />

sitzen und nichts an<strong>de</strong>res zu tun als mit Freun<strong>de</strong>n zu sprechen und nachzusinnen. Außer<strong>de</strong>m solltest du die Stadt<br />

nicht vergessen und hinter dir lassen, Indigo. Immerhin unternehmen wir diese Reise auch dafür, um die Wei<strong>de</strong> vor<br />

einer - möglicherweise - drohen<strong>de</strong>n Gefahr zu beschützen. Das, was hinter <strong>de</strong>inem Rücken bleibt, ist ebenso wichtig<br />

wie die Dinge, die vor dir liegen.“<br />

Nachtfalke schulterte eine Tasche, hängte seinen Bogen über <strong>de</strong>n Arm und blickte Indigo aufmerksam an. „Also los.“<br />

„Also los“, bestätigte <strong>de</strong>r Junge und folgte <strong>de</strong>m Alten, <strong>de</strong>r mit schnellem Schritt voranging.<br />

Wie<strong>de</strong>r traten sie hinaus in <strong>de</strong>n beginnen<strong>de</strong>n Sturm, und wie<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong> Indigo auf unangenehme Weise an seinen<br />

Traum erinnert. Hüte dich vor <strong>de</strong>m dunklen Blut... Er schüttelte sich und verwarf die schlechten Gedanken schnell. Es<br />

bestand kein Grund zur Sorge! Endlich hatte er, was er sich wünschte. Er konnte Ruben erkun<strong>de</strong>n, und das zusammen<br />

mit Falke, seinem besten Freund und seinem Lehrer. Von Kin<strong>de</strong>sbeinen an hatte er ein tiefes Vertrauen zu <strong>de</strong>m alten<br />

Jurakai aufgebaut, mehr sogar als zu seinen gleichaltrigen Freun<strong>de</strong>n, ja, er vertraute ihm sogar mehr als seinen<br />

eigenen Eltern! Falke hatte ihm alles beigebracht, was er über <strong>de</strong>n Wald und seine Bewohner wissen mußte. Er hatte<br />

ihn Lesen und Schreiben gelernt, und einmal hatten sie gemeinsam einen Markt <strong>de</strong>r Manur besucht, um Kräuter und<br />

Zutaten einzukaufen, die Falke benötigte. Er hatte ihm <strong>de</strong>n Umgang mit <strong>de</strong>m Bogen gezeigt und ihn gelehrt, die<br />

Wendigkeit eines Schwertes zu nutzen. Und er hatte seinen Lehrer niemals enttäuscht, obwohl <strong>de</strong>r Alte sich oft zu<br />

lästerlichen Bemerkungen hinsichtlich Indigos Können hinreißen ließ. Doch es waren nur neckische Spielereien,<br />

aufstachelnd, um <strong>de</strong>n Jurakai anzutreiben.<br />

Indigo seufzte. Er liebte diesen alten Kauz, <strong>de</strong>r ihm - je<strong>de</strong>nfalls solange er nicht auf Reisen war - immer all seine Zeit<br />

zur Verfügung gestellt hatte. Und nun brachen sie auf, um ein gemeinsames Abenteuer zu bestehen!<br />

Sie verließen Eldraja’aro durch das Westtor und vorbei an <strong>de</strong>n Wissen<strong>de</strong>n Gräsern, <strong>de</strong>n Wächtern <strong>de</strong>r Stadt. Indigo<br />

wußte nicht, was genau die Gräser waren, aber er hatte sie schätzen gelernt. Sollte es vorkommen, daß ein<br />

Eindringling versuchte, die Stadt zu betreten, begannen die Gewächse zu wogen und ein Geräusch zu erzeugen, das<br />

wie Wellen klang, die an eine Klippe klatschten. Das Rauschen war im ganzen Dorf zu hören, und selbst die Wipfel<br />

<strong>de</strong>r höchsten Bäume fielen in das Zittern ein. Er vermutete zu Recht, daß ein Zauber auf <strong>de</strong>n Gräsern lag, doch er<br />

wußte nicht, von welcher Art er wohl sein mochte. Er war noch niemals einem Zauberer o<strong>de</strong>r etwas ähnlichem<br />

begegnet. Die Worte stellten lei<strong>de</strong>r ein Buch mit sieben Siegeln für <strong>de</strong>n Jurakai dar, auch wenn er gern mehr über<br />

diese Kunst erfahren hätte. Er fragte sich, ob Falke sich mit diesen Dingen wohl besser auskannte, sah auf und<br />

bemerkte, daß dieser schon ein ganzes Stück vorauseilte. Indigo war so in Gedanken versunken gewesen, daß er<br />

mehrere Fuß zurück lag. Mit ein paar schnellen Schritten setzte er <strong>de</strong>m Alten nach, bis sie wie<strong>de</strong>r auf gleicher Höhe<br />

gingen. Ihr Weg führte sie über die laubbefallenen Pfa<strong>de</strong> bergab, immer tiefer in <strong>de</strong>n Weilerwald hinein, <strong>de</strong>r sich über<br />

eine Distanz von so vielen Meilen erstreckte, daß selbst ein Vogel lange Zeit brauchen wür<strong>de</strong>, um über ihn hinweg zu<br />

fliegen. Eine seltsame Ruhe lag auf <strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>rern, ein Gefühl <strong>de</strong>r Stille, das jedoch nichts Übles verhieß. Es war<br />

eher eine freudige Aufbruchstimmung, die Indigos Gemüt schon sehr bald veranlaßte, ein Lied vor sich hin zu pfeifen.<br />

Mit einem wohlklingen<strong>de</strong>n Summen fiel Falke in das Lied ein, und so spazierten sie in die Wäl<strong>de</strong>r. Zwei Wan<strong>de</strong>rer,<br />

die <strong>de</strong>m ungewissen Schicksal entgegengingen, das Himmelfeuer für sie bereithielt.<br />

Viele Schritte hinter ihnen, im feuchten, dunklen Laub verborgen, blinzelten Augen, die <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n nachspähten. Ein<br />

leises Rascheln erklang, und das frem<strong>de</strong> Geschöpf befand sich in einer neuen Deckung, ein kleines Stück dichter an<br />

<strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Jurakai. Es hatte schon einmal <strong>de</strong>n Fehler begangen, sich ungeschützt in ihre Nähe zu wagen. Dieses Mal<br />

jedoch wappnete sich das Wesen sorgfältig und verbarg sowohl seine Gedanken als auch seine Anwesenheit vor <strong>de</strong>n<br />

Jurakai, während es ihnen unauffällig folgte.<br />

„Ich kann Euch nicht anklagen, Sir <strong>Arathas</strong>“ begann König Westfald, doch in seinen Augen funkelte Zorn. „Es war<br />

nicht Eure Schuld, daß Fegget, dieser Narr, sich an sein Pferd gurten ließ.“<br />

Leonart, <strong>de</strong>r neben <strong>de</strong>m Thron seines Vaters stand, wollte protestieren, doch Westfald fuhr fort: „Nichts<strong>de</strong>stotrotz habt<br />

Ihr Glück gehabt, daß Fegget noch lebt... auch wenn er selbst keine Freu<strong>de</strong> daran fin<strong>de</strong>n wird.“<br />

Dynes starrte zu Bo<strong>de</strong>n. „Herr.“<br />

„Verflucht seid Ihr, Dynes!“ fuhr Prinz Leonart ihn an und wollte sich auf ihn stürzen. Die starke Hand Westfalds<br />

umschloß Leonarts schwächlichen Arm und zerrte ihn zurück.<br />

„Verflucht seid Ihr!“<br />

Dynes blickte gleichmütig auf. „War ich es etwa, <strong>de</strong>r mich im Turnier sehen wollte? Und war ich es, <strong>de</strong>r Graf Fegget<br />

gegen mich aufstellte?“<br />

„Wegen Euch wird mein Freund nie wie<strong>de</strong>r laufen können!“ schrie <strong>de</strong>r Prinz aufgebracht, doch noch immer hielt sein<br />

Vater ihn fest. „Er wird sein rechtes Bein verlieren!“<br />

„Noch nie gab es solch einen Vorfall bei <strong>de</strong>n Spielen“ sagte Westfald. „Natürlich bleiben Verletzungen nicht aus, und<br />

auch diese Katastrophe wird nichts daran än<strong>de</strong>rn, daß das Turnier weitergeht. Ihr allerdings wer<strong>de</strong>t uns verlassen, Sir<br />

25


<strong>Arathas</strong>. Ihr tragt keine Schuld an <strong>de</strong>m Unglück, doch die Leute wer<strong>de</strong>n es so empfin<strong>de</strong>n. Für sie wer<strong>de</strong>t Ihr es sein,<br />

<strong>de</strong>r Graf Fegget vom Pferd stürzte. Ihr wer<strong>de</strong>t ohne Verzögerung aufbrechen, Dynes. Wartet nicht bis heute Abend.<br />

Nehmt, was Ihr braucht, und macht Euch auf <strong>de</strong>n Weg nach Yark. Und noch etwas...“ Westfald beugte sich vor. „Ich<br />

wer<strong>de</strong> Euch nicht <strong>de</strong>n Gefallen tun, Euch von weiteren Turnieren zu befreien. Beim Fest <strong>de</strong>r Sommerwen<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n<br />

alle Ritter gegeneinan<strong>de</strong>r antreten. Auch Ihr wer<strong>de</strong>t bei <strong>de</strong>n nächsten Spielen wie<strong>de</strong>r dabei sein, Sir <strong>Arathas</strong>.“<br />

Dynes nickte. „Ja, Herr.“<br />

Der Prinz schnaubte, riß an seinem Arm, doch <strong>de</strong>r starke Griff seines Vaters ließ ihn nicht los. „Ich wer<strong>de</strong> Euch...“<br />

schnaubte er wutentbrannt, aber Westfald fiel ihm ins Wort.<br />

„Niemand wird irgen<strong>de</strong>twas! Auch du nicht, Leonart.“ Er packte fester zu, und schmerzerfüllt drehte <strong>de</strong>r Prinz sich<br />

um, und Vater und Sohn blickten sich in die Augen.<br />

„Niemand, Leonart. Du hast mich verstan<strong>de</strong>n.“<br />

Eine Sekun<strong>de</strong> lang zögerte <strong>de</strong>r Prinz, dann erschlaffte sein Zerren, und er nickte. „Natürlich.“<br />

„Gut. Und Ihr, Dynes... macht Euch auf <strong>de</strong>n Weg. Und vergeßt nicht, zu berichten. Djenhalm ist nicht umsonst<br />

beunruhigt. Ich will wissen, warum die Bauern sich auflehnen, Dynes. Das letzte, was ich gebrauchen kann, ist ein<br />

Aufstand im Äußeren Reich. Geht jetzt.“<br />

„Ja, Herr.“ Dynes wandte sich ab, sah die zusammengeballte Faust Prinz Leonarts nicht mehr, die sich ihm hinter<br />

seinem Rücken entgegenstreckte und Vergeltung for<strong>de</strong>rte.<br />

„Ich wer<strong>de</strong> Euch töten, Dynes“ flüsterte Leonart so leise, daß selbst sein Vater die Worte nicht verstand. Dann war die<br />

Gestalt Sir <strong>Arathas</strong>` durch die Türen <strong>de</strong>s Thronsaals getreten, und endlich gab Westfald <strong>de</strong>n Arm seines Sohnes frei.<br />

Zurück in seinen Gemächern packte Dynes ein, was er mitgebracht hatte – nicht gera<strong>de</strong> viel – und nahm Abschied von<br />

<strong>de</strong>n wenigen Personen, die er bei seinem kurzen Aufenthalt kennengelernt hatte. Sturmauge fand er in seinem Stall,<br />

befreit von all <strong>de</strong>n Glitzerdingen <strong>de</strong>s Turniers und gesattelt. Er streichelte das Roß, das seinen Kummer spüren<br />

konnte, und saß auf.<br />

„Es geht nach Hause, Junge.“ <strong>Arathas</strong> straffte die Zügel, und <strong>de</strong>r Hengst trabte langsam aus <strong>de</strong>n Ställen, auf das große<br />

Burgtor zu. Er sah sich noch einmal um, blickte auf die Mitte <strong>de</strong>s Hofes, wo bereits zwei Ritter feierlich Stellung<br />

bezogen, um ihre Kraft und Geschicklichkeit zu messen. Von <strong>de</strong>n Tribünen hallte schallen<strong>de</strong>r Applaus, und Dynes<br />

verzog das Gesicht, als er unter all <strong>de</strong>m Lärm die Trompeten vernahm, die <strong>de</strong>n Beginn <strong>de</strong>s Wettkampfes einläuteten.<br />

So schnell also vergaßen die Leute, ging es ihm durch <strong>de</strong>n Kopf. Es war vielleicht zwei, drei Stun<strong>de</strong>n her, daß Fegget<br />

fast zu To<strong>de</strong> getrampelt wur<strong>de</strong>, doch die Erinnerung <strong>de</strong>r Menge war wie ein Sieb, ließ einfach alle Gedanken, die die<br />

heitere Fröhlichkeit <strong>de</strong>s Tages verdrängen konnten, hinweggleiten. Er schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. Dynes gehörte zu <strong>de</strong>n<br />

Bauernhöfen, <strong>de</strong>n Siedlungen im Äußeren Reich. Dieses Burgvolk, all diese Städter, die in Neru wohnten und die<br />

Regionen, die außerhalb <strong>de</strong>r Königsstadt lagen, nur mü<strong>de</strong> belächelten...<br />

Er verwarf die Gedanken und spornte sein Pferd an, um diesem unangenehmen Ort endlich zu entfliehen. Seit <strong>de</strong>m<br />

heutigen Tage hielt er noch mehr Schlechtes für ihn bereit, als er sich bei <strong>de</strong>r Anreise hätte erträumen lassen.<br />

Sturmauge trabte durch das gewaltige Tor <strong>de</strong>r Hochburg, und seine Hufe pochten auf Holz, als er die Zugbrücke<br />

überquerte.<br />

Noch während sie sich auf <strong>de</strong>r Brücke befan<strong>de</strong>n, vernahm Dynes ein zweites Klopfen hinter sich, das Geräusch eines<br />

ihm folgen<strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>s. Leonart! war Dynes erster Gedanke, doch ein rascher Blick bewies die Falschheit seiner<br />

Vermutung. Es war nur <strong>de</strong>r junge Paves, <strong>de</strong>r ihm auf einem weißen Schimmel nachsetzte. Dynes zügelte Sturmauge<br />

und wartete, bis <strong>de</strong>r Knabe ihn eingeholt hatte.<br />

„Haltet ein!“ rief Paves schon von Weitem, und erleichtert sah er, wie Sir <strong>Arathas</strong> Sturmauge wandte.<br />

„Wartet auf mich, bitte.“<br />

Dynes hob fragend die Brauen. „Bist du beauftragt, mich zurückzuholen? Wenn das <strong>de</strong>r Fall sein sollte, dann reite<br />

wie<strong>de</strong>r hinein und berichte, daß ich schon über alle Berge war.“<br />

Der Junge schüttelte schnell <strong>de</strong>n Kopf. „Nein, Herr. Es ist ein an<strong>de</strong>res Anliegen.“<br />

„Dann sprich“ knurrte Dynes. „Ich will nicht länger hier verweilen als unbedingt notwendig.“<br />

„Ich... ich bitte Euch, mich mit Euch zu nehmen, Herr.“<br />

Dynes musterte <strong>de</strong>n Burschen, <strong>de</strong>ssen rotschöpfiger Schä<strong>de</strong>l einen mitlei<strong>de</strong>rwecken<strong>de</strong>n Ausdruck zur Schau trug.<br />

Anscheinend meinte er es ernst.<br />

Der Junge wur<strong>de</strong> rot. „Ich kann hier nicht bleiben, Herr... ich habe keinen Platz mehr, an <strong>de</strong>n ich gehöre.“<br />

„Du gehörst in die Burg, Junge. Reite heim. Und bring' das Pferd zurück. Ich verwette all meine Län<strong>de</strong>reien, daß es<br />

nicht <strong>de</strong>in eigner Gaul ist!“<br />

Betrübt verneinte Paves. „Ich kann nicht zurück, Herr. Ich war Euer Knappe beim Turnier. Ich bin in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r<br />

Leute ebenso Schuld an Graf Feggets Unfall wie Ihr! Wenn ich bleibe, wer<strong>de</strong>n die an<strong>de</strong>ren Knappen mich...“<br />

Dynes kniff die Augen zusammen, sah <strong>de</strong>n Knaben aus schmalen Schlitzen an. „Sie wer<strong>de</strong>n was?“<br />

„Ich wer<strong>de</strong> sein wie ein schwarzes Schaf in einer Her<strong>de</strong> Weißer...“ Traurig wie ein junges Hündlein sah Paves in<br />

Dynes Augen. Doch zu seiner Enttäuschung ent<strong>de</strong>ckte er kein Mitleid in ihnen. „Ich bitte Euch nur, mich mit Euch zu<br />

nehmen.“<br />

Dynes schien die Frage zu über<strong>de</strong>nken, kam dann zu einem Entschluß.<br />

26


„Ich kann dich nicht mitnehmen, Junge. Ich habe keinen Platz für dich. Es tut mir leid, aber du wirst dir selbst etwas<br />

suchen müssen, wo du bleiben kannst. Ich weiß, diese Welt ist nicht immer gerecht, aber dafür trage ich keine<br />

Verantwortung.“ Er zog Sturmauges Zügel, und das Pferd bäumte sich wiehernd auf. „Und bring' <strong>de</strong>n gestohlenen<br />

Gaul zurück!“<br />

Sturmauges Hufe knallten auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, und zuerst trabend, dann im rasch schneller wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Galopp, entfernte<br />

sich Dynes.<br />

Alleine blieb Paves auf <strong>de</strong>r Zugbrücke stehen, fröstelnd im kalten Wind.<br />

Die erste Nacht <strong>de</strong>r Reise senkte sich über Indigo und Nachtfalke herab, während sie versuchten, im Dunkeln einen<br />

Weg zu fin<strong>de</strong>n. Das Gestrüpp schlug <strong>de</strong>n Jurakai ins Gesicht, und bald schon hatten die bei<strong>de</strong>n blutige Striemen und<br />

Kratzer an Stirn und Hän<strong>de</strong>n. Kein Stern ließ sich am pechschwarzen Firmament blicken, nur die durchdringen<strong>de</strong><br />

Kälte <strong>de</strong>s Abends war zu spüren. Indigo verkniff sich jeglichen Kommentar und erkämpfte tapfer einen Weg durch<br />

das Unterholz. Obwohl er genau wußte, daß sie irgendwo falsch abgebogen sein mußten, wollte er doch keine Worte<br />

<strong>de</strong>s Unbehagens aussprechen, da er selbst <strong>de</strong>n Weg auch nicht gekannt hätte. Seit Jahren hatte er <strong>de</strong>n Weilerwald in<br />

<strong>de</strong>r Umgebung Eldraja’aros durchstreift, doch in <strong>de</strong>r Nacht gewannen die Bäume einen zweiten Schatten, die Büsche<br />

wur<strong>de</strong>n dichter und das Gras höher. Verzweifelt versuchte sich <strong>de</strong>r Jurakai an <strong>de</strong>n Wald zu erinnern, <strong>de</strong>n er von<br />

Jugend an kannte und liebte. Aber die Hänge und Lichtungen schienen seltsam unvertraut, muteten feindselig an und<br />

fremd. Wenn es einen einfacheren Weg durch <strong>de</strong>n Wald geben sollte - und <strong>de</strong>n gab es mit Sicherheit, Indigo war ihn<br />

schon tausen<strong>de</strong> von Malen abgelaufen - dann verschwand er <strong>de</strong>s Nachts, hinterließ nur wil<strong>de</strong>s Gestrüpp und<br />

peitschen<strong>de</strong> Äste. Kein <strong>Mond</strong> war zwischen <strong>de</strong>n Blättern <strong>de</strong>r Baumgiganten zu sehen, kein Licht fiel durch die Decke<br />

aus dunklem Grün.<br />

Angst legte sich über Indigos Gedanken, eine unwirkliche und ungreifbare Angst, wie sie in Alpträumen herrscht, aus<br />

<strong>de</strong>nen man nicht erwachen kann. Unsanft streiften die knorrigen Äste das Gesicht <strong>de</strong>s Jurakai, die leblosen Schatten<br />

riefen Erinnerungen an die Schrecken seiner Kindheit wach. Ihm fiel eine <strong>de</strong>r Geschichten wie<strong>de</strong>r ein, die seine<br />

Mutter ihm einst erzählte, als er noch kleiner war: Alten Erzählungen zufolge hauste tief im Weilerwald ein Wesen,<br />

das sich selbst Munpart nannte. Munpart war eine fellbe<strong>de</strong>ckte Kreatur, katzenartig und raubtierhaft, mit tief in <strong>de</strong>n<br />

Höhlen sitzen<strong>de</strong>n, glimmen<strong>de</strong>n Augen. Nachts zog sie umher, um Beute zu fin<strong>de</strong>n, die sie erst quälen und dann<br />

langsam töten wür<strong>de</strong>. Munpart beherrschte die Sprache <strong>de</strong>r Alten, die Sprache Rubens, mit <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>r Bewohner <strong>de</strong>s<br />

Lan<strong>de</strong>s aufwuchs. Doch das haarige Wesen hatte die Worte von <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn erlernt, die ihm in die Falle gegangen<br />

waren, und es sprach nur die wenigen Sätze und Silben, die die Kleinen in ihrer Furcht geschrien hatten. So bestand<br />

Munparts gesamter zischen<strong>de</strong>r Wortschatz aus Hilferufen und Angstschreien, doch aus <strong>de</strong>r Ferne, wenn die Kreatur<br />

sie beim Jagen murmelte, klangen sie vertraut und bittend. Viele Kin<strong>de</strong>r waren Munpart schon in die Fänge gelaufen,<br />

in<strong>de</strong>m sie seltsamen Stimmen gefolgt waren, die sie tief aus <strong>de</strong>m Wald vernahmen. Dann, wenn man sich nah genug<br />

heran begab, um das Murmeln aus <strong>de</strong>r Nähe zu hören, konnte man endlich erkennen, was die Worte be<strong>de</strong>uteten. Die<br />

leisen Hilfeschreie, die mitlei<strong>de</strong>rweckend durch die finstre Nacht hallten, lockten die Opfer nur noch tiefer in das<br />

Dickicht, führten sie direkt in Munparts Klauen. Vor <strong>de</strong>m grauen Weg, hatte seine Mutter Indigo immer gewarnt,<br />

solle er sich in Acht nehmen. Die Äste dort wür<strong>de</strong>n versuchen, nach einem zu greifen, und ein unstetes Flüstern<br />

wür<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r eisigen Luft liegen. Und dann, wenn die son<strong>de</strong>rbaren Hilfeschreie plötzlich verstummten, wür<strong>de</strong>n zwei<br />

helle Flammen die Nacht erhellen, die Augen <strong>de</strong>s Monsters, und das vernarbte, fellige Gesicht Munparts wür<strong>de</strong> einen<br />

durch die Zweige anblicken...<br />

Indigo schau<strong>de</strong>rte. Er fragte sich, warum seine Erinnerung ausgerechnet diesen Zeitpunkt wählte, um längst<br />

vergessene Märchen wie<strong>de</strong>r heraufzubeschwören. Doch zu seiner Erleichterung lichteten sich die dichten Büsche vor<br />

ihm, und glücklich stolperte er hinter Nachtfalke drein, <strong>de</strong>r eine Lichtung gefun<strong>de</strong>n hatte. Der Alte blieb stehen, um<br />

in <strong>de</strong>r Luft zu schnuppern, dann nickte er unmerklich.<br />

„Wir bleiben hier“, stellte er fest und begann, Äste und trockene Blätter zu sammeln. „Hilf mir bitte, Indigo. Ich<br />

möchte ein Feuer entfachen, um uns zu wärmen. Zu<strong>de</strong>m hält es die Geschöpfe <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s davon ab, uns<br />

näherzukommen. Die meisten von ihnen fürchten das Feuer.“<br />

Indigo zuckte zusammen. Die meisten von ihnen fürchten das Feuer, wie<strong>de</strong>rholten seine Gedanken. Die meisten von<br />

ihnen...<br />

Er atmete durch und schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. Auf diese Weise wür<strong>de</strong> er Nachtfalke bestimmt keine Hilfe sein. Er musste<br />

sich zusammenreißen.<br />

Gemeinsam sammelten sie einigermaßen trockenes Holz und schichteten es in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>r Lichtung zu einem<br />

Haufen auf. Mit ein wenig Sägemehl und Spänen ließen die feuchten Äste sich entzün<strong>de</strong>n, und es wur<strong>de</strong> rasch<br />

wärmer. Indigo setzte sich vor die Flammen, rieb sich die Hän<strong>de</strong> und genehmigte sich ein o<strong>de</strong>r zwei Züge aus einem<br />

Weinschlauch. Wie lang die Strecke war, die sie heute zurückgelegt hatten, konnte er beim besten Willen nicht sagen.<br />

Bei Dämmerung war ihm <strong>de</strong>r Wald bereits seltsam fremd und eigen vorgekommen, und bei Einbruch <strong>de</strong>r Nacht hatte<br />

er die Orientierung vollends verloren. Nachtfalke hatte nicht viel gesagt, und so hatte <strong>de</strong>r junge Jurakai sich<br />

schweigend eine Schneise durch das Unterholz geschlagen, in <strong>de</strong>r Hoffnung auf baldige Rast.<br />

27


Jetzt konnte er vielleicht ein Gespräch mit <strong>de</strong>m alten Waldläufer anfangen, und so setzte er sich neben seinen Freund<br />

und bot ihm <strong>de</strong>n Weinschlauch an. Nachtfalke winkte ab und rutschte näher ans Feuer.<br />

„In <strong>de</strong>n ersten Nächten möchte ich gern wachsam bleiben, Indigo. Wer weiß, ob uns jemand o<strong>de</strong>r etwas gefolgt ist...<br />

ich will meine Sinne beisammenhalten, wenn du das verstehen kannst. Doch ich wäre dir dankbar, wenn du mir <strong>de</strong>n<br />

Wassersack reichen wür<strong>de</strong>st.“<br />

Wie gebeten reichte Indigo seinem Lehrmeister <strong>de</strong>n Sack, <strong>de</strong>n sie in <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schlafes mit Wasser gefüllt hatten.<br />

In wenigen Tagen wür<strong>de</strong>n die eingepackten Vorräte aufgebraucht sein, und sie wür<strong>de</strong>n nach Flüssen o<strong>de</strong>r Seen<br />

Ausschau halten müssen, um ihren Durst zu stillen.<br />

„Falke, ich möchte dich etwas fragen.“ Die Flammen erhellten Indigos Gesicht und ließen sein kurzes, schwarzes<br />

Haar rötlich erscheinen.<br />

„Um was geht es?“ fragte Nachtfalke, <strong>de</strong>r genau wußte, worum <strong>de</strong>r Jurakai ihn bitten wollte.<br />

„Ich wür<strong>de</strong> mich sehr über eine Geschichte freuen. Es muß auch keine beson<strong>de</strong>rs lange sein“ beeilte er sich<br />

hinzuzufügen. Sein fragen<strong>de</strong>s Gesicht zauberte ein Lächeln auf die herben Züge Nachtfalkes.<br />

Der ältere Jurakai senkte <strong>de</strong>n Kopf. „Was für eine Geschichte hast du dir vorgestellt, Indigo? Etwas über Weißklaue<br />

und seinen schlechten Bru<strong>de</strong>r Grauseele? Du weißt, daß ich diese Erzählungen sehr gern mag. Sie tragen viel<br />

Weisheit in sich.“<br />

„Nein, eigentlich nicht“ meinte Indigo sacht, da er seinen Freund nicht bedrängen wollte. „Ich wür<strong>de</strong> lieber etwas<br />

hören über irgen<strong>de</strong>ine Schlacht von früher, in <strong>de</strong>r du zugegen warst. O<strong>de</strong>r vielleicht etwas ähnliches.“<br />

Nachtfalke rührte mit einem langen Stock in <strong>de</strong>r Glut, und Funken stoben vom Feuer auf. „Ja, das dachte ich mir. Am<br />

liebsten magst du die Geschichten, in <strong>de</strong>nen Blut fließt und die Leute sterben wie die Fliegen. Doch diese Erzählungen<br />

rühmen nieman<strong>de</strong>n, Indigo.“<br />

„Du versäumst nie, mich darauf hinzuweisen, Falke“, lachte <strong>de</strong>r Jurakai leise. „Und trotz<strong>de</strong>m wäre ich erfreut über<br />

eine Geschichte <strong>de</strong>s Krieges und <strong>de</strong>s Kampfes.“<br />

„Nun gut, wenn das <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>in Wille ist. Ich hoffe nur, du wirst irgendwann verstehen, daß nichts Gutes in <strong>de</strong>n Krieg<br />

hineingeht, und nichts Gutes aus ihm kommt. Bis dahin wirst du mich wohl mit <strong>de</strong>inen Fragen über meine<br />

Vergangenheit quälen, schätze ich.“<br />

Insgeheim lachend machte Indigo es sich in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Feuerplatzes bequem, gera<strong>de</strong> soweit abseits, daß ihn die<br />

Flammen einerseits wärmten, an<strong>de</strong>rerseits aber sein Gesicht nicht vor Hitze glühte. Als er eine bequeme Position<br />

gefun<strong>de</strong>n hatte, gähnte er herzhaft und bat <strong>de</strong>n alten Jurakai, doch endlich anzufangen.<br />

„Nun, habe ich dir schon von <strong>de</strong>r Schlacht an <strong>de</strong>r Hochburg erzählt? Von <strong>de</strong>r Königsschlacht?“ erkundigte sich Falke<br />

und brachte seinen alten Körper in eine angenehme Lage. Die Stille Indigos <strong>de</strong>utete er als Verneigung und überlegte,<br />

wo er am besten anfangen könnte.<br />

„Es war vor vielen hun<strong>de</strong>rt Sommern, und meine Erinnerung ist auch nicht mehr die beste. Es war eine Zeit, als es<br />

noch keinen Königlichen Hof gab, noch kein Inneres Reich und noch kein verzwicktes Werk aus Regeln und<br />

Verhaltensweisen, <strong>de</strong>nen man am Hofe Folge zu leisten hat. Damals hatte <strong>de</strong>r König <strong>de</strong>r Manur einen Krieg mit <strong>de</strong>n<br />

Jurakai angefangen, <strong>de</strong>nn er war von <strong>de</strong>m Gedanken besessen, daß wir die ergiebigeren Fel<strong>de</strong>r und schöneren Wei<strong>de</strong>n<br />

besaßen. Das Volk scherte sich nicht weiter um diese Behauptung, da die Manur uns in keiner Weise gefährlich<br />

wer<strong>de</strong>n konnten - das dachten wir zumin<strong>de</strong>st. Ihre Bauernhöfe be<strong>de</strong>ckten zwar bereits die Hochlän<strong>de</strong>r und die<br />

Ausläufer <strong>de</strong>r nördlichen Gebirge sowie <strong>de</strong>n gesamten Westen, doch die Jurakai machten sich weiter nichts aus dieser<br />

Tatsache. Selbst ich, und ich muß gestehen, daß dies eine Dummheit ohne Gleichen war, schenkte <strong>de</strong>n aufstreben<strong>de</strong>n<br />

Manur keine Beachtung.“ In die Erinnerung versunken blickte Nachtfalke in das lo<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Feuer. Es war beruhigend,<br />

<strong>de</strong>n Flammen zuzusehen... eine solche Macht steckte in ihnen, sie konnten sich von fast allem ernähren, was auf<br />

ihrem Weg lag. Und doch konnte man diese Macht bändigen, zügeln, für sich verwen<strong>de</strong>n. Auf <strong>de</strong>r einen Seite war das<br />

Feuer gefährlich, auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite aber so anmutig und wun<strong>de</strong>rschön anzusehen. Man konnte es entwe<strong>de</strong>r lieben<br />

o<strong>de</strong>r hassen, doch es kam im Grun<strong>de</strong> genommen auf das Gleiche heraus...<br />

„Falke“, gähnte Indigo mü<strong>de</strong> „bist du eingeschlafen?“ Er sah sich nach seinem Freund um, <strong>de</strong>r stumm in das Feuer<br />

blickte und dann <strong>de</strong>n Kopf schüttelte, als wolle er die Hitze vertreiben.<br />

„Nein... nein. Ich war nur in Gedanken versunken. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, <strong>de</strong>r Fehler <strong>de</strong>r Jurakai. Wir<br />

schenkten <strong>de</strong>n Manur also keine Beachtung. Obwohl die mor<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Scharen <strong>de</strong>s Menschenkönigs weiter in unser<br />

Land vordrangen, als wir eigentlich hinnehmen konnten, erfolgte kein Gegenschlag von unserer Seite. Nur unsere...<br />

Verwandten wehrten sich mit großem Wi<strong>de</strong>rstand. Wir—„<br />

„Die Shat’lan, Falke?“ unterbrach Indigo aufgeregt. „Unsere Verwandten?“<br />

„Ja“, bestätigte <strong>de</strong>r Alte wi<strong>de</strong>rstrebend. „Entfernte Verwandte. Selbst ich weiß nicht viel über dieses Volk, trotz<br />

meiner zahlreichen Reisen. Seit vielen, vielen Sommern nun bin ich schon keinem von ihnen mehr begegnet. In <strong>de</strong>n<br />

Sagen und Legen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Manur sind sie bloß noch Schatten, und es heißt, sie wären ausgerottet wor<strong>de</strong>n. Wie die<br />

Drachen vertrieben, obwohl man noch eher einen Drachen antrifft als einen <strong>de</strong>r Shat’lan. Sie sind eine seltsame<br />

Rasse. Früher, lange vor meiner Zeit, nannten sich unsere Völker einmal „Brü<strong>de</strong>r“. Irgendwie gingen die Linien<br />

jedoch auseinan<strong>de</strong>r, und das Band <strong>de</strong>r Einigkeit riß. Seit<strong>de</strong>m ist nicht mehr viel über diese Wesen bekannt, die uns<br />

doch sehr ähneln. Aber ich kann nicht glauben, daß sie tatsächlich ausgerottet sein sollen. Auch wenn ich <strong>de</strong>n letzten<br />

28


Shat’lan vor mehr als... sechzig Sommern gesehen habe, noch vor <strong>de</strong>iner Geburt, Indigo. Ihre Rasse ist sehr<br />

unterschiedlich von <strong>de</strong>r unseren, Indigo. Wie gesagt, führten sie keinen Frie<strong>de</strong>n im Schil<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>n Manur. Wo die<br />

Jurakai freiwillig zurücktraten, kämpften die Shat’lan erbittert um ihre Gebiete. Und ich bewun<strong>de</strong>re ihre Stärke, muß<br />

ich zugeben. Sie haben niemals nachgegeben. Als die Manur in unsere Län<strong>de</strong>r einfielen, verloren wir viele unseres<br />

Volkes, da wir nicht vorbereitet waren. Den Shat’lan jedoch erging es nicht so. Sie waren kampfbereit und hielten ihre<br />

Stellung gegen die menschlichen Eindringlinge.“<br />

„Aber was war mit dieser Schlacht am Königlichen Hof, von <strong>de</strong>r du erzählen wolltest, Falke? Die Geschichte <strong>de</strong>r<br />

Manur ist mir bekannt: Du selbst hast sie mir oft erzählt, als ich noch ein Kind war.“<br />

„Du bist noch immer ein Kind, Indigo. Auch wenn du sehr schnell erwachsen wirst.“<br />

Die Worte ließen ein angenehmes Gefühl <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> im jungen Jurakai keimen. „Ja“, antwortete er, „aber was war mit<br />

<strong>de</strong>m Hof?“<br />

„Nun, dann überspringe ich eben <strong>de</strong>n Teil <strong>de</strong>r menschlichen Eroberungszüge, wenn du willst. Obwohl sie ein<br />

interessantes Detail sind... ich wer<strong>de</strong> dir die Geschichte später einmal ausführlicher erzählen. Um auf <strong>de</strong>n Hof zu<br />

sprechen zu kommen... dieser Ort inmitten <strong>de</strong>s Inneren Reiches war <strong>de</strong>r letzte, <strong>de</strong>r noch von <strong>de</strong>n Jurakai gehalten<br />

wur<strong>de</strong>. Die Hochburg wur<strong>de</strong> nicht von <strong>de</strong>n Menschen errichtet. Sie ist eine Festung, die schon vor langer, langer Zeit<br />

erbaut wur<strong>de</strong> durch die Hand <strong>de</strong>r Jurakai. Zur besagten Zeit lebten dort viele Generationen <strong>de</strong>s Volkes beieinan<strong>de</strong>r,<br />

und die Stadt wur<strong>de</strong> verteidigt von <strong>de</strong>n besten Kriegern unserer Rasse. Da wir zu spät erkannten, was ein Teil <strong>de</strong>r<br />

Manur geplant hatte, war <strong>de</strong>r Hof umzingelt von Menschen, und nur diese kleine Gar<strong>de</strong> aus Jurakai war, genau in<br />

ihrer Mitte, übrig geblieben, um zu verteidigen, was noch zu verteidigen war. Ich war einer <strong>de</strong>r Eingeschlossenen -<br />

und mit mir die größten und stärksten Krieger unseres Volkes. Auch <strong>de</strong>in Vater befand sich in <strong>de</strong>r Burg, mußt du<br />

wissen. Ich traf ihn dort zum ersten Mal. Er war noch ein Welpe, feucht hinter <strong>de</strong>n Ohren und erpicht auf <strong>de</strong>n Kampf.<br />

Nach<strong>de</strong>m die ersten Wogen <strong>de</strong>r Menschen gegen die Außenmauern bran<strong>de</strong>ten, merkte er schnell, wie<br />

verabscheuenswert <strong>de</strong>r Krieg tatsächlich war. In <strong>de</strong>r Nacht, in <strong>de</strong>r seine eigenen Eltern, <strong>de</strong>ine Großeltern, Indigo, in<br />

<strong>de</strong>r Schlacht getötet wur<strong>de</strong>n, schwor er sich, nie wie<strong>de</strong>r eine Waffe zu berühren, falls er <strong>de</strong>n Kampf überleben sollte.<br />

Bis heute hat er seinen Schwur gehalten.“<br />

„Wie habt ihr <strong>de</strong>n Krieg überstan<strong>de</strong>n, Falke? Und was hast du während <strong>de</strong>r Belagerung getan?“<br />

„Ich? Ich verabscheue <strong>de</strong>n Kampf zwar, aber ich weiß doch, wie notwendig er manchmal auch sein kann. Ich kämpfte<br />

mit <strong>de</strong>n Manur, und glaube mir, ich übte Vergeltung für je<strong>de</strong>n meiner gefallenen Freun<strong>de</strong> und Verwandten. Als <strong>de</strong>in<br />

Vater und ich ausrückten - wir waren ein gefürchtetes Paar - stoben die Reihen <strong>de</strong>r Manur auseinan<strong>de</strong>r wie ein<br />

gespaltener Holzkeil. Mit ihrer kurzen Lebensspanne waren - und sind - die Menschen uns natürlich weit unterlegen,<br />

was das Geschick im Kampfe angeht. Ich trug nur geringe Verletzungen davon, und <strong>de</strong>in Vater blieb vollkommen<br />

unversehrt. Mit je<strong>de</strong>m weiteren Tag wur<strong>de</strong>n die Manur unentschlossener, die Angriffe weniger koordiniert. Plötzlich<br />

brachen die Attacken ganz ab, und die Krieger <strong>de</strong>r Menschen zogen sich zurück. Für die wenigen, die noch in <strong>de</strong>r<br />

Hochburg ausharrten, war das ein Moment <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s Glücks. Ein Gesandter ritt vor die zerstörten Tore <strong>de</strong>s<br />

Hofs und wartete auf einen Mittelsmann aus unseren Reihen. Drei Tage ließen wir ihn vor <strong>de</strong>n Toren warten, mitten<br />

im Gestank <strong>de</strong>r Exkremente und <strong>de</strong>r Leichen, die auf <strong>de</strong>m Schlachtfeld lagen. Zum Teil aus Wut, zum Teil aus Furcht<br />

wollten wir <strong>de</strong>n Manur keinen rechten Glauben schenken, was diplomatische Beziehungen anbelangte. Dann, am<br />

vierten Tag, wur<strong>de</strong> eine kleine Delegation vorgeschickt, die in Erfahrung bringen sollte, was die Ruhe zu be<strong>de</strong>uten<br />

hatte. Uns wur<strong>de</strong> mitgeteilt, daß <strong>de</strong>r König <strong>de</strong>r Manur, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Angriff überhaupt erst vorangetrieben hatte,<br />

hinterrücks getötet wur<strong>de</strong>. Die äußersten Regionen <strong>de</strong>s Belagerungsgürtels waren von <strong>de</strong>n Shat’lan angegriffen und<br />

bis auf <strong>de</strong>n letzten Mann zerrieben wor<strong>de</strong>n. Auch <strong>de</strong>r König war diesem heimtückischen Angriff zum Opfer gefallen,<br />

und nun war ein neuer Mann auf <strong>de</strong>n Thron gestiegen. In langen Verhandlungstagen unterbreiteten wir <strong>de</strong>n Manur<br />

einen Plan zum Frie<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>r neue König stimmte bereitwillig ein. Er hatte genug damit zu tun, sich und seine<br />

Mannen vor <strong>de</strong>n nächtlichen Attacken <strong>de</strong>r Shat’lan zu behaupten, und wollte auf keinen Fall einen Zwei-Fronten<br />

Krieg ausfechten. So kam <strong>de</strong>r Waffenstillstand zwischen <strong>de</strong>m Volk und <strong>de</strong>n Manur zustan<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r nun schon seit über<br />

sechshun<strong>de</strong>rt Jahren währt. Wir überließen <strong>de</strong>n Manur freiwillig die Hochburg, unsere letzte Stätte im Westen, und<br />

zogen uns in die östlichen Weiten Rubens zurück. Seit<strong>de</strong>m herrschen die Hochkönige <strong>de</strong>r Menschen von <strong>de</strong>r<br />

Hochburg aus.“<br />

Indigo hatte fasziniert gelauscht, und nun regten sich weitere Gedanken in ihm. „Wie verlief die Schlacht zwischen<br />

Manur und Shat’lan weiter, Falke? Und warum halfen wir unseren Brü<strong>de</strong>rn nicht?“<br />

„Zum einen lebten unsere Völker zu <strong>de</strong>r Zeit schon lang voneinan<strong>de</strong>r getrennt, und die wenigen zarten Verbindungen<br />

zwischen Jurakai und Shat’lan en<strong>de</strong>ten abrupt, als wir <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>nsvertrag mit <strong>de</strong>n Menschen eingingen. Die<br />

Geschichte <strong>de</strong>r Shat’lan jedoch ist sehr viel länger und nicht für diesen Abend bestimmt, junger Freund. Schlaf jetzt,<br />

<strong>de</strong>nn morgen wer<strong>de</strong>n wir eine noch viel weitere Strecke zurücklegen. Es ist ein langer Weg, <strong>de</strong>r vor uns liegt, und wir<br />

wer<strong>de</strong>n nicht viele so ruhige Aben<strong>de</strong> wie diesen hier verbringen können.“<br />

„Du hast mir noch nicht erklärt, wie unsere Reise überhaupt verlaufen wird, Falke. Ich <strong>de</strong>nke, ich habe ein Recht<br />

darauf, es zu erfahren.“ Indigo richtete sich an seinem Lagerplatz auf und sah seinem Freund in die Augen.<br />

Nachtfalke nickte.<br />

29


„Das hast du. Unser Weg wird uns zuallererst in die Täler führen, was dich wahrscheinlich überrascht. Aber ich kann<br />

dir auch sagen, warum wir diesen Umweg einschlagen: Unsere Reise ist eine wichtige Angelegenheit, die ich mit <strong>de</strong>n<br />

Ältesten besprechen muß. Vor allem <strong>de</strong>inen Vater muß ich um Zustimmung bitten, dich mit zum Hofe zu nehmen.<br />

Und auch das Orakel muß davon erfahren. Die Zukunft ist zwar schleierhaft, aber je<strong>de</strong>s winzige Detail kann das<br />

Gesamtbild ein wenig schärfen.“<br />

„Ich dachte mir bereits, daß wir zuerst das Volk besuchen. Es ist mir auch sehr Recht. Ich möchte mich gern von<br />

meinen Eltern und allen an<strong>de</strong>ren verabschie<strong>de</strong>n, bevor wir einen so weiten Weg auf uns nehmen.“<br />

„Das ist sehr vernünftig. Danach wer<strong>de</strong>n wir versuchen, entwe<strong>de</strong>r durch das Hochland o<strong>de</strong>r durch die Sümpfe ins<br />

Innere Reich zu gelangen. Von dort aus habe ich vor, einen weiteren Umweg zu machen, <strong>de</strong>n Schlohenwald zu<br />

umrun<strong>de</strong>n und von Osten her zur Hochburg <strong>de</strong>s Königs zu gelangen.“<br />

Indigos Wissensdurst war gestillt, seine Augen waren bereits zugefallen und schenkten <strong>de</strong>m jungen Jurakai eine<br />

wohltuen<strong>de</strong> Ruhe, die er nach <strong>de</strong>m anstrengen<strong>de</strong>n Tag bitter nötig hatte. Nachtfalke rieb seine Beine, rollte ein wenig<br />

näher ans Feuer und murmelte ein un<strong>de</strong>utliches „Schlaf schön.“ Indigo hörte es bereits nicht mehr.<br />

Ein Schatten, <strong>de</strong>r am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s lauerte, schloß ebenfalls seine Augen und bereitete sich auf die Nachtruhe<br />

vor, wenn er auch darin geübt war, ohne viel Schlaf auszukommen. Der schwarze Körper glitt an einen Ast und wur<strong>de</strong><br />

eins mit <strong>de</strong>n Farben <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s.<br />

Als <strong>de</strong>r Morgen anbrach, war Indigo bereits auf <strong>de</strong>n Beinen und sammelte Früchte und an<strong>de</strong>re nahrhafte Dinge für das<br />

Frühstück. Von Nachtfalkes Lehren wußte er, welche Beeren er lieber hängen lassen sollte, und welche Wurzeln, zu<br />

einem dickflüssigen Brei zerstampft, Kraft gaben und dazu auch noch gut schmeckten. Erfreut stieß er ein paar<br />

Wachol<strong>de</strong>rzweige auseinan<strong>de</strong>r, um an die Pilze, die dahinter auf <strong>de</strong>m moosigen Grund gediehen, zu gelangen. Es<br />

waren Laublattern, unverkennbar mit ihren dicken, gesprenkelten Kappen und <strong>de</strong>m stämmigen Fuß. Die bei<strong>de</strong>n<br />

Jurakai hatten Glück, <strong>de</strong>nn es waren mehr als genug Pilze für zwei, wenn nicht sogar drei Mahlzeiten. Indigo steckte<br />

die Gewächse freudig in eine kleines Täschchen und watete tiefer durch die Farne und Disteln.<br />

Ganz nah vor sich ent<strong>de</strong>ckte er einen Bach, <strong>de</strong>r plätschernd durch eine dreckige, verwaschene Rinne in <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> floß,<br />

und er beschloß, <strong>de</strong>m Verlauf <strong>de</strong>s Flußbettes zu folgen, um auf diese Weise leichter durch das Dickicht zu gelangen.<br />

Die Farne zu bei<strong>de</strong>n Seiten hüllten ihn ein, und die frühe, kühle Sonne warf vereinzelte Lichtflecken auf das dichte<br />

Blätterwerk. Genauso hatte er sich <strong>de</strong>n Beginn einer abenteuerlichen Reise vorgestellt: Ein gemütliches Fleckchen, an<br />

<strong>de</strong>m man rasten konnte, und ganz in <strong>de</strong>r Nähe fließen<strong>de</strong>s Wasser und Unmengen von Pilzen und Beeren, um sich <strong>de</strong>n<br />

Magen vollzuschlagen. Der Sturm <strong>de</strong>s letzten Tages war vollkommen abgeklungen, und ein leichtes Lüftchen wehte,<br />

so es sich in <strong>de</strong>n Ästelungen <strong>de</strong>s tiefen Wal<strong>de</strong>s verirrte, durch Indigos Haar und machte sich ein Spiel daraus, es zu<br />

zerzausen. Der Jurakai sog genüßlich die frische Morgenluft ein und machte es sich auf einem bemoosten Platz<br />

bequem, <strong>de</strong>r so gelegen war, daß die Sonne schon zu dieser frühen Stun<strong>de</strong> darauf schien. Er rekelte sich in <strong>de</strong>n ersten<br />

Strahlen <strong>de</strong>s Tages und fühlte die Wärme, die vom Auge Himmelfeuers ausging. Ein Schauern <strong>de</strong>r Behaglichkeit<br />

durchlief ihn, und seine Gedanken schweiften ab von <strong>de</strong>n Beeren <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>n Früchten <strong>de</strong>r Natur, glitten<br />

hinüber zu <strong>de</strong>n Shat’lan, von <strong>de</strong>nen er nur so wenig wußte.<br />

Die Shat’lan...<br />

Vielleicht hatten sie einst in diesem Wald ihr Lager aufgeschlagen, hatten ihre Pfer<strong>de</strong> an genau <strong>de</strong>m Fluß getränkt, an<br />

<strong>de</strong>ssen Bett Indigo heute seinen Weg gesucht hatte. Möglicherweise war genau an dieser Stelle, an <strong>de</strong>r er, Indigo<br />

Jael’vre, jetzt lag, ein Mann o<strong>de</strong>r eine Frau dieser dunklen Rasse gelegen, hatte die Sonne genossen und geträumt. Wo<br />

mochten die Schwarzen Seelen, wie die Menschen sie nannten, wohl heute sein? Hatten die Manur sie tatsächlich<br />

ausgerottet, wie es in ihren Legen<strong>de</strong>n und Geschichten hieß? O<strong>de</strong>r hielten sich noch immer ein paar Gruppen dieser<br />

alten, gefürchteten Rasse irgendwo in Ruben auf? Versteckt in tiefen Höhlen o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Bergketten im Sü<strong>de</strong>n, auf<br />

Rache an ihren Erzfein<strong>de</strong>n sinnend... Falke hatte schon <strong>de</strong>s öfteren von einem unerwarteten Zusammentreffen mit <strong>de</strong>n<br />

Shat’lan erzählt... nun, wenigstens mit ein paar von ihnen. Es waren wahrscheinlich, wie <strong>de</strong>r alte Jurakai vermutete,<br />

Einzelgänger, die versuchten, die Geheimnisse ihres Lan<strong>de</strong>s vor <strong>de</strong>njenigen zu schützen, die es zerstören und<br />

einnehmen wollten. Die letzten Berichte über Sichtungen <strong>de</strong>r Shat’lan reichten viele Jahre zurück, und das letzte Mal,<br />

daß eine ganze Gruppe von ihnen gesehen wur<strong>de</strong>, war vermutlich zu <strong>de</strong>r Zeit gewesen, als die Schwarzen Seelen noch<br />

eine erbitterte Schlacht gegen die Manur austrugen. Der Ausgang dieses Kampfes war von vornherein klargewesen:<br />

Mit <strong>de</strong>n wenigen ihres Volkes konnten sich die Shat’lan nicht auf lange Zeit gegen die Menschen behaupten, und so<br />

zerfielen ihre Städte und Siedlungen allmählich zu Staub und Erinnerungen, während sie weiter und weiter<br />

zurückgetrieben wur<strong>de</strong>n. Die Spuren <strong>de</strong>r letzten Shat’lan-Stadt mußten längst verwaschen und verweht sein...<br />

Ja, wahrscheinlich gab es nicht einmal mehr die Orte, an <strong>de</strong>nen die Shat’lan einst gelebt hatten. Vielleicht war schon<br />

längst <strong>de</strong>r Wald zurückgekehrt, hatte die alten Bauten überwuchert und das Reich zurückerobert, das ihm durch die<br />

Hand <strong>de</strong>r Schwarzen Seelen entrissen wor<strong>de</strong>n war...<br />

Indigos Gedanken wur<strong>de</strong>n mit je<strong>de</strong>m Herzschlag schwerer, und in <strong>de</strong>r warmen, lauen Morgensonne legte er sich nach<br />

hinten und versank in <strong>de</strong>n aufgewärmten Moosen. Sein Atem ging ruhiger und tiefer, und bald war er auf <strong>de</strong>r kleinen<br />

Lichtung eingeschlummert.<br />

Bil<strong>de</strong>r begannen ihn zu umschwirren...<br />

30


... seltsame Bil<strong>de</strong>r...<br />

... er stand auf einer Lichtung inmitten eines bewal<strong>de</strong>ten Tales. Steinbauten, die rings um ihn in die Höhe schossen,<br />

umgaben ihn. Die Sonne stand hoch am Himmel, und die Hitze preßte allen Tatendrang aus <strong>de</strong>n Drüsen <strong>de</strong>s Jurakai.<br />

Die spiegeln<strong>de</strong>n Gebäu<strong>de</strong> erstrahlten in gol<strong>de</strong>nem Glanz, und von überall her erklangen Hörner und Rufe. Voller<br />

Interesse sah er sich um... vermummte Gestalten liefen an ihm vorüber, schienen ihn gar nicht zu bemerken. Warum<br />

trugen sie wohl so dicke Kleidung in dieser erdrücken<strong>de</strong>n Hitze? fragte sich Indigo und suchte nach Schatten, <strong>de</strong>r ihn<br />

vor <strong>de</strong>r Hitze bewahren könnte. Schreie ertönten in seiner Nähe. Die Gestalten, die sich zwischen <strong>de</strong>n Türmen und<br />

Bauten bewegten, rannten allesamt, wie er erst jetzt begriff. Die meisten von ihnen waren bewaffnet, schwer<br />

bewaffnet. Wo war er nur? Ein plötzlicher Aufprall in seiner Nähe ließ ihn aufschrecken. Ein Körper war neben ihm<br />

im Gras gelan<strong>de</strong>t, blutend. Es war ein Mann, ein sehr großer Mann. Er ähnelte einem Jurakai, aber seine Züge<br />

wirkten so... an<strong>de</strong>rs. Irgendwie schärfer und... härter. Kantiger.<br />

Das Wesen, das blutend am Bo<strong>de</strong>n lag, schien ihn zu bemerken... es wandte <strong>de</strong>n Blick in seine Richtung, und mit<br />

Schrecken sah Indigo, daß seine Augen völllig Schwarz waren. Der Mann murmelte in einer Sprache, die Indigo nicht<br />

verstehen konnte, obwohl sie seltsam vertraut anmutete. Sein Blick hatte einen flehentlichen Ausdruck, aber eine<br />

verbissene Stärke überschattete dieses Gefühl <strong>de</strong>r Schwäche rasch. Die Gestalt spuckte Blut, krallte ihre Finger im<br />

Gras fest, riß ein paar Büschel Klee aus <strong>de</strong>m Untergrund und rollte zur Seite. Übelkeit regte sich in Indigo, und er<br />

wandte sich ab. Doch nach wenigen Sekun<strong>de</strong>n mußte er <strong>de</strong>r Neugier<strong>de</strong> nachgeben, und wie<strong>de</strong>r sah er zum<br />

hilfebedürftigen Wesen auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n. Es war inzwischen näher an ihn herangerobbt, und sein wil<strong>de</strong>r Blick fixierte<br />

Indigo auf merkwürdige Weise. Blasen bil<strong>de</strong>ten sich auf <strong>de</strong>n Lippen <strong>de</strong>s Verbluten<strong>de</strong>n, und er schien etwas sagen zu<br />

wollen, doch Indigo konnte ihn nicht verstehen. Entsetzt wandte er sich ab, trat zurück...<br />

...die Bil<strong>de</strong>r vor seinem Auge verschwammen, flossen auseinan<strong>de</strong>r, bil<strong>de</strong>ten dann wie<strong>de</strong>r eine neue Szenerie...<br />

Erneut stand er auf <strong>de</strong>m Pfeiler, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Himmel ragte. Noch höher schien er dieses Mal zu sein, <strong>de</strong>r Abgrund noch<br />

gähnen<strong>de</strong>r als zuvor. Eine unnatürliche Schwärze be<strong>de</strong>ckte die Welt, die sich Indigos Augen offenbarte. Das Leben<br />

war dieser Er<strong>de</strong> entwichen, stellte er mit Entsetzen fest. Das Land, das sich weit unter seinen Füßen erstreckte war<br />

kahl und leer, eine verwüstete Ö<strong>de</strong>. Kein Leben hauste mehr auf <strong>de</strong>m Steinbrocken, nicht einmal die win<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Würmer waren zu sehen. Am Ran<strong>de</strong> dieser wahnsinnigen Welt stieg hinter Nebelschwa<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r <strong>Mond</strong> auf - aber viel<br />

zu schnell, mit einer Geschwindigkeit, die <strong>de</strong>n jungen Jurakai erschreckte. Wie<strong>de</strong>r besaß <strong>de</strong>r Himmelskörper diese<br />

son<strong>de</strong>rbare Farbe – blutrot - und warf, während er über <strong>de</strong>r Welt aufstieg, einen unbarmherzigen, scharlachfarbenen<br />

Schatten über das Land. Ein Grollen erklang aus <strong>de</strong>m Himmel, und Indigo starrte nach oben.<br />

Hüte dich. Hüte dich vor <strong>de</strong>m dunklen Blut<br />

Indigos Augen füllten sich mit Tränen <strong>de</strong>r Angst und <strong>de</strong>s Unverständnisses, doch als er zitternd nach hinten taumelte,<br />

verän<strong>de</strong>rten sich die Bil<strong>de</strong>r erneut...<br />

...und flossen in Gestalt einer schönen jungen Frau wie<strong>de</strong>r zusammen.<br />

Ihre Haare, schwarz wie <strong>de</strong>r Nachthimmel, wogten in einem Sturm, <strong>de</strong>r Indigo mitzureißen drohte. Dunkle Augen<br />

blickten ihn an, und das riesige Gesicht, das vor ihm schwebte, flüsterte ihm über schwarze Lippen eine lautlose<br />

Botschaft zu. Son<strong>de</strong>rbare Mächte beschworen eine weitere Woge <strong>de</strong>r Win<strong>de</strong> herauf, die <strong>de</strong>n Jurakai herumwirbelte<br />

und im Kreis drehte. Das Antlitz <strong>de</strong>r Frau drehte sich mit ihm, bis ihm schwindlig wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>m Anblick, und er die<br />

Augen schließen wollte.<br />

„Asan“ flüsterten die Lippen und öffneten und schlossen sich wie in einem Trauergesang.<br />

„Komm zu uns, Asan.“<br />

Indigo konnte seinen Blick nicht abwen<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>m wun<strong>de</strong>rschönen Gesicht, das vor ihm auf und ab schwebte, und<br />

so leicht <strong>de</strong>n Böen zu trotzen schien. Die Augen <strong>de</strong>r Frau blickten ihn mit einer Sehnsucht an, die Indigo das Herz<br />

zerriß, und er warf sich auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n und begann zu schluchzen vor Bedauern.<br />

„Asan“ wisperte das Wesen erneut, und mit einem lei<strong>de</strong>nschaftlichen Flackern verwehte das Bild in <strong>de</strong>n Win<strong>de</strong>n, die<br />

Indigo durchschüttelten. Bittend streckte er <strong>de</strong>r Gestalt einen Arm entgegen, wollte sie bei sich behalten, nicht gehen<br />

lassen. Er wußte, daß es noch zu früh war, um Abschied zu nehmen. Weinend rannte er <strong>de</strong>r Erscheinung nach, doch<br />

<strong>de</strong>r Sturm drängte ihn wie<strong>de</strong>r zurück, und die Erscheinung entschwandt seinen Blicken. Heulend lag <strong>de</strong>r Jurakai auf<br />

<strong>de</strong>m beben<strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r kalt und ungastlich war.<br />

„Nein!“ schrie er verzweifelt. „Geh nicht!“<br />

Doch <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n zu seinen Füßen tat sich auf und verschluckte ihn. Er fiel und fiel, wie lang und wie weit, konnte er<br />

nicht sagen. Irgendwann prallte sein Körper auf brauner, weicher Er<strong>de</strong> auf, spritzte Schlamm beiseite und ließ kleine<br />

Geschöpfe erschreckt davonspringen.<br />

Noch immer schluchzend fuhr er mit seiner Hand über die Augen, um die Tränen fortzuwischen, und setzte sich im<br />

schlammigen Untergrund auf. Sein Brustkorb bebte, und seine Sicht war getrübt, als er versuchte, sich in seiner neuen<br />

Umgebung zurechtzufin<strong>de</strong>n.<br />

Er befand sich wie<strong>de</strong>r in einem Wald... um ihn herum wuchsen Bäume von erstaunlicher Größe, und <strong>de</strong>r Sumpf<br />

beherbergte tausen<strong>de</strong> kleine Geschöpfe, die in <strong>de</strong>r fahlen Dämmerung sprangen und flogen und schwammen. Etwas<br />

war jedoch merkwürdig an diesem Platz... er mutete merkwürdig vertraut an, <strong>de</strong>m Jurakai war fast so, als ob er schon<br />

einmal hier gewesen wäre, vor langer, langer Zeit. Er stand auf und wan<strong>de</strong>rte in diesem ersticken<strong>de</strong>m Loch umher,<br />

31


suchte nach etwas, das ihm Hilfe bieten o<strong>de</strong>r Geborgenheit schenken wür<strong>de</strong>. Sein Blick fiel auf eine Ruine, und mit<br />

einem Schlag wur<strong>de</strong> ihm bewußt, wo er sich befand... hier war <strong>de</strong>r Platz, an <strong>de</strong>m er gera<strong>de</strong> eben noch die verhüllten<br />

Gestalten dabei beobachtet hatte, wie sie geschäftig umherliefen und zu <strong>de</strong>n Bauten strömten, die auf <strong>de</strong>r<br />

sonnenbeschienenen Lichtung stan<strong>de</strong>n. Doch Indigos Augen offenbarten ihm eine weit grausigere Realität: Die<br />

Wiesen waren vergangen, die Türme nur noch zerfallene Trümmer, und die hohen, mächtigen Bauten nur ein leiser<br />

Hohn, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m dreckigen Untergrund verteilt lag. Hektisch entfernte sich <strong>de</strong>r Jurakai schnellen Schrittes<br />

rückwärts von dieser Stätte <strong>de</strong>s Alters, als er über einen Ast o<strong>de</strong>r etwas <strong>de</strong>rartiges stolperte und <strong>de</strong>r Länge nach<br />

hinschlug. Das Ding, das ihm im Weg gelegen hatte, stellte sich als etwas langes, großes heraus... es war <strong>de</strong>r Mann,<br />

<strong>de</strong>r noch vorhin blutend neben ihn gefallen war! Sein Fleisch war bis fast auf die Knochen verrottet, und unter <strong>de</strong>r<br />

Kapuze ragte ein weißer Schä<strong>de</strong>l hervor. Entsetzt robbte <strong>de</strong>r Jurakai nach hinten, um diesem Ort <strong>de</strong>s Grauens zu<br />

entkommen.<br />

„Indigo“, erklang eine eisige Stimme aus <strong>de</strong>n Tiefen <strong>de</strong>s Totenschä<strong>de</strong>ls, und <strong>de</strong>r tote Körper wur<strong>de</strong> von einem<br />

Schau<strong>de</strong>rn durchzuckt. Von Panik erfüllt schrie Indigo auf. Er wollte rennen, rennen, bis ihm die Luft ausblieb, bis<br />

seine Beine ihn nicht mehr trugen und bis er einen sicheren Ort erreicht hatte. Weg, nur weg von dieser stinken<strong>de</strong>n<br />

Kloake, dieser verfallenen, schlechten Stätte! Er wollte einfach nur laufen, laufen bis er vor Erschöpfung umfiel, doch<br />

seine Füße waren wie festgenagelt, bewegten sich nicht, waren...<br />

„Indigo!“<br />

Mit einem Ruck erwachte <strong>de</strong>r junge Reisen<strong>de</strong> und kam zur Besinnung. Noch immer voller Furcht sah er sich nach<br />

allen Seiten um, doch sein Blick traf glücklicherweise nur seinen alten Freund Nachtfalke, <strong>de</strong>r sich auf Indigos Knie<br />

stützte und ihn an <strong>de</strong>n Schultern rüttelte.<br />

„Komm wie<strong>de</strong>r zu dir, junger Freund!“ mahnte die Stimme <strong>de</strong>s Alten. „Du hattest einen bösen Traum, <strong>de</strong>nke ich.<br />

Doch es ist nun vorbei. Die schlimmen Gedanken sind fort.“<br />

Indigo schüttelte sich, um das Gefühl <strong>de</strong>s Unwirklichen aus seinem Geist zu verbannen, wo es wie ein Mar<strong>de</strong>r<br />

ausharrte, <strong>de</strong>r sich festgebissen hatte. Nach und nach schaffte er es, die Nachwirkungen dieses... dieses Traumes aus<br />

seinen Gedanken zu vertreiben. Eine Stimme, die tief in ihm ruhte, flüsterte ihm zu, daß es kein Traum gewesen<br />

war... das es etwas weitaus wichtigeres, realeres gewesen war... das Antlitz <strong>de</strong>r Frau kam ihm sekun<strong>de</strong>nlang wie<strong>de</strong>r in<br />

<strong>de</strong>n Sinn, gespenstisch, wun<strong>de</strong>rschön... Indigo schüttelte sich erneut und sah seinem Freund fest in die Augen.<br />

„Du hast Recht, es ist vorbei. Ich danke dir, daß du mich hier aufgesucht hast, Falke.“<br />

„Der Hunger trieb mich hierher, du Narr. Da du schon eine ganze Weile fort warst, und mir bereits <strong>de</strong>r Magen knurrte<br />

nach all <strong>de</strong>r Zeit, brach ich auf, um nach <strong>de</strong>m Rechten zu sehen.“ Sein lächeln<strong>de</strong>s Gesicht spitzte die Lippen. „Nun,<br />

wenigstens hast du genügend Nahrung zusammengetragen, bevor du dich hier auf die faule Haut gelegt hast. Das ist<br />

sehr lobenswert von dir.“ Er nahm die Tasche auf, in <strong>de</strong>r die Pilze und Beeren geduldig auf ihren Verzehr warteten<br />

und sprang auf die gegenüberliegen<strong>de</strong> Seite <strong>de</strong>s kleinen Baches. „Komm, laß uns schnell zurückkehren. Die Glut ist<br />

noch nicht erloschen, und wenn wir Glück haben, können wir warme Laublattern genießen!“<br />

Das ließ sich <strong>de</strong>r junge Jurakai nicht zweimal sagen, und mit flinken Sprüngen eilte er Nachtfalke hinterher, <strong>de</strong>r<br />

bereits am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Bächleins entlangmarschierte.<br />

Als die bei<strong>de</strong>n ihren Lagerplatz erreichten, waren alle Gedanken an ein warmes Pilzfrühstück jedoch sofort verflogen.<br />

Auf einen Blick erkannte Nachtfalke, daß sich jemand zu schaffen gemacht hatte an ihrem Hab und Gut, und<br />

<strong>de</strong>mentsprechend vorsichtig trat er auf die Lichtung. Indigo, <strong>de</strong>r die Verwüstung erst ein wenig später bemerkte,<br />

drängte <strong>de</strong>n Alten hinaus auf die flachen Gräser. Als auch er die durchwühlten Taschen sah, verfluchte er sich selbst<br />

dafür, eingeschlafen zu sein und half seinem Freund dabei, <strong>de</strong>n Inhalt <strong>de</strong>r Beutel wie<strong>de</strong>r zu sortieren.<br />

„Oh verdammt, Falke! Das ist allein meine Schuld. Hätte mich die Müdigkeit nicht übermannt, wärst du mir nicht<br />

nachgelaufen!“ Indigo verzog das Gesicht in Gram. „Na, wenigstens ist jetzt klar, daß wir einen heimlichen<br />

Beobachter haben, <strong>de</strong>nke ich, was, Falke?“<br />

„Das kam auch mir zuerst in <strong>de</strong>n Sinn, Indigo... aber sieh hierher: Spuren von Speichel und Abdrücke von Zähnen.<br />

Und hier, im Gras, sind ebenfalls die Spuren eines Eindringlings zu erkennen. Aber ich <strong>de</strong>nke, daß wir uns um diesen<br />

Verfolger keine allzu großen Sorgen zu machen brauchen, mein Freund. Er ist ganz bestimmt nicht daran interessiert,<br />

uns auszuspionieren o<strong>de</strong>r gar absichtlich zu scha<strong>de</strong>n. Es sind die Abdrücke eines Hirschgebisses, und auch die Spuren<br />

<strong>de</strong>r Pfoten zeugen von seiner Anwesenheit. Wie es aussieht, wur<strong>de</strong> er von <strong>de</strong>n Gerüchen <strong>de</strong>r Kräuter angelockt, die ich<br />

in meiner Tasche aufbewahre.“ Der alte Jurakai seufzte erleichtert. „Es hätte schlimmer kommen können, glaube mir.<br />

Wir sollten froh sein, daß nur dieser Bewohner <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s Interesse an uns zeigt, Indigo. Aber trotz alle<strong>de</strong>m möchte<br />

ich nicht auf mein Frühstück verzichten.“ Das grinsen<strong>de</strong> Gesicht Nachtfalkes ließ eine starke Zuneigung zu <strong>de</strong>m alten<br />

Jurakai in Indigo aufkeimen, und er beför<strong>de</strong>rte stolz die Pilze ans Tageslicht, die im Schein <strong>de</strong>r hellen Sonne sogar<br />

noch weitaus prachtvoller glänzten als im Schatten <strong>de</strong>r Bäume. Schon bald waren die Laublattern über <strong>de</strong>m Feuer<br />

geröstet, und ein wohlriechen<strong>de</strong>r Duft stieg über die Wipfel <strong>de</strong>r Waldriesen. Als die bei<strong>de</strong>n Bäuche gefüllt und die<br />

Wasserschläuche geleert waren, begab sich Indigo noch ein letztes Mal zu <strong>de</strong>m kleinen Bach, schleuste kühles, klares<br />

Wasser in die Schläuche und verpackte die Fracht sorgsam im angebissenen Rucksack. Nach dieser Tat schlug<br />

Nachtfalke vor, die überfüllten Mägen mit einem schnellen Gang wie<strong>de</strong>r in Schwung zu bringen, und Indigo stimmte<br />

brummend zu.<br />

32


II<br />

Der Wind dreht<br />

Am ersten Tage öffnete Jarondai ein Auge, und es wur<strong>de</strong> Licht.<br />

Am zweiten Tage brach <strong>de</strong>r Drachen eine Schuppe von seinem Körper und formte die Welt.<br />

Am dritten Tage ließ Himmelfeuer Tränen auf das Land fallen, und die Meere entstan<strong>de</strong>n.<br />

Am vierten Tage hauchte Jarondai Wärme in die endlosen Weiten, und die Saat <strong>de</strong>s Lebens erblühte.<br />

Am fünften Tage zeugte Himmelfeuer Nachkommen, auf daß sie für dahin die Län<strong>de</strong>r Rubens bevölkerten.<br />

Die Schöpfungsgeschichte<br />

Aus „Religion <strong>de</strong>r Jurakai“ von Asan An‘chassar<br />

Die Wärme <strong>de</strong>s Zeltes verflüchtigte sich rasch, als die Plane zurückgeworfen wur<strong>de</strong> und ein leichtes, jedoch kühles<br />

Lüftchen ins Innere wehte.<br />

Talamà sah auf, erwartete vielleicht Mandas, <strong>de</strong>r kam, um sich zu entschuldigen, o<strong>de</strong>r möglicherweise die Valae. Mit<br />

Jensai, <strong>de</strong>m Jäger, <strong>de</strong>n sie begleitet hatte, hätte sie nicht gerechnet. Der Jurakai, <strong>de</strong>r min<strong>de</strong>stens zweimal so alt wie sie<br />

selbst sein mußte, lugte ins Zelt hinein und lächelte, als er sie sah.<br />

„Darf ich eintreten?“ fragte er grinsend. Talamà, die nicht vergessen hatte, als wie feige und unfreundschaftlich sich<br />

<strong>de</strong>r Jurakai in <strong>de</strong>r Steppe erwiesen hatte, fuhr erschrocken in die Höhe.<br />

„Jensai!“ rief sie und setzte nach vorn, drängte die Gestalt <strong>de</strong>s Mannes von ihrer Behausung fort. Sie funkelte ihn an.<br />

„Wie kommst du dazu, hier einfach aufzukreuzen?“<br />

Jensai lächelte noch immer, obwohl Talamàs Gesichtsausdruck ganz bestimmt keinen Anlaß zu solch einer Regung<br />

geben sollte.<br />

„Ich war sehr beeindruckt von <strong>de</strong>inem Verhalten während <strong>de</strong>r Jagd“ antwortete er und versuchte, nicht noch weiter<br />

nach hinten gedrängt zu wer<strong>de</strong>n. „Nicht unbedingt von <strong>de</strong>inen Fähigkeiten als Jägerin“ gab er offen zu, „aber du warst<br />

sehr mutig. Dieses Erlebnis hat uns alle ganz schön mitgenommen, und ich wollte einfach vorbeischauen, um zu<br />

sehen, ob du dich davon erholt hast.“<br />

Ob sie sich davon erholt hatte? Die Jurakai verzog die Lippen. Dafür hätte er sich wohl doch besser einen früheren<br />

Augenblick aussuchen können! Jetzt, nach<strong>de</strong>m diese Geschichte schon fast drei Wochen zurücklag, hatte sie bestimmt<br />

schon jeman<strong>de</strong>n gefun<strong>de</strong>n, an <strong>de</strong>ssen Brust sie sich ausheulen konnte. Mit einem Brummen wies sie Jensai von sich.<br />

„Vielen Dank <strong>de</strong>r Nachfrage, es geht mir gut“ meinte sie lediglich und nahm die Plane in die Hand, um die Öffnung<br />

<strong>de</strong>s Zeltes wie<strong>de</strong>r zu schließen. „Und es wäre mir sehr recht, wenn du nicht dafür sorgen wür<strong>de</strong>st, daß alle Wärme aus<br />

meinem Zelt huscht. Ich kann sie dort drin wesentlich besser gebrauchen.“<br />

Jensai, <strong>de</strong>ssen Lächeln sich zu einer Maske <strong>de</strong>r Schuld verwan<strong>de</strong>lt hatte, faßte sie am Arm.<br />

„Es tut mir leid, Talamà. Bitte hör mir zu. Es tut mir leid. Was dort geschehen ist... ich konnte nicht an<strong>de</strong>rs han<strong>de</strong>ln.<br />

Es gibt Grün<strong>de</strong> dafür, wenn sich Tiere plötzlich son<strong>de</strong>rbar verhalten, und das Letzte, was man tun sollte, ist einfach<br />

vorzustürmen um nachzusehen, was genau dieser Grund ist...“<br />

„Trotz<strong>de</strong>m hast du mich nicht zurückgehalten.“<br />

„Ich war wie gelähmt! Wenn ich gekonnt hätte, dann—„<br />

„Spar dir <strong>de</strong>ine Entschuldigungen, Jensai. Ich habe dir längst vergeben. Es ist ja nichts weiter geschehen. Aber ich<br />

bitte dich, mich in Ruhe zu lassen, in Ordnung? Es gibt genug Dinge, um die ich mich kümmern muß. Und ich<br />

glaube, daß du ebenfalls zu tun hast.“<br />

„Ich... natürlich.“ Der betrübte Blick <strong>de</strong>s Jurakai berührte Talamà, und sie legte ihm eine Hand auf die Schulter.<br />

„Vielleicht wer<strong>de</strong>n wir eine Gelegenheit fin<strong>de</strong>n, uns zu unterhalten, wenn es etwas weniger hektisch zugeht in <strong>de</strong>r<br />

Wei<strong>de</strong>, mh?“<br />

Sie lächelte ihn an und hob schelmisch eine Braue. Jensai nickte, hatte es jetzt jedoch anscheinend eilig, sich von <strong>de</strong>r<br />

Jurakai zu verabschie<strong>de</strong>n. Er streichelte über ihre Hand, dann senkte er <strong>de</strong>n Kopf und war fast im selben Augenblick<br />

auf und davon. Mit einem Seufzer schloß Talamà die Plane um <strong>de</strong>n Zelteingang und warf sich auf die Matten, die ihr<br />

als Schlafplatz dienten.<br />

Was sollte sie jetzt eigentlich tun? Es gab vieles, das noch zu erledigen war, doch nichts davon war wirklich dringend.<br />

Alles, was sie tatsächlich gewollt hätte, wäre ein erbauen<strong>de</strong>s Gespräch mit <strong>de</strong>r Valae gewesen, doch die alte Frau<br />

befand sich schon seit Stun<strong>de</strong>n im Zelt <strong>de</strong>s Dorfoberhauptes Teagar und beriet über geheime Dinge. Wenn sie endlich<br />

zurückkehren wür<strong>de</strong>, dann könnte Talamà sie ausfragen und wür<strong>de</strong> erfahren, was vielen eingeweihten Jurakai in die<br />

33


esorgten Mienen geschrieben stand. Sie zweifelte nicht daran, daß die Alte ihr die Wahrheit erzählen wür<strong>de</strong>. Aber<br />

bis es soweit war, mußte sie sich die Zeit irgendwie an<strong>de</strong>rs vertreiben.<br />

Talamà setzte sich auf und begann, in <strong>de</strong>n vergilbten Schriften zu studieren, die ihr von <strong>de</strong>r Valae anvertraut wor<strong>de</strong>n<br />

waren.<br />

Mühsam stapften die Wan<strong>de</strong>rer durch das Unterholz in Nähe <strong>de</strong>s Waldran<strong>de</strong>s, und aus Indigos Klei<strong>de</strong>rn waren<br />

inzwischen zerrissene, fast unbrauchbare Lumpen gewor<strong>de</strong>n. Die vielen Sträuche und dornbewehrten Büsche hatten<br />

ihn seine Hosen gekostet, und das wie<strong>de</strong>rholte Zusammentreffen mit in Körperhöhe baumeln<strong>de</strong>n Ästen war seinem<br />

Wams nicht gut bekommen. Nun, wenigstens fügte er sich jetzt vollkommen in die Farben <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s ein, seine<br />

Haare, voll mit kleinen Ästchen, waren nur noch ein Gestrüpp, und seine Haut glänzte in grünen und braunen, an<br />

manchen Stellen blutroten Tönen.<br />

Nachtfalke hingegen besaß noch immer die ehrwürdige Eleganz, mit <strong>de</strong>r er die Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schlafes verlassen hatte.<br />

Seine Klei<strong>de</strong>r waren, bis auf ein paar kleine Löcher hier und da, noch in Ordnung, und sein Äußeres erschien trotz<br />

<strong>de</strong>n Marschen durch die Hölzer nicht weniger ungepflegt als vor drei Wochen, an ihrem ersten Tag in <strong>de</strong>r Wildnis.<br />

Indigo bewun<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>n alten Jurakai, <strong>de</strong>ssen Selbstbewußtsein so stark strahlte, daß sich <strong>de</strong>r jüngere Wan<strong>de</strong>rer<br />

unbesorgt in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Alten zusammenrollte, wissend, daß ihm in <strong>de</strong>n Nächten, in <strong>de</strong>nen Nachtfalke über ihn<br />

wachte, nichts geschehen konnte. Unter lautem Stöhnen und Ächzen bahnte sich Indigo einen Weg durch das<br />

Dickicht, das ihm <strong>de</strong>n Weg versperrte. Leise hörte er die Klänge eines Lie<strong>de</strong>s an seine Ohren dringen, und als er<br />

versuchte, sich weniger lautstark seine Schneise zu schlagen, konnte er sogar verstehen, was Nachtfalke summte. Es<br />

war eine Balla<strong>de</strong> über <strong>de</strong>n Weilerwald, und zwar eine, <strong>de</strong>ren Klang Indigo noch nie gehört hatte. Doch die Melodie<br />

war eingängig, und er bemühte sich, <strong>de</strong>r wohlklingen<strong>de</strong>n Stimme <strong>de</strong>s Alten zu lauschen.<br />

...im Kreis lief es, das arme Kind<br />

im Weilerwald, vor langer Zeit<br />

Der Knabe schritt durch Sumpf und Moor<br />

und durch die eis’ge Nacht<br />

frem<strong>de</strong> Laute in seinem Ohr<br />

und niemand hielt nun Wacht<br />

<strong>de</strong>n Eltern er entfliehen wollt<br />

die Einsamkeit er sucht’<br />

<strong>de</strong>n Warnungen keinen Glauben gezollt<br />

die Alten er verflucht<br />

so ging er <strong>de</strong>nn, nach vorn, nach hint’<br />

verirrt in Sünd’ und Leid<br />

im Kreis lief es, das arme Kind<br />

im Weilerwald, vor langer Zeit<br />

ein Räuber kam, wollt ihm was tun<br />

zeigte ihm sein Messer scharf<br />

<strong>de</strong>r Knabe jedoch, wollt’ nur noch ruhn<br />

und legte sich zum Schlaf<br />

ein Mitleid keimte in <strong>de</strong>m Mann<br />

in Panik er geriet<br />

er wußt’ nicht, was er tun kann<br />

so nahm er <strong>de</strong>n Knaben mit<br />

so ging er <strong>de</strong>nn, nach vorn, nach hint’<br />

verirrt in Sünd und Leid<br />

auf seinem Arm das kleine Kind<br />

im Weilerwald, vor langer Zeit...<br />

Nachtfalke räusperte sich und blickte Indigo an, <strong>de</strong>r verträumt <strong>de</strong>n Rhythmus <strong>de</strong>r Melodie mitsummte.<br />

„Es ist ein Lied <strong>de</strong>r Manur“, stellte <strong>de</strong>r Alte fest, während er ein Zweiglein mit <strong>de</strong>r Hand beiseite schob. „Ich habe es<br />

von einem Freund in Ebenwal<strong>de</strong>n gelernt, vor vielen Jahren. Es han<strong>de</strong>lt von einem Jungen, <strong>de</strong>r reißaus nimmt von zu<br />

Hause, um in die Wäl<strong>de</strong>r zu fliehen. Letzten En<strong>de</strong>s kommt er aber wie<strong>de</strong>r zurück zu seinen Eltern... es ist ein Lied für<br />

34


Kin<strong>de</strong>r, das ihnen aufzeigen soll, daß es sich nicht lohnt, fortzulaufen. Der Klang <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s gefiel mir, und<br />

unterwegs summe ich es oft. Es ist einfach und direkt - nicht wie die meisten unserer eigenen Lie<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>ren Verse<br />

allein schon ein Buch füllen könnten.“<br />

Interessiert ging Indigo ein wenig langsamer, um mit Nachtfalke auf eine Höhe zu gelangen. Er überlegte, wie er seine<br />

Frage am besten formulieren könnte.<br />

„Hast du viel Kontakt mit Manur, Falke? Bist du vertraut mit ihnen? Ich meine, kennst du sie wirklich gut?“<br />

„Viele Jurakai kennen die Manur, Indigo. Vor allem diejenigen von uns, die am Hofe <strong>de</strong>s Königs leben, um unser<br />

Volk dort zu repräsentieren. Es gibt Manur, <strong>de</strong>ren Einstellungen sich nicht so sehr von <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Jurakai<br />

unterschei<strong>de</strong>n... manche von ihnen nenne ich sogar meine Freun<strong>de</strong>, wenn auch nicht viele.“<br />

„Bitte erzähl mir mehr von ihnen, Falke“ for<strong>de</strong>rte Indigo aufgeregt. „Ich bin ihnen noch nicht oft begegnet, und meine<br />

Erfahrungen mit ihnen sind sehr beschränkt.“ Indigo zögerte einen Augenblick. „Vielleicht wäre es eine Hilfe, wenn<br />

ich mehr über sie erfahren wür<strong>de</strong>.“<br />

„Gewiß wäre es das, mein Freund. Aber erwarte nicht zuviel von mir. Meine Interessen liegen auf an<strong>de</strong>ren Gebieten,<br />

und die Manur habe ich, wenigstens die meiste Zeit über, nur sehr oberflächlich behan<strong>de</strong>lt. Es gibt einige unter ihnen,<br />

<strong>de</strong>ren Wissen groß und ist und die <strong>de</strong>n Jurakai schon oft geholfen haben. Im Austausch haben auch wir ihnen<br />

geholfen, aber das sind Geschichten, die entwe<strong>de</strong>r sehr lang zurückliegen o<strong>de</strong>r gegenwärtig nicht relevant für dich<br />

sind, Indigo. Wir wer<strong>de</strong>n noch genug zu tun bekommen mit <strong>de</strong>n Manur, wenn unsere Reise wie geplant verläuft.<br />

Nicht zuletzt am Hofe wirst du prägen<strong>de</strong> Erfahrungen sammeln können mit ihnen.“<br />

Indigo bog einige Zweige auseinan<strong>de</strong>r, die ihn vom En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Weilerwalds trennten. Von hier an ging <strong>de</strong>r mächtige<br />

Wald in eine Steppe über, die, mit vereinzelten Baumgruppen übersät, immer weiter talabwärts führte. Von hier oben<br />

konnte man bereits weit in die Täler blicken, auf die Seen und die Fel<strong>de</strong>r dahinter. Irgendwo im Nor<strong>de</strong>n erstreckte<br />

sich das Ra’an-Gebirge, und weit entfernt im Westen lag das Hochland.<br />

Die Jurakai traten zwischen <strong>de</strong>n letzten Waldriesen hinaus auf die freie Fläche, und Nachtfalke legte seine Hand über<br />

die Augen und spähte in die Täler.<br />

„Wir sind ein wenig vom Weg abgekommen, <strong>de</strong>nke ich“, sagte er und öffnete seinen Rucksack. Er för<strong>de</strong>rte einen<br />

Kompaß zu Tage und betrachtete ihn für eine kleine Weile. „Wenn wir uns nach Sü<strong>de</strong>n wen<strong>de</strong>n und uns unseren Weg<br />

am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s suchen, wer<strong>de</strong>n wir in ein bis zwei Tagen am Lager ankommen. Dann beginnt <strong>de</strong>r ernste Teil<br />

unserer Reise“, fügte er bedrückt hinzu.<br />

Das Wirtshaus zeichnete sich in einer schwarzen Silhouette vor <strong>de</strong>m rötlichen Abendhimmel ab.<br />

Dynes, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n ganzen Tag geritten war, freute sich über <strong>de</strong>n Anblick <strong>de</strong>r Raststätte. Das braune Haus wirkte fröhlich<br />

und nahm <strong>de</strong>m Ritter die Verbissenheit, die sich auf seine Züge gelegt hatte. Er betrachtete <strong>de</strong>n Rasthof, <strong>de</strong>r am Ran<strong>de</strong><br />

eines kleinen Wäldchens errichtet wor<strong>de</strong>n war, nahe an <strong>de</strong>n hohen Tannen.<br />

„Was hältst du davon, hier zu übernachten, Junge?“ fragte Dynes seinen Hengst und fuhr <strong>de</strong>m Tier liebevoll über <strong>de</strong>n<br />

Rücken. „Ich will dich nicht noch mehr belasten.“<br />

Sturmauge blieb ruhig stehen, scharrte mit <strong>de</strong>n Hufen im Staub <strong>de</strong>r Straße. Dynes sprang von seinem Rücken und<br />

führte ihn an <strong>de</strong>n Zügeln vor <strong>de</strong>n Eingang <strong>de</strong>s Wirtshauses, wo er ihn an einen Pflock band. Er nickte seinem Roß zu,<br />

dann öffnete er die Tür <strong>de</strong>s Hofes und trat ein.<br />

Sofort schlugen ihm Qualm und verschie<strong>de</strong>ne Gerüche entgegen, und Dynes brauchte einen Moment, bis er sich an<br />

die stickige Luft gewöhnt hatte. Seine Augen tränten vom beißen<strong>de</strong>n Gestank, <strong>de</strong>r hier herrschte und vorwiegend von<br />

zwiebelhaltigen Speisen herrührte, und <strong>de</strong>r Ritter hatte alle Mühe, sich ein Lächeln zu verkneifen. Er vergeu<strong>de</strong>te keine<br />

Zeit damit, die versammelten Gäste zu mustern, son<strong>de</strong>rn hielt sofort auf <strong>de</strong>n Tresen zu, hinter <strong>de</strong>m ein rundlicher,<br />

schwitzen<strong>de</strong>r Mann Krüge polierte.<br />

„Guten Abend“ begrüßte ihn <strong>de</strong>r Wirt freundlich. Dynes zuckte die Achseln.<br />

„Nicht unbedingt“ antwortete er und empfing einen skeptischen Blick für diese Bemerkung. „Habt Ihr noch ein Bett<br />

frei?“<br />

Der Wirt starrte ihn unverwandt an. „Nicht unbedingt“ sagte er seinerseits.<br />

Dynes grinste. Der Mann war nach seinem Geschmack.<br />

„In Ordnung“ sagte er und setzte sich an die Bar. „Unter diesen Umstän<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>t Ihr mir vielleicht einen Krug<br />

Eures besten Bieres zapfen? Ich könnte durchaus etwas vertragen.“<br />

Jetzt war es am Wirt, zu grinsen. Mit einem Lächeln auf <strong>de</strong>m Gesicht tat er, wie geheißen, und brachte <strong>de</strong>m Ritter<br />

einen meisterlich gezapften Humpen. Dankbar nahm <strong>Arathas</strong> ihn entgegen und leerte ihn mit <strong>de</strong>m ersten Zug bis zur<br />

Hälfte. Den Schaum auf <strong>de</strong>n Lippen mit <strong>de</strong>m Ärmel beiseite wischend, gewann er endlich ein wenig Ruhe zurück und<br />

atmete tief durch.<br />

„Was führt Euch hierher?“ fragte <strong>de</strong>r Wirt, nach<strong>de</strong>m im ersten Krug nur noch ein paar glänzen<strong>de</strong> Tropfen auf <strong>de</strong>m<br />

Bo<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r einstigen Fülle <strong>de</strong>s Behältnisses zeugten.<br />

„Später“ meinte Dynes. „Laßt mich erst mal verschnaufen. Habt Ihr auch etwas Stärkeres?“<br />

Der fettleibige Mann hob die Brauen. „Was erwartet Ihr?“ fragte er und <strong>de</strong>utete auf mehrere Karaffen, die über seiner<br />

Schenke auf <strong>de</strong>n durstigen Besucher lauerten. Dynes faßte <strong>de</strong>n Entschluß, sich mit einer von ihnen anzufreun<strong>de</strong>n.<br />

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„Mein Rum ist <strong>de</strong>r beste, <strong>de</strong>n Ihr im gesamten Inneren Reich bekommen könnt. Obgleich ich sehe, daß Ihr nicht von<br />

hier kommt“ sagte <strong>de</strong>r Wirt redselig.<br />

<strong>Arathas</strong> sah ihm in die Augen.<br />

„Ihr habt Recht. Und jetzt wür<strong>de</strong> ich gern vom besten Rum <strong>de</strong>s Inneren Reichs kosten“ sagte er, ohne weiter auf die<br />

Bemerkung <strong>de</strong>s Dicken einzugehen. Während <strong>de</strong>r Wirt seinen Ranzen streckte, um an die Karaffen zu gelangen,<br />

formulierte <strong>de</strong>r Reisen<strong>de</strong> seine Frage nach Beherbergung im Kopfe neu.<br />

„Wieviel verlangt Ihr für ein Zimmer?“<br />

Grinsend schenkte <strong>de</strong>r Wirt ihm ein Gläschen Rum ein. „Vier Taler, mein Freund. Wie lange wollt Ihr bleiben?“<br />

„Nicht sehr lang. Morgen früh wer<strong>de</strong> ich aufbrechen. Besitzt Ihr einen Stall für mein Pferd?“<br />

„Ohne Frage. Der wür<strong>de</strong> weitere zwei Taler kosten.“<br />

Dynes zog ein paar Münzen aus <strong>de</strong>r Tasche und ließ sie über <strong>de</strong>n Tresen rollen. Ohne hinzuschauen ließ <strong>de</strong>r Wirt sie<br />

in seiner Hand verschwin<strong>de</strong>n.<br />

„Wollt Ihr mir nicht erzählen, woher Ihr kommt?“ fragte er und betrachtete das Geld, das zwischen seinen feuchten<br />

Fingern weilte. Es waren zwei Goldstücke. Damit hatte <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong> nicht nur das Zimmer und <strong>de</strong>n Stall bezahlt,<br />

son<strong>de</strong>rn auch noch eine große Menge Alkohol. Mit einer respektvollen Bewegung füllte <strong>de</strong>r Dicke Dynes‘ Glas auf<br />

und stellte die Karaffe anschließend vor ihm ab.<br />

„Nicht, wenn es sich vermei<strong>de</strong>n läßt.“<br />

„Oh, ich käme niemals dazu, mich in frem<strong>de</strong>r Leute Angelegenheiten einzumischen.“<br />

„Gut.“ Dynes blickte auf die Karaffe. „Kann ich sie mit auf mein Zimmer nehmen?“<br />

Der Wirt schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Tut mir leid. Wenn ich erlauben wür<strong>de</strong>, daß alle meine Gäste <strong>de</strong>rart hochprozentiges<br />

Zeug mit auf ihre Räume nähmen, wür<strong>de</strong> es nicht lange dauern, bis mein Gut in Flammen steht.“<br />

Da die Antwort plausibel klang und es <strong>de</strong>m Ritter sowieso gleichgültig war, wo er trank, wenn er dabei nur für sich<br />

allein sein konnte, schenkte er <strong>de</strong>m Wirt ein Nicken und sich selbst ein weiteres Gläschen Rum ein. Er kippte die<br />

brennen<strong>de</strong> Flüssigkeit in seinen Rachen und ließ sich <strong>de</strong>n feurigen, leicht würzigen Geschmack auf <strong>de</strong>r Zunge<br />

zergehn.<br />

Der Junge rutschte ihm wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Sinn. Der Junge, <strong>de</strong>n er hatte am Burgtor zurücklassen müssen, schutzlos und<br />

frierend. Nun, gegen die Kälte hätte er ebenfalls nichts unternehmen können. Aber vielleicht hätte er <strong>de</strong>m Knaben<br />

Schutz bieten sollen...<br />

Immerhin hatte sich <strong>de</strong>r Bursche gut um Sturmauge gekümmert, und das war einiges Wert. Aber was sollte Dynes mit<br />

einem solchen Jungen anfangen? Der Kleine war vielleicht gera<strong>de</strong> dreizehn o<strong>de</strong>r vierzehn! Nein, so einen Welpen<br />

hätte er nur wie einen Klotz am Bein mit sich herumgetragen, und wo hätte <strong>de</strong>r Junge bleiben sollen, wenn sie in Yark<br />

ankamen?<br />

Nun, möglicherweise hätte er bei einem <strong>de</strong>r Bauernhöfe arbeiten können, hätte aushelfen können bei—<br />

Das plötzliche Auftauchen einer Gestalt an seiner Seite ließ Dynes aufschrecken. Er hatte sich ein Glas nach <strong>de</strong>m<br />

an<strong>de</strong>ren genehmigt, und sah sich jetzt mit <strong>de</strong>r Schwierigkeit konfrontiert, seinen Blick zu fixieren. Doch das, was er<br />

erkannte, sah ihm ganz nach einem E<strong>de</strong>lmann aus, einem <strong>de</strong>r verrückten Narren, die bei Hochkönig Westfald am<br />

Hofe herumlungerten und <strong>de</strong>n ganzen Tag nichts taten als trinken und schreien...<br />

„Ich grüße Euch“ sagte <strong>de</strong>r Neuankömmling vornehm und drängte sich zu Dynes an die Bar. „Darf ich erfahren, wer<br />

ihr seid?“<br />

„Darf ich erfahren, wer Ihr seid?“<br />

„Natürlich.“ Der in roten Samt gewan<strong>de</strong>te Mann nahm seinen Hut ab, und prachtvolle braune Locken wellten darunter<br />

hervor. Ein kleiner Spitzbart zierte sein Kinn, machte sein ansonsten junges Gesicht ein wenig älter. „Wie unhöflich<br />

von mir, mich nicht vorzustellen. Mein Name lautet Reeves. Ontarias Reeves. Zu Euren Diensten.“<br />

„Kann mich nicht erinnern, Eure Dienste in Anspruch genommen zu haben, Reeves.“<br />

„Vergebt mir, Herr. Natürlich wollte ich Euch nicht kränken, in<strong>de</strong>m ich Eure Gastfreundschaft zu sehr beanspruche.“<br />

Dynes musterte <strong>de</strong>n Knaben, <strong>de</strong>r zwar schon das Mannesalter erreicht hatte, doch noch immer jungenhaft wirkte.<br />

„Verschwin<strong>de</strong>t“ war alles, was er <strong>de</strong>r Gestalt an <strong>de</strong>n Kopf warf.<br />

„Wollt Ihr nicht wenigstens erfahren, warum ich Euch angesprochen habe, Herr?“<br />

„Verschwin<strong>de</strong>t.“<br />

Die Brauen <strong>de</strong>s bis jetzt so höflichen Mannes kniffen sich zusammen, und ein leichter Anflug von Zorn legte sich auf<br />

das lächeln<strong>de</strong> Antlitz Reeves‘. Nun schien er nicht mehr ganz <strong>de</strong>r edle Ehrenmann, <strong>de</strong>r er zu sein vorgab. Seine<br />

Zähne preßten sich auf seine Lippen, so stark, daß Dynes befürchtete, sie könnten zu bluten anfangen.<br />

„Ihr habt es also auf Streit angelegt? Dann will ich Euch nicht länger belästigen.“<br />

Dynes fluchte, kippte seinen Rum hinunter und drehte sich, um nach <strong>de</strong>m Frem<strong>de</strong>n zu sehen. Er sah sich in <strong>de</strong>r Run<strong>de</strong><br />

um, die an <strong>de</strong>r Bar lehnte o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Tischen hockte, fand jedoch nicht das Gesicht Reeves` unter all <strong>de</strong>n<br />

Anwesen<strong>de</strong>n. Der Bursche schien vom Erdbo<strong>de</strong>n verschluckt wor<strong>de</strong>n sein.<br />

Nun, das war <strong>Arathas</strong> Recht. Genüßlich füllte er sich noch ein Gläschen mit <strong>de</strong>m leckeren Rum, doch seine gelassene<br />

Stimmung war dahin. Dieser Bursche Reeves wür<strong>de</strong> ihm noch länger im Geiste herumspuken, <strong>de</strong>ssen war er sich<br />

sicher.<br />

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Die seltsame Gestalt machte nicht <strong>de</strong>n Anschein, als wür<strong>de</strong> sie sich mit <strong>de</strong>m zufrie<strong>de</strong>ngeben, was sie erreicht hatte...<br />

Eine weitere kalte Nacht senkte sich auf das Land, über Nachtfalke und seinen jungen Gefährten, die an <strong>de</strong>n Wurzeln<br />

einer uralten Eiche ihr Lager aufgeschlagen hatten. Ein kleines Lagerfeuer prasselte zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Gestalten,<br />

die ihre dicksten Umhänge trugen und so nah an <strong>de</strong>n Flammen saßen, daß ihr Haar Feuer zu fangen drohte. Ihre<br />

Schatten zeichneten sich gegen die letzte Röte am Horizont ab, und die Kälte kam mit einer Macht, die Indigo frösteln<br />

ließ. Wie zwei verlorene Seelen saßen sie unter <strong>de</strong>m mächtigen Baum und teilten sich eine wollene Decke, während<br />

ihre Körper so nah wie nur irgend möglich aneinan<strong>de</strong>rrutschten, um die Wärme <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren aufzufangen. Beim<br />

letzten Morgengrauen hatte Rauhreif die Gräser am Waldrand überzogen, und dieser Abend schien noch schlimmer<br />

zu wer<strong>de</strong>n. Ohne weitere Worte holte <strong>de</strong>r alte Jurakai ein gerupftes Rebhuhn aus seiner Tasche, das er am Nachmittag<br />

erlegt hatte, spießte es auf und briet es über <strong>de</strong>n Flammen. Nach einer Weile zog er das Tier aus <strong>de</strong>m Feuer, teilte es<br />

und reichte Indigo eine <strong>de</strong>r Hälften. Dankbar nahm dieser die Gabe an und verschlang sie heißhungrig. Kein munteres<br />

Lied und keine Geschichte über alte Zeiten wur<strong>de</strong> diesen Abend laut, nur das Geräusch klappern<strong>de</strong>r Zähne und das<br />

Reiben von Decken war zu hören. Endlich, nach einer Zeit, die Indigo wie eine Ewigkeit vorgekommen war, fiel er in<br />

einen unruhigen, traumlosen Schlaf. Sein Gefährte war in eine seltsame, schlafähnliche Starre verfallen und atmete<br />

gleichmäßig, während sich eine eisige Schwärze über das Land legte.<br />

Wie ein groteskes Wesen, das nur aus Decken und Stoffen zu bestehen schien, lehnten die bei<strong>de</strong>n Körper Rücken an<br />

Rücken an <strong>de</strong>m Baum. Im Gleichklang war ein leises Ein- und Ausatmen zu hören, und gelegentlich zog <strong>de</strong>r<br />

schlafen<strong>de</strong> Körper Indigos ein wenig mehr Decke an sich, aber Nachtfalke schien keine Einwän<strong>de</strong> zu erheben, falls er<br />

es merkte.<br />

Im fernen Weilerwald, zwei Hügel hinter <strong>de</strong>r Eiche, begann es jedoch zu rascheln. Blätter und Zweige wur<strong>de</strong>n<br />

auseinan<strong>de</strong>rgebogen, und eine Gestalt erschien zwischen <strong>de</strong>n Bäumen. Sie trat hinaus auf die Wiese, und <strong>de</strong>r Kopf <strong>de</strong>s<br />

Wesens blickte hastig nach links und rechts. Nach<strong>de</strong>m es mit <strong>de</strong>n Füßen <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n abgetastet hatte, als wollte es<br />

prüfen, ob dieser auch sicher sei, wagte es sich ins Freie hinaus und begann sogleich zu rennen.<br />

Die leisen Geräusche <strong>de</strong>s Laufens weckten die Aufmerksamkeit einer dicken Eule, die im Geäst <strong>de</strong>r Eiche saß und mit<br />

gelben Augen auf die Fel<strong>de</strong>r herabblickte. Ihr Fell plusterte sich auf, als sie die Flügel hob und sich auf <strong>de</strong>m Ast, auf<br />

<strong>de</strong>m sie Platz genommen hatte, in eine neue Position brachte. Sie spähte hinaus auf <strong>de</strong>n Wald, und <strong>de</strong>r Schatten<br />

offenbarte sich ihren wachsamen Augen. Die Eule schien kurz zu erzittern, und für eine Sekun<strong>de</strong> rutschten die<br />

Pupillen so weit nach oben, daß sie völlig verschwan<strong>de</strong>n. Als sie zurückkehrten, blieb eine verwirrte, schläfrige Eule<br />

zurück, die ihren Orientierungssinn zu verloren haben schien.<br />

Unter <strong>de</strong>n Ästen <strong>de</strong>s alten Baumes erzitterten kurz die Li<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Nachtfalkes, dann öffneten sich seine Augen, und er<br />

spähte hinaus aufs weite Grasland. Als er gefun<strong>de</strong>n hatte, wonach er Ausschau hielt, bewegte er seinen steifen Körper,<br />

so daß Indigo wachgerüttelt wur<strong>de</strong>.<br />

„Was ist los?“ murmelte <strong>de</strong>r Junge und zog die wärmen<strong>de</strong> Decke ein Stückchen höher.<br />

Nachtfalke lehnte sich zur Seite. „Etwas ist in <strong>de</strong>n Gräsern vor uns“, flüsterte er heiser und unterdrückte <strong>de</strong>n Wunsch,<br />

seinen Kopf um hun<strong>de</strong>rtachtzig Grad zu drehen. Indigos Muskeln spannten sich, und sein Herz begann schneller zu<br />

klopfen. Er wand sich unter seiner Decke und atmete flach.<br />

„Was sollen wir tun?“ brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Die feine Wolke aus Feuchtigkeit,<br />

die seinen Mund verließ, kristallisierte sofort. Indigo versuchte angestrengt, seine Zähne davon abzuhalten, sie bei<strong>de</strong><br />

durch ein Klappern zu verraten. Auch er konnte die laufen<strong>de</strong> Gestalt, die sich im Gras bewegte, nun erkennen. Sie<br />

war genau auf <strong>de</strong>m höchsten Punkt <strong>de</strong>s ersten Hügels angelangt.<br />

„Warte einen Moment“ flüsterte Nachtfalke zurück. „Wenn ich dir Bescheid gebe, springst du auf und rennst. Rennst,<br />

so schnell dich <strong>de</strong>ine jungen Beine tragen. Frag nicht nach <strong>de</strong>m Wohin, son<strong>de</strong>r flieh einfach.“<br />

„Und wenn es nur ein Tier ist, Falke?“ Die Frage schien lächerlich angesichts <strong>de</strong>r Situation und Nachtfalkes Worten.<br />

„Es ist kein Tier“, antwortete Falke knapp und schob sich näher an das Feuer. Indigo schau<strong>de</strong>rte und gab seinem<br />

Freund zu verstehen, daß er bereit war. Der Schatten hatte nun die Kuppe <strong>de</strong>s ersten Hügels überwun<strong>de</strong>n und befand<br />

sich in <strong>de</strong>r Mul<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n kleinen Erhebungen. Ein leichtes Beben schien durch die Er<strong>de</strong> zu gehen, das<br />

Nachtfalke nicht zuordnen konnte.<br />

„Jetzt“, murmelte <strong>de</strong>r Alte, rollte sich zur Seite und griff einen Holzscheit aus <strong>de</strong>r Glut <strong>de</strong>s kleinen Lagerfeuers.<br />

„Lauf“, zischte er, und Indigo sprang auf und verfluchte seine starren Beine. Wie Eisklumpen hingen sie an seinem<br />

Körper, unfähig, sich zu bewegen! Er konnte sich weit bessere Werkzeuge für eine schnelle Flucht vorstellen als diese<br />

ungelenken Gliedmaßen. Sein Blick fiel in Richtung <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s, und er schluckte hart.<br />

Der Schatten war wie<strong>de</strong>r zu sehen, und nun konnte man mit Sicherheit erkennen, daß es kein Tier war, das da<br />

versuchte, die bei<strong>de</strong>n Jurakai zu erreichen! Es war ein aufrecht gehen<strong>de</strong>s, tiefschwarzes Wesen. Und es rannte schnell!<br />

Indigo hatte niemals jemand o<strong>de</strong>r etwas mit einer solchen Geschwindigkeit rennen sehen. Was immer es auch sein<br />

mochte, das die Verfolgung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n aufgenommen hatte, es hatte <strong>de</strong>n Entschluß gefaßt, sie auch zu erreichen!<br />

Indigo versuchte zu erkennen, was für eine Kreatur sich dort durch die mondlose Nacht auf sie zu bewegte, doch aus<br />

<strong>de</strong>r Entfernung konnte er nichts genaueres feststellen. Das einzige, was er sehen konnte, war die Farbe <strong>de</strong>s Wesens. Es<br />

war schwarz, aber auf eine seltsame Weise. Es war finsterer als die Nacht selbst, wirkte wie ein lebendiger Schatten<br />

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vor <strong>de</strong>n dunklen Gräsern. Der Kopf war nicht zu erkennen, da das Frem<strong>de</strong> Geschöpf eine Kapuze zu tragen schien.<br />

Wie<strong>de</strong>r überkam <strong>de</strong>n Jurakai ein son<strong>de</strong>rbares Gefühl von Kälte. Kälte, wie sie nicht durch das Fehlen von Hitze<br />

verursacht wur<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn von panischer und unterdrückter Angst, die sich ins Herz fraß. Indigo stand wie gebannt<br />

auf <strong>de</strong>r Wiese, während <strong>de</strong>r Schatten schon beachtlich näher gekommen war. Der Jurakai wollte ebenfalls losrennen,<br />

doch seine Beine ließen sich nicht von <strong>de</strong>m kalten Untergrund lösen. Er richtete einen verzweifelten Blick auf<br />

Nachtfalke, aber <strong>de</strong>r war mit an<strong>de</strong>ren Dingen beschäftigt und bemerkte <strong>de</strong>n Jungen gar nicht.<br />

Er schwenkte <strong>de</strong>n lo<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Ast, <strong>de</strong>n er aus <strong>de</strong>m Feuer gezogen hatte, durch die eisige Luft und erzeugte Schlieren<br />

und langsam verblassen<strong>de</strong> Bil<strong>de</strong>r von Flammen im Schwarz <strong>de</strong>r Nacht. Aus Nachtfalkes Mund drangen<br />

unverständliche, son<strong>de</strong>rbare Laute, und seine Bewegungen erinnerten Indigo an einen seltsamen, unwirklichen Tanz.<br />

Anstatt zu verschwin<strong>de</strong>n, verblieben die Umrisse <strong>de</strong>r Schlieren in <strong>de</strong>r kalten Luft und formten Worte und Symbole, die<br />

<strong>de</strong>r Junge nicht kannte. Nachtfalke warf <strong>de</strong>n Ast beiseite, trat direkt ans Feuer, bückte sich und riß ein glühen<strong>de</strong>s<br />

Stück Kohle daraus hervor. Indigo wollte eine Warnung schreien, da <strong>de</strong>r Alte anscheinend vergessen hatte, wie<br />

gefährlich brennen<strong>de</strong> Kohle war. Doch Nachtfalke schloß nur die Augen, zerdrückte das Kohlestück in <strong>de</strong>r geballten<br />

Faust, wandte sich <strong>de</strong>n lo<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Zeichen zu, die noch immer in <strong>de</strong>r Luft verharrten, und warf die glühen<strong>de</strong>n Brocken<br />

nach vorn, ins bereits gefrorene Gras. Wie in einem Traum züngelten plötzlich Flammen aus <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> direkt vor <strong>de</strong>r<br />

Eiche und versperrten <strong>de</strong>m rennen<strong>de</strong>n Schatten <strong>de</strong>n Weg. Die Wand breitete sich rasch nach bei<strong>de</strong>n Seiten aus und<br />

umschloß das überraschte Wesen mit einem Flammenkreis. Indigo schüttelte <strong>de</strong>n Kopf und betrachtete <strong>de</strong>n alten<br />

Jurakai mit offenem Mund, <strong>de</strong>r nach seinen Taschen griff und die Decken einsammelte. Nach wenigen Sekun<strong>de</strong>n war<br />

er fertig und wandte sich zur Flucht, als er bemerkte, daß Indigo noch immer an Ort und Stelle verweilte und ihn wie<br />

ein Idiot angaffte.<br />

„Mach, daß du wegkommst!“ schrie Nachtfalke und riß <strong>de</strong>n Jungen mit sich, als er zu rennen begann. „Lang wird<br />

dieser Zauber nicht währen!“<br />

Von Furcht übermannt ließ Indigo sich treiben, und seine Beine trugen ihn vorwärts, ohne, daß er sie tatsächlich<br />

spüren konnte. Seine verzweifelten Schritte brachten ihn immer näher an <strong>de</strong>n Wald, und er drehte <strong>de</strong>n Kopf, um nach<br />

<strong>de</strong>m Wesen zu sehen. Die Flammen bil<strong>de</strong>ten noch immer einen Kreis, doch die Umrisse <strong>de</strong>s Schattens zeichneten sich<br />

hinter <strong>de</strong>r Feuerwand ab. Mit Entsetzen beobachtete Indigo, wie <strong>de</strong>r Schatten kurz verschwand, um gleich darauf<br />

wie<strong>de</strong>r aufzutauchen und durch die lo<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Barriere zu springen. Nur wenige Fuß trennten die bei<strong>de</strong>n Läufer<br />

voneinan<strong>de</strong>r, und voller Angst beschleunigte Indigo seine Schritte noch, um seinen Vorsprung zu vergrößern. Als er<br />

wie<strong>de</strong>r nach vorn blickte, war Nachtfalke verschwun<strong>de</strong>n. Mit gehetztem Blick sah er sich nach allen Seiten um, doch<br />

<strong>de</strong>r alte Jurakai zeigte sich nirgends. Kopfschüttelnd rannte Indigo weiter, und bald hatte er <strong>de</strong>n Wald erreicht, <strong>de</strong>r<br />

ihm vielleicht Zuflucht bieten konnte. Er stolperte durch das erste Geäst und weiter hinein, zwischen die<br />

schutzbieten<strong>de</strong>n Bäume. Ein Knacken hinter ihm zeigte, daß auch <strong>de</strong>r Schatten durch das Unterholz brach und die<br />

Verfolgung durch <strong>de</strong>n Wald aufnahm.<br />

Während er rannte, begannen Indigos Augen zu tränen, und seine Gedanken flogen durcheinan<strong>de</strong>r. Falke! Wo war er<br />

jetzt, in <strong>de</strong>m Augenblick, in <strong>de</strong>m Indigo ihn am dringendsten brauchte? Warum hatte er ihn allein gelassen? Und was<br />

hatte er gera<strong>de</strong> eben getan, am Fuß <strong>de</strong>r Eiche? Der alte Kauz schien tatsächlich die Worte zu beherrschen, doch wieso<br />

erfuhr <strong>de</strong>r Junge erst jetzt davon? Was wußte er noch alles nicht über seinen Freund?<br />

Ein hastiger Blick zurück zeigte ihm, daß das Wesen sich noch immer hinter ihm befand, sogar näher gekommen<br />

war...<br />

Dynes rollte sich in seinem Bett, unfähig, einzuschlafen, obwohl die bis auf <strong>de</strong>n Grund geleerte Rumkaraffe neben<br />

ihm auf einer Anrichte ruhte.<br />

Verzerrte Bil<strong>de</strong>r flackerten in seinem Geist, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er fühlte ein Schwin<strong>de</strong>lgefühl und<br />

ein Dröhnen in seinem Schä<strong>de</strong>l, als wür<strong>de</strong> ein Hammer unentwegt darauf einschlagen. Hustend beugte er sich vor, um<br />

nach einem Glas Wasser zu greifen, das er vorsorglich von <strong>de</strong>r Bar mitgenommen hatte. Er spülte seine Kehle rein,<br />

fühlte die kühle, wohltuen<strong>de</strong> Flüssigkeit in seinen Körper hinabrinnen.<br />

Mit <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>n Schläfen schüttelte er <strong>de</strong>n Kopf, versuchte sich darüber klar zu wer<strong>de</strong>n, wieso seine Gedanken<br />

ihn nicht losließen. Was hatte er getan, daß er, betrunken wie er war, nicht einschlafen durfte? Fluchend lehnte er sich<br />

ans En<strong>de</strong> seines Bettes, achtete aber darauf, nicht die hintere Zimmerwand zu berühren, die wahrscheinlich von<br />

Schmutz zusammengehalten wur<strong>de</strong>.<br />

Dynes blickte auf, und im Schein <strong>de</strong>r Kerze schienen seine Augen tiefer in ihren Höhlen zu liegen, betonten seine<br />

starken Wangenknochen. Er zog seinen Tabak hervor, rollte sich eine Zigarette und nahm die Kerze zur Hand, um<br />

<strong>de</strong>n Glimmstengel zu entzün<strong>de</strong>n. Nach ein paar tiefen Zügen ging es ihm wie<strong>de</strong>r besser, er spürte, wie <strong>de</strong>r Rauch<br />

seine Lungen erfrischte und ihn ruhiger wer<strong>de</strong>n ließ. Das Schwin<strong>de</strong>lgefühl verstärkte sich zwar im ersten Augenblick,<br />

aber nach <strong>de</strong>m Genuß <strong>de</strong>r Zigarette wür<strong>de</strong> <strong>Arathas</strong> vielleicht endlich in <strong>de</strong>n Schlaf sinken können.<br />

Zum Zeitvertreib betrachtete er das kleine Flämmchen, das still auf <strong>de</strong>r weißen Kerze brannte. Die Spitze <strong>de</strong>r Flamme<br />

war gelb, ein orangenes, festes gelb, das <strong>de</strong>m Zimmer das wenige Licht spen<strong>de</strong>te. Darunter kam ein Fleck, <strong>de</strong>n Dynes<br />

noch nie farblich hatte zuordnen können. Er erstreckte sich zwischen <strong>de</strong>r orangenen Spitze <strong>de</strong>r Flamme und ihrem<br />

unteren blauen En<strong>de</strong>, dort wie sie am heißesten war. Doch <strong>de</strong>r Fleck an sich, <strong>de</strong>r Fleck dazwischen, schien keine Farbe<br />

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zu besitzen. Es war kein Schwarz, <strong>de</strong>nn dafür war er zu schimmernd. Doch er war auch nicht farblos, <strong>de</strong>nn<br />

hindurchsehen konnte man nicht. Es war eine dreckige Stelle, die sich nicht in keine bestimmte Kategorie einordnen<br />

ließ...<br />

Dynes tat einen langen Zug an seiner Zigarette und spuckte anschließend die Tabakreste aus, die ihm an <strong>de</strong>r Lippe<br />

hängen geblieben waren. Wie<strong>de</strong>r glitt sein Blick zur Kerzenflamme. Eine dreckige Stelle, die sich nicht einordnen<br />

ließ... genauso wie Dynes. Der König wußte nicht, wo Dynes hingehörte, ebensowenig wie <strong>Arathas</strong> selbst. Ganz gewiß<br />

war er keiner <strong>de</strong>r Ritter <strong>de</strong>s Herrschers. Verachtung keimte in ihm, als er an die Untergebenen König Westfalds<br />

dachte. Beim Turnier hatten Fe<strong>de</strong>rn an ihren Helmen gesteckt, und sie hatten während <strong>de</strong>s Einzugs Schil<strong>de</strong> mit ihren<br />

Wappen getragen.<br />

Dynes hatte niemals ein richtiges Wappen besessen. Oh, natürlich hatte er ein Wappen, doch es war nur ein Erbe, ein<br />

Ding, das ihm in die Wiege gelegt wor<strong>de</strong>n war. Aber was sollte ein Kind schon mit einem Wappen anfangen? Und<br />

ebensowenig wußte Dynes jetzt, da er die Hälfte seines Lebens wohl schon hinter sich hatte, etwas damit anzufangen.<br />

Und so war Dynes <strong>de</strong>r Einzige gewesen, <strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Para<strong>de</strong> einen unbemalten Schild getragen hatte. Ein schwarzer<br />

Fleck eben, eine dreckige Stelle. Er sah zur Kerzenflamme, die sich nun leicht zur Seite neigte und flackerte.<br />

Stirnrunzelnd fragte er sich, was bei dieser Metapher wohl En<strong>de</strong> und Anfang <strong>de</strong>r Flamme darstellten...<br />

Die blaue Zunge, nah am Docht, heiß und gefährlich – <strong>de</strong>r König? Nein, bestimmt nicht. Und auch seine Ritter kamen<br />

nicht in Frage. Für sie galt eher das, was über <strong>de</strong>r flackern<strong>de</strong>n Flamme nach oben stieg, <strong>de</strong>r schmutzige Rauch, <strong>de</strong>r die<br />

Luft verpestete.<br />

Während Dynes seine Gedanken schweifen ließ und seine Augen auf <strong>de</strong>r Kerze ruhten, verzog sich plötzlich sein<br />

Mund. Er atmete scharf ein, und noch immer auf das Flämmchen starrend, zerdrückte er gedankenverloren die<br />

glühen<strong>de</strong> Spitze seiner Zigarette mit <strong>de</strong>n Fingern. Ohne die Augen von <strong>de</strong>r Kerze zu lassen, glitt seine Hand unter<br />

sein Kissen, um einen Dolch hervorzuziehen.<br />

Langsam und völlig lautlos stieg er aus seinem Bett, setzte die nackten Füße auf <strong>de</strong>n hölzernen Bo<strong>de</strong>n. Er ließ <strong>de</strong>n<br />

Dolch zwischen <strong>de</strong>n Fingern rotieren.<br />

Die Kerzenflamme flackerte. Und das, obwohl Dynes sich in einem Raum befand, <strong>de</strong>ssen Fenster allesamt verriegelt<br />

waren. Der Ritter schürzte die Lippen. Es gab nur eine Erklärung für das zucken<strong>de</strong> Flämmchen: Zugluft mußte vom<br />

Korridor her in <strong>de</strong>n Raum wehen.<br />

Und dafür mußte die Türe offen sein, die Dynes hinter sich geschlossen hatte...<br />

Indigo zerkratzte sich Arme und Gesicht, als er durch die Blätter eines kleinen Strauches sprang, und lan<strong>de</strong>te im<br />

nassen Laub dahinter. Er rutschte aus, fiel mit einer Wucht auf <strong>de</strong>n Rücken, die ihm die Luft aus <strong>de</strong>n Lungen preßte,<br />

und glitt einen Hang hinunter, <strong>de</strong>r durch die Blätter nicht zu sehen gewesen war. Er wur<strong>de</strong> schneller, rutschte auf<br />

Er<strong>de</strong> und Stein, und sein Körper drehte und überschlug sich, rollte <strong>de</strong>n Bäumen am Fuße <strong>de</strong>s Hangs entgegen. Indigo<br />

sah we<strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n noch Himmel, und nur durch Glück glitt er genau zwischen <strong>de</strong>n Stämmen zweier Waldriesen<br />

hindurch, die seine rasante Fahrt wohl zu einem unsanften En<strong>de</strong> hätten bringen können. Langsam verringerte sich<br />

seine Geschwindigkeit, und er kam auf <strong>de</strong>m flachen Waldbo<strong>de</strong>n zur Ruhe. Er befühlte seine Glie<strong>de</strong>r auf Brüche, aber<br />

alles, was er abtastete, schmerzte so stark, daß er sich kein Urteil über <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>s Körperteils o<strong>de</strong>r seiner Hän<strong>de</strong><br />

erlauben konnte. Er richtete seinen verschlammten und zerschun<strong>de</strong>nen Leib auf und wankte unsicher zu einem nahen<br />

Baum. Von weit oben ertönte ein scheuern<strong>de</strong>s Geräusch, und mit Entsetzen stellte <strong>de</strong>r Jurakai fest, daß auch sein<br />

Verfolger <strong>de</strong>n Hang nicht scheute. Indigo humpelte auf eine kleine Baumgruppe zu, schwang sich unter Schmerzen<br />

unter ihren Ästen hindurch und setzte seine Flucht durch <strong>de</strong>n dunklen Wald fort. Die breiten Stämme waren zu bloßen<br />

Hin<strong>de</strong>rnissen gewor<strong>de</strong>n, die ihm im Weg stan<strong>de</strong>n und zu je<strong>de</strong>m Preis umgangen wer<strong>de</strong>n mußten. Seine Augen waren<br />

nur noch nach vorn gerichtet, und sein verschwommener Blick sah einzig die Schneise, die seine pumpen<strong>de</strong>n Beine<br />

ihn entlang trugen. Er röchelte und spuckte Blut, und während er zwischen <strong>de</strong>n Waldriesen dahin stolperte, verlor er<br />

Haare und Hautfetzen, bemerkte es aber schon gar nicht mehr. Manchmal vernahm er, beinahe hinter sich, die Laute<br />

von brechen<strong>de</strong>m Holz und knacken<strong>de</strong>n Zweigen. Dann schlug er im Taumel mit <strong>de</strong>n Armen um sich und hoffte, auf<br />

diese Weise ein weniger leicht zu fangen<strong>de</strong>s Ziel abzugeben. Nach einer Weile, die so lang und mühsam erschien, daß<br />

Indigo beim besten Willen nicht sagen konnte, wie lang sie gewesen war, wur<strong>de</strong> er eines Rauschens gewahr, daß<br />

vorher noch nicht existiert hatte. Seine Füße erreichten einen breiten Fluß, <strong>de</strong>r sich ebenfalls seinen Weg durch <strong>de</strong>n<br />

Wald suchte und mit nicht unbeträchtlicher Geschwindigkeit dahin floß.<br />

Indigo zögerte, aber nur für einen Moment, dann lief er auf das Wasser zu. Neben ihm brach plötzlich <strong>de</strong>r Schatten<br />

durch die Äste, und für einen kurzen Augenblick konnte <strong>de</strong>r Jurakai direkt in die Augen seines Verfolgers sehen. Die<br />

Blicke trafen sich, und Indigo war, als erklangen Worte aus <strong>de</strong>m Mund <strong>de</strong>s vermummten Wesens. Als die verhüllte<br />

Gestalt sah, was <strong>de</strong>r Junge beabsichtigte, ergriff sie seinen Arm und zog ihn vom Wasser fort. Von Panik erfüllt zerrte<br />

<strong>de</strong>r Jurakai in die an<strong>de</strong>re Richtung, doch das Wesen war stärker als er. Verzweifelt wand er sich unter <strong>de</strong>m kalten<br />

Griff <strong>de</strong>s Schattens, <strong>de</strong>ssen Klaue seinen Arm wie einen Schraubstock umspannt hielt. Gera<strong>de</strong>, als er sich seinem<br />

Schicksal ergeben wollte, riß <strong>de</strong>r arg in Mitlei<strong>de</strong>nschaft gezogene Stoff seines Wamses, und Indigo taumelte <strong>de</strong>n<br />

Fluten entgegen. Mit einer letzten Anstrengung warf er sich hinein, und das eiskalte Wasser umspülte ihn und zog an<br />

seinen Klei<strong>de</strong>rn. Die Fluten waren erschreckend kalt, und für einen kurzen Moment blieb Indigo das Herz stehen und<br />

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es war ihm, als hätte ein Hammer ihn am Kopf getroffen. Dann brach er nach Luft schnappend an die Oberfläche, sein<br />

Körper vom stru<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Wasser hin- und hergerissen. Mit <strong>de</strong>n Beinen stieß er gegen einen Felsen, <strong>de</strong>r sich im<br />

dunklen Wasser verbarg, und ging wie<strong>de</strong>r unter; die dreckige Brühe drang ihm in Mund und Nase und ließ seine<br />

Augen brennen. Er spuckte und holte verzweifelt Luft, als er es wie<strong>de</strong>r fertigbrachte, <strong>de</strong>n Kopf herauszustrecken. Die<br />

Strömung riß ihn gegen ein hartes Hin<strong>de</strong>rnis nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren. Steine, Äste und an<strong>de</strong>re Dinge prallten von ihm ab<br />

o<strong>de</strong>r gegen ihn. Der unbarmherzige Fluß zog seinen schwachen Körper erneut tief nach unten, und ein<br />

ohrenbetäuben<strong>de</strong>s Schwarz erfüllte sein Blickfeld. Er versuchte krampfhaft, sich wie<strong>de</strong>r nach oben zu strampeln, aber<br />

alle Mühen mußten vergebens bleiben. Seine verschleierten Sinne nahmen nur noch das tosen<strong>de</strong> Wasser wahr, das ihn<br />

umspülte und seine ganze Welt gewor<strong>de</strong>n war.<br />

Sein schwacher Körper wur<strong>de</strong> über ein weiteres Hin<strong>de</strong>rnis gerollt, dann brach sein Kopf durch die allesverschlingen<strong>de</strong><br />

Decke, und ein kalter Wind wehte ihm Luft in die zusammengedrückten Lungen. Er keuchte und hustete, und seine<br />

betäubten Sinne nahmen das Ufer <strong>de</strong>s Flusses wahr, das irgendwo vor ihm liegen mußte. Aber das Ufer, die Strömung,<br />

sogar <strong>de</strong>r seltsame Schatten, das alles war merkwürdig be<strong>de</strong>utungslos gewor<strong>de</strong>n. Er schloß seine Augen und ließ sich<br />

treiben, ergab sich <strong>de</strong>n Wassermassen und floß mit ihnen; erst als seine schwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Sinne eine Gestalt am Uferrand<br />

bemerkten, kam die Erinnerung zurück.<br />

Der schwarze Schatten! Das dunkle Wesen. Es hat... mich doch noch erwischt! Die ganze Anstrengung... umsonst...<br />

Indigos Körper schlang sich um einen dicken Ast, <strong>de</strong>r quer im Wasser lag, und das Wasser floß um ihn und über ihn<br />

hinweg. Er sah das schwarze Wesen, wie es sich über <strong>de</strong>n Fluß beugte und nach ihm griff, und stumpfsinnig gluckste<br />

er in seinem Wahn. Die Welt um ihn herum brach zusammen, und das letzte, was er sah, war die dunkle, fremdartige<br />

Gestalt, die ihn an Land zerrte.<br />

Dynes schlich zur Tür, <strong>de</strong>n Griff seines Dolches fest umschlossen. Er wußte genau, wen er zu erwarten hatte: Ontarias<br />

Reeves, <strong>de</strong>n angeblichen E<strong>de</strong>lmann.<br />

Als wenn er nicht geahnt hätte, daß <strong>de</strong>r Kerl ein Schwindler war! Höchstwahrscheinlich lauerte er <strong>de</strong>s Abends in<br />

Rasthäusern auf Besucher, die sich beson<strong>de</strong>rs stark antranken, um ihnen anschließend Geld und Klei<strong>de</strong>r,<br />

möglicherweise noch mehr zu nehmen. Daher also <strong>de</strong>r rote Samtanzug und die perfekt manikürten Finger! Daher die<br />

feinen Schuhe und das überhebliche Verhalten!<br />

Nun, selbst in trunkenem Zustand wür<strong>de</strong> er <strong>de</strong>m Burschen eine Lektion erteilen, die er nicht so schnell vergaß.<br />

Vielleicht nie mehr...<br />

Dynes spähte um die Ecke und rechnete damit, Reeves zu sehen, <strong>de</strong>r sich in seinem Vorzimmer zu schaffen machte.<br />

Doch das Zimmer war menschenleer, nur die paar Dinge, die <strong>de</strong>r Ritter bei sich zu tragen pflegte, ruhten auf einem<br />

Tisch in <strong>de</strong>r Ecke. Die Dunkelheit war hier fast allumfassend, da <strong>de</strong>r Kerzenschein nicht bis hierher drang.<br />

Der Gedanke regte sich in ihm, daß Vorsicht angesagt war, doch <strong>de</strong>r Alkohol, <strong>de</strong>r noch immer durch Dynes A<strong>de</strong>rn<br />

floß, tat seine Wirkung. Mit einer schnellen Bewegung schwang sich <strong>de</strong>r Ritter um <strong>de</strong>n Türstock, und noch während<br />

er in <strong>de</strong>n nächsten Raum stolperte, sah er die Gestalt, die auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite <strong>de</strong>r Wand lauerte, ebenso wie Dynes es<br />

getan hatte.<br />

In einem Reflex streckte er <strong>de</strong>n Arm aus, bekam <strong>de</strong>n Stoff <strong>de</strong>r Kleidung <strong>de</strong>s Eindringlings zu fassen und brachte es<br />

fertig, <strong>de</strong>n Frem<strong>de</strong>n mit sich zu zerren. Mit einem Krachen schlugen die bei<strong>de</strong>n Körper auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>r Dolch<br />

sprang aus Dynes‘ Hand und schlitterte über das Parkett.<br />

Der Frem<strong>de</strong> hob <strong>de</strong>n Arm, um einen Schlag zu lan<strong>de</strong>n, doch <strong>de</strong>r Ritter gab nicht viel auf eine faires Kämpfen.<br />

Immerhin galt es nicht, Punkte zu sammeln wie beim Turnier auf <strong>de</strong>r Hochburg, son<strong>de</strong>rn zu überleben. Mit<br />

zusammengekniffenen Augen ließ Dynes seine Stirn gegen <strong>de</strong>n Kopf <strong>de</strong>s Eindringlings krachen, so fest er nur konnte.<br />

Ein Stöhnen entfuhr seinem Gegner, was <strong>Arathas</strong> einigermaßen zufrie<strong>de</strong>nstellte. Er lockerte seinen Griff und löste<br />

sich von <strong>de</strong>r Person, die jetzt gekrümmt auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n lag.<br />

Seinen Dolch aufhebend begab er sich in eine hocken<strong>de</strong> Position, beobachtete <strong>de</strong>n Frem<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r noch immer<br />

schmerzverzerrte Laute von sich gab. Während Dynes ihn betrachtete, reifte langsam die Erkenntnis in seinem Geiste,<br />

daß die schlaksige Person, die dort vor ihm lag, wohl kaum <strong>de</strong>r edle Reeves sein konnte. Von <strong>de</strong>r Länge her kam diese<br />

Vermutung vielleicht hin, aber Reeves hatte breitere Schultern gehabt, war besser gebaut gewesen. Die Gestalt, die<br />

sich auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n krümmend verrenkte... nun, er wür<strong>de</strong> herausfin<strong>de</strong>n, wer es war.<br />

Dynes legte <strong>de</strong>n Dolch beiseite und faßte <strong>de</strong>n liegen<strong>de</strong>n Kerl an <strong>de</strong>n Schultern. Er drehte ihn herum, bis er in das<br />

Gesicht sehen konnte, das nun über und über mit Blut verschmiert war.<br />

„Sieht mir ganz nach einer gebrochenen Nase aus“ sagte er mehr zu sich selbst als zu <strong>de</strong>r Gestalt und faßte das<br />

Gesicht am Kinn. Er rüttelte so lange daran, bis <strong>de</strong>r Eindringling die Augen öffnete und in <strong>de</strong>r Dunkelheit versuchte,<br />

das Blut aus ihnen zu zwinkern. Er stöhnte erneut.<br />

Dynes, <strong>de</strong>r endlich erkannte, wen er dort vor sich hatte, kniff die Brauen zusammen.<br />

„Paves? Der junge Paves aus <strong>de</strong>r Hochburg?“<br />

Die blutige Gestalt nickte fast unmerklich. Dynes fluchte.<br />

„Was in aller Welt hast du hier zu suchen, Junge?“<br />

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Warmer, freundlicher Kerzenschein erhellte die Einrichtung <strong>de</strong>s Zeltes <strong>de</strong>r Valae. Die enorme Sammlung von<br />

Büchern und Schriften, welche die Alte Frau mit zur Wei<strong>de</strong> zu nehmen geruhte, lagerten in kleinen Regalen und auf<br />

Anrichten und schienen förmlich darauf zu warten, gelesen zu wer<strong>de</strong>n. Kein Jurakai wußte, wie lange es gedauert<br />

hatte, all diese seltenen und oftmals seltsamen Stücke zusammenzubekommen. Der Wissensreichtum von<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rten war in diesen Büchern nie<strong>de</strong>rgeschrieben wor<strong>de</strong>n, von vielen verschie<strong>de</strong>nen Leuten in vielen<br />

verschie<strong>de</strong>nen Sprachen. Die Folianten beherbergten einen schier unermeßlichen Vorrat an Weisheiten und<br />

Hilfestellungen, aber auch Unmengen von an<strong>de</strong>ren Dingen, die vielleicht Unnütz, möglicherweise aber auch<br />

außeror<strong>de</strong>ntlich wichtig sein konnten.<br />

Während die Valae nun in einem dieser Bücher Eintragungen vornahm, behalf Talamà sich damit, ein wenig in <strong>de</strong>n<br />

Schmökern zu stöbern, die von <strong>de</strong>r Kunst <strong>de</strong>r Worte berichteten. Irgendwann blickte die Alte auf, fixierte die junge<br />

Frau, die die soeben gelesene Schriftrolle zusammenfaltete und auf einem hohen Stapel an<strong>de</strong>rer Pergamente ablegte.<br />

Die Jurakai musterten sich gegenseitig, und erst jetzt fiel Talamà auf, wie gebrochen die Alte wirkte, welche Sorge ihr<br />

ins Gesicht geschrieben stand.<br />

„Wie geht es Euch?“ fragte die junge Jurakai teilnahmsvoll und rückte auf ihrem Sitzkissen herum. Bei näherer<br />

Betrachtung sah die Valae in <strong>de</strong>r Tat sogar unheimlich schlecht aus.<br />

„Es ist viel geschehen, Kind“ antwortete die Alte mit brüchiger Stimme, und, als wenn das schon genug gewesen<br />

wäre, beugte sich vor, um nach etwas zu suchen, das sich in all <strong>de</strong>n Papieren vor ihr befin<strong>de</strong>n mußte.<br />

„Habt Ihr mit Teagar gesprochen, Valae?“<br />

„Das habe ich“ meinte die Frau und nickte leicht. „Viele Dinge sind geschehen in Ruben, vieles, das unerfreulich ist.“<br />

„Was ist es, Valae?“<br />

Die Alte wandte sich, ohne auf die Frage zu antworten, wie<strong>de</strong>r ihren Büchern zu. Talamà runzelte die Stirn ob dieser<br />

merkwürdigen Verhaltensweise, gab aber nicht auf.<br />

„Wollt Ihr es mir nicht sagen?“<br />

„Es tut mir leid, Kind. Ich habe einen Schwur geleistet, nieman<strong>de</strong>m davon zu erzählen. Je<strong>de</strong>s Ratsmitglied hat ihn<br />

geleistet.“<br />

Aufgebracht sah Talamà <strong>de</strong>r alten Frau in die Augen. „Aber... aber es geht mich genauso etwas an, worüber Ihr<br />

beraten habt!“ rief sie aufgebracht. „Ich war auch dabei, als wir in <strong>de</strong>r Steppe die Pfer<strong>de</strong>leichen fan<strong>de</strong>n! Bitte sagt mir,<br />

um was es bei <strong>de</strong>r Sitzung ging!“<br />

„Das kann ich nicht, Kind. Das mußt du verstehen.“<br />

Talamà zögerte, stürmte dann jedoch zum Ausgang <strong>de</strong>s Zeltes und riß schwungvoll die Plane beiseite. Der Luftzug,<br />

<strong>de</strong>r sogleich ins Innere strömte, ließ die Kerzenflammen erzittern und Wachströpfchen auf die Bücher fliegen. Die<br />

Valae blickte scharf auf, mit strafen<strong>de</strong>m Blick in ihren alten Augen, doch die junge Frau war längst hinausgelaufen.<br />

Kopfschüttelnd wandte sich die Alte wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Schriften zu und hoffte, in ihnen eine erklären<strong>de</strong> Lösung zu fin<strong>de</strong>n.<br />

Vor <strong>de</strong>m Zelt, aufgewühlt und verwirrt, blieb Talamà stehen, um sich ihrer Lage bewußt zu wer<strong>de</strong>n. Sie hatte Dinge<br />

gesehen, die sie Nacht für Nacht Alpträume haben ließen, und von Begebenheiten gehört, die wie Schauermärchen<br />

klangen, die man Kin<strong>de</strong>rn erzählte. Wie konnte die Valae jetzt also erwarten, daß sie sich mit <strong>de</strong>m wenigen, was sie<br />

wußte, zufrie<strong>de</strong>ngeben wür<strong>de</strong>? Immerhin hatte die alte Frau Talamà als Schülerin angenommen, o<strong>de</strong>r war es etwa<br />

nicht so? Sie hatte Talamà nicht nur angenommen, sie hatte sie sogar selbst dazu erwählt! Und das, obwohl die Valae<br />

noch niemals vorher eine Schülerin ausgebil<strong>de</strong>t hatte! Nahm sie sich also daher einfach das Recht, ihr die Dinge<br />

vorzuenthalten, die vielleicht wichtig waren? Nahm sie sich das Recht dazu, nur weil Talamà auf sie angewiesen war?<br />

Weil es nieman<strong>de</strong>n sonst in <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> gab, <strong>de</strong>r die Kunst <strong>de</strong>r Worte <strong>de</strong>rart perfekt beherrschte?<br />

Wütend trat Talamà nach <strong>de</strong>m Gras, pflügte eine kleine Schneise mit ihrem Schuh. Nein, die Alte wußte wirklich<br />

nicht, was sie wollte! Sollte sie sich doch allein mit ihren veralteten Schriften auseinan<strong>de</strong>rsetzen. Sollte sie doch<br />

darauf warten, daß ihre Schülerin zurückkam, um sich zu entschuldigen.<br />

Mit <strong>de</strong>m dringen<strong>de</strong>n Bedürfnis nach Einsamkeit rannte die junge Frau aus <strong>de</strong>r Zeltstadt, die kleine Anhöhe hinaus,<br />

auf <strong>de</strong>ren Wipfel sich ein Wäldchen erstreckte. Das feuchte Gras unter ihren Füßen tat gut, und auch <strong>de</strong>r schwarze<br />

Nachthimmel wirkte versöhnend, schluckte <strong>de</strong>n Zorn, <strong>de</strong>n das Mädchen empfand. Sie entfernte sich immer weiter<br />

vom Lager, bis sie in <strong>de</strong>r Dunkelheit <strong>de</strong>r mondlosen Nacht ihren Lieblingsplatz gefun<strong>de</strong>n hatte.<br />

Es war ein riesiger Monolith, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n ragte. Seine Oberfläche war glatt, <strong>de</strong>r Stein selbst so bleich wie die<br />

Haut einiger Manur. Kleine Trittstufen waren in ihn geschlagen wor<strong>de</strong>n, wann und von wem, das konnte wohl<br />

niemand mehr sagen. Mit ein paar leichten Sprüngen kletterte die Jurakai auf <strong>de</strong>n Rücken <strong>de</strong>s großen Steins, von <strong>de</strong>m<br />

aus man einen überwältigen<strong>de</strong>n Ausblick über Ruben hatte. Selbst jetzt, in <strong>de</strong>r Düsternis <strong>de</strong>r Nacht, in <strong>de</strong>r nur das<br />

ewige Licht <strong>de</strong>r Sterne <strong>de</strong>n Weg wies, konnte Talamà weit über die Ebene sehen, über die Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sommers hinaus,<br />

bis hin zum Geriadru-See und vielleicht noch weiter. Irgendwo weit hinter <strong>de</strong>r Seenlandschaft, in <strong>de</strong>n hügeligen<br />

Tälern <strong>de</strong>s Hochlands, lagen die Städte <strong>de</strong>r Manur, die Höfe und Siedlungen und ihre Gutshöfe.<br />

Talamà verzog die Lippen, als sie daran dachte, daß dieses Land einst <strong>de</strong>n Jurakai gehört hatte. Doch das war, bevor<br />

die Menschen anfingen, ihre steinernen Siedlungen zu errichten, ihre Höfe und Städte zu erbauen und mit ihren schier<br />

endlosen Straßen und kastenförmigen Fel<strong>de</strong>rn das Gesicht <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> zu verän<strong>de</strong>rn. Nun, es war geschehen. Teagar<br />

sprach ihnen mehr und mehr Land zu, verlangte nichts im Gegenzug. Die Menschen befan<strong>de</strong>n sich auf einem<br />

41


Vormarsch, <strong>de</strong>r sich nicht aufhalten ließ. Und es war nur eine Frage <strong>de</strong>r Zeit, bis sie die Grenzen <strong>de</strong>s Weilerwalds<br />

erreicht haben wür<strong>de</strong>n und damit begannen, die dort leben<strong>de</strong>n Jurakaistämme aus ihren Gebieten zu vertreiben...<br />

Mit übereinan<strong>de</strong>rgeschlagenen Beinen rutschte Talamà auf <strong>de</strong>m harten Stein herum, zog an ihren Ärmeln und kauerte<br />

sich zusammen, um sich vor <strong>de</strong>r Kälte <strong>de</strong>r Nacht zu schützen. Während sie ihre Arme aneinan<strong>de</strong>r rieb, spürte sie<br />

plötzlich ein son<strong>de</strong>rbares Beben unter ihren Füßen, fühlte das Vibrieren <strong>de</strong>s riesigen Monolithen. Sie ließ sich am<br />

glatten Leib <strong>de</strong>s Steins herabrutschen, bis sie wie<strong>de</strong>r auf nassen Gräsern stand, doch auch hier dauerte das Zittern an,<br />

war sogar, wenn möglich, noch stärker gewor<strong>de</strong>n.<br />

Ein plötzliches flaues Gefühl machte sich in Talamàs Magen breit, und ein dunkles, ungewisses Empfin<strong>de</strong>n von Angst<br />

regte sich in ihr. Ohne noch einen Gedanken an die Manur zu verschwen<strong>de</strong>n, lief sie zur schlafen<strong>de</strong>n Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />

Sommers zurück.<br />

Das Zittern unter ihren Füßen hatte sich zu einem Beben verwan<strong>de</strong>lt.<br />

„Wisch dir erst einmal das Gesicht ab, Junge“ meinte Dynes und reichte Paves einen Lappen. Mit noch immer<br />

bluten<strong>de</strong>r Nase brachte <strong>de</strong>r Knabe sogar ein Lächeln zustan<strong>de</strong>, das <strong>Arathas</strong> auf eine harte Probe stellte. Mühsam<br />

unterdrückte er jegliches Gefühl von Respekt, das sich ihm <strong>de</strong>m Jungen gegenüber aufdrängte.<br />

Er hustete. „Jetzt erzähl mir bitte, wie du dazu kommst, dich mitten in <strong>de</strong>r Nacht hier hereinzuschleichen. Hätte leicht<br />

passieren können, daß ich dich umbringe!“<br />

Paves nickte. „Das hättet ihr. Es tut mir leid, Herr. Ich hatte nicht die Absicht, Euer Zimmer zu betreten. Es... ergab<br />

sich einfach.“<br />

Dynes hob fragend die Brauen.<br />

„Erzähl von Anfang an, Junge. Glaubst du vielleicht, daß ich erraten kann, was du mit <strong>de</strong>inen Anspielungen meinst?“<br />

Erneut nickte <strong>de</strong>r Junge. „Natürlich, Herr. Als Ihr mich auf <strong>de</strong>r Zugbrücke zurückließt, wußte ich nicht, was ich tun<br />

sollte. Ich konnte auf keinen Fall wie<strong>de</strong>r in die Burg, also bin ich Euch gefolgt. Ich dachte, vielleicht wür<strong>de</strong> mir<br />

unterwegs einfallen, wohin ich gehen könnte. Die letzten Wochen ritt ich hinter Euch her. Dann traft Ihr bei diesem<br />

Gut ein, und nach<strong>de</strong>m Ihr hineingegangen wart, habe ich meinen Schimmel im Wald untergestellt. Dann bin ich Euch<br />

nach und habe mich so gut es ging im Wirtshaus versteckt. Irgendwann seid Ihr dann auf Euer Zimmer gegangen, und<br />

ich schlich Euch nach. Allerdings wartete ich im Gang, um zu sehen, wenn Ihr das Wirtshaus wie<strong>de</strong>r verlassen<br />

wür<strong>de</strong>t. Ich wollte Euch schließlich nicht aus <strong>de</strong>n Augen verlieren.“<br />

„Und was hat dich dazu getrieben, doch noch in mein Zimmer zu kommen?“<br />

Der Bursche sah auf, und mit einer hastigen Bewegung wischte er Blut von <strong>de</strong>r Oberlippe. „Ich hörte, wie jemand<br />

an<strong>de</strong>res die Treppen hinaufstieg. Eigentlich hatte ich vor, mir eine Ausre<strong>de</strong> einfallen zu lassen, wenn mich jemand<br />

fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Aber als die Schritte näherkamen, hörte ich die Stimme <strong>de</strong>s Mannes, mit <strong>de</strong>m Ihr Euch unterhalten<br />

habt...“<br />

„Reeves!“ zischte Dynes. Paves nickte kummervoll.<br />

„Ich kenne seinen Namen nicht. Aber ich weiß, daß mit diesem Kerl nicht zu scherzen ist. Ehrlich gesagt habe ich<br />

sogar eine Hei<strong>de</strong>nangst vor ihm.“<br />

„Und darum hast du dich besser versteckt. Und natürlich in meinem Zimmer, <strong>de</strong>nn welches wür<strong>de</strong> sich sonst noch<br />

anbieten...“<br />

Dynes musterte <strong>de</strong>n Knaben, <strong>de</strong>r sich auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n zusammenkauerte und vergeblich versuchte, kein Blut auf seine<br />

Kleidung tropfen zu lassen. So jung er auch war – er war nicht feige. Und das war eine Eigenschaft, die er mochte.<br />

„Nun...“ begann er mitfühlend, „du wirst wahrscheinlich eine kleine Delle in <strong>de</strong>iner Nase zurückbehalten, Junge. Und<br />

finger nicht so daran herum, sonst verheilt die Wun<strong>de</strong> nie.“<br />

Er bemerkte die hungrigen Seitenblicke, die Paves immer wie<strong>de</strong>r auf die Früchte warf, welche in einer Schale auf<br />

einer Anrichte ruhten. Mit einem Nicken gestattete er <strong>de</strong>m Knaben, sich von <strong>de</strong>m Teller zu bedienen. Dankbar griff<br />

Paves zu, und Dynes beobachete erstaunt, was <strong>de</strong>r Junge alles in sich hineinschlang.<br />

„Hast nicht viel zu Essen bekommen, als du mir gefolgt bist, was?“<br />

Mit vollem Mund schüttelte <strong>de</strong>r Knabe <strong>de</strong>n Kopf und sagte: „So gut wie gar nichts, Herr. Ich und mein Pferd, wir<br />

haben meistens dann Nahrung gesucht, wenn Ihr schlieft.“<br />

Er verstummte und richtete einen fragen<strong>de</strong>n Blick auf Dynes, <strong>de</strong>r abfällig schnaubte.<br />

„Wahrscheinlich willst du mich jetzt darum bitten, wenigstens die heutige Nacht hier verbringen zu dürfen, nehme ich<br />

an?“<br />

„Ja, Herr“ antwortete Paves und war sich wohl bewußt, daß <strong>de</strong>r Ritter ihn wahrscheinlich hochkant zu Tür<br />

hinausbeför<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong>. Wie erwartet schüttelte Dynes <strong>de</strong>n Kopf und ließ damit die letzte Hoffnung im Herzen <strong>de</strong>s<br />

Knappen zerrinnen.<br />

„Nein, das kann ich nicht zulassen. Es tut mir leid, Junge.“<br />

Betrübt nickte Paves und wollte sich erheben, doch Dynes kräftige Hand senkte sich auf seine Schulter und preßte ihn<br />

wie<strong>de</strong>r nach unten. Ein herbes Lächeln stand auf <strong>de</strong>m unrasierten Gesicht <strong>de</strong>s Ritters.<br />

„Ich kann nicht zulassen, daß du mich morgen früh schon wie<strong>de</strong>r verläßt und vielleicht umkommst dort draußen. Ich<br />

<strong>de</strong>nke, du solltest mit mir kommen.“<br />

42


Ungläubig klappte Paves‘ Kinnla<strong>de</strong> nach unten, als er die Worte vernahm. Er sah auf und blickte in die Augen <strong>de</strong>s<br />

Ritters, doch er konnte keine Spur eines Scherzes in ihnen ent<strong>de</strong>cken. <strong>Arathas</strong> meinte es ernst.<br />

„Danke, Herr“ sagte Paves und begann damit, sich zu verneigen.<br />

„Wenn du dich noch einmal vor mir bückst, dann wer<strong>de</strong> ich dir persönlich in <strong>de</strong>n Arsch treten, Junge!“ fuhr Dynes<br />

ihn an, aber seine Mundwinkel waren leicht nach oben verzogen. „Dann wer<strong>de</strong> ich es mir vielleicht doch überlegen,<br />

dich hier zu lassen.“<br />

„Ja, Herr.“<br />

„Und nenn mich nicht „Herr““ knurrte Dynes.<br />

Nachtfalke zog seinen jungen Gefährten so schnell wie möglich aus <strong>de</strong>n Fluten, doch <strong>de</strong>r Jurakai war bereits<br />

besinnungslos. Behutsam legte er <strong>de</strong>n betäubten Körper vor sich auf <strong>de</strong>n steinigen Waldbo<strong>de</strong>n und beatmete Indigo<br />

nach Leibeskräften. Sekun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Furcht, die wie halbe Ewigkeiten anmuteten, vergingen, aber die Atmung <strong>de</strong>s<br />

Jungen wollte sich nicht wie<strong>de</strong>r einstellen. Noch einmal preßte <strong>de</strong>r alte Wan<strong>de</strong>rer seine Lippen auf die Indigos und<br />

flößte ihm weiteren kostbaren Sauerstoff ein. Indigos Brustkorb bebte, und seine Lippen zuckten. Ein Schwall braunen<br />

Wassers ergoß sich über seine Lippen, und er fing zu würgen und husten an. Seine Augen schlugen auf, die Li<strong>de</strong>r<br />

flatterten, schlossen sich aber sofort wie<strong>de</strong>r. Mit <strong>de</strong>n Armen begann <strong>de</strong>r Jurakai, schwächlich nach Nachtfalke zu<br />

schlagen, und blubbern<strong>de</strong> Worte drangen aus seinem Mund.<br />

„Geh fort... du... Ungeheuer... bleib mir vom... Leib...“<br />

„Still, Indigo!“ murmelte Nachtfalke beruhigend auf ihn ein und wiegte <strong>de</strong>n durchnäßten Körper in seinen Armen.<br />

„Wir sind noch lange nicht in Sicherheit. Wenn wir nun durch <strong>de</strong>inen Wahn ent<strong>de</strong>ckt wer<strong>de</strong>n, war alles umsonst.“ Er<br />

bewegte <strong>de</strong>n triefen<strong>de</strong>n Kopf in seinen Armen, und mit <strong>de</strong>r Zeit wur<strong>de</strong>n die Worte <strong>de</strong>s Jungen seltener und leiser.<br />

„Geh... weg... Falke... wo bist du...“<br />

„Ich bin bei dir, mein junger Freund. Bitte glaube mir, es ging nicht früher.“ Er beschwichtigte <strong>de</strong>n Jurakai mit einer<br />

sanften, gesummten Melodie und preßte ihn fest gegen seine Brust. „Es wird vergehen; alles wird wie<strong>de</strong>r vergehen.<br />

Nur Geduld, und alles wird gut.“<br />

Nachtfalke versuchte, seinen eigenen Worten Glauben zu schenken.<br />

Eine lange, lange Zeit saßen die bei<strong>de</strong>n Gestalten so im Schlammbett <strong>de</strong>s Flusses, fest umschlungen und Wärme<br />

spen<strong>de</strong>nd, als die Morgendämmerung schon längst hereingebrochen und die Sonne über die Wipfel <strong>de</strong>r Bäume<br />

gekrochen war. Irgendwann am späten Nachmittag, als die gol<strong>de</strong>ne Sonne sich bereits wie<strong>de</strong>r daran machte, hinter<br />

<strong>de</strong>m Horizont zu verschwin<strong>de</strong>n, entklei<strong>de</strong>te Nachtfalke seinen Freund und bettete ihn in einen Laubhaufen. Das Wams<br />

baumelte an einem Baum, und Falke dankte Himmelfeuer, daß er eine starke Brise gesandt hatte, die die Klei<strong>de</strong>r<br />

schnell trocknete. Vorsichtig bereitete er ein kleines Lagerfeuer unter einer Ansammlung von Steinen vor, für das er<br />

nur beson<strong>de</strong>rs trockenes Holz verwen<strong>de</strong>te. Unter keinen Umstän<strong>de</strong>n wollte er die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s Wesens aus <strong>de</strong>r<br />

Nacht auf sich ziehen, <strong>de</strong>nn er zweifelte keinen Moment daran, daß es noch immer nach ihnen suchte. Bestrebt, <strong>de</strong>n<br />

entstehen<strong>de</strong>n Rauch so gut wie möglich noch in Bo<strong>de</strong>nnähe zu verteilen, kochte er eine heiße Suppe in einem kleinen<br />

Schälchen aus ihrer Habe. Zum Glück hatte er all ihre Sachen retten können, und das war wenigstens etwas, für das<br />

man dankbar sein konnte.<br />

Er saß vor <strong>de</strong>m Feuerchen und tat sein möglichstes, es am Leben zu erhalten, da es sich anschickte, bei je<strong>de</strong>m kleinen<br />

Windstoß zu flackern und beinahe zu erlöschen. Als die Suppe endlich kochte, brachte er das heiße Schälchen zu<br />

Indigo, <strong>de</strong>r bereits wie<strong>de</strong>r ein wenig zu Kräften zu gelangen schien. Er war erwacht, und zitternd hielt er die kleine<br />

Schale in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n, während er versuchte, nicht einen Tropfen <strong>de</strong>r begehrten Flüssigkeit zu verschütten. Seine<br />

hellbraune Haut war übersät mit Wun<strong>de</strong>n und Schürfungen, doch Nachtfalke, <strong>de</strong>r ihn untersucht hatte, war <strong>de</strong>r festen<br />

Überzeugung, daß keine Knochen gebrochen seien. Indigo schüttelte <strong>de</strong>n Kopf, um <strong>de</strong>utlich zu machen, daß er das<br />

nicht glauben wolle, aber selbst das schmerzte so stark, daß er es lieber sein ließ und es sich unter <strong>de</strong>m Laub bequem<br />

machte. Die Blätter, schützend vor <strong>de</strong>m Wind, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Osten blies und so kühl wie die Nacht selbst war, wirkten<br />

wie eine Decke, und <strong>de</strong>r Jurakai kam sich vor wie ein Igel, <strong>de</strong>r sich zum Winterschlaf einkuschelte. Er lächelte über<br />

diesen Gedanken, und die plötzliche Wärme aus seinem Inneren ließ einen Schauer durch seinen Körper fahren.<br />

Nachtfalke hatte ihn gerettet, obwohl er, im Sog <strong>de</strong>s Flusses, tatsächlich gedacht hatte, daß das Schattenwesen ihn<br />

soweit verfolgt und nun doch gefun<strong>de</strong>n hatte. Aber die letzte Wärme <strong>de</strong>r Sonnenstrahlen, die <strong>de</strong>n Laubhaufen und<br />

seinen Schützling darunter erhitzten, ließen die Gedanken <strong>de</strong>s Unwohlseins schnell vergehen. Mit Erstaunen dachte er<br />

wie<strong>de</strong>r an die Worte, die Falke ausgesprochen hatte, und <strong>de</strong>ren Wirkung. Konnte sein langjähriger Freund tatsächlich<br />

ein solches Geheimnis vor ihm verborgen haben? Aber ja, anscheinend hatte er es tatsächlich. Und jetzt, wo Indigo<br />

darüber nachdachte, merkte er auch, daß er <strong>de</strong>n alten Jurakai nie auf die Mächte <strong>de</strong>r Worte angesprochen hatte. Er<br />

hatte es nie für möglich gehalten, daß ein so erfahrener Schwertkämpfer und Waldläufer noch an<strong>de</strong>re Ambitionen<br />

besaß als <strong>de</strong>n Kampf von Mann gegen Mann o<strong>de</strong>r die Reise durch das Land. Doch wenn man Falkes Lebensspanne<br />

berücksichtigte schien es nicht unmöglich, sich vorzustellen, wieviel man in all <strong>de</strong>n Jahren erlernen konnte.<br />

Nach<strong>de</strong>nklich rollte Indigo ein wenig in seinem Nest aus Laub hin und her, um festzustellen, welche Stellen seines<br />

Körpers am meisten schmerzten. Nach wenigen Sekun<strong>de</strong>n gab er das Unterfangen auf, weil Krämpfe seine Beine zu<br />

durchzucken begannen.<br />

43


Nachtfalke kam zu ihm herüber und setzte sich vor <strong>de</strong>n Blätterhaufen, bemüht, ein fröhliches Gesicht zu machen.<br />

„Na, wie geht es <strong>de</strong>m Möchtegern-Fisch <strong>de</strong>nn?“ fragte er und reichte Indigo eine kleine Flasche mit einer grünlich<br />

schimmern<strong>de</strong>n Flüssigkeit. Skeptisch betrachtete <strong>de</strong>r Jurakai die Phiole, <strong>de</strong>ren Inhalt recht ungesund aussah.<br />

„Was ist das?“ verlangte er zu Wissen, jedoch ohne echten Zweifel an <strong>de</strong>r gutartigen Wirkung <strong>de</strong>r Flüssigkeit. „Willst<br />

du mich <strong>de</strong>nn auch noch vergiften, jetzt, da du es schon fast geschafft hast, mich zu ertränken?“<br />

„Ein Wurzel-Kräuter-Gemisch“, antwortete Nachtfalke und zog <strong>de</strong>n Stöpsel von <strong>de</strong>r Flasche. „Ich habe sie schon<br />

vorhin gesucht, jedoch nicht gefun<strong>de</strong>n. Sie hätte dir sicherlich geholfen, schneller zu Kräften zu kommen. Das<br />

Heilmittel ist sehr stark, und für gewöhnlich verabreiche ich es nieman<strong>de</strong>m, wenn die Situation es nicht erfor<strong>de</strong>rt. Da<br />

wir aber hier nicht lange unser Lager aufschlagen wollen, <strong>de</strong>nke ich, daß du es zu dir nehmen solltest.“<br />

Zweifel befiel das zerschrammte Gesicht <strong>de</strong>s jungen Wan<strong>de</strong>rers, als er die kleine Flasche in Hän<strong>de</strong>n hielt. „Wollen wir<br />

uns das Mittel nicht für einen späteren Zeitpunkt aufheben, Falke? Immerhin könnte es sein, daß wir es noch viel<br />

besser gebrauchen können.“<br />

Nachtfalke zeigte mit <strong>de</strong>m Finger in Richtung <strong>de</strong>r Rucksäcke und Taschen, die geschützt unter <strong>de</strong>n Felsen lagen. „Ich<br />

habe noch ein paar davon dabei“, gab er <strong>de</strong>m Jungen zu verstehen. „Es sind zwar nicht so viele, um ein ganzes Heer<br />

damit zu versorgen, aber es wird nicht übermäßig scha<strong>de</strong>n, wenn du dieses hier austrinkst.“ Sein Finger tippte leicht<br />

gegen das Glas, und Indigo hob die Phiole zum Mund und leerte sie in einem Zug. Fast sofort begann sich ein<br />

angenehmes Gefühl <strong>de</strong>r Wärme in seinem Körper auszubreiten und durch seine A<strong>de</strong>rn zu kriechen. Er fühlte sich frei,<br />

fast, als wür<strong>de</strong> er schweben, und doch wußte er, daß seine Wun<strong>de</strong>n und Blessuren so schnell nicht besser gewor<strong>de</strong>n<br />

sein konnten.<br />

„Was ist das für ein Zeug, Falke? Es verän<strong>de</strong>rt... mein Bewußtsein.“<br />

„Zuerst hilft es <strong>de</strong>m Geist, anschließend <strong>de</strong>m Körper. Die bei<strong>de</strong>n hängen eng zusammen. Ist das eine nicht gesund,<br />

kann auch das an<strong>de</strong>re sich nicht entfalten.“ Der alte Jurakai stand auf, um Indigos Wams zu holen, das neben <strong>de</strong>m<br />

Feuer gelegen hatte und ein wenig angewärmt war. Inzwischen war es vollkommen getrocknet, wenn man es auch<br />

nicht mehr als vollwertiges Kleidungsstück anerkennen konnte. Fetzen hingen überall herunter, und das Wams wies<br />

mehr Löcher auf als ein Sieb. Nachtfalkes Gefährte zog sich die luftigen Klei<strong>de</strong>r an und war erstaunt, daß er<br />

tatsächlich keine Schmerzen mehr empfand. Sein verblüffter Gesichtsausdruck blieb <strong>de</strong>m Alten nicht verborgen.<br />

„Es ist nur eine zeitweise Lin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Schmerzen, Indigo. Sie wird bald vergehen, und spätestens morgen früh<br />

wer<strong>de</strong>n dich <strong>de</strong>ine Wun<strong>de</strong>n bei je<strong>de</strong>m Schritt an <strong>de</strong>n heutigen Tag erinnern. Aber es wird weit weniger schlimm sein<br />

als vorhin, und ich <strong>de</strong>nke, du wirst laufen können.“ Er hielt inne und schien zu überlegen. Einen Finger im Wind<br />

lauschte er darauf, was die Landschaft ihm mitzuteilen hatte, wandte sich anschließend wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Jurakai zu. „Und<br />

es wird nötig sein, zu laufen. Wenn das Wesen uns noch immer auf <strong>de</strong>n Fersen ist, wird es schwierig sein, ohne<br />

weitere Probleme zur Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sommers zu gelangen. Wir sollten so bald wie möglich von hier verschwin<strong>de</strong>n.<br />

Dieser Ort ist zu ungeschützt.“<br />

Indigo nickte mü<strong>de</strong> und machte sich daran, wie<strong>de</strong>r in seinen vorgewärmten Laubhaufen zu kriechen. Wenn sie<br />

morgen schon wie<strong>de</strong>r losmarschieren wür<strong>de</strong>n, dann konnte er wenigstens heute Abend noch einmal seine<br />

geschun<strong>de</strong>nen Knochen ausruhen, fand er. Er kuschelte sich in das Laub, und Nachtfalke legte behutsam eine Decke<br />

über ihn, doch das bemerkte sein junger Freund schon gar nicht mehr. Wie er dort so friedlich in seinem Nest<br />

schlummerte, konnte Nachtfalke sich nicht dazu überwin<strong>de</strong>n, ihn wie<strong>de</strong>r aufzuwecken für eine zweite Suppe, die er<br />

auf <strong>de</strong>m Feuer aufgesetzt hatte. Er schlen<strong>de</strong>rte zurück zu <strong>de</strong>n Felsen, trank die heiße Flüssigkeit selbst und machte<br />

sich fertig für die Nacht. Bei ihm allerdings bestan<strong>de</strong>n die Vorkehrungen aus mehr als bloßem Zu<strong>de</strong>cken und<br />

Einkuscheln in warme Blätter. Er entzün<strong>de</strong>te ein kleines, rauchen<strong>de</strong>s Stäbchen neben seinem Lager, das bis tief in die<br />

Nacht brannte. Als das kleine Ding nach langer Zeit erlosch, öffnete Nachtfalke die Augen, rollte sich zu seinem<br />

Rucksack und entzün<strong>de</strong>te ein weiteres <strong>de</strong>r seltsamen Stäbchen. Der Rauch hüllte <strong>de</strong>n kleinen freien Fleck ein, und bis<br />

zum Morgen schlief <strong>de</strong>r Jurakai ohne ein weiteres Erwachen. Fast zeitgleich mit <strong>de</strong>m letzten Funken, <strong>de</strong>r vom<br />

zischen<strong>de</strong>n Stab sprang, stand Nachtfalke im Morgengrauen auf und betrachtete das abgebrannte Ding interessiert.<br />

Nach eingehen<strong>de</strong>m Studium machte er einen zufrie<strong>de</strong>nen Gesichtsausdruck und fing an, die Sachen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />

Jurakai zusammenzupacken. Er begann, ein fröhliches Lied zu pfeifen und die Spuren <strong>de</strong>r Feuerstelle zu verwischen.<br />

Die Asche schob er in die Ritzen <strong>de</strong>r Felsen, und die Reste von Holzstücken warf er zurück in <strong>de</strong>n Weilerwald. In<br />

weitaus besserer Stimmung als am Vorabend sog er die frische, klare Luft <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s ein und ließ sie mit einem<br />

lauten Schnaufen wie<strong>de</strong>r entweichen.<br />

Er schlen<strong>de</strong>rte zu <strong>de</strong>m kleinen Häuflein, das Indigos Nest markierte und schob sanft die Blätter beiseite. Der zu Tage<br />

geför<strong>de</strong>rte Jurakai, gera<strong>de</strong> erwacht, nieste heftig, als die Sonne ihm mitten ins Gesicht schien, und er versuchte, die<br />

Decke wie<strong>de</strong>r über sich zu ziehen. Knurrend rollte er von Nachtfalke fort.<br />

„Einen guten Morgen, junger Schläfer. Ich weiß, das Mittel wird seine Wirkung verloren haben, doch es sollte dir<br />

eigentlich so gut gehen, daß wir aufbrechen können.“<br />

Unter einem lauten Ächzen streckte Indigo seine steifen Glie<strong>de</strong>r und war erstaunt, wie wenig sie schmerzten. Er erhob<br />

sich und lief ein paar Schritte zur Probe, doch auch das entlockte seinen Muskeln nicht mehr als ein wenig Ziehen.<br />

Die quälen<strong>de</strong>n, stechen<strong>de</strong>n Beschwer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s letzten Tages waren wie aufgelöst.<br />

44


„Na, siehst du“, schmunzelte Nachtfalke mit einem leichten Grinsen auf <strong>de</strong>m faltigen Gesicht. „Wenn du so gut laufen<br />

kannst, schaffen wir es vielleicht sogar heute noch, das Lager <strong>de</strong>s Volkes zu erreichen. Dort wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>ine Blessuren<br />

dann richtig behan<strong>de</strong>lt.“ Der Sarkasmus, <strong>de</strong>r in seiner Stimme lag, war unverkennbar, doch Indigo ging nicht darauf<br />

ein.<br />

Nachtfalke überließ seinem jungen Gefährten seinen eigenen Mantel, <strong>de</strong>n einzigen, <strong>de</strong>n sie noch besaßen. Indigos<br />

mußte irgendwo auf <strong>de</strong>r hastigen Flucht verloren gegangen sein, doch wenigstens heute war es <strong>de</strong>m alten Jurakai egal,<br />

ob er einen Mantel trug o<strong>de</strong>r nicht. Er freute sich ebenso wie sein Freund, bald am vorläufigen Ziel zu sein. Fröhlich<br />

brachen sie ihr Lager ab und machten sich auf <strong>de</strong>n erneuten Weg durch <strong>de</strong>n Wald, <strong>de</strong>r diesmal allerdings wesentlich<br />

kürzer war. Indigo trat anfangs noch vorsichtig auf, um keinen Muskel zu viel zu beanspruchen und sein schwaches<br />

Fleisch zu schonen. Doch bereits nach einer Stun<strong>de</strong> Wan<strong>de</strong>rzeit hatte er sich an das leichte Ziehen gewöhnt, das durch<br />

seine Körperpartien zuckte, sobald er einen Schritt tat, und sie konnten in normaler Geschwindigkeit voranschreiten.<br />

Nach nur zwei weiteren Wan<strong>de</strong>rstun<strong>de</strong>n - die Sonne stand noch lange nicht im Zenit - erreichten sie die letzten<br />

Ausläufer <strong>de</strong>s Weilerwalds. Von hier erstreckten sich vereinzelte Grüppchen von Bäumen ins Grasland, wie Arme aus<br />

<strong>de</strong>m tiefen Wald ragend. Nachtfalke rechnete damit, spätestens bis zum frühen Abend am Ziel zu sein, und die bei<strong>de</strong>n<br />

legten einen Schritt zu. Nach<strong>de</strong>m sie ein paar kleine Hügel überwun<strong>de</strong>n und zwei Flüsse überquert hatten, zeigte<br />

Indigo über <strong>de</strong>n Wald, und die Wan<strong>de</strong>rer hielten inne.<br />

„Eine Rauchfahne, Falke“, sagte er und <strong>de</strong>utete auf die schwarzen Wolken, die hinter einem kleinen Laubwäldchen<br />

hervorkrochen. Eine üble, dreckige Farbe haftete an <strong>de</strong>n Schwa<strong>de</strong>n.<br />

„Hinter <strong>de</strong>m Wäldchen befin<strong>de</strong>t sich die Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sommers“, meinte Nachtfalke erklärend. „Vielleicht machen sie<br />

ein großes Feuer. Komm, laß uns schneller laufen, damit wir bald da sind.“<br />

Indigo folgte seinem Freund, obwohl immer wie<strong>de</strong>r leichte Wellen <strong>de</strong>s Schmerzes durch seine Glie<strong>de</strong>r jagten. Aber die<br />

Vorfreu<strong>de</strong> ließ ihn die Beschwer<strong>de</strong>n vergessen, und so hatten sie das kleine Wäldchen bald umrun<strong>de</strong>t, und ihr Blick<br />

reichte in das weite Tal.<br />

Die Rauchschwa<strong>de</strong>n waren tatsächlich vom Lager aufgestiegen, jedoch war das Feuer, das in <strong>de</strong>r Zeltstadt brannte,<br />

bestimmt nicht beabsichtigt.<br />

Das Lager <strong>de</strong>r Jurakai, die Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sommers, stand in Flammen!<br />

45


III<br />

To<strong>de</strong>s Spuren<br />

Furcht ist eine oftgeübte Art, Gefahr zu konfrontieren.<br />

Kenne die Furcht, und du wirst dich selbst kennen.<br />

Naigaras „Nachtfalke“ Shen’tasume<br />

Aus „Chronik <strong>de</strong>r Jurakai“ von Asan An‘chassar<br />

Panik ergriff Indigo, als er die lo<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Trümmer <strong>de</strong>r Zeltstadt vor sich liegen sah. Er schrie entsetzt auf und wollte<br />

auf das vernichtete Dorf zurennen, als Nachtfalke ihn am Arm ergriff und zurückzog. Mit leichtem, aber<br />

entschlossenem Druck umfaßte <strong>de</strong>r Alte seine Muskeln, die sich vor Kummer und Leid anspannten und<br />

zusammenzogen.<br />

„Falke!“ rief Indigo und preßte sich in Richtung <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong>. „Was ist hier geschehen? Was ist hier nur geschehen?“ In<br />

seinen Augen stan<strong>de</strong>n Tränen. Die letzten aufrechten Zelte brannten prasselnd weiter, während <strong>de</strong>r Junge einen<br />

Kampf mit sich selbst ausfocht, <strong>de</strong>n er nicht gewinnen konnte. Letztendlich war es Nachtfalkes starker Griff, <strong>de</strong>r ihn<br />

davon abhielt, blindlings in die ehemalige Stadt zu rennen.<br />

„Ich habe keine Ahnung“, gestand <strong>de</strong>r erfahrene Jurakai, und auch in seinen Augen schimmerte das Wasser. „Aber es<br />

wäre falsch, überstürzt zu han<strong>de</strong>ln. Wer auch immer dies hier angerichtet haben mag – er könnte noch immer in <strong>de</strong>r<br />

Stadt sein.“<br />

Unwillkürlich zuckte Indigos Hand zu <strong>de</strong>r Stelle, an <strong>de</strong>r sein Schwert sich hätte befin<strong>de</strong>n sollen. Doch anstatt <strong>de</strong>r<br />

le<strong>de</strong>rnen Schei<strong>de</strong> fühlte er nur leere Luft. Mit Trauer erinnerte er sich daran, daß die Waffe irgendwo bei <strong>de</strong>r Eiche<br />

liegengeblieben war, da Nachtfalke nur ihre Taschen und Rucksäcke gerettet hatte. Wut übermannte ihn, und erneut<br />

wollte er auf die Trümmer <strong>de</strong>r Stadt zulaufen, doch wie zuvor hielt ihn sein Freund auch dieses Mal zurück.<br />

Das, was von <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sommers noch übriggeblieben war, bot keinen schönen Anblick. Die meisten Zelte waren<br />

bereits abgebrannt, und nur noch ein kläglicher Rest stand in Flammen, die jedoch ebenfalls langsam zu erlöschen<br />

begannen. Das Gras war zerwühlt und wirkte wie gepflügt, an manchen Stellen waren Furchen von mehreren Fuß<br />

Tiefe zu sehen. Er<strong>de</strong> befand sich in allen Ritzen und Nischen <strong>de</strong>r Stadt. Überall im Lager verteilt lagen die zerfetzten<br />

und verkohlten Leichen von Jurakai, in einem Fluchtversuch o<strong>de</strong>r während <strong>de</strong>s Kampfes getötet. Manche von ihnen<br />

hatten es geschafft, das Dorf hinter sich zu lassen und <strong>de</strong>n Hügel hinaufzulaufen, doch irgendwo zwischen <strong>de</strong>m<br />

Laubwald und <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> hatte Etwas sie doch noch erwischt. Die verstümmelten Körper schwelten in <strong>de</strong>r Asche <strong>de</strong>r<br />

Stadt, und <strong>de</strong>r Wind trug einen übelkeiterregen<strong>de</strong>n Gestank über die Fel<strong>de</strong>r. An manchen Stellen schimmerte eine<br />

Flüssigkeit in einer kleinen Rille, bil<strong>de</strong>te Pfützen. Bei näherer Betrachtung stellte sie sich als Blut heraus. In <strong>de</strong>m<br />

ganzen Dorf gab es kein Geräusch außer <strong>de</strong>m brennen<strong>de</strong>n, knacksen<strong>de</strong>n Feuer und <strong>de</strong>m gelegentlichen Brechen von<br />

Holzbalken, die <strong>de</strong>r Hitze nachgaben. Ein drehen<strong>de</strong>r Wind ließ die Rauchfahne wie einen Wirbel in <strong>de</strong>n Himmel<br />

aufsteigen, <strong>de</strong>r so schwarz schien wie Indigos Gedanken. All seine Freun<strong>de</strong> - abgesehen von <strong>de</strong>nen natürlich, die zum<br />

Königlichen Hof aufgebrochen waren – hatten sich in dieser Sommerstadt befun<strong>de</strong>n. Seine Eltern, seine Freun<strong>de</strong> und<br />

alle diejenigen, die er von Kleinauf gekannt hatte... sie alle hatten hier gelebt... und nun waren sie hier auch<br />

gestorben. Tränen <strong>de</strong>r Wut und <strong>de</strong>s Zorns flossen über die Wangen <strong>de</strong>s Jungen, als er einen kleinen Hustenanfall<br />

bekam durch <strong>de</strong>n Wind, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Rauch genau zu <strong>de</strong>n Jurakai auf <strong>de</strong>n Hügel trieb.<br />

Langsamen, bedächtigen Schrittes ging Nachtfalke auf das Lager zu, doch Indigo merkte nichts davon. Sein Blick war<br />

wie in Trance auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n gerichtet, seine Augen weit geöffnet. Er würgte und hustete, und sein Herz schlug<br />

dumpf. Hier lag <strong>de</strong>r auf grausame Weise geschän<strong>de</strong>te Kopf von Malnir, einem Jurakai, <strong>de</strong>r nur wenige Jahre älter als<br />

Indigo selbst gewesen war - dort <strong>de</strong>r Körper irgen<strong>de</strong>ines an<strong>de</strong>ren Angehörigen <strong>de</strong>s Volkes, jedoch zur Unkenntlichkeit<br />

verstümmelt. Der Geruch von verbranntem Fleisch betäubte Indigos Geruchssinn zunehmend, und er war dankbar<br />

dafür. Alle paar Sekun<strong>de</strong>n mußte Nachtfalke verharren und auf ihn warten, da er sich auf die Wiese übergeben mußte<br />

o<strong>de</strong>r einfach nicht weiterlaufen konnte, weil seine Beine so sehr zitterten, daß sie ihn keinen Schritt mehr trugen.<br />

Nachtfalke hingegen war die Beherrschung selbst, einerseits, weil das Grauen ihn noch nicht ganz erreicht hatte,<br />

an<strong>de</strong>rerseits, weil er noch immer Obacht auf einen Hinterhalt geben mußte.<br />

Als sie die zu Bo<strong>de</strong>n gestürzten, zerbrochenen Pforten <strong>de</strong>s Dorfes passierten, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Geruch entgegen aller<br />

Erwartungen sogar noch schlimmer. Hatte vorher <strong>de</strong>r Gestank von verkohlten Leichen und Exkrementen in <strong>de</strong>r Luft<br />

gelegen, mischte sich hier noch etwas an<strong>de</strong>res dazu. Es roch nach... Furcht. Lei<strong>de</strong>nschaftliche, gemeinsame Furcht<br />

vor <strong>de</strong>m Tod, <strong>de</strong>r hierher geeilt war und die friedlieben<strong>de</strong>n Jurakai auf so gräßliche Art und Weise abgeschlachtet<br />

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hatte. Wohin Indigo seine Blicke auch wand: Überall tauchten bekannte Gesichter vor ihm auf, in Masken <strong>de</strong>s<br />

Grauens erstarrt o<strong>de</strong>r zur Unkenntlichkeit verbrannt. Die Leichen hingen in <strong>de</strong>n Eingängen <strong>de</strong>r Zelte, waren auf<br />

Pfähle gespießt wor<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r lagen einfach nur auf <strong>de</strong>m blutroten Bo<strong>de</strong>n. Das Blut... diese riesige Menge von Blut<br />

konnte man förmlich riechen! Säuerlich und warm schien er zu sein, <strong>de</strong>r Geruch, ganz und gar nicht so tot, wie die<br />

Gesichter und Augen <strong>de</strong>r Leichen.<br />

Je weiter sie in die Wei<strong>de</strong> vordrangen, <strong>de</strong>sto schlimmer wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Anblick, und selbst Nachtfalke konnte sich in<br />

einigen beson<strong>de</strong>rs wi<strong>de</strong>rlichen Fällen nicht mehr zurückhalten. Er übergab sich, auf die Knie gestützt, auf <strong>de</strong>n<br />

verkrusteten Bo<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r einst ein blühen<strong>de</strong>r Rasen gewesen sein mußte. Allerdings <strong>de</strong>utete nichts mehr darauf hin.<br />

„Wann ist das wohl passiert?“ fragte Indigo, während er versuchte, nur durch sein dickes Hemd zu atmen, um so <strong>de</strong>n<br />

Gestank <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s abzumil<strong>de</strong>rn.<br />

Nachtfalke hustete und spuckte angewi<strong>de</strong>rt, und auch er zog sich das Wams bis über die Nase. „Schwer zu sagen“,<br />

keuchte er. „Aber ich wür<strong>de</strong> schätzen, min<strong>de</strong>stens ein paar Stun<strong>de</strong>n. Ich habe mir ein paar <strong>de</strong>r Leichen näher<br />

angesehen - sie sind bereits steif. Bitte, re<strong>de</strong> jetzt nicht mehr, solange dieser Gestank so überwältigend ist.“<br />

Indigo nickte. Ihm fiel auf, daß überall große Löcher und Schächte ein Stück in die Er<strong>de</strong> hinein führten, dann aber<br />

von Geröll und Lehm verschlossen wur<strong>de</strong>n. Seltsam, worauf man alles achtet, dachte er im Stillen. Nichts als Tote<br />

und wie<strong>de</strong>r Tote, aber ich sehe nur die unnatürlichen Erdaufhäufungen und Furchen.<br />

Nachtfalke nahm ihn am Arm, als sie das Zelt von Indigos Eltern erreichten. Es war eingestürzt, aber da das gesamte<br />

Leinen verbrannt war, konnte man zwei Körper ausmachen, die sich auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n in einer Umarmung <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s<br />

krümmten. Die Leichen waren nur mehr Skelette, ihre Haut und ihr Fleisch waren entwe<strong>de</strong>r schwarz o<strong>de</strong>r gar nicht<br />

mehr vorhan<strong>de</strong>n. Indigo blieb stehen und blickte angestrengt in an<strong>de</strong>re Richtungen, während Nachtfalke vorsichtig<br />

durch die Asche trat und sich bei <strong>de</strong>n Körpern bückte. Er griff in die Nähe eines Schä<strong>de</strong>ls und schien etwas<br />

aufzuheben. Die stummen Blicke <strong>de</strong>r leeren Augenhöhlen sahen ihn qualvoll an, und Nachtfalke überkam ein Gefühl<br />

<strong>de</strong>r Trauer. Er strich liebevoll über das tote Antlitz und murmelte etwas zum Abschied.<br />

„Jindara und Teagar...“ er entbot <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Leichen einen ehrenvollen Gruß, wobei er sein Haupt neigte und die<br />

flache Hand auf <strong>de</strong>n Bauch legte. Dann sank er auf die Knie und begann zu schluchzen. Sein Körper erbebte unter <strong>de</strong>r<br />

Trauer <strong>de</strong>r Seele. „Mein lieber Teagar, ich bitte dich um Vergebung. Ich konnte dir nicht helfen, weil ich <strong>de</strong>inen Sohn<br />

auf <strong>de</strong>m Weg hierher begleitete. Verzeih mir, daß ich zur schmerzvollsten Stun<strong>de</strong> nicht anwesend... sein konnte.“<br />

Seine Stimme wur<strong>de</strong> heiser, und er geriet ins Stocken. „Ich schwöre, daß ich... alles tun wer<strong>de</strong>, um Indigo zu<br />

beschützen, was immer auch kommen möge. Ruhe in Frie<strong>de</strong>n, mein Freund.“ Er erhob sich und straffte seine<br />

Schultern, um seinen Worten Kraft zu verleihen und <strong>de</strong>n Toten zu ehren. Dann folgte er seiner Spur zurück zu Indigo,<br />

<strong>de</strong>r am Eingang <strong>de</strong>s zerstörten Zeltes wartete und versuchte, die Tränen wegzublinzeln.<br />

„Hier“ sagte Nachtfalke und schob seinem Gefährten ein kleines Medaillon in die Hän<strong>de</strong>. „Es gehörte <strong>de</strong>inem Vater,<br />

und ich <strong>de</strong>nke, er wür<strong>de</strong> wollen, daß du es bekommst. Bitte bewahr es mit Sorgfalt auf.“<br />

Indigo blickte Nachtfalke verzweifelt an, doch <strong>de</strong>r Alte konnte ihm keinen Trost spen<strong>de</strong>n. Traurig schüttelte er <strong>de</strong>n<br />

Kopf und schloß die Augen. Dann fiel <strong>de</strong>r Junge ihm in die Arme und versuchte, allen Schmerz herauszuschreien. Er<br />

brüllte und brüllte, schrie die Ungerechtigkeit in die Welt hinaus. Er schluchzte in Nachtfalkes Wams, und als er<br />

heiser gewor<strong>de</strong>n war, zitterte er und klammerte sich fest.<br />

Nachtfalke umschloß ihn mit <strong>de</strong>n Armen und drückte ihn gegen seine Brust.<br />

Ein starker Nordwind wehte über die zerfallene Stätte <strong>de</strong>r Vernichtung, blies <strong>de</strong>n Gestank fort und ließ die weiße<br />

Asche in <strong>de</strong>n Himmel aufsteigen. Spiralförmig tänzelte sie in <strong>de</strong>r Luft, schwebte herab und wur<strong>de</strong> neuerlich vom<br />

Wind erfaßt.<br />

Indigo stand inmitten <strong>de</strong>s Ascheregens, <strong>de</strong>r um ihn herum nie<strong>de</strong>rfiel und die Wiesen in ein vorwinterliches Weiß<br />

klei<strong>de</strong>te. Die herumgewirbelten Flocken drangen ihm in Mund, Nase und Augen, und bald fiel ihm das Atmen schwer<br />

und er wur<strong>de</strong> von Hustenanfällen geschüttelt. Er ließ jedoch nicht von seiner Aufgabe ab, bei <strong>de</strong>r er sogar Nachtfalkes<br />

Hilfe abgelehnt hatte. Dies mußte er erledigen - er war es seinen Eltern schuldig. Mit einem Schwert lockerte er <strong>de</strong>n<br />

harten Bo<strong>de</strong>n auf, warf die Er<strong>de</strong> beiseite und schaufelte sie mit <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m Loch. Immer tiefer wur<strong>de</strong> es,<br />

während die Kräfte <strong>de</strong>n Jurakai verließen. Es kam ihm vor, als wür<strong>de</strong> er Stun<strong>de</strong>n an dieser kleinen Vertiefung<br />

arbeiten, und noch immer war er nicht soweit vorgedrungen, wie er wollte. Mit verzweifelten Stößen zerfurchte er die<br />

Er<strong>de</strong>, schlug auf sie ein, als wäre sie Schuld an <strong>de</strong>r Vernichtung <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong>. Langsam baute sich die Wut ab, die<br />

Schwärze vor seinen Augen schwand, und <strong>de</strong>r Druck, <strong>de</strong>r auf seiner Seele lastete, drückte nicht mehr ganz so stark<br />

und unbarmherzig zu. Mit je<strong>de</strong>m weiteren Schlag auf <strong>de</strong>n schutzlosen Bo<strong>de</strong>n und gegen einen körperlosen Feind<br />

verebbte sein Zorn, und nach ein paar weiteren Schwüngen verharrte er nie<strong>de</strong>rgeschlagen.<br />

Er setzte sich zu Bo<strong>de</strong>n und holte die Steine und Erdklumpen aus <strong>de</strong>m Loch, riß sich seine Fingernägel auf, während<br />

er an <strong>de</strong>n Rän<strong>de</strong>rn kratzte und die Mul<strong>de</strong> erweiterte. Seine dreckigen, kalten Hän<strong>de</strong> schmerzten mit je<strong>de</strong>m weiteren<br />

Hineinfahren und Ausheben, und wie<strong>de</strong>r füllten Tränen seinen Blick und verschleierten die Sicht auf seine Arbeit. Ein<br />

Trauerlied schlich sich auf seine Lippen, und ohne es zu bemerken, begann er, die Melodie zu summen. Irgendwann<br />

sang er leise vor sich hin, während er <strong>de</strong>n schmutzigen Bo<strong>de</strong>n zerwühlte, ein heulen<strong>de</strong>r Maulwurf, <strong>de</strong>r sich ins<br />

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Erdreich grub. Es war nicht mehr als ein Sprechgesang, ein klagen<strong>de</strong>s Lied <strong>de</strong>r Einsamkeit, doch die alten, vertrauten<br />

Worte hüllten seine Sinne gnädig ein und ließen die äußere Welt verblassen.<br />

und so starren <strong>de</strong>ine Augen ins Leere<br />

vielleicht schließen sich Tränen an<br />

nur, daß ich mich dagegen wehre<br />

und <strong>de</strong>in Körper das nicht mehr kann<br />

so wie <strong>de</strong>in Mund niemals mehr lacht<br />

o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ine Hand mich zärtlich faßt<br />

wieso haben wir nicht mehr Zeit miteinan<strong>de</strong>r verbracht?<br />

wieso lebten wir mit solcher Hast?<br />

<strong>de</strong>in süßer Mund steht ganz leicht offen<br />

obwohl du nicht mehr atmen wirst<br />

und ebenfalls nicht darauf hoffen<br />

daß du <strong>de</strong>in Leben nicht verlierst<br />

ganz so, als wenn du traurig bist<br />

sind <strong>de</strong>ine Mundwinkel verzerrt<br />

ich hab <strong>de</strong>in Lächeln so vermißt<br />

<strong>de</strong>in toter Leib ist so verkehrt<br />

darf ich noch mal <strong>de</strong>ine Finger spüren?<br />

sie sind so unerwartet kalt<br />

ich hoffe, man wird dich ins Warme führen<br />

und vielleicht komme ich ja bald?<br />

sei nur noch einmal hier bei mir<br />

so wie du es immer warst<br />

und ich bin ewig hier bei dir<br />

wie du auf <strong>de</strong>inem Bett verharrst<br />

ich wer<strong>de</strong> nun <strong>de</strong>ine Augen schließen<br />

<strong>de</strong>nn du brauchst sie jetzt nicht mehr<br />

endlich spür ich die Tränen fließen<br />

gegen die ich mich nicht mehr wehr<br />

<strong>de</strong>nn irgendwann wird <strong>de</strong>in Körper verweht<br />

doch ich schwöre, ich vergess dich nie<br />

für Liebe ist es jetzt zu spät<br />

und alles, was bleibt, ist weiße Magie<br />

Als das letzte Wort verklungen war, hatte das Loch endlich eine angemessene Tiefe erreicht, und während er<br />

weiterhin die wun<strong>de</strong>rschöne, aber traurige Melodie summte, zerrte er die Körper seiner Eltern herbei. Er umarmte die<br />

Leichen und schenkte ihnen ein schiefes Lächeln, das erneut Tränen aufsteigen ließ. Sanft legte er die Leiber in die<br />

ausgehöhlte Grube und be<strong>de</strong>ckte sie mit <strong>de</strong>r weißen Asche, die überall herumlag.<br />

„Schlaft schön“, verabschie<strong>de</strong>te er sich von ihnen, und dann schaufelte er das Loch schnell zu. Mit je<strong>de</strong>r weiteren<br />

Handvoll Er<strong>de</strong> schien die Vergangenheit ein Stückchen weiter nach hinten zu rutschen, an Be<strong>de</strong>utung zu verlieren.<br />

Indigos Bemühungen mehrten sich, und bald waren die Gebeine <strong>de</strong>r zwei Jurakai fest unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> verschlossen. Als<br />

er fertig war, hatte er innerlich bereits mit <strong>de</strong>m Geschehenen abgeschlossen. Seine Augen waren trocken und sein<br />

Blick scharf. Eine unbekannte Kälte erfüllte sein Herz, doch mit sanftem Ausdruck starrte er auf <strong>de</strong>n Erdhaufen herab.<br />

Ein wenig abseits hatte Nachtfalke, auf einem Stein sitzend, Indigo schweigend beobachtet. Nun kam auch er zu <strong>de</strong>m<br />

Grab, und gemeinsam verweilten sie einige Zeit stumm vor <strong>de</strong>m Hügel, eingehüllt im Ascheregen wie in einem<br />

warmen Schneesturm.<br />

„Sie wer<strong>de</strong>n in Frie<strong>de</strong>n ruhen“, sagte Nachtfalke schließlich und brach damit <strong>de</strong>n Bann. „Ebenso wie alle an<strong>de</strong>ren<br />

Jurakai, die noch in <strong>de</strong>r Stadt liegen. Ich bedauere es zutiefst, aber lei<strong>de</strong>r bleibt uns nicht die Zeit, noch haben wir die<br />

Kraft, um ihnen allen ein würdiges Begräbnis zu verschaffen.“<br />

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Mit kalten Augen starrte Indigo seinen Freund an. Seine Gedanken sagten ihm, daß er trauern sollte, doch seine<br />

Gefühle schienen verloschen. Die bittere Kälte, die sich auf sein Herz gelegt hatte, breitete sich in seinem Körper aus,<br />

und zu seinem Erstaunen war er nicht imstan<strong>de</strong>, noch weitere Schmerzen zu empfin<strong>de</strong>n. Wie ein eisiger Mantel<br />

umschmiegte die Bitterkeit seine Seele und verbrannte alle Trauer in ihr. Er schluckte hart und wandte seinen Blick<br />

von <strong>de</strong>m Grab ab.<br />

„Wir gehen zum König“, sagte Indigo unvermittelt, und seine Stimme klang fest und entschlossen. „Wir wer<strong>de</strong>n am<br />

Hof berichten, was in Ruben vorgeht, und anschließend wer<strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>n Rittern helfen, dieses Übel aus <strong>de</strong>r Welt zu<br />

schaffen. Was auch immer es ist, ich wer<strong>de</strong> es vernichten, so wie es alle meine Freun<strong>de</strong> vernichtet hat!“ Es war keine<br />

bloße Feststellung. Es war eine Prophezeiung, und tief in seinem Herzen wußte er, daß er sie entwe<strong>de</strong>r erfüllen o<strong>de</strong>r<br />

bei <strong>de</strong>m Versuch sterben wür<strong>de</strong>. In bei<strong>de</strong>n Fällen hatte er gewonnen.<br />

„Falke?“<br />

„Mein Freund?“ sagte <strong>de</strong>r Jurakai sanft - sein Gesicht sah zum ersten Mal, seit Indigo ihn kannte, tatsächlich alt aus.<br />

„Laß uns aufbrechen. Hier gibt es für uns nichts mehr zu tun.“ Die Entschlossenheit in <strong>de</strong>r Stimme <strong>de</strong>s Jungen<br />

überraschte Nachtfalke. Er hatte angenommen, daß sie wenigstens kurz in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>r ehemaligen Wei<strong>de</strong> verweilen<br />

wür<strong>de</strong>n. Der Tatendrang seines Schülers stärkte ihn, ließ ihn zugleich aber an Indigos Worten zweifeln. Sie konnten<br />

nicht sofort aufbrechen. Es gab noch Dinge, die getan wer<strong>de</strong>n mußten. Das erklärte er auch seinem jungen Gefährten.<br />

„Was kann noch wichtig sein, außer, zum Hof zu gelangen und die Höllenbrut zu vernichten, die hier am Werk war?<br />

Was kann <strong>de</strong>nn nicht warten, bis wir wie<strong>de</strong>r zurückkehren?“ Sofort bereute Indigo seine harten Worte - immerhin war<br />

Nachtfalke sein bester Freund und hatte in normalem Tonfall mit ihm gesprochen.<br />

„Willst du <strong>de</strong>m Feind unbewaffnet gegenübertreten?“ entgegnete <strong>de</strong>r Alte mit <strong>de</strong>r gleichen Schärfe. „Wie willst du<br />

dich verteidigen? Mit Entschlossenheit und Blicken, die töten? Sieh das Schwert an, das du in <strong>de</strong>r Hand hältst – es ist<br />

schartig und stumpf. Wirf es wie<strong>de</strong>r zurück zu Bo<strong>de</strong>n, Indigo.“<br />

Verdammt! Indigo biß sich auf die Lippe. Das hatte er vollkommen vergessen. Natürlich brauchte er noch eine Waffe<br />

- sein eigenes Schwert war ja lei<strong>de</strong>r irgendwo im Wald verschollen, und diese Klinge, die er unter <strong>de</strong>r Asche gefun<strong>de</strong>n<br />

hatte, war alles an<strong>de</strong>re als brauchbar.<br />

„Es tut mir leid, Falke. Natürlich brauche ich eine Waffe.“<br />

„Dann sollten wir noch ein letztes Mal in die Wei<strong>de</strong> gehen, Indigo. Im zerstörten Zelt <strong>de</strong>iner Eltern müssen sich auch<br />

ihre Habseligkeiten befin<strong>de</strong>n. Mitunter Teagars Schwert... ich <strong>de</strong>nke, <strong>de</strong>in Vater hätte gewollt, daß du seine Klinge im<br />

Kampf führst.“<br />

Überrascht blickte Indigo seinen Freund an. „Er besitzt das Schwert noch immer? Die Waffe aus <strong>de</strong>r Schlacht um <strong>de</strong>n<br />

Königshof, von <strong>de</strong>r du mir erzählt hast? Obwohl er geschworen hat, nie wie<strong>de</strong>r zu töten o<strong>de</strong>r zu verletzen?“<br />

„Er behan<strong>de</strong>lte das Schwert wie ein Heiligtum, Indigo. Er säuberte es je<strong>de</strong>n Tag gründlich, um somit die Erinnerung<br />

an die Verlorenen Freun<strong>de</strong> aufrecht zu erhalten, die er bei <strong>de</strong>r Schlacht verlor. Die Klinge ist geschärft und blank,<br />

<strong>de</strong>nke ich. Falls <strong>de</strong>in Vater sie nicht hervornahm, als er angegriffen wur<strong>de</strong>, dann müßte sie in einer gut<br />

verschlossenen Hülle lagern und nur darauf warten, benutzt zu wer<strong>de</strong>n. Und wie ich <strong>de</strong>inen Vater gekannt habe, hat er<br />

das Schwert nicht hervorgeholt, um zu kämpfen.“<br />

„Ja, er war sehr... friedliebend. Ich kann mich gar nicht erinnern, ihn jemals mit einem Schwert gesehen zu haben.<br />

Anscheinend hat er es nur dann gesäubert, wenn ich nicht anwesend war. Nun, wenn es so ist wie du sagst, dann<br />

sollten wir uns beeilen. Wir holen das Schwert und besorgen uns Proviant, falls noch welcher unversehrt geblieben<br />

sein sollte. Dann können wir aufbrechen.“<br />

„Dein Tatendrang in Ehren, junger Freund. Aber vergiß nicht, daß wir auch schlafen sollten und uns ausruhen. Vor<br />

allem du - <strong>de</strong>ine Wun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s unfreiwilligen Ausflugs ins kühle Naß sind noch nicht einmal annähernd verheilt. Gib<br />

acht, daß du dich nicht übernimmst.“<br />

Indigo lachte bitter. „Die Wun<strong>de</strong>n spüre ich kaum noch. Komm, laß uns die Wei<strong>de</strong> aufsuchen.“<br />

Wie zwei Bergsteiger stapften die bei<strong>de</strong>n Gestalten durch die weißen Flocken, hinterließen Fußspuren, die sofort von<br />

weiterem Staub zuge<strong>de</strong>ckt wur<strong>de</strong>n. Es war unglaublich, wieviel Asche hier herumlag; es schien nicht einmal<br />

genügend Zelte gegeben zu haben für so viel verbrannte Überreste.<br />

Die zerstörte Stadt lag vollkommen ruhig in <strong>de</strong>r Mul<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Tales. Nur das Pfeifen <strong>de</strong>s Win<strong>de</strong>s war zu hören, <strong>de</strong>r noch<br />

immer die Ascheflocken herumwirbelte und tanzen ließ. Der Geruch hatte sich, dank <strong>de</strong>r Kälte, ein wenig gelegt. Die<br />

Leichen waren entwe<strong>de</strong>r am abgekühlten Bo<strong>de</strong>n festgefroren, o<strong>de</strong>r sie lagen irgendwo auf einem Rest von Leinen o<strong>de</strong>r<br />

Holz, das sich blutrot gefärbt hatte.<br />

Wenigstens etwas Gutes hatte dieses verdammte Wetter, dachte Indigo bei sich, als sie die fahlen Stellen passierten,<br />

wo einst bunte Banner auf Zelten geweht hatten. Der Ort bot nun wenig mehr als eine trübe Erinnerung an<br />

vergangene, schönere Zeiten. Gnädigerweise waren die Gesichter <strong>de</strong>r Toten ebenfalls von <strong>de</strong>r weißen Asche be<strong>de</strong>ckt<br />

wor<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>r Wind mit sich riß und verteilte.<br />

Als sie wie<strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>m Zelt von Indigos Eltern stan<strong>de</strong>n, hielt <strong>de</strong>r Junge Ausschau nach etwas, das wie <strong>de</strong>r<br />

Aufbewahrungsort eines Schwertes aussehen konnte. Aber Nachtfalke ging zielstrebig durch die verbrannten Laken<br />

und Balken, bis er das entfernte En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s einstmaligen Zeltes erreichte. Nach<strong>de</strong>m er ein wenig von <strong>de</strong>r breiigen<br />

Masse, die <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n be<strong>de</strong>ckte, beiseite geschaufelt hatte, för<strong>de</strong>rte er eine große, metallisch glänzen<strong>de</strong> Schatulle zu<br />

49


Tage. Behutsam nahm er sie in die Arme und brachte sie zu Indigo. Er versuchte, <strong>de</strong>n Kasten zu öffnen, doch<br />

anscheinend waren die Schließmechanismen bei <strong>de</strong>r Hitze geschmolzen, o<strong>de</strong>r irgen<strong>de</strong>twas an<strong>de</strong>res hin<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>n Alten<br />

daran, das Schwert aus <strong>de</strong>r Schatulle zu bekommen. Er zog seine Klinge und stemmte sie in einen kleinen Schlitz am<br />

Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Kastens. Dann lehnte er sich dagegen, so daß er die Hebelwirkung am besten ausnützen konnte.<br />

„Paß auf, daß du es nicht beschädigst, Falke! Dein Schwert, meine ich.“ Noch während Indigo diese Worte<br />

hervorbrachte, sprang die Schatulle auf und offenbarte eine stoffüberzogene Schei<strong>de</strong>. In allen Farben <strong>de</strong>s Regenbogens<br />

leuchtete die Ummantelung <strong>de</strong>s Schwertes, wun<strong>de</strong>rschön von Außen, todbringend <strong>de</strong>r Inhalt.<br />

Mit einem Ausdruck <strong>de</strong>s Stolzes hob Nachtfalke die Klinge vorsichtig aus ihrem Kasten und betrachtete sie<br />

sehnsüchtig. Dann hielt er die Schei<strong>de</strong> seinem Gefährten entgegen.<br />

„Das Schwert Grimm, Indigo. Behandle es mit Vorsicht und Sorgsamkeit. Diese Waffe ist über zehnmal älter als du<br />

selbst, und ich glaube, sie besitzt so etwas wie Charakter. Sei vorsichtig im Umgang mit ihr.“<br />

„Grimm?“ fragte <strong>de</strong>r junge Jurakai erstaunt. „Die Klinge hat einen Namen?“<br />

„Dein Vater taufte sie so nach unserem ersten Tag in <strong>de</strong>r Schlacht. Sie hat ihrem Namen alle Ehre gemacht.“<br />

„Das ist... also nun mein Schwert.“ Indigo zog es aus <strong>de</strong>r Schei<strong>de</strong>, und tatsächlich strahlte die Schnei<strong>de</strong>, als wäre sie<br />

erst gestern geglüht wor<strong>de</strong>n. Selbst im düsteren Licht, unter <strong>de</strong>n Ascheflocken, die in <strong>de</strong>r Luft schwebten, schien die<br />

Klinge von sich aus zu leuchten. „Sie ist wun<strong>de</strong>rschön“, hauchte er, und mit einem Zittern schob er das Schwert<br />

zurück.<br />

„Bete, daß du sie nie benutzen mußt“, meinte Nachtfalke finster. „Und übrigens, du wirst die Schei<strong>de</strong> nicht in <strong>de</strong>m<br />

Zustand belassen können, wie sie ist. Ein auffälligeres Merkmal als diesen Stoff wirst du wohl in ganz Ruben nicht<br />

mehr fin<strong>de</strong>n können.“<br />

Enttäuscht nickte Indigo. Die Schei<strong>de</strong> war zwar wirklich ein Meisterwerk, aber ihre Farbenpracht wür<strong>de</strong> alle<br />

Aufmerksamkeit auf sie richten. Nein, er mußte die Stoffe abreißen, ob er es wollte o<strong>de</strong>r nicht.<br />

Nach einem kurzen Durchstöbern <strong>de</strong>r Überreste beschlossen die bei<strong>de</strong>n Jurakai, das verheerte Lager hinter sich zu<br />

lassen, und ihren Weg ins Innere Reich so bald als möglich fortzusetzen.<br />

Auf ihrem Rückweg fiel Indigo jedoch etwas seltsames ins Auge. Ein weißer Fleck an <strong>de</strong>r südlichen Grenze <strong>de</strong>r<br />

zerstörten Stadt hob sich ein wenig aus <strong>de</strong>r Verwüstung hervor.<br />

„Falke, kannst du erkennen, was das dort vorn ist?“ Er zeigte mit <strong>de</strong>m Finger in die entsprechen<strong>de</strong> Richtung. „Es sieht<br />

aus wie ein Zelt, ein sehr kleines.“<br />

„Es könnte ein Zelt sein“, gab Nachtfalke zu. „Ich hätte nicht gedacht, daß etwas diese Hölle überstan<strong>de</strong>n haben<br />

könnte. Warte, Indigo! Du weißt nicht, was es tatsächlich ist!“ Doch <strong>de</strong>r junge Jurakai lief schon darauf zu, einen<br />

letzten Hoffnungsschimmer in seinem Herzen. Ein Jauchzer <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> entfuhr ihm, als er näherkam.<br />

„Es ist ein Zelt, Falke! Und es ist nicht einmal verbrannt! Es ist vollkommen intakt, aber...“ Grübelnd schlich <strong>de</strong>r<br />

Junge um das gespannte Laken.<br />

„Aber was?“ fragte Falke, <strong>de</strong>r das Zelt nun ebenfalls erreicht hatte.<br />

„... aber es scheint keinen Eingang zu besitzen. Nirgendwo. Merkwürdig.“<br />

Auch Nachtfalke unterzog das Zelt einer genauen Untersuchung, doch auch er konnte keine Luke ent<strong>de</strong>cken, keine<br />

kleine Falte o<strong>de</strong>r einen Überzug, <strong>de</strong>r irgen<strong>de</strong>twas ver<strong>de</strong>ckte. Es schien, als wür<strong>de</strong> das weiße Laken aus <strong>de</strong>r Asche<br />

emporsprießen, unantastbar und ohne, daß etwas ihm Scha<strong>de</strong>n zufügen konnte. Nachtfalke zog eine kleine Klinge und<br />

versuchte, das Laken zu schnei<strong>de</strong>n, doch <strong>de</strong>r Dolch glitt ab und fügte <strong>de</strong>m Stoff keinen Scha<strong>de</strong>n zu.<br />

Falke lächelte schwach. „Wenigstens irgendjemand von uns hat überlebt...“ murmelte er.<br />

„Was ist das für ein Ding, Falke?“<br />

Der alte Jurakai grinste breit. „Es ist ein Zelt, mein Freund. Und, wenn mich nicht alles täuscht, von einem Zauber<br />

geschützt. Manche Jurakai beherrschen die Worte, o<strong>de</strong>r wenigstens können sie ein paar <strong>de</strong>r einfacheren Symbole<br />

benutzen. Dies hier ist ein recht starkes Feld, wie mir scheint. Von außen je<strong>de</strong>nfalls ist es nicht so leicht zu öffnen.“<br />

„Aber du besitzt diese Kräfte ebenfalls, Falke. Ich habe dich in <strong>de</strong>r Nacht beobachtet, als dieses... Wesen uns verfolgt<br />

hat. Du kennst dich mit <strong>de</strong>n Worten aus, nicht wahr?“<br />

„Ja, zugegeben. Wenn auch nicht so gut wie manch an<strong>de</strong>rer, Indigo. Aber ich <strong>de</strong>nke, ich wer<strong>de</strong> es schaffen, diese<br />

Barriere zu durchstoßen. Mal sehen, was dahinter liegt.“<br />

Nachtfalke legte eine Hand auf das weiße Zelt, stützte sich dagegen und schloß die Augen. Eine Zeitlang stand er nur<br />

ruhig da, fühlte die Schwingungen, die von <strong>de</strong>m Laken ausgingen und ließ sie durch seinen Körper fließen. Dann<br />

legte er auch die zweite Hand darauf, und sein Kopf neigte sich nach hinten.<br />

„Es ist stärker, als ich vermutet hätte“, murmelte er leise. „Nur jemand, <strong>de</strong>r sich sehr gut mit <strong>de</strong>n Worten auskennt,<br />

kann einen solchen Zauber aussprechen... aber er ist nicht undurchdringlich...“<br />

„Warte!“ sagte Indigo plötzlich und ergriff <strong>de</strong>n Arm seines Freun<strong>de</strong>s. Schmerzerfüllt zuckte Nachtfalke nach hinten<br />

und hielt seine Hand, als hätte er sie sich verbrannt.<br />

„Verdammt!“ fauchte <strong>de</strong>r Alte. „Das kann gefährlich sein, Junge. Mach das nie wie<strong>de</strong>r!“<br />

„Aber was, wenn es eine Falle ist, Falke? Wenn jemand absichtlich dieses geschützte Zelt hier zurückließ, um Leute<br />

wie uns damit zu verwirren, o<strong>de</strong>r, falls wir es tatsächlich öffnen sollten, zu töten. Wir wissen nicht, was sich darin<br />

verbirgt, o<strong>de</strong>r?“<br />

50


Nachtfalke schnaubte. „Du hättest mich nicht stören dürfen, Indigo. Natürlich könnte es eine Falle sein. Aber die<br />

Worte sind wie ein sehr spezielles Werkzeug. Wenn man sich mit ihnen auskennt, kann man fühlen, was für ein<br />

Wesen sie verwen<strong>de</strong>t hat. Und dieses hier verfolgte sicherlich keine böse Absicht, das spüre ich. Furcht und<br />

Verzweiflung lagen in dieser Tat, kein Mißtrauen o<strong>de</strong>r Lüge.“<br />

Er legte die Hän<strong>de</strong> erneut auf das Laken, und dieses Mal warnte er seinen Gefährten, ihn nicht wie<strong>de</strong>r zu<br />

unterbrechen. Er murmelte lautlose Sätze, und seine Augen fixierten einen Punkt irgendwo hinter <strong>de</strong>m Zelt.<br />

„En’sao trinia“ flossen die Worte dahin, als Nachtfalke lauter re<strong>de</strong>te, und Indigo hatte das Gefühl, als wür<strong>de</strong>n die<br />

Laute an Substanz gewinnen, als wür<strong>de</strong>n sie sich festigen und zu etwas Greifbarem wer<strong>de</strong>n. Dann merkte er, daß sein<br />

Freund gar nicht lauter sprach, son<strong>de</strong>rn er nur die Worte plötzlich hören konnte. Sie erklangen in seinem Kopf, und<br />

sie schwollen an, bis die Lautstärke so ohrenbetäubend war, daß <strong>de</strong>r Jurakai sich die Ohren hielt und <strong>de</strong>n Kopf hinund<br />

herwarf.<br />

„Shen’tao“, schloß <strong>de</strong>r Alte plötzlich, und die Worte waren wie ein Hammerschlag, durchdrangen Indigos Gebein und<br />

nagelten ihn an <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n. Das Echo hallte in seinem Kopf wi<strong>de</strong>r, und er war nicht fähig, sich zu rühren. Nachtfalke<br />

hingegen stand seelenruhig vor <strong>de</strong>m Eingang und schien auf etwas zu warten. Als die letzten Überbleibsel <strong>de</strong>s Wortes<br />

verebbt waren, konnte Indigo sich wie<strong>de</strong>r bewegen, und auch am Zelt tat sich etwas. Dort, wo vorher festes Laken wie<br />

Stein gewesen war, warfen sich nun Falten, und die Umrisse einer Klappe wur<strong>de</strong>n sichtbar. Nachtfalke lächelte und<br />

nahm Indigo an <strong>de</strong>r Hand. Gemeinsam traten sie in das unbekannte Zelt.<br />

Der Abend nahte bereits, als Dynes und sein junger Begleiter die Tore <strong>de</strong>r Stadt Henshire durchritten.<br />

Auf <strong>de</strong>n weiten Fel<strong>de</strong>rn vor <strong>de</strong>r Stadt, auf <strong>de</strong>nen Weizen und an<strong>de</strong>res Getrei<strong>de</strong> angebaut wur<strong>de</strong>, hatten sie keine<br />

Menschenseele vorgefun<strong>de</strong>n, und auch bei <strong>de</strong>n Gutshäusern war niemand zu sehen gewesen. Jetzt, als sie die großen,<br />

weit geöffneten Tore erreichten, die Henshire von <strong>de</strong>r Außenwelt trennten, blieben sie skeptisch vor ihnen stehen und<br />

blickten auf das, was sich dahinter bot: Eine lange, schwarze Gasse, gesäumt von liegen<strong>de</strong>n Gestalten, in Lumpen<br />

geklei<strong>de</strong>t und leblos. Alles hier roch nach Tod und Ver<strong>de</strong>rben, und noch bevor eine <strong>de</strong>r Wachen die bei<strong>de</strong>n<br />

Ankömmlinge gewarnt hatte, wußte Dynes schon, was geschehen war. Schnell legte er sich einen Schal vor <strong>de</strong>n<br />

Mund, und auch Paves zog sich die Kleidung so hoch ins Gesicht, daß nur seine Augen noch hervorlugten.<br />

Gemeinsam wollten sie ihre Gäule anspornen und in die Stadt reiten, doch eine schmutzige und in dreckige Klei<strong>de</strong>r<br />

gewandte Wache trat ihnen in <strong>de</strong>n Weg. Anstatt etwas hervorzubringen, hustete sie nur, betrachtete die Gestalten hoch<br />

zu Roß mit leidvollem Blick.<br />

„Geht. Geht schnell, bevor ihr...“ Ein neuerlicher Hustenanfall, <strong>de</strong>r kein En<strong>de</strong> zu nehmen schien, schüttelte die<br />

Wache. Dynes sprang von Sturmauge und klopfte <strong>de</strong>m Mann auf <strong>de</strong>n Rücken, stützte ihn, als er beinahe zu Bo<strong>de</strong>n<br />

sank. Nach<strong>de</strong>m er sich wie<strong>de</strong>r gefangen hatte, biß er sich hart auf die Lippen.<br />

„Geht. Der schwarze Tod lauert in... Henshire...“ Die blutunterlaufenen Augen starrten auf Dynes, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Mund<br />

unter seinem Schal verzog.<br />

„Wie lange währt das hier schon? Warum weiß <strong>de</strong>r König nichts von <strong>de</strong>r Seuche?“<br />

„Keine... Ahnung...“ Mit einem letzten Kraftaufwand krallte die Wache sich in Dynes‘ Ärmel fest, dann kippte sie<br />

nach hinten. Hätten die Arme <strong>de</strong>s Ritters <strong>de</strong>n Sturz nicht verhin<strong>de</strong>rt, hätte sie sich <strong>de</strong>n Kopf an <strong>de</strong>n Steinen<br />

zerschlagen.<br />

„Paves?“ fragte Dynes, während er <strong>de</strong>n zucken<strong>de</strong>n Kerl sanft zu Bo<strong>de</strong>n legte.<br />

„Herr?“<br />

Dynes fuhr zusammen. Der Bursche hatte es sich nicht abgewöhnen lassen, ihn „Herr“ zu nennen. Nun, sei es, wie es<br />

war. Im Moment gab es wichtigeres zu erledigen.<br />

„Versuch, etwas Wasser aufzutreiben. Und vielleicht ein wenig Brot.“ Er sah zum Jungen auf, <strong>de</strong>r schon davonreiten<br />

wollte. „Halt dich fern von allen, die dir begegnen. Vor allem von <strong>de</strong>nen, die noch gesund sind – o<strong>de</strong>r es zumin<strong>de</strong>st zu<br />

sein scheinen.“<br />

„Ja, Herr.“ Paves trabte auf seinem Schimmel zum nächsten Haus, ging dort vorsichtig in einem <strong>de</strong>r Eingänge. Dynes<br />

Blick haftete auf <strong>de</strong>m dunklen Loch, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Knabe verschwun<strong>de</strong>n war.<br />

„Grassiert die Pest schon lange hier?“ fragte er <strong>de</strong>n erschöpften Wachmann erneut. Die Li<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Mannes flackerten,<br />

und <strong>de</strong>r Ritter versetzte ihm eine schallen<strong>de</strong> Ohrfeige, damit er wie<strong>de</strong>r zu sich kam.<br />

„Bleib wach, Mann! Wie lange ist die Seuche schon hier? Und woher kam sie?“<br />

„Keine Ahnung“ keuchte <strong>de</strong>r am Bo<strong>de</strong>n liegen<strong>de</strong> Kerl, und seine Augen zuckten irr umher. „Bin nicht...“<br />

„Verflucht! Bleibt wach, Mann!“ Eine weitere Ohrfeige brachte <strong>de</strong>n armen Teufel zurück in die wirkliche Welt. Mit<br />

wachen Augen sah er nun zu Dynes, <strong>de</strong>r seine Frage ein weiteres Mal stellte.<br />

„Woher kam diese Seuche? Vom Inneren Reich her? O<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Grenzlän<strong>de</strong>rn?“<br />

Die Wache kaute auf ihrer Zunge, die wie ein totes Stück Fleisch in ihrem Mund lag. „Glaub‘ nicht, daß sie von<br />

woan<strong>de</strong>rs kam. Hat sich plötzlich ausgebreitet. Kam einfach so, ging... so schnell...“<br />

<strong>Arathas</strong> Hand stützte <strong>de</strong>n Kopf <strong>de</strong>s Mannes, <strong>de</strong>r sich in Hustenkrämpfen erging. Das Klappern von Pfer<strong>de</strong>hufen auf<br />

Kopfsteinpflaster wies darauf hin, daß Paves zurückgekehrt war, keinesfalls zu früh. Er brachte einen Wasserschlauch,<br />

51


<strong>de</strong>n Dynes sofort entgegennahm und an <strong>de</strong>n Mund <strong>de</strong>r Wache führte. Schlückchenweise nahm sie die Flüssigkeit zu<br />

sich, brauchte immer wie<strong>de</strong>r lange Pausen, um sich zu erholen.<br />

„Das Wasser ist mit Sicherheit unrein und ebenso verpestet wie diese ganze Stadt“ begann Dynes, zu Paves gewandt,<br />

„doch für <strong>de</strong>n hier ist es sowieso zu spät.“<br />

Er führte <strong>de</strong>n Schlauch wie<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n Mund <strong>de</strong>r Wache, und mit einem Mal schoß ihm ein schrecklicher Gedanke<br />

durch <strong>de</strong>n Kopf. „Du hast doch nicht von <strong>de</strong>m Zeug getrunken, Junge?“<br />

Paves schüttelte <strong>de</strong>n Kopf und streckte die Hän<strong>de</strong> von sich. „Natürlich nicht!“ meinte er nur, und <strong>Arathas</strong> lächelte<br />

erleichtert. Er führte <strong>de</strong>m flachliegen<strong>de</strong>n Kerl noch ein paar Schluck Wasser zu, doch die Augen <strong>de</strong>r Wache zuckten<br />

nur noch wirr umher, und irgendwann gab <strong>de</strong>r Ritter es auf.<br />

„Hat keinen Sinn...“ sagte er zu sich selbst und warf <strong>de</strong>n gebrauchten Schlauch zur Seite. „Von <strong>de</strong>m erfahren wir<br />

bestimmt nichts.“<br />

„In <strong>de</strong>r Stadt muß es doch noch jeman<strong>de</strong>n geben, <strong>de</strong>r nicht krank ist“ meinte Paves hilfreich, und Dynes nickte.<br />

„Sie haben sich alle in ihren Häusern verbarrikadiert, Junge. Sobald einer erste Anzeichen zeigt, ebenfalls vom<br />

Schwarzen Tod geholt zu wer<strong>de</strong>n, wird er nach draußen gebracht...“<br />

Paves, <strong>de</strong>r wohlbehütet auf <strong>de</strong>r Hochburg aufgewachsen und noch nie in Kontakt mit <strong>de</strong>rlei Dingen gekommen war,<br />

fand diese Tatsache äußerst faszinierend. Er hatte zwar oft davon gehört, daß in einigen <strong>de</strong>r Städten die Pest<br />

ausgebrochen war, doch es hatte sich immer weit außerhalb abgespielt, nie am Hofe selbst o<strong>de</strong>r in Neru, <strong>de</strong>r<br />

Königsstadt.<br />

„Irgendwann wird hier ein Leichensammler vorbeikommen und all die Toten und Sterben<strong>de</strong>n auf einen Karren<br />

werfen. Es ist ein scheußlicher Anblick, Paves. Ich habe noch niemals eine <strong>de</strong>rartige Seuche in einem meiner Lehen<br />

gehabt. Zum Glück“ fügte er hinzu.<br />

„Was... was passiert mit <strong>de</strong>nen, die auf <strong>de</strong>n Karren kommen? Wer<strong>de</strong>n sie verbrannt?“<br />

Dynes rückte seinen Mundschutz zurecht. „Manche wer<strong>de</strong>n verscharrt, die meisten verbrannt. Es kann Tage- o<strong>de</strong>r gar<br />

Wochenlang so gehen, daß immer mehr Menschen erkranken und verbrannt wer<strong>de</strong>n müssen. Irgendwann wird <strong>de</strong>r<br />

letzte Kranke auf die Straße geworfen, und danach fällt das Leben wie<strong>de</strong>r in seinen gewohnten Trott zurück. Es gab<br />

aber auch schon Städte, die sich nie wie<strong>de</strong>r von einer Pestepi<strong>de</strong>mie erholt haben.“<br />

Paves zögerte. „Warum... warum bricht diese Krankheit aus?“<br />

„Keine Ahnung, Junge.“ <strong>Arathas</strong> blickte auf die Wache, <strong>de</strong>ren schwärzlich verfärbte Haut aufgesprungen und geplatzt<br />

war. „Aber ich glaube nicht an das Ammenmärchen, daß Himmelfeuer damit diejenigen bestraft, die sündig waren.“<br />

Paves hob die Brauen. „Warum nicht?“<br />

„Weil ich bisher von <strong>de</strong>r Pest verschont geblieben bin, <strong>de</strong>shalb“ lachte Dynes.<br />

Fast wollte ein Grinsen sich auf das Gesicht <strong>de</strong>s Jungen stehlen, doch während die Mundwinkel sich in einem<br />

aufwärts gerichteten Winkel verzogen, verwan<strong>de</strong>lte es sich in eine Maske <strong>de</strong>s Entsetzens. Der Knabe riß die Augen<br />

auf und blickte in eine Richtung, die hinter Dynes‘ Rücken lag.<br />

„Es brennt“ sagte Paves tonlos.<br />

„Zurück, im Namen <strong>de</strong>r Valae!“<br />

Nachtfalke verharrte im Eingang und blickte auf <strong>de</strong>n Bolzen einer Armbrust, die direkt zwischen seine Augen zielte.<br />

Er blieb reglos stehen und sah die Jurakai sanft an, die mit verbissener Miene vor ihnen stand. Ihr langes, braunes<br />

Haar hing vorn über ihre Schultern und ließ nur wenig von ihren Zügen erkennen. Im Halbdunkel glitzerten ihre<br />

grünen Augen.<br />

„Wer auch immer ihr seid, hier geht es...“ Ihre Worte stockten, und sie schien zu erkennen, wer vor ihr stand.<br />

„Naigaras Shen‘tasume? Bist du das, Nachtfalke?“<br />

Indigo trat hinter seinem Freund hervor, um zu sehen, wer sich in diesem Zelt eingeschlossen hatte.<br />

„Indigo Jael’vre ?“ fragte die sich überschlagen<strong>de</strong> Mädchenstimme. Dieser nickte, und wie Nachtfalke lächelte auch er<br />

die Jurakai an. Es war eine Frau, ein paar Jahre älter als er, wieviel genau, das wußte er nicht. Er kannte sie und ihre<br />

Familie seit langer Zeit - er hatte ihre Familie seit langer Zeit gekannt, verbesserte er sich, und <strong>de</strong>r Zorn schlich<br />

zurück in sein Herz - und hatte sich schon <strong>de</strong>s öfteren mit ihr unterhalten. Sie jetzt hier anzutreffen, nach all <strong>de</strong>m<br />

Chaos und <strong>de</strong>r Zerstörung war wie... wie ein Wun<strong>de</strong>r. Erfreut streckte er ihr die flache Hand zum Gruß hin. „Ich freue<br />

mich, dich zu sehen, Talamà“ sagte er in seinem beruhigendsten Tonfall.<br />

Das Mädchen betrachtete ihn, dann sah sie wie<strong>de</strong>r in das Gesicht Nachtfalkes. Anschließend ließ sie die Armbrust zu<br />

Bo<strong>de</strong>n fallen und warf sich <strong>de</strong>m Alten um <strong>de</strong>n Hals. Sie hatte ihre Qualen bis jetzt zurückgehalten, um nicht zitternd<br />

am Bo<strong>de</strong>n zu liegen, falls <strong>de</strong>r Feind doch noch in das Zelt vordringen sollte. Jetzt, da entgegen allen Erwartungen<br />

Freun<strong>de</strong> gekommen war, konnte sie endlich aufatmen. Sie krallte sich in Nachtfalkes Wams fest und atmete tief und<br />

heftig durch.<br />

Nachtfalke umarmte sie und streichelte ihr über <strong>de</strong>n Rücken. „Keine Sorge“, sagte er, und die bei<strong>de</strong>n setzten sich auf<br />

<strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Zeltes. „Wir sind erst heute Abend hier angekommen und sahen, was an <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> für schreckliche<br />

Gewalt verübt wur<strong>de</strong>. Wir sind froh, daß noch jemand überlebt hat.“<br />

Tränen <strong>de</strong>r Erleichterung strömten <strong>de</strong>m Mädchen über die Wangen, und sie blickte traurig in das Gesicht <strong>de</strong>s Alten.<br />

52


„Sind sie alle... tot?“, fragte sie, und <strong>de</strong>r Schmerz quetschte ihr Herz zusammen, da sie die Antwort auf die Frage<br />

bereits kannte.<br />

„Bis auf dich haben wir nieman<strong>de</strong>n mehr lebend vorgefun<strong>de</strong>n... ich <strong>de</strong>nke, du bist die Einzige, die das Gemetzel<br />

überstan<strong>de</strong>n hat. Darum ist es umso wichtiger, was du uns darüber berichten kannst.“<br />

Die Jurakai sackte noch ein wenig mehr in sich zusammen, und Nachtfalke <strong>de</strong>utete Indigo, die Rucksäcke von<br />

draußen hereinzuholen. Als <strong>de</strong>r Junge wie<strong>de</strong>rkam, saßen die bei<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren nebeneinan<strong>de</strong>r in einer Ecke <strong>de</strong>s Zeltes,<br />

und Indigos Gefährte hatte seinen Mantel um die junge Frau gelegt.<br />

„Wann ist dies hier“, er machte eine ausufern<strong>de</strong> Handbewegung, die die ganze Wei<strong>de</strong> einschloß „wann ist dies<br />

geschehen? Lang kann es noch nicht her sein, <strong>de</strong>nke ich, mh?“<br />

„Es war heute Nacht, aber... ich bin mir nicht sicher, wie spät es jetzt ist... Die Zeit vergeht so furchtbar langsam hier<br />

drin...“<br />

„Bitte fang von vorn zu erzählen an“, bat Nachtfalke Talamà und reichte ihr <strong>de</strong>n Weinschlauch, <strong>de</strong>r in seinem<br />

Rucksack verstaut war. „Trink ein wenig davon, dann wird es dir besser gehen.“<br />

Talamà verneinte. „Ich wür<strong>de</strong> Wasser bevorzugen“, erklärte sie.<br />

„In Ordnung“, bestätigte Nachtfalke und genehmigte sich selbst einen tiefen Zug von <strong>de</strong>m Wein. Zufrie<strong>de</strong>n leckte er<br />

die saure Flüssigkeit von <strong>de</strong>n Lippen und wartete gespannt auf die Geschichte <strong>de</strong>r Jurakai. Auch Indigo nahm vor ihr<br />

Platz und betrachtete das Mädchen, das wohl die einzige Überleben<strong>de</strong> <strong>de</strong>r gesamten Wei<strong>de</strong> war. Ihr braunes Haar floß<br />

über ihre Schultern, für einen Moment streifte sein Blick ihre hellgrünen Augen, und für Sekun<strong>de</strong>n blieben sie<br />

aneinan<strong>de</strong>r haften.<br />

„Es war irgendwann heute Nacht, lange nach Sonnenuntergang“, begann sie ein zweites Mal. „Ich war gera<strong>de</strong> auf<br />

<strong>de</strong>m Hügel, beim alten Monolithen, als es anfing. Es war, als wür<strong>de</strong> die Er<strong>de</strong> beben, und ein tiefes, dumpfes Rumoren<br />

ging durch <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n und erschütterte die Gräser. Ich lief zurück zur Wei<strong>de</strong>, um zu sehen, ob dort alles in Ordnung<br />

ist, da ging es auch schon los. Es lief unglaublich schnell ab, und ich glaube, daß ich <strong>de</strong>n größten Teil davon verpaßt<br />

habe. Je<strong>de</strong>nfalls war draußen noch stun<strong>de</strong>nlang höllischer Lärm zu hören, nach<strong>de</strong>m ich mich hier drin verschanzt<br />

hatte.“<br />

„Und was genau ist passiert?“ fragte Indigo wißbegierig. Er lechzte nach einer Antwort, einem Feindbild, das er von<br />

nun an hassen und auf <strong>de</strong>ssen Vernichtung er seine ganze Energie richten konnte.<br />

„Sie kamen aus <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, das ist alles, was ich weiß. Es waren so viele von ihnen. Sie schienen aus <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n zu<br />

wachsen wie Pilze. Aber...“ Talamà versank in Gedanken. „Ich glaube, da war irgen<strong>de</strong>twas, das ihnen <strong>de</strong>n Weg<br />

bereitet hat. Sie kamen nicht direkt aus <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n...“<br />

„Wer ist sie?“<br />

„Schwarze Gestalten. Schwarze Orks, wenn ich mich nicht irre. Sie quollen aus großen Löchern, aber diese an<strong>de</strong>ren<br />

Dinge haben ihnen die Löcher gegraben. Je<strong>de</strong>nfalls stießen sie zuerst an die Oberfläche, <strong>de</strong>ssen bin ich mir sicher. Es<br />

sah aus wie riesige Würmer, die aus <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n brachen, obwohl ich nicht genau sagen kann, was es tatsächlich war.<br />

Sie drangen durch die Wiese, zogen sich wie<strong>de</strong>r zurück, und direkt danach kamen diese Hor<strong>de</strong>n von dunklen Schatten<br />

aus <strong>de</strong>m Erdreich geströmt...“<br />

Nachtfalke und Indigo dachten bei <strong>de</strong>r Beschreibung <strong>de</strong>r Orks sofort an die Gestalt, die ihnen am Tage zuvor<br />

nachgesetzt hatte. Aber das frem<strong>de</strong> Wesen, das sie verfolgt hatte, war zu wendig gewesen für einen Ork...<br />

„... und dann griffen sie einfach an. Sie... sie schlachteten alles ab, was ihnen in <strong>de</strong>n Weg kam. Ich stand wie gebannt<br />

in diesem Durcheinan<strong>de</strong>r... überall liefen und fielen Jurakai, die meisten von ihnen wur<strong>de</strong>n einfach überrascht und<br />

waren noch in <strong>de</strong>r nächsten Sekun<strong>de</strong> tot...“ Talamàs Stimme erbebte, als die Erinnerung zurückkehrte. „Dann habe<br />

ich mich in dieses Zelt hier geflüchtet und versucht, es möglichst wirkungsvoll zu schützen. Sonst... sonst wäre ich<br />

wahrscheinlich jetzt ebenso tot wie all die an<strong>de</strong>ren Jurakai, nicht wahr?“<br />

„Wir haben alle jeman<strong>de</strong>n verloren, <strong>de</strong>r uns lieb war“, sagte Indigo bitter. Wie<strong>de</strong>r trafen sich ihre Blicke, und <strong>de</strong>r<br />

Junge merkte, daß ihn die junge Frau beobachtete.<br />

„Es ging noch stun<strong>de</strong>nlang so weiter da draußen“, berichtete Talamà, „ich habe die ganze Zeit über hier drin<br />

ausgeharrt und mir die nächstbeste Waffe genommen, die ich vorfand. Ich habe keine Ahnung, wessen Zelt dies hier<br />

ist... dann, irgendwann heute morgen, glaube ich, erklangen keine Geräusche mehr von draußen. Aber ich wollte nicht<br />

hinaussehen, aus Angst vor <strong>de</strong>m, was ich dort vorfin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Ich weiß nicht, wie lange ich noch gewartet hätte,<br />

wenn ihr nicht gekommen wärt.“<br />

Nachtfalke brummte leise. „Wir waren in Eldraja’aro, bis vor wenigen Wochen, Talamà. Wir brachen erst kürzlich<br />

auf, um zum Hof <strong>de</strong>s Königs zu reisen. Eigentlich wollten wir nur hier vorbeischauen, um mit <strong>de</strong>m Orakel und<br />

Indigos Eltern zu sprechen, aber ich glaube, jetzt müssen wir ohne viele Grüße von hier aufbrechen.“<br />

„Ah. Wolltet ihr <strong>de</strong>n Botschaftern nachreisen?“<br />

„Du weißt von <strong>de</strong>n Botschaftern?“ entfuhr es Indigo.<br />

„Es hat sich schon nach kurzer Zeit herumgesprochen, wohin sie wohl unterwegs wäre; ich schätze, es war schon<br />

früher etwas von diesen Angriffen bekannt, von <strong>de</strong>nen einer auch die Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sommers getroffen hat, o<strong>de</strong>r?“<br />

Nachtfalke nickte betrübt. „In <strong>de</strong>r Tat“, sagte er. „Wir hätten kein Geheimnis daraus machen dürfen, das ist mir nun<br />

klar. Aber was geschehen ist, ist geschehen.“<br />

53


„Vielleicht hätten wir uns verteidigen können!“ rief Talamà und hämmerte mit <strong>de</strong>r Faust auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n. „Es ist<br />

unverzeihlich, daß <strong>de</strong>m Volk eine so wichtige Angelegenheit vorenthalten wur<strong>de</strong>. Jemand wußte davon, daß diese<br />

Orks angreifen und...“<br />

„Niemand wußte davon, Talamà!“ Nachtfalkes Stimme gewann ebenfalls an Härte. „Hätten wir gewußt, wie schlimm<br />

es wirklich steht, wäre nicht nur das Volk, son<strong>de</strong>rn ganz Ruben sofort alarmiert wor<strong>de</strong>n! Wir hatten nur ein paar<br />

Gerüchte über vernichtete Städte im Hochland. Und diese Gerüchte sprachen auch nur davon, daß Siedlungen <strong>de</strong>r<br />

Manur und <strong>de</strong>r Dverjae betroffen waren. Keiner hätte ahnen können, daß so etwas geschieht. Niemand wußte von...<br />

von Orks! Ich habe es gera<strong>de</strong> eben von dir erfahren! Ich bin ebenso schockiert wie du, glaub mir. Ich gebe zu, daß die<br />

Familie Jael’vre und <strong>de</strong>r Rat einen Fehler begangen hat - ihren letzten Fehler - und daß ich auch daran beteiligt war,<br />

daß die Kun<strong>de</strong> von diesen Vorkommnissen nicht publik gemacht wur<strong>de</strong>. Aber jetzt hilft es nichts mehr, darüber zu<br />

streiten. Jetzt müssen wir zur Hochburg, um <strong>de</strong>m König davon zu berichten, was vorgefallen ist.“<br />

„Die Botschafter brachen ebenfalls dorthin auf, ja?“, vermutete die Jurakai. „Ist etwas von ihnen bekannt? O<strong>de</strong>r fielen<br />

sie vielleicht auch diesen Wesen zum Opfer, Nachtfalke?“ Talamàs Stimme hatte plötzlich an Schärfe gewonnen, und<br />

<strong>de</strong>r alte Jurakai betrachtete sie mit bösem Blick.<br />

„Das ist nicht <strong>de</strong>ine Angelegenheit, junge Jurakai“, zischte er. „Der Rat entschied, daß es besser für das Volk sei,<br />

keine Panik aufkommen zu lassen. Niemand rechnete mit einer <strong>de</strong>rartigen Katastrophe...“ Seine Züge wur<strong>de</strong>n<br />

weicher. „Aber nun sollten wir versuchen, das Beste daraus zu machen, und <strong>de</strong>n König um Hilfe bitten.“<br />

Indigo stimmte ihm mit einem Nicken zu. „Falke hat Recht, Talamà. Wir können das Vergangene nicht ungeschehen<br />

machen. Wir können nur versuchen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.“<br />

„Ja, vielleicht...“, stimmte die junge Jurakai wi<strong>de</strong>rwillig zu, und dann wand sie sich zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />

heraus und ging zum Eingang. „Ich wer<strong>de</strong> mir jetzt selbst ansehen, was ich bis jetzt noch nicht gesehen habe.“<br />

Sie schlang <strong>de</strong>n Mantel enger um ihren Körper, riß die Klappe <strong>de</strong>s Zeltes zur Seite und ließ die kühle Abendluft<br />

hereinströmen. Ihr Blick fiel auf das sich ihr darbieten<strong>de</strong> Schlachtfeld. Dunkelheit hatte sich über die verwüstete Stadt<br />

gelegt, und fast mutete das Ausmaß <strong>de</strong>r Zerstörung weniger schlimm an, fast konnte man meinen, daß dies nur eine<br />

Ruine war, ein zerfallener Ort, irgendwo in einem Tal. Doch wenn man <strong>de</strong>n aschegrauen Bo<strong>de</strong>n näher betrachtete,<br />

wenn man <strong>de</strong>n furchtbaren Geruch einatmete, <strong>de</strong>r noch immer über allem lag, und wenn man in die verzweifelten, im<br />

To<strong>de</strong> erstarrten Gesichter <strong>de</strong>r abgeschlachteten Jurakai sah... dann konnte auch die Dunkelheit nicht über das Grauen<br />

hinwegtäuschen, das sich Talamà nun bot. Sie stapfte hinaus, und noch bevor sie einige Schritte weit gekommen war,<br />

beugte sich ihr Körper nach vorn, und sie erbrach sich neben die Überreste eines verkohlten Jurakai. Dann ertönte ein<br />

leises, aber stetiges Schluchzen, als sie sich weiter durch die verbrannten Zelte wagte, und nicht selten fiel sie auf <strong>de</strong>n<br />

Bo<strong>de</strong>n und schrie laut ihren Kummer hinaus. Doch falls die Welt sie hörte, zeigte sie kein Mitleid, und die Jurakai<br />

schüttelte sich in Heulkrämpfen auf <strong>de</strong>r blutigen, aschebe<strong>de</strong>ckten Er<strong>de</strong>.<br />

Indigo richtete sich im Zelt auf, um nach draußen zu gehen, doch Nachtfalke hielt ihn zurück.<br />

„Laß sie, mein Freund. Sie will uns und sich selbst beweisen, wie stark sie tatsächlich ist, und wir wollen nicht dabei<br />

anwesend sein, wenn sie herausfin<strong>de</strong>t, wie furchtbar das Gesicht <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s ist. Ich <strong>de</strong>nke, sie wird gera<strong>de</strong> genug mit<br />

ihren eigenen Problemen zu kämpfen haben, als daß sie unser Einmischen gebrauchen könnte. Sie hat viel zu<br />

verkraften, aber ich glaube, daß sie es überwin<strong>de</strong>n kann. Die Jurakai waren schon immer gut darin, zu vergessen und<br />

zu verdrängen. Wir sind ein friedliches Volk, und ich erinnere mich noch an die Zeit, als wir diesen unheiligen Krieg<br />

gegen die Manur führten. Viele vom Volk erinnern sich daran - aber sie haben vergeben. Die Manur leben<br />

beträchtlich kürzer als wir, und diejenigen unter ihnen, die die heutigen Län<strong>de</strong>r bevölkern, sind an<strong>de</strong>rs als die, die uns<br />

damals töten wollten.“<br />

„Ja. Vermutlich hast du Recht. Es wird das beste sein, wenn sie allein mit <strong>de</strong>m Schrecken dort draußen zurechtkommt,<br />

und dann...“ Indigo stöhnte leise auf und preßte seine Hän<strong>de</strong> gegen die Schläfen. „Falke.“ Indigos Augen tränten<br />

plötzlich, als ihn eine dunkle Vorahnung überkam. „Falke, was ist das...“<br />

„Was ist los mit dir, mein Freund?“ Besorgt versuchte Nachtfalke, die Ursache für Indigos augenscheinlichen<br />

Schmerz herauszufin<strong>de</strong>n.<br />

„Ich... spüre etwas. Es ist merkwürdig, aber es ist, als könnte ich... die Gedanken von etwas an<strong>de</strong>rem empfangen. So,<br />

als wür<strong>de</strong>st du Stimmen vernehmen am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Hörfähigkeit... ich kann nicht verstehen, was sie sagen. Aber sie<br />

sind kalt, Falke. Sehr, sehr kalt. Und sie... sie kommen hierher! Sie sind gera<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>m Weg zu diesem Zelt!“<br />

Mit einem Satz war <strong>de</strong>r Jurakai auf <strong>de</strong>n Beinen, und auch Nachtfalke zögerte nur eine Sekun<strong>de</strong>, bevor er sein Schwert<br />

und auch Indigos ergriff und ihm nach draußen nachsetzte. Der Junge stolperte aus <strong>de</strong>m Zelt, und zuerst verharrte er<br />

vor <strong>de</strong>r Luke und zitterte in <strong>de</strong>r kühlen Luft. Ein weißer <strong>Mond</strong> war aufgegangen und warf ein fahles Licht auf das<br />

einstmalige Lager.<br />

„Dein Schwert, Indigo“, sagte Nachtfalke und überreichte seinem Gefährten die Waffe. Gedankenverloren nahm<br />

dieser die Klinge entgegen, und die grellbunte Farbenpracht <strong>de</strong>r Schei<strong>de</strong> erschien sogar jetzt, in dieser grauen<br />

Düsternis, hell und froh. Ein schnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s Geräusch erklang, als <strong>de</strong>r Junge die Waffe unterbewußt aus ihrer Halterung<br />

zog und die Schei<strong>de</strong> anschließend achtlos beiseite warf. Mit funkeln<strong>de</strong>n Augen sah er sich um, und Furcht stand in<br />

sein Gesicht geschrieben.<br />

54


„Etwas bewegt sich direkt auf uns zu, Falke. Ich kann es <strong>de</strong>utlich spüren! Wo ist Talamà? Kannst du sie nirgendwo<br />

erkennen?“<br />

Nachtfalke betrachtete seinen Schützling erstaunt. War es möglich, daß <strong>de</strong>r Junge Dinge spüren konnte, die erst noch<br />

geschehen wür<strong>de</strong>n? Daß er etwas wie ein zweites Gesicht besaß? Aber er hatte noch nicht einmal Erfahrung mit <strong>de</strong>n<br />

Worten sammeln können! Vielleicht wäre es ratsam gewesen, ihn in diese Kunst einzuweihen, doch nun war es zu<br />

spät für solche Gedanken.<br />

„Nein, ich sehe sie nirgends“, antwortete Nachtfalke leise und schlich durch die aschene Er<strong>de</strong>. „Ich wer<strong>de</strong> sie suchen<br />

gehen.“<br />

„Bleib hier“, zischte Indigo, und seine Stimme war so eindringlich und for<strong>de</strong>rnd, daß sein Freund wie angewurzelt<br />

stehenblieb. „Sie sind fast da!“ Nur noch ein leises Flüstern, doch noch immer konnte Nachtfalke nicht an<strong>de</strong>rs, als zu<br />

gehorchen. „Dort!“<br />

Indigos Hand <strong>de</strong>utete auf einige Schatten, die sich durch hellbeschienene Zeltruinen bewegten. Einige von ihnen<br />

waren schwarz, plump und gedrungen, aber zwei <strong>de</strong>r Gestalten waren mit Bestimmtheit an<strong>de</strong>rs...<br />

„Hinter <strong>de</strong>n Schutz dieses Felsens, Indigo.“ Nachtfalke und Indigo rollten sich über <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n und brachten sich<br />

hinter einem kleinen Fels in Sicherheit. Ich wäre ihnen in die Falle gegangen, dachte <strong>de</strong>r Alte verwun<strong>de</strong>rt und fragte<br />

sich, was unter <strong>de</strong>r jugendlichen Fassa<strong>de</strong> seines Schülers verborgen sein mochte.<br />

Die gedrungenen Gestalten, die jetzt auf das Zelt zuliefen, in <strong>de</strong>m Talamà eingeschlossen gewesen war, waren auf<br />

je<strong>de</strong>n Fall Orks. An ihren kurzen Schweineöhrchen und ihrem großen Nüstern waren sie ein<strong>de</strong>utig zu erkennen,<br />

jedoch war ihre Hautfarbe seltsam. Sie schien dunkelgrau zu sein, beinahe schwarz. Noch nie hatte Nachtfalke<br />

<strong>de</strong>rartige Orks gesehen. Sie wirkten bösartiger als die, die er kannte. Die Orks, mit <strong>de</strong>nen er es ein paar Mal zu tun<br />

bekommen hatte, waren dumm und angriffslustig gewesen, doch diese hier wirkten schlecht. Eine gewisse Intelligenz<br />

war in ihren Kulleraugen zu erkennen, als sie zwischen <strong>de</strong>n Trümmern wankten.<br />

Die bei<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Wesen allerdings unterschie<strong>de</strong>n sich in je<strong>de</strong>r Hinsicht von diesen gedrungenen Gestalten.<br />

Nachtfalke war sich sicher, daß er noch nie in seinem Leben solche Geschöpfe auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> hatte wan<strong>de</strong>ln sehen. Sie<br />

waren hochgewachsen und gertenschlank, ihre Glie<strong>de</strong>r wie lange Äste, ihre Köpfe ein schmaler Strich. Sie mußten<br />

min<strong>de</strong>stens eineinhalb mal so groß wie ein ausgewachsener Jurakai seien, aber ihre Bewegungen wirkten trotz ihrer<br />

Höhe anmutig und flink. Sie huschten mit einer Eleganz zwischen <strong>de</strong>n fettleibigen Orks umher, die Indigo und<br />

Nachtfalke erschreckte. Am auffälligsten aber war nicht ihre Größe, son<strong>de</strong>rn ihre Farbe. Wie strahlen<strong>de</strong>, prächtig<br />

glänzen<strong>de</strong> Gottwesen wirkten sie, <strong>de</strong>nn ihre Haut schimmerte in einem milchigen Weiß, und ihre Augen leuchteten<br />

ebenso hell. Die spitzen Köpfe entbehrten jeglicher Haare, und auch sonst schienen sie einen durch und durch glatten<br />

Körper zu besitzen. Keine Kleidung war an ihnen zu sehen, als sie gefährlich nahe an <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Jurakai<br />

vorbeigingen.<br />

Nach<strong>de</strong>m sie Talamàs Zelt erreicht hatten, blieb die Gruppe von sechs Gestalten stehen, und einer <strong>de</strong>r Orks fing heftig<br />

zu gestikulieren an und brabbelte in einer Sprache los, die Indigo nicht verstand. Sein Freund gab ihm mit einem<br />

Zeichen zu verstehen, daß er genau mitbekam, was dort gere<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>. Er legte seinem Gefährten eine Hand auf die<br />

Schulter und drückte ihn weiter nach unten, tiefer in <strong>de</strong>n Schatten <strong>de</strong>s Felsens.<br />

„Sie sprechen eine sehr alte Sprache, und sie besitzen einen son<strong>de</strong>rbar klingen<strong>de</strong>n Dialekt, doch ich verstehe sie. Der<br />

Schwarzork erklärt gera<strong>de</strong>, daß dieses Zelt we<strong>de</strong>r mit Äxten und Schwertern aufgeschlagen wer<strong>de</strong>n konnte, noch, daß<br />

irgendwo eine Öffnung daran zu sehen gewesen sei. Verdammt, Indigo, wir hätten uns <strong>de</strong>nken müssen, daß vielleicht<br />

noch einmal jemand zurückkommt.“<br />

Ein Zischen erklang, so schrill und hoch, daß es in <strong>de</strong>n Ohren <strong>de</strong>r Jurakai klingelte. Nach<strong>de</strong>m Indigo die<br />

zusammengekniffenen Augen wie<strong>de</strong>r öffnete, erkannte er, daß dieses schrille Pfeifen anscheinend die Sprache <strong>de</strong>r<br />

weißen Wesen war. Noch immer hielt <strong>de</strong>r hohe Sington an, und eines <strong>de</strong>r weißen Geschöpfe <strong>de</strong>utete vorwurfsvoll auf<br />

<strong>de</strong>n offenen Eingang <strong>de</strong>s Zeltes. Anscheinend brachte er die Schwarzorks damit in Verlegenheit, <strong>de</strong>nn sie begannen,<br />

langsam zurückzuweichen. Der Eine, <strong>de</strong>r vorher mit <strong>de</strong>n Weißen gesprochen hatte, zog sich nun hastig zurück, und<br />

wie<strong>de</strong>r quollen Worte aus seinem Mund, die in Indigos Ohren wie Grunzen klangen. Ein plötzliches Geräusch an<br />

Indigos Seite schreckte ihn und Nachtfalke auf, und mit stocken<strong>de</strong>m Herzen fuhr <strong>de</strong>r Jurakai herum.<br />

Ein langer Schatten hatte sich von <strong>de</strong>r Seite her an sie herangeschlichen.<br />

Als sie durch die Stadt ritten, spornte Dynes‘ seinen Gaul zu immer schnellerem Galopp an, und bald mußte er<br />

warten, damit er Paves nicht verlor. Sturmauge wich <strong>de</strong>n am Bo<strong>de</strong>n liegen<strong>de</strong>n, verkrümmten Gestalten geschickt aus,<br />

doch <strong>de</strong>r Schimmel <strong>de</strong>s Jungen streifte manchmal die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re von ihnen.<br />

Der Junge schrie etwas, aber <strong>de</strong>r Ritter zeigte nur nach vorn und ritt weiter. Schwarze Rauchschwa<strong>de</strong>n stiegen dort in<br />

<strong>de</strong>n abendlichen Himmel, mischten sich mit <strong>de</strong>r düsteren Röte, die die untergehen<strong>de</strong> Sonne über Rubens Weiten legte.<br />

Von hier war noch nichts zu sehen, aber es schien, als wür<strong>de</strong> die gesamte westliche Hälfte <strong>de</strong>r Stadt in Flammen<br />

stehen.<br />

In vollem Galopp erwischte Paves‘ Pferd eine <strong>de</strong>r zerlumpten Gestalten, die sich aufgerafft hatte und über die Straße<br />

hinkte, schleu<strong>de</strong>rte sie zur Seite und begann zu bocken. Furchtsam versuchte <strong>de</strong>r Knabe, <strong>de</strong>n Schimmel wie<strong>de</strong>r unter<br />

Kontrolle zu bekommen, sah sich gleichzeitig nach <strong>de</strong>m Geschöpf um, das sie gerammt hatten. Während er sich in die<br />

55


Zügel krallte, erkannte er mit Entsetzen, daß es eine ältere Frau gewesen war, die nun auf <strong>de</strong>m harten<br />

Kopfsteinpflaster aufschlug. Er wußte nicht, was er tun, ob er seinen Gaul wen<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r Frau helfen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m<br />

Ritter nacheilen sollte, <strong>de</strong>r wohl schon weit voraus war. Im Kampf mit sich selbst verlor er vollends die Herrschaft<br />

über das Roß, das sich aufbäumte und <strong>de</strong>n Knaben abzuwerfen drohte.<br />

Paves klammerte sich in die Mähne, zitterte und hoffte auf ein Wun<strong>de</strong>r, als das Pferd sich plötzlich wie<strong>de</strong>r beruhigte.<br />

Eine starke Hand hielt die Zügel <strong>de</strong>s Schimmels gefaßt und brachte ihn zur Ruhe. Der Junge blickte auf und sah<br />

Dynes in die Augen, <strong>de</strong>r jetzt neben ihnen ritt und die Zügel <strong>de</strong>s frem<strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>s von sich streckte.<br />

„Nimm sie“ sagte er mit fester Stimme und übergab die Herrschaft <strong>de</strong>s Pfer<strong>de</strong>s wie<strong>de</strong>r in Paves zittrige Hän<strong>de</strong>. „Und<br />

gib Acht auf die Straße, Junge! Hey!“<br />

Er gab seinem Roß die Sporen, und schon war er wie<strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>m Knaben, ritt um die letzte Ecke, die ihnen <strong>de</strong>n Blick<br />

auf das Feuer verwehrte. Dynes zügelte Sturmauge und starrte verblüfft auf die Szene, die sich ihm nun bot.<br />

Er hatte mit schreien<strong>de</strong>n Leuten gerechnet, mit kreischen<strong>de</strong>n Frauen und vielleicht sogar mit aus Fenstern<br />

springen<strong>de</strong>n Menschen. Diese Dinge hätten ihn nicht aus <strong>de</strong>r Fassung gebracht. Sie hätten ihn vielleicht dazu<br />

gebracht, von seinem Pferd zu springen und zu helfen, doch sie hätten ihn sicherlich nicht aus <strong>de</strong>r Fassung gebracht.<br />

Aber das, was sich dort in <strong>de</strong>r Gasse, direkt vor seinen Augen abspielte, bedurfte einiger Sekun<strong>de</strong>n, bevor er begriff,<br />

was hier geschah.<br />

„Verdammte Hurensöhne“ murmelte er und befahl Paves, zurückzubleiben.<br />

Mit einem Gefühl wie von glühen<strong>de</strong>n Kohlen in seinem Magen ritt er auf eine Gruppe von Soldaten zu, die sich<br />

abseits <strong>de</strong>r brennen<strong>de</strong>n Häuser hielt. Sie würdigten ihn keines Blickes, hatten nur Augen für das flammen<strong>de</strong> Inferno.<br />

Er sah zu <strong>de</strong>n Soldaten, dann wie<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>n Häusern. Haß keimte in ihm. Reiner, lei<strong>de</strong>nschaftlicher Haß, wie er sich<br />

nur ausbreiten konnte, wenn das, was sich einem bot, die Grenzen <strong>de</strong>s eigenen Verstands überschritt und in ein Land<br />

führte, in <strong>de</strong>m nur Wahnsinn herrschen konnte. Er blickte zu <strong>de</strong>n Soldaten. Zu <strong>de</strong>n Häusern.<br />

Die Soldaten lachten. Dynes starrte nach vorn. Die Soldaten lachten.<br />

Die Häuser brannten...<br />

Ein Schrei riß ihn aus seinen Gedanken. Er musterte <strong>de</strong>n Soldat, <strong>de</strong>r da mit ihm zu kommunizieren versuchte und ritt<br />

auf ihn zu, betrachtete ihn jedoch nicht weiter, als er sah, daß dieser anscheinend keinerlei Befehlsgewalt besaß. Der<br />

Mann kam zu ihm, wollte ihn zum Anhalten zwingen, und erst jetzt schien Dynes ihn überhaupt zu registrieren. Er<br />

blickte auf, und ohne seinen Blick von einem Punkt zu wen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sich hinter <strong>de</strong>m Rücken <strong>de</strong>s Soldaten befand,<br />

schmetterte er <strong>de</strong>m Gegenüber seine linke Faust in die Brust.<br />

Der Kerl flog vom seinem Pferd, und nur durch Glück fügte er sich keinerlei ernsthafte Wun<strong>de</strong>n bei <strong>de</strong>m Aufprall zu.<br />

Ungeachtet <strong>de</strong>r empörten Ausrufe <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Soldaten, die sich ihm nun in <strong>de</strong>n Weg zu stellen versuchten, ritt<br />

<strong>Arathas</strong> weiter.<br />

Seine Wut war gewichen. Er verspürte rein gar nichts mehr, war so seelenruhig, wie er wohl noch nie zuvor in seinem<br />

Leben gewesen war. Leere erstreckte sich in seinem Körper, reichte vom Scheitel seiner schütteren Haare bis in seine<br />

Füße hinab, füllte ihn aus und tötete jegliches Gefühl.<br />

Schweigend ritt er auf eine Gestalt zu, die am an<strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gasse thronte und Dynes Netzhaut verletzte, so wie<br />

ein rotes Laken einen Stier reizte. Die Gestalt trug einen samtenen Anzug und einen selbstherrlichen Ausdruck auf<br />

<strong>de</strong>m Gesicht. Die Gestalt war niemand an<strong>de</strong>res als Reeves, <strong>de</strong>r E<strong>de</strong>lmann, <strong>de</strong>m Dynes im Wirtshaus begegnet war.<br />

Reeves sah <strong>Arathas</strong> nicht kommen, so gebannt war er von <strong>de</strong>n Flammen, die aus <strong>de</strong>n Fenstern und Fugen <strong>de</strong>r Häuser<br />

schlugen. Hätte er ihn kommen sehen, so hätte er nichts gegen <strong>de</strong>n Ritter unternehmen können.<br />

„Verdammter Bastard“ murmelte Dynes noch einmal und holte Reeves mit einem harten Schlag aus <strong>de</strong>m Sattel. Ohne<br />

zu zögern sprang er selbst ebenfalls von seinem Pferd, packte <strong>de</strong>n verblüfften E<strong>de</strong>lmann am Kragen seines Hemds und<br />

hievte ihn nach oben, bis sich ihre Lippen fast berührten. Endlich breitete sich das Lächeln <strong>de</strong>s Verständnisses auf <strong>de</strong>n<br />

Zügen Reeves‘ aus, doch in seinen Augen lo<strong>de</strong>rte Furcht.<br />

„Ah“ flüsterte er und hob die Brauen. „Mein alter Freund...“<br />

Für diese Worte verpaßte Dynes ihm einen Haken mit <strong>de</strong>r Rechten, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Mann die Englein singen hören ließ, doch<br />

noch bevor er seine Knöchel reiben konnte, hielt er reglos inne. Mehrere Schwertspitzen hatten sich an seinen Hals<br />

gelegt, und <strong>de</strong>r Stahl ritzte bereits seine Haut. <strong>Arathas</strong> schloß die Augen und atmete tief aus.<br />

Reeves rappelte sich auf, und sein samtener, roter Anzug war bekleckert vom Blut, das aus seiner Nase troff. Er<br />

lächelte noch immer.<br />

„Nennt mir einen Grund, warum ich Euch nicht sofort töten lassen sollte“ sagte er so laut, daß alle Anwesen<strong>de</strong>n es<br />

hören konnten.<br />

„Was geschieht hier?“ zischte es direkt neben <strong>de</strong>n Jurakai, und Nachtfalke und Indigo atmeten erleichtert auf. Talamà<br />

war lautlos neben sie gekrochen und duckte sich ebenfalls an <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n.<br />

„Anscheinend wur<strong>de</strong> ein Aufklärungstrupp gesandt, um <strong>de</strong>in verriegeltes Zelt näher zu untersuchen“, erklärte<br />

Nachtfalke flüsternd. „Waren das dort die Gestalten, die die Wei<strong>de</strong> angegriffen haben?“<br />

Wut schimmerte in Talamàs Augen. „Ja“, hauchte sie. „Aber diese langen, weißen Dinge habe ich nicht gesehen, als<br />

die Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sommers überfallen wur<strong>de</strong>.“<br />

56


Indigo schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Diese plumpen Orks sollen ein ganzes Jurakailager vernichtet haben? Sie sind langsam<br />

und ungewandt... wie könnten sie auch nur einen von uns töten?“<br />

„Später, mein Freund“, warnte Nachtfalke. „Ich <strong>de</strong>nke, sie hatten das Überraschungsmoment, und außer<strong>de</strong>m waren sie<br />

in <strong>de</strong>r Überzahl und besaßen Waffen. Aber das können wir auch irgen<strong>de</strong>in an<strong>de</strong>rmal besprechen, nicht hier und nicht<br />

jetzt!“<br />

Inzwischen waren die Schwarzorks noch weiter zurückgedrängt wor<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>r Suche nach einem Argument, warum<br />

das Zelt plötzlich offen und zugänglich war. Eines <strong>de</strong>r weißen Wesen war in das Zelt hineingegangen, das an<strong>de</strong>re<br />

funkelte die dicken Orks feindselig an. Ein erneuter Gesang aus seinem Mun<strong>de</strong>, falls das Geschöpf überhaupt einen<br />

solchen besaß, zerriß Indigo fast das Trommelfell.<br />

„Sie wer<strong>de</strong>n gleich bei uns sein, wenn sie noch weiter nach hinten ausweichen“, flüsterte Talamà. „Wir sollten schnell<br />

etwas tun.“<br />

„Talamàs Worte entbehren nicht einer gewissen Weisheit, Indigo. Wenn wir jetzt angreifen, dann bleibt uns<br />

wenigstens <strong>de</strong>r Vorteil <strong>de</strong>s Erstschlags. Also schlage ich vor, daß wir diese Wesen unseren kalten Stahl schmecken<br />

lassen!“ Nachtfalkes Klinge spiegelte sich im hellen <strong>Mond</strong>schein.<br />

Auch Grimm funkelte, und Indigo war, als könne er das Schwert spüren, wie es in freudiger Erwartung auf <strong>de</strong>n<br />

Kampf zu singen begonnen hatte. Ein Summen drang durch die Muskeln seines Arms, und er konnte es kaum noch<br />

erwarten, sich auf <strong>de</strong>n ersten Feind zu stürzen. Diese Wesen hatten seine Eltern, Freun<strong>de</strong> und Verwandten<br />

umgebracht. Ihnen wollte er all das zurückgeben, was seinen Angehörigen angetan wur<strong>de</strong>.<br />

„Ich bin bereit, Falke. Dieser verdammte Abschaum wird das Licht <strong>de</strong>r Sonne nie wie<strong>de</strong>r erblicken, das schwöre ich.“<br />

„Vielleicht haben sie es niemals gesehen...“ murmelte Talamà, als die bei<strong>de</strong>n zum Angriff übergingen, doch ihre<br />

Worte verklangen ungehört.<br />

Wie ein Mar<strong>de</strong>r schoß Nachtfalkes Körper aus <strong>de</strong>m Versteck und enthauptete mit einem mächtigen Schwung seiner<br />

Waffe <strong>de</strong>n Ork, <strong>de</strong>r ihnen am nächsten gestan<strong>de</strong>n war. Blut spritze aus <strong>de</strong>m Hals <strong>de</strong>r Kreatur, und als <strong>de</strong>r tote Leib<br />

nach unten zusammensackte steckte das Schwert <strong>de</strong>s Angreifers bereits im Herzen eines weiteren erstaunten Wesens.<br />

Indigo stürmte ebenfalls aus seinem Versteck, aber die bei<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Schwarzorks reagierten schneller, und als <strong>de</strong>r<br />

Junge bei ihnen war, hatten sie schon ihre eigenen Waffen gezückt und traten in Verteidigungsstellung vor ihn. Die<br />

lange weiße Gestalt ließ ein entsetztes und zorniges Pfeifen ertönen und zog sich in die Nähe <strong>de</strong>s Zelteingangs zurück.<br />

Singend und lachend bebte Grimm in Indigos Hän<strong>de</strong>n, während <strong>de</strong>r Jurakai auf die Orks zurannte. Ihm war, als könne<br />

er die Stimme <strong>de</strong>s Schwerts vernehmen, tief und brummend, in Vorfreu<strong>de</strong> auf die Schlacht. Der Jurakai lief immer<br />

schneller, und <strong>de</strong>r erste Schwarzork hielt seine eigene kurze Waffe schützend vor seinen Körper.<br />

Grimm knallte mit einer Wucht gegen das Schwert <strong>de</strong>s Gegners, die <strong>de</strong>n Ork nach hinten ins Gras warf. Mit einem<br />

Aufschrei drehte <strong>de</strong>r Jurakai sich um und fing gera<strong>de</strong> noch einen Hieb <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Geschöpfs ab, <strong>de</strong>r auf seinen Hals<br />

zielte. Er presste die kurze Schnei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s plumpen Wesens nach unten, bis <strong>de</strong>r quieken<strong>de</strong> Ork nachgab und das<br />

Schwert losließ, um zu fliehen. In diesem Moment flog Grimm nach vorn und schlitzte <strong>de</strong>n Bauch <strong>de</strong>r entsetzten<br />

Kreatur auf, die krächzend zu Bo<strong>de</strong>n kippte. Er richtete einen hastigen Blick auf Nachtfalke, <strong>de</strong>r nun Angesicht zu<br />

Angesicht mit <strong>de</strong>n weißen Wesen stand. Anscheinend war das an<strong>de</strong>re durch <strong>de</strong>n Lärm aus <strong>de</strong>m Zelt gelockt wor<strong>de</strong>n<br />

und leistete seinem Artgenossen nun Gesellschaft. Neben Nachtfalke verweilte Talamà und fletschte ihre Zähne, so<br />

daß ihre hübschen Züge zu einer Grimasse <strong>de</strong>r Wut wur<strong>de</strong>n.<br />

Der verbliebene Schwarzork blickte zum abgelenkten Indigo, richtete sich auf und wollte sein Schwert von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />

heben, als plötzlich Grimm durch seinen Brustkorb stieß und ihn am Bo<strong>de</strong>n festnagelte. In To<strong>de</strong>sangst kreischte <strong>de</strong>r<br />

Ork auf, war jedoch nicht in <strong>de</strong>r Lage, sich von <strong>de</strong>r Stelle zu rühren. Indigo drehte die Klinge einmal herum, und als<br />

<strong>de</strong>r zucken<strong>de</strong> Leib still lag, zog er seine Klinge aus <strong>de</strong>ssen Körper. Dieses Schwert war wirklich erstaunlich. Es war,<br />

als wür<strong>de</strong> es von selbst seinen Weg in <strong>de</strong>n Feind fin<strong>de</strong>n!<br />

Ein hohes, schrilles Pfeifen erfüllte die Luft um <strong>de</strong>n Jurakai, und er taumelte verwirrt nach hinten. Die bei<strong>de</strong>n<br />

Weißen, die neben <strong>de</strong>m Zelt stan<strong>de</strong>n, waren nun in einen blauen Kokon gehüllt, <strong>de</strong>r sie wie ein Schild umgab.<br />

Vor ihnen stand Nachtfalke, und aus seinem Mund quollen harte, mächtige Worte, die sich in <strong>de</strong>r Luft festigten und<br />

<strong>de</strong>n Wesen entgegenbrannten. Mit weit aufgerissenen Augen drehte Talamà sich zu ihm um, und er erkannte die<br />

Angst in ihren Augen. Sie rannte zu ihm, und während sie auf ihn zulief, schrie sie etwas. Er verstand nicht genau,<br />

was sie ihm sagen wollte, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r hohe Pfeifton klingelte in seinen Ohren.<br />

„Sie beherrschen die Worte, Indigo!“ schrie Talamà erneut, diesmal näher. „Geh in Deckung, o<strong>de</strong>r du wirst sterben!“<br />

Sie sprach ein Wort, das wie „Ch’la“ klang, jedoch tausendmal wi<strong>de</strong>rhallte und wie aus hun<strong>de</strong>rt Mün<strong>de</strong>rn gleichzeitig<br />

zu kommen schien, und die Macht dieses Ausrufes drückte ihn nach hinten, und sein Körper wirbelte wie eine Fe<strong>de</strong>r<br />

in einem Sturm durch die Luft, prallte auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n und rollte noch ein ganzes Stück, bevor er zur Ruhe kam.<br />

Längst war Talamà wie<strong>de</strong>r an Nachtfalkes Seite zurückgekehrt, und zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n gegnerischen Seiten<br />

entbrannte ein Gefecht aus krachen<strong>de</strong>n Worten.<br />

„Sha’ze! Sai!.“ Die Laute stammten aus <strong>de</strong>m Mund von Nachtfalke, und selbst aus einer so großen Entfernung waren<br />

sie wie ein Aufschrei in <strong>de</strong>r Nacht, dröhnten in <strong>de</strong>n Ohren und preßten die Luft aus <strong>de</strong>r Lunge. Einer <strong>de</strong>r Weißen<br />

taumelte zurück, fing sich jedoch gleich wie<strong>de</strong>r und richtete ein eigenes Schrillen gegen die Jurakai. Wellen aus<br />

reinstem Blau wogten auf Indigos Freun<strong>de</strong> zu, und nur ein winziges Stückchen vor Nachtfalke schienen sie sich<br />

57


aufzulösen. Verbissen zitterte Falke unter <strong>de</strong>m einhämmern<strong>de</strong>n Singsang <strong>de</strong>r Weißen, und Indigo schien es, als wür<strong>de</strong><br />

sein Freund es nicht schaffen, als rutschte er nach hinten und wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Attacke nicht standhalten. Die Weißen<br />

streckten ihre langen Arme nach vorn, und ihr Gesang war nun so ohrenbetäubend, daß <strong>de</strong>m jungen Jurakai zumute<br />

war, als durchdringe eine Na<strong>de</strong>l seine Gehörgänge und spieße sein Gehirn auf. Trotz<strong>de</strong>m erhob er sich keuchend und<br />

sammelte Grimm ein, und mit schlottern<strong>de</strong>n Knien und einem Druck auf <strong>de</strong>n Ohren, <strong>de</strong>r ihm <strong>de</strong>n Kopf bersten lassen<br />

wollte, kämpfte er gegen die Worte an und schob sich näher an die weißen Geschöpfe. Nachtfalkes Körper schien bloß<br />

noch eine leblose Hülle, zwar noch immer stehend und fest auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> verankert, doch seelenlos und tot. Die Augen<br />

<strong>de</strong>s Jurakai waren leer, <strong>de</strong>r Glanz in ihnen war erloschen und nicht ein Funke Leben war mehr in ihnen enthalten.<br />

Talamà stemmte sich gegen <strong>de</strong>n Ansturm aus kreischen<strong>de</strong>m Gesang und kauerte sich neben Nachtfalke, und ihr Mund<br />

öffnete und schloß sich, doch ihre Worte waren zu leise, ihr Zauber nicht stark genug, um die Jurakai zu retten. Indigo<br />

zerrte Grimm am Bo<strong>de</strong>n entlang, aber das Schwert schien plötzlich Tonnen zu wiegen, wollte sich nicht vom Platz<br />

bewegen lassen, auch wenn <strong>de</strong>r Junge noch so sehr daran zog. Er ließ los und stürmte <strong>de</strong>n leuchten<strong>de</strong>n Gestalten ohne<br />

Waffe entgegen, um seinem Freund irgendwie zu helfen. Er wußte zwar nicht, wie, aber er war sich sicher, daß er<br />

irgen<strong>de</strong>twas unternehmen mußte, daß er seinen Freun<strong>de</strong>n in einer Weise helfen mußte, die er nicht verstand. Als er<br />

bis auf wenige Fuß an die schimmern<strong>de</strong>n Wesen herangekommen war, drehte eines von ihnen wie beiläufig <strong>de</strong>n Kopf,<br />

und <strong>de</strong>r Singsang wallte durch Indigos Knochen. Das Geheul schien ihm <strong>de</strong>n Lebenswillen zu nehmen und ihn in ein<br />

tiefes, dunkles Loch zu schleu<strong>de</strong>rn. Er taumelte zurück, krachte gegen <strong>de</strong>n Felsen, <strong>de</strong>r noch vor wenigen Sekun<strong>de</strong>n ihr<br />

Versteck gewesen war, und spuckte Blut. Er sah we<strong>de</strong>r weiße Wesen noch seinen Freund, ein schwarzer Wirbel hatte<br />

sich vor seinen Augen aufgetan und drohte ihn zu verschlucken.<br />

Dann, Jahrtausen<strong>de</strong> später, wie es <strong>de</strong>m Jurakai schien, widmete <strong>de</strong>r Weiße seine Aufmerksamkeit wie<strong>de</strong>r Nachtfalke<br />

und Talamà, und die Schwärze verblaßte und ließ tanzen<strong>de</strong> helle Flecken auf seiner Netzhaut zurück. Aber er konnte<br />

wie<strong>de</strong>r etwas sehen, auch wenn sein Kopf schmerzte und seine Ohren nun gar nichts mehr wahrzunehmen schienen.<br />

Bin ich taub? fragte er sich, und ein merkwürdiges Gefühl kam aus seinem Bauch und strömte durch seine Glie<strong>de</strong>r.<br />

O<strong>de</strong>r bin ich bereits tot?<br />

Er sah Nachtfalke wie in einem Traum, noch immer mit leerem, toten Blick, und neben ihm Talamà, <strong>de</strong>ren Worte<br />

aber anscheinend keine Wirkung hatten. Doch plötzlich kehrte Leben in die Augen seines Freun<strong>de</strong>s zurück, ein kaltes<br />

Feuer, das tief im Inneren Nachtfalkes lo<strong>de</strong>rte und nach Außen dringen wollte. Ein Wort stieg aus seinem Mund, leise<br />

zuerst, doch trotz<strong>de</strong>m wahrnehmbar. Stetig wur<strong>de</strong> es lauter, dröhnte, bis es <strong>de</strong>n Gesang <strong>de</strong>r Weißen wie ein leises<br />

Piepsen erscheinen und die Er<strong>de</strong> erzittern ließ. Noch immer schwoll <strong>de</strong>r Klang an, kein bestimmtes Wort, kein<br />

artikulierter Laut, nur ein Dröhnen und Brüllen, das alles an<strong>de</strong>re auf <strong>de</strong>r Welt verstummen ließ. Dann endlich brach<br />

<strong>de</strong>r Ton hervor, bahnte sich seinen Weg durch Luft, Geist und Körper aller Anwesen<strong>de</strong>n, erschütterte <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n und<br />

drang durch Indigos Körper. Es war ein zweistimmiger Aufschrei, <strong>de</strong>r so laut und so machtvoll war, daß <strong>de</strong>r junge<br />

Jurakai an <strong>de</strong>n Fels gepreßt wur<strong>de</strong>, und in <strong>de</strong>m Moment begriff Indigo, daß es die Stimme Talamàs war, die <strong>de</strong>m<br />

Getöse noch an Stärke verlieh.<br />

Der bloße Klang <strong>de</strong>s Aufschreis verbrannte <strong>de</strong>n schimmern<strong>de</strong>n Schild <strong>de</strong>r Gestalten, mit einem Zischen fiel <strong>de</strong>r<br />

Zauber, <strong>de</strong>n die Weißen aufgebaut hatten, in sich zusammen, und ein Ausdruck von unendlicher Furcht und<br />

Erstaunen stand auf <strong>de</strong>n leuchten<strong>de</strong>n Gesichtern <strong>de</strong>r Geschöpfe. Ihre riesigen Augen weit aufgerissen starrten sie die<br />

Jurakai noch einen Moment lang an, dann wur<strong>de</strong>n die Körper von einem Orkan erfaßt, wirbelten hilflos durch die Luft<br />

und klatschten mehrere Male gegeneinan<strong>de</strong>r im tosen<strong>de</strong>n Sturm <strong>de</strong>s Echos. Ein letzter Druck hämmerte die langen<br />

Leiber auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, drückte sie in die Er<strong>de</strong> wie Fliegen, die von einem Schuh zertreten wur<strong>de</strong>n. Dann endlich<br />

versiegte <strong>de</strong>r Laut allmählich, und auch die Er<strong>de</strong> hörte zu beben auf.<br />

Die Gestalt von Nachtfalke blieb noch solange reglos an Ort und Stelle, bis <strong>de</strong>r letzte Ton <strong>de</strong>s Wortes verklungen war,<br />

dann brach <strong>de</strong>r alte Jurakai in sich zusammen, wur<strong>de</strong> aber sofort von <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n Talamàs aufgefangen und gestützt.<br />

Indigo rappelte sich auf und rannte auf die bei<strong>de</strong>n gekrümmten Gestalten zu.<br />

„Falke! Geht es dir gut? Und Talamà! Ist euch bei<strong>de</strong>n etwas geschehen?“ Aufgeregt kauerte er sich vor seinen Freund<br />

und untersuchte ihn äußerlich auf Wun<strong>de</strong>n.<br />

„Keine Angst, Indigo“, stöhnte Nachtfalke, und seine Stimme zitterte vor Erschöpfung. „Diese Wesen waren stark in<br />

<strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>r Worte, und ich <strong>de</strong>nke, ohne die Hilfe Talamàs hier hätte ich ihre Attacke nicht überstan<strong>de</strong>n. Aber wie<br />

es aussieht, waren unsere vereinten Kräfte stärker als die <strong>de</strong>r Weißen...“ Ein Lächeln überzog seine alten Züge, als er<br />

sich nach hinten legte und verschnaufte. Auch Talamà stützte sich auf die verstaubte Er<strong>de</strong>, und ihr Atem ging schwer.<br />

„Dann danke ich dir dafür, daß du meinem Freund geholfen hast“, sagte Indigo anerkennend und bedachte die Jurakai<br />

mit einem freundlichen Lächeln, das sie erwi<strong>de</strong>rte.<br />

„Keine Ursache“, meinte sie lediglich und winkte ab. „Ohne euch wäre ich jetzt ebenfalls tot.“<br />

„Ich glaube, dieser Ort hält nichts Gutes mehr für uns bereit“, sagte Nachtfalke keuchend und erhob sich. „Wir sollten<br />

unsere Sachen sammeln und an einen geschützteren Ort tragen. Bitte helft mir, <strong>de</strong>nn ich schätze, ich bin noch etwas<br />

schwach.“<br />

Gemeinsam suchten sie ihre jeweiligen Habseligkeiten zusammen, dann brachen sie auf, um am Waldrand einen Platz<br />

zum Rasten zu fin<strong>de</strong>n.<br />

58


„Reeves!“<br />

Dynes reckte <strong>de</strong>n Hals, als die Schwertspitzen noch tiefer in seine Haut stachen und kleine Blutstropfen daraus<br />

hervorquollen.<br />

Der E<strong>de</strong>lmann, <strong>de</strong>ssen so sanfte Züge jetzt grimmig wirkten, trug das breiteste aller Grinsen zur Schau, das <strong>Arathas</strong> je<br />

gesehen hatte. „Ich <strong>de</strong>nke, jetzt ist es an Euch, Euch vorzustellen.“<br />

„Dynes“ brachte <strong>de</strong>r Ritter zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor und versuchte, einen Blick zur Seite zu<br />

werfen. Wo war <strong>de</strong>r Junge wohl hin? Aus diesem doch sehr eingeschränkten Blickwinkel konnte er nichts weiter<br />

erkennen. „<strong>Arathas</strong> Dynes.“<br />

„Dynes...“ murmelte Reeves, anscheinend belustigt. „Wo habe ich diesen Namen nur schon einmal gehört? Könnte es<br />

am Hof gewesen sein?“<br />

„Möglich“ knurrte Dynes. Dann sah er seinem Wi<strong>de</strong>rsacher in die Augen. „Laßt mich frei und kämpft wie ein Mann,<br />

Reeves. O<strong>de</strong>r habt Ihr solche Angst vor mir, daß Ihr Euch hinter diesen Schwertern verstecken müßt?“<br />

Eine knappe Handbewegung seitens Reeves sorgte dafür, daß die Soldaten ihre Waffen zurückzogen und <strong>Arathas</strong>‘<br />

Hals freigaben. Erleichtert atmete <strong>de</strong>r Ritter ein, ohne befürchten zu müssen, daß <strong>de</strong>r Atemzug sein letzter sein<br />

könnte.<br />

„Ich hoffe, das beantwortet Eure Frage, Dynes.“<br />

<strong>Arathas</strong> erhob sich aus seiner knieen<strong>de</strong>n Lage und schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. Dabei fiel sein Blick auf die brennen<strong>de</strong>n<br />

Häuser, die Flammen, die aus Fenstern und Dachgiebeln schlugen. Die unverhüllte, reine Wut, die sich in seine Seele<br />

gefressen hatte, erglühte wie<strong>de</strong>r, und fast hätte er Reeves noch einmal geschlagen. Aber er zügelte sich, musterte <strong>de</strong>n<br />

Mann im roten Samt und sah wie<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>r brennen<strong>de</strong>n Häuserfront.<br />

Die Türen waren mit Brettern vernagelt wor<strong>de</strong>n. Dynes schüttelte erneut <strong>de</strong>n Kopf. Der Satz echote in seinem Kopf<br />

wi<strong>de</strong>r, prallte von <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n seines Geistes ab, um ihm nur noch härter ins Gedächtnis zu schlagen. Die Türen<br />

waren mit Brettern vernagelt wor<strong>de</strong>n. Von Außen. Diese verdammten Hurensöhne hatten die Eingänge und unteren<br />

Fenster zugenagelt, um anschließend... er unterdrückte ein Würgen, woraufhin Reeves lächelte.<br />

„Ist Euch schlecht, Dynes?“<br />

„Warum?“ keuchte <strong>de</strong>r Ritter und <strong>de</strong>utete auf die verriegelten Türen. „Warum?“<br />

Reeves lachte, und seine Männer fielen ein in diesen unheimlichen, vom prasseln<strong>de</strong>n Knacken verbrennen<strong>de</strong>n Holzes<br />

begleiteten Laut.<br />

„Warum? Weil wir die elen<strong>de</strong> Krankheit vernichten, die in dieses Loch eingefallen ist, Dynes! Seht Ihr das <strong>de</strong>nn<br />

nicht?“<br />

Dynes schüttelte ungläubig <strong>de</strong>n Kopf. „Aber... hinter diesen Mauern verbrennen gesun<strong>de</strong> Menschen! Die Kranken<br />

sind auf <strong>de</strong>r Straße!“<br />

Der E<strong>de</strong>lmann verneinte. „Ist das nicht vollkommen egal? Auf diese Weise kommen wenigstens auch die ums Leben,<br />

bei <strong>de</strong>nen die Pest noch nicht ganz ausgebrochen ist.“ Er betrachtete Dynes heiter. „Ihr wißt doch, wie <strong>de</strong>r König bei<br />

solchen Epi<strong>de</strong>mien vorzugehen pflegt. O<strong>de</strong>r etwa nicht?“<br />

„Nein“ hauchte Dynes. „ Nein. Nicht einmal Westfald wür<strong>de</strong> so etwas anordnen. Nicht einmal <strong>de</strong>m kranken Hirn<br />

seines verzogenen Bengels Leonart traue ich so etwas zu.“<br />

„Und wenn schon“ entgegnete Reeves mit einem Achselzucken. „Es ist die erfolgreichste Metho<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n Schwarzen<br />

Tod zu bekämpfen, die es je gab. Warum sollten wir sie nicht einsetzen?“<br />

Dynes‘ Mund stand offen. „Das wißt Ihr nicht? Das wißt Ihr wirklich nicht?“<br />

„Nein.“<br />

Reeves beugte sich vor, und in <strong>de</strong>n kalten Augen <strong>de</strong>s Mannes erkannte <strong>Arathas</strong>, das es ihm tatsächlich nicht klar war.<br />

Der Braungelockte nahm Dynes‘ Kinn zwischen seine Finger, und aus nächster Nähe spuckte er ihm ins Gesicht.<br />

„Ich <strong>de</strong>nke, dieser hier gehört zu Euch, Dynes. Bringt ihn her.“<br />

Zwei Soldaten schleppten Paves herbei, <strong>de</strong>r mit bleichem Ausdruck das groteske Schauspiel verfolgte, das auf offener<br />

Straße aufgeführt wur<strong>de</strong>.<br />

„Euer Glück, daß ihr <strong>de</strong>m Jungen nichts getan habt“ zischte <strong>de</strong>r Ritter, und Reeves lächelte.<br />

„Ich lasse Euch laufen, Dynes. Euch und diesen Bastard. Aber nicht, weil ich ein so gutmütiger Mensch bin. Ich<br />

möchte mich vielmehr daran erfreuen, daß Ihr wißt, daß ich diese gesamte Stadt auf die gleiche Weise nie<strong>de</strong>rbrennen<br />

wer<strong>de</strong>, wie ich es mit diesen Häusern getan habe. Und ihr könnt nichts dagegen unternehmen.“<br />

„Hurensohn“ flüsterte Dynes.<br />

„Oh nein, Dynes. Das kann mein Stammbaum wi<strong>de</strong>rlegen.“<br />

„Ja. Aber auf einen Stammbaum wird nur bei Hun<strong>de</strong>n wert gelegt, Reeves“ murmelte Dynes.<br />

Die Miene <strong>de</strong>s E<strong>de</strong>lmanns verfinsterte sich, und zornig qittierte er die Bemerkung mit einem Schlag. Er lachte auf,<br />

und mit einer Handbewegung machte er <strong>de</strong>n Soldaten klar, die bei<strong>de</strong>n Gefangenen freizulassen.<br />

„Verschwin<strong>de</strong>t.“<br />

Das Lagerfeuer in <strong>de</strong>r kleinen Höhle im Wald war bis auf ein wenig Glut heruntergebrannt, und Nachtfalke hatte sich<br />

zum Schlafen gelegt. Er schien tief in Gedanken versunken, als Talamà auf ihn zukam.<br />

59


„Nachtfalke... darf ich dich stören?“<br />

Der alte Jurakai sah auf, und Interesse leuchtete in seinen schmalen Augen. Die Fältchen um die Li<strong>de</strong>r runzelten sich,<br />

als er das Mädchen im Schein <strong>de</strong>r Glut musterte. „Was gibt es?“ fragte er und rutschte ein Stück zur Seite, um ihr<br />

Platz zu machen.<br />

„Es ist... diese Dinge von vorhin... was waren sie? Ich habe nie im Leben etwas von solchen Geschöpfen gehört, noch<br />

nicht einmal in irgendwelchen Sagen o<strong>de</strong>r Legen<strong>de</strong>n. Sie waren so stark, und für einen Moment habe ich beinahe<br />

geglaubt, daß wir es nicht schaffen wür<strong>de</strong>n...“<br />

„Ja, du magst Recht haben damit, daß sie uns wohl übel hätten zusetzen können, und... die Worte, die sie<br />

verwen<strong>de</strong>ten, klangen falsch. Ich kenne nichts, was zu diesen Wesen eine Erklärung geben könnte, aber sie benutzten<br />

nicht <strong>de</strong>n gleichen Zauber wie wir. Ihr Gesang war... dunkel. Sehr, sehr dunkel. Es war, als wür<strong>de</strong>n sie eine Macht<br />

beschwören, die mir fremd ist, eine Stärke, gegen die ich nichts ausrichten kann und die uralt ist. Ich glaube, wenn<br />

wir sie nicht zusammen bekämpft hätten, dann wäre es uns schlecht ergangen. Sie hatten einen sehr große Kraft, diese<br />

Wesen. Aber nein, ich kann dir beim besten Willen nicht sagen, was das für Geschöpfe <strong>de</strong>r Nacht waren,<br />

ebensowenig, wie ich jemals solche Schwarzorks gesehen habe.“<br />

Talamà nickte ernst, dann schien sie sich an eine an<strong>de</strong>re Sache zu erinnern.<br />

„Ah, Nachtfalke. Du sagtest, daß ihr bei<strong>de</strong> zum Hof <strong>de</strong>s Königs unterwegs seid, und da dachte ich... nun, ich dachte<br />

darüber nach, ob ich nicht vielleicht mit euch kommen sollte, was meinst du? In Eldraja’aro gibt es nichts, das mich<br />

noch halten könnte... aber wenn es irgendwie möglich ist, diese Wesen zu bekämpfen, die unser Lager zerstört haben,<br />

dann will ich tun, was ich kann!“<br />

„Sachte, junge Jurakai. Ich hätte dich unter keinen Umstän<strong>de</strong>n allein zurück zur Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schlafes laufen lassen,<br />

egal, wie sehr du auch darum gebeten hättest. Es war mir von vornherein klar, daß du uns begleiten wirst. Erstens ist<br />

es neuerdings zu gefährlich für eine einzelne Person, <strong>de</strong>n Wald zu durchqueren, und zweitens können wir eine weitere<br />

helfen<strong>de</strong> Hand gut gebrauchen auf unserem Weg ins Innere Reich.“<br />

„Danke, Nachtfalke. Ich hoffe nur, daß wir noch rechtzeitig ankommen, um <strong>de</strong>n König zu warnen.“<br />

„Deswegen wür<strong>de</strong> ich mir keine Sorgen machen“, beschwichtige <strong>de</strong>r Alte. „Falls wir es nicht schaffen, dann wer<strong>de</strong>n es<br />

die vorausgeeilten Botschafter erledigen. Und ich <strong>de</strong>nke, daß auch die Manur jeman<strong>de</strong>n geschickt haben wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r<br />

die Kun<strong>de</strong> zum Hof trägt. Was mich allerdings bekümmert, ist etwas vollkommen an<strong>de</strong>res...“<br />

„Was ist diese Sache?“ fragte Talamà neugierig.<br />

„Nun, es ist... was wäre, wenn dieses Übel gar nicht zuerst in <strong>de</strong>n Hochlan<strong>de</strong>n aufgetaucht wäre? Wenn wir bloß<br />

nichts davon erfuhren, daß diese schwarzen Hor<strong>de</strong>n das Innere Reich längst überfallen und geplün<strong>de</strong>rt, gebrandschatzt<br />

und zerstört haben? Dann wür<strong>de</strong>n wir nun direkt in die Reihen <strong>de</strong>s Fein<strong>de</strong>s laufen, ohne es auch nur zu ahnen.“<br />

Talamà biß sich auf die Lippen. „Nein, so etwas dürfen wir nicht einmal <strong>de</strong>nken. Wenn es tatsächlich so ist, dann<br />

wäre alles verloren, und mit dieser Überlegung wür<strong>de</strong>n wir nicht weit kommen. Wir müssen die Hoffnung behalten,<br />

die wir noch in uns tragen... obwohl ich selbst auch viel lieber <strong>de</strong>m Gefühl nachgeben wür<strong>de</strong>, das in mir schlummert<br />

und mir sagt, daß jetzt, da die Wei<strong>de</strong> zerstört wur<strong>de</strong>, alles verloren ist. Aber was ist mit <strong>de</strong>nen, die noch leben und<br />

nichts von diesen Dingen wissen, die das Volk angriffen? Wir haben die Pflicht, alle zu warnen, die sich noch guter<br />

Gesundheit erfreuen. Und auch das Volk ist noch immer weit im Lan<strong>de</strong> Ruben verteilt... Die einzelnen Stämme, die<br />

außerhalb Eldraja’aros wohnen, benötigen unsere Hilfe, Nachtfalke. Wir dürfen nicht aufgeben.“<br />

„Ich hatten niemals vor, aufzugeben, Talamà. Es war nur ein Gedanke, <strong>de</strong>r mich beschäftigt, seit ich das erste Mal<br />

Meldung aus <strong>de</strong>n Hochlan<strong>de</strong>n erhielt. Es ist diese Ungewißheit, die mich rasend macht. Wir müssen etwas tun, und<br />

wir müssen es rasch tun, aber unsere Mittel und Möglichkeiten sind lei<strong>de</strong>r so sehr begrenzt. Ich wünschte, wir wüßten<br />

mehr über diesen Feind, o<strong>de</strong>r unsere kleine Gruppe wür<strong>de</strong> mehr Jurakai zählen...“<br />

„Nun, keine Sorge“, sagte Talamà und strich sich durch die langen Haare. „Es wird schon alles gutgehen... irgendwie<br />

wird schon alles klappen. Immerhin haben wir diese dämonischen Bestien vorhin auch erledigt, und jetzt wissen wir,<br />

wie wir mit ihnen umzugehen haben. Viel schlimmer kann es nicht mehr wer<strong>de</strong>n, glaube ich.“<br />

„Oh doch, Talamà. Es kann schlimmer wer<strong>de</strong>n. Es kann.“<br />

„Düstere Worte“ meinte die Jurakai nach<strong>de</strong>nklich. „Aber ich glaube trotz<strong>de</strong>m, das wir es wenigstens bis an <strong>de</strong>n Hof<br />

<strong>de</strong>s Königs schaffen wer<strong>de</strong>n. Und wenn die Hochburg noch steht, und wenn die Ritter <strong>de</strong>s Königs aufbrechen, um<br />

diese Kreaturen zu bekämpfen... nun, dann verspreche ich, daß ich mich gemeinsam mit euch so gna<strong>de</strong>nlos betrinken<br />

wer<strong>de</strong>, daß wir alle Qualen <strong>de</strong>r Reise vergessen!“<br />

„Vorhin hast du <strong>de</strong>n Weinschlauch abgelehnt, im Zelt.“ Nachtfalke runzelte die Stirn.<br />

„Das heißt nicht, daß ich keinen Alkohol schätzen wür<strong>de</strong>!“ Talamà lachte heiter. „Sei doch nicht so verbittert. Wir<br />

hatten heute alle einen schrecklichen Tag, aber er ist vorbei, und wenn wir darüber geschlafen haben, wird alles viel<br />

besser aussehen. Leg dich hin, ich wer<strong>de</strong> noch die Glut löschen und dann ebenfalls schlafen gehen. Indigo schlummert<br />

bereits selig im Reich <strong>de</strong>r Träume, siehst du?“ Sie <strong>de</strong>utete auf einen Schatten, <strong>de</strong>r im Halbdunkel <strong>de</strong>r Höhle<br />

zusammengekauert an einer Wand lag und sich ab und an räkelte. „Mach dir nicht so viele Sorgen, Nachtfalke. Ich<br />

kenne dich von früher. Obwohl du immer schon einen ernsten Anschein gemacht hast, wußte je<strong>de</strong>r, daß unter <strong>de</strong>r<br />

Fassa<strong>de</strong> ein gutmütiger und lebensfroher Jurakai steckt. Vergiß <strong>de</strong>n Schmerz für ein paar Stun<strong>de</strong>n und schlaf ein<br />

wenig. Es wird dir guttun.“<br />

60


Talamà ging, um das Feuer zu löschen, und anschließend nahm sie ihren Mantel und schlich zu <strong>de</strong>r liegen<strong>de</strong>n Gestalt<br />

Indigos. Nachtfalke blieb noch ein paar Minuten sitzen und sann über die ereignisreichen letzten Stun<strong>de</strong>n nach.<br />

Er hatte heute nicht nur beinahe sein gesamtes Volk verloren, son<strong>de</strong>rn auch seinen besten Freund und viele gute<br />

Bekannte. Die Wesen, die sie bekämpft hatten, waren blutrünstig und hinterhältig und hatten Worte beschworen, die<br />

so fremd und son<strong>de</strong>rbar waren, daß er nicht einmal von ihrer Existenz gewußt hatte! Aber dieses Mädchen hatte das<br />

Gleiche durchmachen müssen wie er und Indigo, und trotz<strong>de</strong>m gelang es ihr, ihren Lebenswillen zu behalten... auch<br />

wenn ihre Heiterkeit nur ein Mittel war, um über die Trauer hinwegzutäuschen. Trotz<strong>de</strong>m war es ein Zeichen großer<br />

Stärke...<br />

Er beobachtete die Frau, wie sie ihren Mantel neben Indigo auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n bettete und ihre Schlafstätte kritisch<br />

betrachtete. Sie wirkte entschlossen und selbstsicher. Etwas an ihr wi<strong>de</strong>rstand all <strong>de</strong>n Dingen, die einem <strong>de</strong>n Verstand<br />

rauben und in <strong>de</strong>n Wahnsinn stürzen konnten, und er kam nicht umhin, sie zu bewun<strong>de</strong>rn, da sie erst so wenige<br />

Sommer maß und bereits so erwachsen war. Mit Wohlwollen sah er, wie Talamà die Schulter <strong>de</strong>s schlafen<strong>de</strong>n Jurakai<br />

rüttelte und sich tief über ihn beugte. Er lehnte sich zurück, wickelte sich in eine Decke ein und versuchte, endlich<br />

einzuschlafen und <strong>de</strong>n Tag zu vergessen o<strong>de</strong>r wenigstens zu verdrängen.<br />

In einem ersten, unruhigem Halbschlaf drehte Indigo seinen Kopf und versuchte herauszufin<strong>de</strong>n, wer ihn wecken<br />

wollte, und warum.<br />

„Talamà“, flüsterte er, und seine Stimme klang überrascht. „Bitte entschuldige, daß ich so spät reagiere... ich glaube,<br />

ich war schon eingeschlafen...“<br />

Das Mädchen rückte näher an ihn heran und preßte ihren warmen Körper gegen seinen. „Ich wollte dich fragen, ob du<br />

etwas dagegen hast, wenn wir nebeneinan<strong>de</strong>r schlafen.“ Ein Lächeln huschte über ihre Züge. „Um die Wärme besser<br />

aufzufangen, meine ich.“<br />

Indigo sah auf und blickte direkt in die grün schimmern<strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Jurakai, die selbst in <strong>de</strong>r dunklen Höhle noch<br />

zu leuchten schienen. „Natürlich kannst du bei mir schlafen“, sagte er überrascht und lächelte zurück. „Jetzt, wo das<br />

Feuer aus ist, kann es schließlich furchtbar kalt wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Nacht.“<br />

Der Jurakai legte seinen Arm um die Taille <strong>de</strong>r jungen Frau und zog sie näher zu sich heran. Ihr Körper war warm,<br />

viel wärmer als sein eigener, und ein Gefühl <strong>de</strong>r Behaglichkeit umfing ihn. Er spürte ihre flache Atmung, während ihr<br />

Rücken an seiner Brust lehnte, und er grub sein Kinn in die Mul<strong>de</strong> zwischen Schulterblatt und Hals Talamàs. Ihre<br />

Haare kitzelten seine Haut, und er hatte sich zu beherrschen, um nicht zu niesen o<strong>de</strong>r zurückzuzucken. Das Mädchen<br />

schmiegte sich noch weiter an ihn, und er mußte gegen die kalte Höhlenwand rutschen, um Kontakte zu vermei<strong>de</strong>n,<br />

von <strong>de</strong>nen er im Moment besser Abstand halten wollte. Sie kuschelte sich an ihn, und ihr fließen<strong>de</strong>s Haar ver<strong>de</strong>ckte<br />

die Sicht auf die Außenwelt, seine Augen sahen nur noch die braunen Strähnen, die hin und her wogten und <strong>de</strong>r<br />

Nacht die Kälte nahmen. Er drückte ihren Leib gegen seinen, und eingeschlossen in seinen Armen blieb Talamà ruhig<br />

liegen, bis ihre Atmungen einen gemeinsamen Rhythmus gefun<strong>de</strong>n hatten und ein einschläfern<strong>de</strong>s, gleichbleiben<strong>de</strong>s<br />

Geräusch in <strong>de</strong>r hallen<strong>de</strong>n Höhle erzeugten.<br />

„Es war kein schöner Anblick, als ich zur Wei<strong>de</strong> hinausgegangen bin“, murmelte die Jurakai und bewegte ihren Kopf,<br />

aber nur ganz leicht, um Indigos Wange an ihrem Hals spüren zu können.<br />

„Ich weiß“, flüsterte er beruhigend. „Ich weiß. Ich habe es ebenfalls gesehen.“<br />

„All die toten Körper... ich meine, das wäre nur halb so schlimm gewesen, wenn ich sie nicht alle gekannt hätte...“<br />

Sie nahm Indigos Arm auf, <strong>de</strong>r sie noch immer an ihn drückte, und begann, ihn zärtlich zu streicheln. „Ich bin froh,<br />

daß jemand kam... nein, eigentlich bin ich froh, daß ihr kamt... ich habe keine Ahnung, wie lange ich noch in diesem<br />

Zelt hätte ausharren können.“<br />

Wie<strong>de</strong>r lagen sie eine lange Zeit still beieinan<strong>de</strong>r und genossen die Anwesenheit <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren, bis Talamà sich erneut<br />

wand und mit traurigem Blick an die Decke starrte.<br />

„Wen hast du verloren, Indigo? Hast du noch jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r in Eldraja’aro auf dich wartet, o<strong>de</strong>r irgendwo an<strong>de</strong>rs?“<br />

„Ja“, flüsterte <strong>de</strong>r Jurakai. „Nieman<strong>de</strong>n mehr in <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schlafes, aber mehrere meiner Freun<strong>de</strong> sind<br />

aufgebrochen, um an <strong>de</strong>n Hof <strong>de</strong>s Königs zu reisen, und ihm Nachricht zu bringen von <strong>de</strong>n Dingen, die hier in Ruben<br />

vor sich gehen. Ich hoffe, daß ich sie alle wie<strong>de</strong>rsehen wer<strong>de</strong>.“<br />

Ein leichtes Beben durchlief <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>r jungen Frau, und Indigo zog sie näher an sich heran.<br />

„Das ist schön für dich“, murmelte Talamà und drehte ihren Kopf so weit, daß sie in Indigos Augen blicken konnte.<br />

„Ich habe nieman<strong>de</strong>n mehr.“ Es war kein Vorwurf, nur eine bloße Feststellung. Talamà schloß die Li<strong>de</strong>r und verzog<br />

<strong>de</strong>n Mund, als wolle sie die Tränen daran hin<strong>de</strong>rn, hervorzubrechen. Als sie die Augen wie<strong>de</strong>r öffnete, schimmerte<br />

nur noch ein leicht wäßriger Glanz in ihnen, <strong>de</strong>r an das unvergossene Wasser erinnerte.<br />

„Das tut mir leid“, erwi<strong>de</strong>rte Indigo und versuchte, seinen Zorn für einen Moment zu vergessen.<br />

„Ist schon gut. Es ist... ich habe ja noch euch bei<strong>de</strong>...“ Sie blickte <strong>de</strong>n Jurakai kummervoll an, und endlich zerbrach<br />

die Fassa<strong>de</strong>, die sie schon <strong>de</strong>n ganzen Tag aufrecht erhalten hatte, und ihr Körper zuckte, als sie <strong>de</strong>n Tränen ihren<br />

Lauf ließ.<br />

Indigo umschloß sie fest mit seinen Armen, und Talamà preßte ihren Kopf an seine Brust und weinte leise <strong>de</strong>n<br />

Schmerz heraus. Auf das zurückhalten<strong>de</strong> Schluchzen folgte ein heftiger Weinkrampf, bei <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Junge beruhigen<strong>de</strong><br />

Worte in ihr Ohr murmelte und ihren Rücken rieb. Dann verebbte das Wasser allmählich, und die erlöste Jurakai glitt,<br />

61


<strong>de</strong>n Kopf noch immer auf Indigos Brust gepreßt, in einen wohlverdienten, tiefen Schlaf. Noch lange danach hielt<br />

Indigo <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>r Frau fest und genoß die Wärme und das vertraute Gesicht an seiner Seite. Irgendwann<br />

schlummerte auch er ein, und in stummer Zweisamkeit kauerten die Gestalten in <strong>de</strong>r kalten Höhle und ließen die<br />

schlechte Erinnerung auf sich beruhen.<br />

Die schwarzen Schwa<strong>de</strong>n unreinen Rauches hingen wie eine verhängnisvolle, todbringen<strong>de</strong> Decke über <strong>de</strong>r Stadt<br />

Henshire, die inzwischen lichterloh brannte.<br />

Dynes und Paves hatten, ein paar Meilen östlich <strong>de</strong>r Stadttore, ihre Pfer<strong>de</strong> gezügelt und blickten nun zu <strong>de</strong>n lo<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n<br />

Flammen. Von hier konnte man <strong>de</strong>n Rauch nicht mehr riechen, doch das entfachte Feuer erhellte die Nacht, machte<br />

sie stellenweise zum Tage.<br />

„Verdammte Bastar<strong>de</strong>“ sagte Dynes und biß die Zähne zusammen.<br />

„Sie sagten, sie haben im Auftrag <strong>de</strong>s Königs gehan<strong>de</strong>lt“ bemerkte Paves, aber <strong>de</strong>r Ritter schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Nein,<br />

das haben sie sicherlich nicht. Vielleicht hat Westfald diesem Hurensohn von Reeves befohlen, die Epi<strong>de</strong>mie<br />

einzudämmen, aber bestimmt nicht auf diese Weise! Ich war bereits in einigen Städten, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Schwarze Tod<br />

ausgebrochen war. So etwas habe ich noch nie erlebt. Wenn ich Reeves noch einmal unter an<strong>de</strong>ren Umstän<strong>de</strong>n<br />

begegnen sollte, dann gna<strong>de</strong> ihm Himmelfeuer!“<br />

Der Knabe, <strong>de</strong>r längst mehr zu Gesicht bekommen hatte, als ihm lieb war, nickte. „Es tut mir leid, daß ich Euch nicht<br />

helfen konnte, Herr.“<br />

<strong>Arathas</strong> lachte schnaubend auf. „Ist schon gut, Junge. Ich hätte diesen Mistkerl einfach abstechen sollen, anstatt lange<br />

Fragen zu stellen. Es ist meine Schuld. Du hättest nichts tun können.“<br />

Eine Zeit lang schwiegen die bei<strong>de</strong>n, bis <strong>Arathas</strong> sich endlich dazu durchrang, Henshire hinter sich zu lassen.<br />

„Wir müssen weiter, Paves. Aber vorher sollten wir uns noch eine Unterkunft für die Nacht suchen.“<br />

„Wir könnten bei <strong>de</strong>n vereinzelten Höfen fragen“ schlug <strong>de</strong>r Junge vor.<br />

„Das hatte ich vor. Aber mach dir keine allzu großen Hoffnungen – die Bauern sind wahrscheinlich verängstigt und<br />

wer<strong>de</strong>n nicht einmal die Türen öffnen. Paves zuckte die Schultern, und daraufhin ritten sie los, um wenigstens noch<br />

ein wenig Schlaf zu ergattern in dieser rauhen Nacht.<br />

Als sie die ersten Höfe am Wegerand erreichten, wur<strong>de</strong>n Dynes Vorahnungen bestätigt. Hinter <strong>de</strong>n Lä<strong>de</strong>n brannte<br />

kein Licht mehr, und überhaupt wirkten die Höfe wie tot. Bald sahen die bei<strong>de</strong>n, daß es noch schlimmer stand, als sie<br />

angenommen hatten. Fensterlä<strong>de</strong>n waren von Innen verriegelt wor<strong>de</strong>n, zugeschlagen mit dicken Holzbohlen, so daß<br />

ungela<strong>de</strong>ne Gästen es schwer haben wür<strong>de</strong>n, von Außen her einzudringen. Kein Rauch quoll aus <strong>de</strong>n Schornsteinen,<br />

und das, obwohl es kalt wie in Wintersnächten war.<br />

Dynes stieg von Sturmauge und klopfte vorsichtig an die feste Holztür, erwartete aber nicht wirklich eine Antwort. Als<br />

nach langer Zeit tatsächlich eine Stimme hinter <strong>de</strong>r Tür laut wur<strong>de</strong>, hob <strong>de</strong>r Ritter überrascht die Brauen.<br />

„Ich bitte Euch, zu öffnen“ sagte er laut und <strong>de</strong>utlich und hoffte, daß er nicht zu grob klang. „Wir sind zwei Reisen<strong>de</strong><br />

auf <strong>de</strong>m Weg nach Yark und suchen Unterkunft für heut Nacht. Ich bin gern bereit, Euch dafür zu entlohnen“ fügte er<br />

nach kurzer Pause hinzu.<br />

Längere Zeit geschah nichts, was auf eine Antwort schließen ließe, doch dann erschall erneut die Stimme aus <strong>de</strong>m<br />

Innern <strong>de</strong>s Hauses. Leise, jedoch nicht unhörbar, verlangte sie, daß <strong>Arathas</strong> und Paves sich vor eines <strong>de</strong>r Fenster<br />

stellten. Die bei<strong>de</strong>n taten, wie ihnen geheißen, und schon bald wur<strong>de</strong> die Türe <strong>de</strong>s großen Gutshauses geöffnet, und<br />

eine alte, dickliche Frau sah zu ihnen hinaus. Ihre Miene wirkte angespannt, jedoch nicht unfreundlich.<br />

„Kommt rein, und beeilt Euch“ murmelte sie und verschwand im Eingang. Dynes lächelte und zog Paves hinter sich<br />

her.<br />

Sobald sie <strong>de</strong>n Wohnraum <strong>de</strong>s Hauses betraten, strömten ihnen würzige Düfte von Kräutern und getrocknetem Obst<br />

entgegen. Es war warm, und das, obwohl kein Feuer im Kamin lo<strong>de</strong>rte. Überall hingen Bil<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n holzgetäfelten<br />

Wän<strong>de</strong>n, und um einen Türstock herum konnte man einen Blick in ein Zimmer werfen, in <strong>de</strong>m Stroh auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n<br />

lag und aus <strong>de</strong>m das Blöken von Schafen erklang.<br />

Die bei<strong>de</strong>n Reisen<strong>de</strong>n folgten <strong>de</strong>r Alten, <strong>de</strong>ren buschige, hochgesteckte weiße Haarpracht ihnen <strong>de</strong>n Weg wies. In <strong>de</strong>r<br />

Küche zog sie zwei Stühle herbei und gestattete ihnen, sich zu setzen. Dynes bemerkte, wie groß <strong>de</strong>r Tisch war, daß er<br />

Platz genug bot für mehr als ein Dutzend Leute.<br />

„Und jetzt sagt mir, woher ihr kommt“ begann die alte Dame unvermittelt und betrachtete <strong>de</strong>n Ritter skeptisch.<br />

„Von <strong>de</strong>r Hochburg, Verehrteste.“<br />

„Ihr seht nicht so aus, als wür<strong>de</strong>t ihr die besten Freun<strong>de</strong> unseres Königs sein“ stellte die Alte fest und lehnte sich über<br />

<strong>de</strong>n Tisch.<br />

Dynes mußte unwillkürlich lachen. „Gewiß nicht, Madame! Gewiß nicht. Ich bin <strong>Arathas</strong> Dynes, einer <strong>de</strong>r<br />

Lehnsherren von <strong>de</strong>n Randgebieten Yarks. Ich bin auf <strong>de</strong>m Wege zurück dorthin, zusammen mit meinem Knappen<br />

Paves.“<br />

Die Dame musterte <strong>de</strong>n Knaben und schien zu <strong>de</strong>m Entschluß zu gelangen, daß diese Informationen ausreichend<br />

waren. Sie holte Becher und Teller und fing an, jedwe<strong>de</strong>s mit Speis und Trank zu füllen.<br />

62


„Darf ich Euch fragen, ob Ihr näheres über das Feuer in Henshire wißt“ sagte sie wie beiläufig, während sie ihnen<br />

Wein in die metallenen Becher einschenkte.<br />

Dynes bedankte sich und nickte. „Es wird Euch sicherlich nicht gefallen, das zu hören, Madame. Aber ich weiß<br />

tatsächlich etwas über das Feuer in <strong>de</strong>r Stadt: Es sind ein paar Soldaten, die auf diese Weise die Pest bekämpfen<br />

wollen, die sich dort ausgebreitet hat.“<br />

„Für mich sieht es so aus, als wür<strong>de</strong> die gesamte Stadt in Flammen stehen.“<br />

Dynes gab einen knappen Laut von sich, <strong>de</strong>r abfällig und zugleich belustigt klang. „Das sieht nicht nur so aus. Die<br />

Hurensöhne fackeln ganz Henshire ab, um <strong>de</strong>n Schwarzen Tod zu vernichten! Bleibt nur zu hoffen, daß sie sich im<br />

Feuer einschließen und selbst gebraten wer<strong>de</strong>n.“<br />

Bei <strong>de</strong>m Schimpfort aus Dynes‘ Mund zuckte die Alte kurz zusammen, sagte jedoch nichts. Mit nach<strong>de</strong>nklichem<br />

Gesicht blieb sie auf ihrem Stuhl sitzen und sann über die Worte <strong>de</strong>s Ritters nach. Paves verschlang unter<strong>de</strong>ssen<br />

heißhungrig die Speisen, die ihm freundlicherweise zugeteilt wor<strong>de</strong>n waren. Seine blaßgrünen Augen, die einen so<br />

eklatanten Wi<strong>de</strong>rspruch zu seinem feuerrotem Schopf bil<strong>de</strong>ten, beobachteten <strong>de</strong>s öfteren Dynes und <strong>de</strong>ssen Verhalten<br />

bei Tisch. Vielleicht hatte er Angst, zuviel zu nehmen und so die Gastfreundschaft <strong>de</strong>r alten Frau zu strapazieren.<br />

„Wie heißt Ihr, Madame?“ verlangte Dynes zu wissen.<br />

„Ihr könnt mich Frau Fassbin<strong>de</strong>r nennen, wenn Ihr wollt. Aber ich benutze <strong>de</strong>n Namen schon lange nicht mehr. Um<br />

genau zu sein, schon seit mein Mann gestorben ist. Es war ein Unfall, um Fragen Eurerseits vorzubeugen.“<br />

„Ich hatte nicht vor, Euch danach zu fragen.“<br />

„Gut. Seit mein Mann nicht mehr lebt, ist es schwieriger gewor<strong>de</strong>n, die Ernte einzubringen. Zu <strong>de</strong>n besten Zeiten<br />

haben wir je<strong>de</strong>n Tag zehn kräftige junge Männer beschäftigt, die von früh bis spät abends gearbeitet haben. Jetzt bin<br />

ich die einzige, die sich noch um das Gut kümmert, und alleine schaffe ich es höchstens, zwei Fel<strong>de</strong>r zu bestellen.<br />

Was bringt es, mehr Getrei<strong>de</strong> zu säen, als man ernten kann?“<br />

„Das ist bedauerlich“ meinte Dynes und legte seinen Arm um <strong>de</strong>n essen<strong>de</strong>n Paves. „Wenn Ihr nichts dagegen habt,<br />

dann wür<strong>de</strong>n wir uns nach diesem Mahl gerne schlafen legen, Frau Fassbin<strong>de</strong>r. Es war ein langer Tag für uns.“<br />

„Dann kommt mit, ihr bei<strong>de</strong>n. Ich zeige Euch Eure Betten. Ihr müßt allerdings damit rechnen, daß sie ein wenig<br />

unbequem sind, und ich hoffe, daß ihr ein wenig Gesellschaft zu schätzen wißt.“<br />

Glitzern<strong>de</strong> Sonnenstrahlen brachen durch die frühen Herbstnebel, spiegelten sich auf kleinen Pfützen im Wald,<br />

erwärmten die kühle Luft <strong>de</strong>r Nacht. Vögel zwitscherten, und das gol<strong>de</strong>ne Morgenlicht ließ die Landschaft in einem<br />

hellen Glanz erstrahlen. Fast wäre man versucht gewesen, an eine Rückkehr <strong>de</strong>s Sommers zu glauben, doch die Kälte,<br />

die aus <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n strömte, vereitelte <strong>de</strong>rartige Gedanken gleich.<br />

Talamà, gera<strong>de</strong> erwacht und mit neuem Tatendrang, wand sich aus Indigos Umarmung, kroch aus <strong>de</strong>r kleinen Höhle<br />

hervor und genoß das Tageslicht, das ihr ins Gesicht schien. Es kitzelte in <strong>de</strong>r Nase und entlockte ihr ein<br />

verschlafenes Lächeln. Jetzt, hier, ohne die Fassa<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Grausamkeit, die die Wei<strong>de</strong> nun bot, sah alles... einfacher aus.<br />

Man konnte endlich wie<strong>de</strong>r an ein Morgen <strong>de</strong>nken, ohne, daß einem das Herz in <strong>de</strong>r Brust zersprang und nach<br />

Vergeltung schrie. Die bösen Gedanken und Erinnerungen <strong>de</strong>s Vortages waren zwar noch immer präsent, doch<br />

rutschten sie in <strong>de</strong>n Hintergrund vor <strong>de</strong>n Dingen, die wichtiger waren. Ihr Blick schweifte umher, und von <strong>de</strong>n Felsen<br />

aus, auf <strong>de</strong>nen sie stand, hatte sie einen Ausblick über ein Stück <strong>de</strong>s kleinen Wäldchens und die Täler, die sich<br />

ringsum erstreckten. Die Trümmer <strong>de</strong>r einstigen Wei<strong>de</strong> am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s konnte sie von hier aus nicht erkennen,<br />

und das war gut.<br />

Im feuchten Gras unter einer Schierlingstanne saß Nachtfalke, <strong>de</strong>r eine arg mitgenommene Karte studierte und tief in<br />

Gedanken versunken war. Talamà gesellte sich zu ihm, und <strong>de</strong>r Alte schenkte ihr einen warmherzigen Blick.<br />

„Seid ihr bei<strong>de</strong>n doch noch erwacht, ja?“ Er lächelte, und die Sonnenstrahlen glänzten auf seinen weißen Zähnen.<br />

„Ich dachte schon, ihr wolltet mich alleine weiterziehen lassen.“<br />

„Das wür<strong>de</strong>n wir niemals tun“ gab Talamà zurück und beugte sich neugierig über die Karte. „Das ist Ruben, nicht<br />

wahr? Ich habe auch schon solche Karten gesehen, aber noch nie eine so... große. Ich meine, sie ist viel vollständiger,<br />

als irgen<strong>de</strong>in Plan, <strong>de</strong>n ich je zu Gesicht bekommen habe. Darf ich fragen, woher du sie hast?“<br />

„Von einem Shat’lan“, erwi<strong>de</strong>rte Nachtfalke knapp und streichelte sanft über das vergilbte, zerrissene Papier. Ein<br />

Ausdruck <strong>de</strong>s Erstaunens zeigte sich auf Talamàs Gesicht. „Er gab sie mir vor langer, langer Zeit. Sie waren<br />

wun<strong>de</strong>rvolle Beobachter, die Schwarzen Seelen, und eines ihrer größten Werke ist wohl die Aufzeichnung aller Orte,<br />

an <strong>de</strong>nen dieses Volk jemals war. Die Karte ist sehr alt und min<strong>de</strong>stens ebenso wertvoll.“<br />

„Ich habe von <strong>de</strong>n Shat’lan gehört...“ Das Mädchen nickte leicht. „Stimmt es, daß noch immer ein paar von ihnen in<br />

<strong>de</strong>n Schattenwäl<strong>de</strong>rn leben, Nachtfalke?“<br />

„Man erzählt sich so etwas, ja. Aber ob es stimmt...“ Ein geheimnisvolles Schweigen legte sich über <strong>de</strong>n Jurakai, das<br />

Talamà nur noch neugieriger wer<strong>de</strong>n ließ.<br />

„Ich kann es mir nicht vorstellen, muß ich zugeben. Die Schattenwäl<strong>de</strong>r gehören zum Inneren Reich, und <strong>de</strong>r König<br />

sollte doch wissen, was beinahe direkt vor seiner Haustür vorgeht, o<strong>de</strong>r? Immerhin sind diese Wesen die Fein<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Menschen.“<br />

63


„Ich glaube nicht, daß es noch immer Shat’lan gibt, die einen Krieg führen gegen die Manur. Falls sie noch leben -<br />

und daran hege ich keinerlei Zweifel - so bezwecken sie ganz bestimmt keine kriegerischen Absichten. Nicht noch<br />

einmal wür<strong>de</strong> ein Volk, das so drastisch abgeschlachtet und reduziert wur<strong>de</strong> wie die Shat’lan, sich auf einen Kampf<br />

einlassen, bei <strong>de</strong>m Angehörige zu To<strong>de</strong> kommen wür<strong>de</strong>n. Es wäre zu gefährlich für <strong>de</strong>n Weiterbestand <strong>de</strong>r Rasse.“<br />

„Ich habe noch etwas gehört; meine Großmutter erzählte es mir, als ich noch ein kleines Kind war - ich weiß nicht,<br />

was sie damit bezwecken wollte, Angst hatte ich auf je<strong>de</strong>n Fall keine. Ich war lediglich vollkommen fasziniert davon.<br />

Sie erzählte, daß die Shat’lan schwarze Augen haben...“<br />

„Nun, es stimmt tatsächlich“ sagte Nachtfalke. „Aber es sind nicht ihre Augen. Es ist die Iris, die <strong>de</strong>n gleichen<br />

Farbton wie die Pupille besitzt. Der Augapfel selbst ist weiß. Es sieht sehr seltsam aus, soviel kann ich dir versichern.<br />

Wenn du mit einem dieses Volkes sprichst, dann kommt es dir vor, als wür<strong>de</strong>st du in <strong>de</strong>n Augen versinken; wie<br />

Löcher sind sie...“<br />

„Wieviel weißt du wirklich über die Shat’lan, Falke?“ fragte Talamà abrupt. „Und bitte, sag mir die Wahrheit.“<br />

„Du verlangst sehr viel von mir, kleine Jurakai. Ich glaube, daß <strong>de</strong>r richtige Zeitpunkt, um über diese Art von Dingen<br />

zu sprechen, noch nicht gekommen ist. Habe noch ein wenig Geduld; irgendwann wer<strong>de</strong> ich dir und Indigo erzählen,<br />

was mir bekannt ist über diese Rasse - und noch mehr.“<br />

Talamà lachte und warf <strong>de</strong>n Kopf zurück, daß ihr die Haare über die Schultern flogen. „Oh Nachtfalke! Wie kannst du<br />

erwarten, daß ich jetzt noch Geduld haben kann? Ich—„<br />

„Du wirst sie haben müssen, Talamà. Ich kann es dir nicht erzählen. Es wäre viel zu früh, ich... Nein, irgendwann<br />

wird die Zeit kommen, zu <strong>de</strong>r ihr bei<strong>de</strong> erfahren wer<strong>de</strong>t, was ihr wissen möchtet. Bis dahin, fürchte ich, wirst du diese<br />

Last <strong>de</strong>r Unwissenheit mit dir herumtragen müssen. Aber tröste dich: Das Wenige, das mir bekannt ist, wiegt<br />

ebenfalls nicht viel mehr als das, was du schon weißt.“<br />

„Nun, das ist ja wirklich ein wun<strong>de</strong>rbarer Trost“, meinte Talamà fröhlich und legte sich hintenüber ins nasse Gras.<br />

„Aber ich glaube, ich wer<strong>de</strong> es überleben.“<br />

Nachtfalke stimmte ihr wohlgelaunt zu, breitete die Karte <strong>de</strong>r Shat’lan über seinen Knien aus und <strong>de</strong>utete <strong>de</strong>r Jurakai,<br />

sich aufzusetzen. „Ich kann dir etwas an<strong>de</strong>res Interessantes bieten, wenn du möchtest. Nämlich <strong>de</strong>n Weg, <strong>de</strong>r noch vor<br />

uns liegt.“<br />

„Das wür<strong>de</strong> mich freuen“ sagte das Mädchen mit angestrengtem Blick auf die Zeichnung. „Aber... ich muß zugeben,<br />

daß ich mich nur teilweise auf <strong>de</strong>r Karte auskenne. Viele <strong>de</strong>r Bereiche sind mir gänzlich fremd. Wie zum Beispiel das<br />

hier! Was ist das?“ Ihr Zeigefinger richtete sich auf eine bestimmte Ecke <strong>de</strong>s vergilbten Papiers.<br />

„Nun, ich bezweifle, das du je dort warst. Es ist das Meer.“<br />

„Nein, ich war noch nie da“, erwi<strong>de</strong>rte die Jurakai mit wehmütigem Blick. „Es muß wun<strong>de</strong>rvoll sein... all dieses<br />

Wasser. Du hast es schon gesehen, nicht?“<br />

„Ich war schon oft an <strong>de</strong>n Strän<strong>de</strong>n Rubens. Sie sind mit nichts zu vergleichen, das es auf <strong>de</strong>r Welt gibt. Ein eigener<br />

Zauber haftet an ihnen, wie Glitzerstaub auf einem Sa’e, das zur Lichtweihe vorbereitet wird. Es ist wun<strong>de</strong>rschön, vor<br />

allem Abends und in <strong>de</strong>r Nacht, wenn die Sterne sich auf <strong>de</strong>r ruhigen See spiegeln o<strong>de</strong>r das Rauschen <strong>de</strong>s Wassers das<br />

einzige ist, was du noch hörst. Falls du jemals eine Reise durch Ruben unternehmen möchtest - abgesehen von dieser<br />

jetzigen natürlich - dann empfehle ich dir, die östlichen Rän<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s zu besuchen. Es gibt keinen schöneren<br />

Fleck, und ich weiß, wovon ich spreche.“<br />

Verträumt starrte die Jurakai auf die hellblau gemalte Fläche. „Ja, ich glaube, ich wer<strong>de</strong> das Meer irgendwann einmal<br />

aufsuchen. Ich habe schon so vieles davon gehört, daß es bald Zeit wird, es mit eigenen Augen zu sehen und zu<br />

erleben. Aber... du wolltest mir doch eigentlich <strong>de</strong>n Weg zeigen, <strong>de</strong>n wir einschlagen wollen, o<strong>de</strong>r?“<br />

„Ah, ja. Sieh her.“ Mit <strong>de</strong>m Finger fuhr <strong>de</strong>r Alte über die Karte, und manchmal verharrte er einige Sekun<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>n<br />

gezeigten Punkt zu erklären. „Hierher wer<strong>de</strong>n wir laufen, durch die Täler und vorbei am unteren Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Geriadru-<br />

Sees. Von dort aus wer<strong>de</strong>n wir versuchen, die Sümpfe am oberen En<strong>de</strong> zu umgehen, und ein Stück weit ins Hochland<br />

vorzudringen. Ich schätze, wir wer<strong>de</strong>n durch die Stadt <strong>de</strong>r Manur hier gehen, sie ist nicht eingezeichnet... Irnstwell,<br />

nennen die Menschen sie, du wirst sie kennen. Dort können wir uns Proviant besorgen und an<strong>de</strong>re Dinge, die ich noch<br />

für nötig erachte. Von dort aus wer<strong>de</strong>n wir wie<strong>de</strong>r talabwärts laufen und als Deckung <strong>de</strong>n Schlohenwald verwen<strong>de</strong>n.<br />

Und dann... nun, dann wären wir eigentlich bereits im Inneren Reich, und die Hochburg ist nicht mehr weit. Ich<br />

rechne mit einer Zeit von zwei bis zweieinhalb Monaten, wenn wir zu Fuß laufen; drei Wochen o<strong>de</strong>r weniger mit<br />

Pfer<strong>de</strong>n. Das Problem besteht nur in <strong>de</strong>r Beschaffung <strong>de</strong>r selbigen. Doch auch da habe ich meine Hoffnungen auf<br />

Irnstwell gerichtet, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Pfer<strong>de</strong>markt <strong>de</strong>r Stadt ist groß - und teuer.“<br />

„Diese ganze Berechnung geht natürlich auf einen einzigen Umstand zurück“, bemerkte Talamà, als Nachtfalke<br />

wie<strong>de</strong>r schwieg.<br />

„Ich weiß, was du sagen willst“, blockte <strong>de</strong>r Alte ab und faltete die Karte säuberlich zusammen. „Wir wissen nicht,<br />

was uns noch wi<strong>de</strong>rfahren könnte. Es kann alles geschehen, und dieser Weg sowie diese Reisezeiten sind sehr<br />

zuversichtlich, das gebe ich zu. Aber wir können keine Schwierigkeiten berücksichtigen, wenn wir nicht einmal<br />

wissen, ob wir überhaupt welche bekommen wer<strong>de</strong>n.“<br />

64


Talamà erhob sich und winkte ab. „Du hast Recht. Wir sollten uns erst dann Sorgen machen, wenn es auch Grund<br />

dazu gibt. Und jetzt wer<strong>de</strong> ich Indigo wecken müssen, weil wir ansonsten heute keinen Weg mehr zurücklegen<br />

wer<strong>de</strong>n.“ Sie ging, und Nachtfalke blieb über die Karte gebeugt zurück.<br />

In <strong>de</strong>r Höhle war es kühl, viel kühler als draußen, und die Jurakai bereute es, Indigo nicht schon früher wachgerüttelt<br />

zu haben, damit er hinaus an die wärmen<strong>de</strong> Sonne konnte. Die Gestalt <strong>de</strong>s jungen Mannes war noch immer in<br />

Embryonalhaltung auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n zusammengezogen, wie sie ihn verlassen hatte. Ein leises Murmeln und ein sanfter<br />

Fahrer durch seine Haare veranlaßten ihn dazu, die Augen einen Spalt weit zu öffnen und das Mädchen<br />

wahrzunehmen.<br />

„Guten Morgen“, sagte Talamà, und Indigo bemerkte halbwach, daß die Traurigkeit <strong>de</strong>r letzten Nacht für sie<br />

anscheinend vergessen war. „Wenn du mit nach draußen kommst, könnten wir uns vielleicht ein kleines Frühstück<br />

bereiten. Obwohl wir natürlich nicht zu anspruchsvoll sein dürfen“, fügte sie hinzu.<br />

„Gern“, sagte er und streckte sich. Seine steifen Glie<strong>de</strong>r bereiteten ihm ein wenig Sorge, doch er tröstete sich mit <strong>de</strong>r<br />

Vorstellung an einen stärken<strong>de</strong>n Happen, <strong>de</strong>r ihn bald erwartete. „Aber... bleib noch kurz“, bat er, als Talamà sich<br />

wie<strong>de</strong>r zum Gehen wen<strong>de</strong>n wollte.<br />

„Ja?“ fragte sie und nahm neben ihm Platz. Die geringe Höhe <strong>de</strong>r Höhle verhin<strong>de</strong>rte ein angenehmes aufrechtes<br />

Stehen.<br />

„Es ist... wegen gestern Abend. Geht es dir besser?“<br />

Talamà dachte eine Zeit lang über die Frage nach, und anschließend versuchte sie, ihre Gedanken in Worte zu<br />

klei<strong>de</strong>n. „Ich glaube... ja. Ein bißchen. Aber um ehrlich zu sein: die Erinnerung ist noch immer so anwesend und<br />

füllend wie vorher, nur, daß ich sie verdrängt habe. Ein Teil <strong>de</strong>s Schmerzes ist auch fort, und das habe ich dir zu<br />

verdanken... ich glaube, ich habe einfach jeman<strong>de</strong>n gebraucht.“<br />

„Keine Ursache“, meinte <strong>de</strong>r Jurakai. „Falls dich etwas bedrückt, können wir gern darüber re<strong>de</strong>n.“<br />

„Im Moment schaffe ich es, meine Gedanken unter Kontrolle zu halten. Wenn... wenn die Nacht hereinbricht... und<br />

die Erinnerung wie<strong>de</strong>r hochkommt; ich schätze, dann wird es schwerer, als bei Sonnenschein und Vogelgezwitscher.<br />

Aber ich möchte jetzt wirklich nicht über so düstere Dinge sprechen. Laß uns hinausgehen, komm.“<br />

Die alte Dame hatte nicht zuviel versprochen, als sie von Gesellschaft sprach.<br />

Die nasse Schnauze eines Schafes riß Dynes aus <strong>de</strong>m Schlaf, und als <strong>de</strong>r Ritter die Augen öffnete, blickte er in ein<br />

Gebil<strong>de</strong>, das nur aus rosaroter Haut und Fell zu bestehen schien. Er strampelte, um sich in Sicherheit zu bringen, doch<br />

das Tier ließ erst von ihm ab, als er sich erhob und nach Paves Ausschau hielt. Angewi<strong>de</strong>rt griff er sich in <strong>de</strong>n<br />

Nacken, um sich von Heu und Stroh zu befreien, während weitere Schafe um seine Beine zappelten. Aus irgen<strong>de</strong>inem<br />

Grund konnte er mit Tieren noch weitaus weniger anfangen als mit Menschen.<br />

„Guten Morgen“ erklang Paves‘ belustigte Stimme aus einer Ecke <strong>de</strong>s Raumes. Der Junge hatte es sich auf einem<br />

Stapel von Kisten bequem gemacht und grinste breit, als er Dynes vergebliche Versuche beobachtete, sich vor <strong>de</strong>n<br />

blöken<strong>de</strong>n Wesen in Sicherheit zu bringen.<br />

Dynes fluchte und rettete sich ebenfalls auf eine Kiste. Jetzt wur<strong>de</strong> ihm klar, wie die Alte es nachts hier aushalten<br />

konnte, ohne zu heizen. All ihr Vieh hatte sie drinnen untergebracht, brachte es nur zum Grasen nach draußen. Die<br />

Unmengen an Wärme, die von <strong>de</strong>n Tieren abgestrahlt wur<strong>de</strong>, vertrieb die Kälte aus <strong>de</strong>m gesamten Haus. Außer<strong>de</strong>m<br />

stank es bestialisch. Nun, wenigstens hatten sie bei <strong>de</strong>n Schafen übernachten dürfen; durch die nächste Wand<br />

erklangen die grunzen<strong>de</strong>n Schreie von Schweinen.<br />

Sich weiterhin säubernd nickte <strong>de</strong>r Ritter seinem Begleiter zu und machte Anstalten, <strong>de</strong>m Gehege zu entfliehen.<br />

„Frau Fassbin<strong>de</strong>r war vorhin schon da und hat gesagt, sie hätte Frühstück angerichtet“ teilte Paves redselig mit und<br />

sprang vom Kistenstapel herunter. Er kraulte eines <strong>de</strong>r Schafe hinter <strong>de</strong>m Ohr, dann kletterte er über das Gatter, das<br />

im Türstock errichtet wor<strong>de</strong>n war.<br />

„Hoffentlich nichts, was mit Schaf zu tun hat“ knurrte Dynes und hievte sich über die Holzbohlen in <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />

Raum. Er wur<strong>de</strong> das Gefühl nicht los, daß die alte Dame ohne Frage auch weitaus angenehmere Ruheplätze gehabt<br />

hätte.<br />

In <strong>de</strong>r Küche wur<strong>de</strong>n sie von <strong>de</strong>r Farmerin empfangen, die ihnen ein köstliches Mahl aus Eiern und Schinken<br />

zusammengestellt hatte. Heißhungrig ließ <strong>de</strong>r Ritter sich die Speisen auf <strong>de</strong>r Zunge zergehen und dankte Himmelfeuer<br />

dafür, daß es Schwein war, das dort auf seinem Teller lag.<br />

„Es tut mir leid, daß ich Euch in meinen Ställen schlafen ließ“ sagte die Alte, während ihre Gäste aßen. „Aber diese<br />

Zimmer sind bei weitem die wärmsten von allen, und ich dachte mir, daß ihr durchgefrorenen Gestalten etwas Wärme<br />

vertragen könntet. Wenn Ihr wollt, kann ich Eure Klei<strong>de</strong>r draußen ausklopfen, Herr Dynes.“<br />

„Danke, nein.“ Er warf einen grimmigen Blick zu Paves, <strong>de</strong>r sich hinter seinem Speck zu verstecken versuchte. „Mein<br />

Knappe hat ja wun<strong>de</strong>rbar geschlafen auf <strong>de</strong>n Kisten, die in Euren Ställen lagern. Bloß bin ich etwas zu groß, um mich<br />

auf ihnen zusammenzurollen.“<br />

Die restliche Zeit am Tisch sprach niemand von ihnen mehr ein Wort, doch <strong>de</strong>r Knabe und die Frau wechselten<br />

oftmals vielsagen<strong>de</strong> Blicke, was Dynes nicht entging. Schmunzelnd stand die alte Dame anschließend auf und führte<br />

die bei<strong>de</strong>n nach draußen, um ihnen die Waschfässer zu zeigen. Die Reisen<strong>de</strong>n machten sich daran, sich zu säubern,<br />

65


und trotz <strong>de</strong>s eiskalten Wassers empfand <strong>Arathas</strong> es als eine Wohltat, die letzten Hälmchen und Strohreste von seinem<br />

Körper zu spülen.<br />

„Wieviel verlangt Ihr für Eure Gastfreundschaft?“ wollte Dynes wissen, als sich die bei<strong>de</strong>n schließlich von <strong>de</strong>r alten<br />

Dame verabschie<strong>de</strong>ten.<br />

„Ich freue mich immer über ein wenig Gesellschaft am Abend“ meinte die Farmerin bloß und winkte ab. „Behaltet<br />

Euer Geld und schaut, daß Ihr so schnell wie möglich von Henshire fortkommt. Auf dieser Stadt liegt ein Fluch.“<br />

<strong>Arathas</strong> hob erstaunt die Brauen, doch die Augen <strong>de</strong>r Alten ließen keine Wi<strong>de</strong>rre<strong>de</strong> zu. „Ihr seid mir immer<br />

willkommen in meinen Lehen, Madame.“ Er verneigte sich und wandte sich <strong>de</strong>m kleinen Häuschen zu, das am Ran<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>s Gutes stand.<br />

„Sobald ich zurück bin, brechen wir auf“ rief er zu Paves und schlen<strong>de</strong>rte zum Abort. Als er in <strong>de</strong>r Hütte<br />

verschwun<strong>de</strong>n war, ging die alte Frau noch einmal ins Haus zurück, um bald wie<strong>de</strong>r zu erscheinen. In <strong>de</strong>r Hand hielt<br />

sie eine kleine, silberne Scheibe, die sie <strong>de</strong>m warten<strong>de</strong>n Knaben in die Hand drückte.<br />

„Paß gut auf dich auf, mein Junge“ flüsterte sie und umschloß seine Hän<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>n ihren.<br />

„Was ist das?“ wollte Paves wissen, und die alte Dame beugte sich vor.<br />

„Ein Zauberamulett.“ Sie zwinkerte, und <strong>de</strong>r Junge war klug genug, um zu wissen, daß dieses Geschenk nicht<br />

wirklich das war, was es zu sein vorgab. „Es wird dich beschützen.“<br />

Er lächelte dankbar und nickte. „Ich wer<strong>de</strong> darauf Acht geben.“<br />

„Das solltest du.“ Sie lächelte sanft. „Es gehörte meinem Jüngsten, mußt du wissen. Er war ungefähr in <strong>de</strong>inem Alter.<br />

Er bekam es von seinem Vater und er hütete das kleine Ding wie einen Schatz. Es ist das einzige, was ich noch von<br />

ihm besitze.“<br />

„Dann kann ich es nicht annehmen!“ protestierte Paves, doch die Alte blickte ihm ernst in die Augen.<br />

„Bitte trage es. Für meinen Sohn.“<br />

Der Junge zögerte, nickte aber dann, legte sich das Band um <strong>de</strong>n Hals und ließ das Amulett unter seine Kleidung<br />

rutschen. Lächelnd betrachtete die Farmerin ihn und strich ihm mit einem Seufzer über <strong>de</strong>n roten Schopf. Ihr Blick<br />

glitt in die Ferne, als Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen in ihrem Geiste vorüberzogen, und erst <strong>Arathas</strong>‘<br />

Wie<strong>de</strong>rkehr brachte sie zurück in die wirkliche Welt.<br />

„Laß uns gehen, Paves. Und Ihnen danke ich für alles, Madame.“<br />

Sie winkte, als die bei<strong>de</strong>n sich auf ihre Rösser schwangen und langsam von ihrem Hof davontrabten. Irgendwann<br />

geriet sie außer Sicht, und die Reisen<strong>de</strong>n waren wie<strong>de</strong>r auf sich allein gestellt.<br />

„Sie hat uns einfach bei sich übernachten lassen und uns Essen und Trinken gegeben, ohne etwas dafür zu verlangen“<br />

stellte Paves fest. „Und das, obwohl wir ebensogut Räuber hätten sein können.“<br />

Dynes sah zu seinem Begleiter und schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Ich glaube, sie besaß eine sehr gute Menschenkenntnis. Eine<br />

kluge alte Dame. Trotz<strong>de</strong>m wäre es zuviel gewesen, sie unentgeltlich zu verlassen.“<br />

„Aber wir haben ihr doch nichts gegeben.“<br />

„Ich habe ein paar Silberlinge in ihrem Abort zurückgelassen“ sagte <strong>Arathas</strong>. „Genug, um im nächsten Sommer ein<br />

o<strong>de</strong>r zwei Helfer für die Ernte einzustellen.“<br />

Paves betrachtete Dynes mit großen Augen, dann spornten die zwei ihre Pfer<strong>de</strong> an und ritten <strong>de</strong>r aufgehen<strong>de</strong>n Sonne<br />

entgegen.<br />

Im Schattenlicht <strong>de</strong>r Wäl<strong>de</strong>r saßen zwei Gestalten auf einem mächtigen Felsen und rekelten sich.<br />

„Sie ist ein wenig wechselhaft“, merkte Nachtfalke an. Talamà, die ein Stück weit entfernt saß und damit beschäftigt<br />

war, ein paar Pilze zuzubereiten, konnte sie nicht hören. „Launischer als das Wetter, so kommt es mir je<strong>de</strong>nfalls vor.<br />

Vielleicht liegt es auch nur daran, daß die jüngsten Ereignisse sie verwirrt haben.“<br />

„Sie ist ein wenig verängstigt, das ist alles.“ Indigo musterte das Mädchen, wie sie geschickt die Pilze aufspießte und<br />

in die Flammen eines kleinen Feuers hielt, bis sie gar und heiß waren. „Früher war sie an<strong>de</strong>rs. Ich kenne sie, seit ich<br />

klein bin. Ihre Eltern haben mich immer sehr zuvorkommend behan<strong>de</strong>lt, daran kann ich mich noch erinnern...“<br />

„Ich glaube, sie verbirgt nur viel vor an<strong>de</strong>ren... und auch vor sich selbst. Aber sie wird sich nicht ewig hinter einer<br />

Maske aus Launen verbergen. Und solange sie eine hilfreiche Hand für uns ist, können wir froh sein, daß sie uns<br />

begleitet.“ Mit diesen Worten schien das Thema für <strong>de</strong>n Alten abgeschlossen, und auch Indigo gab sich damit<br />

zufrie<strong>de</strong>n.<br />

Sonnenstrahlen fielen auf die Gesichter <strong>de</strong>r Jurakai, und behaglich lehnten sich die bei<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r lauen Herbstsonne<br />

auf <strong>de</strong>n kühlen Fels. Ein paar Geräusche erklangen aus <strong>de</strong>m Wald, Laute von Wild und Vögeln. Nachtfalke lauschte<br />

auf die Geräusche <strong>de</strong>r umherziehen<strong>de</strong>n Her<strong>de</strong>n.<br />

„Weißt du, Indigo, es ist schon seltsam. Kaum ist das Jagdlager <strong>de</strong>r Jurakai, die Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sommers, <strong>de</strong>m Erdbo<strong>de</strong>n<br />

gleichgemacht, schon kehren all die Tiere zurück, die wir bei <strong>de</strong>r Jagd vergeblich gesucht haben. Die Her<strong>de</strong>n von<br />

Rotwild und die Hasen und Fasane, plötzlich stecken die Wäl<strong>de</strong>r und Wiesen wie<strong>de</strong>r voller Leben. Ich frage mich, ob<br />

es Zufall ist o<strong>de</strong>r ob etwas an<strong>de</strong>res dahintersteckt.“<br />

„Vielleicht ziehen die Tiere nur weiter“, dachte Indigo laut. „Möglicherweise wer<strong>de</strong>n sie auch von irgen<strong>de</strong>twas<br />

verscheucht. Wenn du es schon nicht weißt, Falke, wer soll es dann erraten?“<br />

66


Sie genossen noch ein wenig die Sonne, die über <strong>de</strong>m kleinen Felsenhügel hing und ein fast sommerlich helles Licht<br />

spen<strong>de</strong>te. Erst, als Talamà das Essen brachte, gerieten die Jurakai in hektische Betriebsamkeit und schlangen die<br />

wenigen Happen herunter, die Nachtfalke im Wald gesammelt hatte. Nach <strong>de</strong>m kleinen, aber wohltuen<strong>de</strong>n Mahl lagen<br />

die drei Gefährten auf <strong>de</strong>m Stein und ruhten sich für <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n Marsch aus. Wenn sie schon unauffällig reisen<br />

wollten, dann doch auf je<strong>de</strong>n Fall in <strong>de</strong>r Nacht, hatten sie beschlossen, und so mußten sie bis zum Abend warten und<br />

sich die Zeit mit Schlafen o<strong>de</strong>r Essensammeln vertreiben.<br />

„Falke, ich wollte mit dir über noch eine Sache re<strong>de</strong>n, die mich beschäftigt“, begann Indigo am späten Nachmittag,<br />

während sie durch <strong>de</strong>n Wald streiften, um Nahrung zu fin<strong>de</strong>n.<br />

„Nur zu“, bekräftigte <strong>de</strong>r Alte, und ein paar Sekun<strong>de</strong>n liefen sie schweigsam nebeneinan<strong>de</strong>r durch das dichte<br />

Unterholz. Hier und da warf die Sonne ein paar helle Flecken durch das Blätterdach, und Indigo kam es vor, als<br />

befän<strong>de</strong> er sich unter einem ganz beson<strong>de</strong>ren Sternenhimmel, mit grelleren und größeren Sternen, als er sie jemals<br />

erblickte hatte.<br />

„Es ist Grimm“, antwortete <strong>de</strong>r junge Mann endlich, und ein Anflug von Sorge lag in seiner Stimme. „Es ist das<br />

son<strong>de</strong>rbarste Ding, das mir in meinem Leben untergekommen ist. Hast du es je geführt, Falke?“<br />

„Nein, mein Freund. Es ist... es war das Schwert <strong>de</strong>ines Vaters, und nur er hatte das Recht, damit umzugehen. Es kam<br />

für mich nie in Frage, nach seiner Waffe zu verlangen, vor allem, da er sie ebenso haßte wie liebte. Ich glaube, <strong>de</strong>in<br />

Vater focht sein Leben lang einen harten inneren Kampf aus. Tief in seiner Seele wußte er, daß er zum Krieger<br />

geboren war, doch er wollte es niemals wahrhaben. Nach <strong>de</strong>r Schlacht am Hof, in <strong>de</strong>r er schwor, nie wie<strong>de</strong>r eine<br />

Waffe gegen ein an<strong>de</strong>res lebendiges Wesen zu führen, widmete er sich ganz <strong>de</strong>m Frie<strong>de</strong>n zwischen <strong>de</strong>n Völkern<br />

Rubens und entsagte <strong>de</strong>m Kampf. Und er bedauerte es nie. Ich für meinen Teil habe immer daran geglaubt, daß man<br />

das tun sollte, was man am besten kann. Und da ich die Natur liebe und auch geschickt im Umgang mit Waffen bin,<br />

gingen er und ich an<strong>de</strong>re Wege. Aber wir blieben die besten Freun<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r gemeinsame Kampf hatte uns<br />

zusammengeschweißt, mußt du wissen. Er war zwar ein gutes Stück jünger als ich, aber bestimmt ebenso erfahren.<br />

Und in vielen Dingen war er mir sogar weit voraus, in Fragen <strong>de</strong>r Diplomatie, zum Beispiel. Aber ich habe nie <strong>de</strong>n<br />

Drang gehabt, nach Grimm zu fragen. Es war sein Schwert, und die Tradition verlangt, daß eine persönliche Waffe<br />

nur freiwillig o<strong>de</strong>r an die Kin<strong>de</strong>r weitergereicht wird. Er bot mir niemals an, Grimm zu tragen, und so verlangte ich<br />

auch nicht danach.“<br />

Indigo stapfte nach<strong>de</strong>nklich durch das Geäst, und Nachtfalke ließ ihm die benötigte Zeit, die er brauchte, um seine<br />

Antwort zu formulieren.<br />

„Du hättest Grimm einmal anfassen sollen, Falke!“, brachte er nach einigen Sekun<strong>de</strong>n hervor, und <strong>de</strong>r alte Jurakai<br />

wun<strong>de</strong>rte sich über <strong>de</strong>n Klang von Indigos Worten. „Es ist so... an<strong>de</strong>rs! Ich weiß nicht, ob ich es dir beschreiben soll,<br />

o<strong>de</strong>r ob ich es überhaupt kann. Und dieses merkwürdige Gefühl hatte ich auch nur während <strong>de</strong>s Kampfes; es war, als<br />

wür<strong>de</strong> die Klinge meinen Arm leiten, als wür<strong>de</strong> das Schwert singen in meinen Hän<strong>de</strong>n und plötzlich mein Denken<br />

bestimmen. Es war so... so allgegenwärtig.“<br />

„Es ist ein gutes Zeichen, die eigene Waffe zu spüren, Indigo. Irgendwann wird man eins mit seinem Schwert, und<br />

dann Gna<strong>de</strong> Himmelfeuer je<strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r sich einem entschlossenen Jurakai in <strong>de</strong>n Weg stellt.“<br />

„Du verstehst nicht, Falke. Es war Grimm! Ich konnte es hören! Es... vibrierte in meinen Hän<strong>de</strong>n, und es hatte einen<br />

eigenen Willen, ich bin ganz sicher. Ich tat einfach nur, was das Schwert wollte, und so tötete ich die Schwarzorks.<br />

All die Übungen, die wir hinter uns gebracht haben, all die Stun<strong>de</strong>n schwerer Arbeit, sie waren mit einem Mal<br />

verschwun<strong>de</strong>n, als es zum Angriff kam. Diese Orks hätten mich wahrscheinlich umgebracht, und mögen sie noch so<br />

plump gewesen sein. Aber ich glaube, Grimm hat mich gerettet. Es war immer dort, wo es sein mußte, und meine<br />

einzige Aufgabe war, es fest in meinen Hän<strong>de</strong>n zu halten, während es sich selbst führte!“<br />

„Zum Teil mag das stimmen, Indigo. Zum Teil. Es haftet etwas Einzigartiges an dieser Klinge, das läßt sich nicht<br />

bestreiten. Und auch ihr Alter zeugt davon, wieviel sie bereits mitgemacht und erlebt hat. Dein Vater bekam sie von<br />

seinem Vater, soviel ich weiß. Ich kannte <strong>de</strong>inen Großvater nicht, doch er war sicherlich ein interessanter Mann.<br />

Je<strong>de</strong>nfalls besaß er anscheinend erstaunliche Dinge. Also ist es durchaus möglich, daß Grimm... die Worte in sich<br />

trägt. Ich habe davon gehört, daß man vor langer Zeit Waffen mit Hilfe von einem Zauber härtete und schärfte.<br />

Vielleicht währen diese Worte, die damals verwen<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n - falls das <strong>de</strong>r Fall sein sollte - noch immer in diesem<br />

Schwert. Dann kann es durchaus sein, daß du es singen hörst und dir vorstellst, daß eine frem<strong>de</strong> Macht <strong>de</strong>ine Waffe<br />

führt. Aber zum Großteil warst es du selbst, <strong>de</strong>r da gekämpft hat, Indigo. Ich habe gesehen, wie du die Klinge<br />

schwangst, und ich habe darin genau die Techniken erkannt, die ich dich lehrte. Auch wenn du es nicht gemerkt hast:<br />

<strong>de</strong>in Unterbewußtsein hat dich geleitet.“<br />

„Nun, ich kann dir nicht wi<strong>de</strong>rsprechen, Falke. Diese Momente mit <strong>de</strong>n Orks und <strong>de</strong>n Weißen sind so verschwommen<br />

in meiner Erinnerung, daß ich nicht genau sagen kann, was tatsächlich geschehen ist. Trotz<strong>de</strong>m bin ich mir sicher,<br />

daß da etwas an diesem Schwert ist, das es von an<strong>de</strong>ren unterschei<strong>de</strong>t...“<br />

„Möglicherweise“, lenkte Nachtfalke ein, als sie durch das Wäldchen schritten. „Auf je<strong>de</strong>n Fall ist es eine großartige<br />

Waffe, und du solltest Stolz auf sie sein - so wie auch <strong>de</strong>in Vater es war.“<br />

67


„Keine Sorge, Falke. Ich bin sehr Stolz darauf. Und ich halte sie in Ehren, schon um meines Vaters Willen. Aber laß<br />

und jetzt zurückkehren, bitte. Es dämmert bald, und wir haben Talamà versprochen, bis zum Anbruch <strong>de</strong>r Dunkelheit<br />

wie<strong>de</strong>r am Lager zu sein.“<br />

Eine halbe Stun<strong>de</strong> später saßen sie alle drei gemeinsam um ein kleines Lagerfeuer, das in <strong>de</strong>r anbrechen<strong>de</strong>n Nacht<br />

knackste, Funken in einen leichten Wind hinaussprühte. Die Flammen erhellten die Felsen, auf <strong>de</strong>nen die Jurakai sich<br />

zusammenhockten, nur spärlich, da Nachtfalke darauf geachtet hatte, das Feuer möglichst klein zu halten, weil sie<br />

noch immer in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s zerstörten Lagers verweilten. Sie aßen die Pilze und Wurzeln, die sie gefun<strong>de</strong>n hatten,<br />

und anschließend verscharrten sie die verkohlten Zweige und Äste und brachen auf. Nach<strong>de</strong>m sie das Wäldchen hinter<br />

sich gelassen hatten, wan<strong>de</strong>rten sie fast bis zum Morgengrauen durch die Täler, bis sie <strong>de</strong>n östlichen Rand <strong>de</strong>s<br />

Geriadru-Sees erreicht hatten. Nach vier weiteren Tagen hatten sie die Täler hinter sich gelassen, und langsam aber<br />

sicher begann die Landschaft, sich zu verän<strong>de</strong>rn.<br />

Nebel hing über <strong>de</strong>n Fel<strong>de</strong>rn, und ein je<strong>de</strong>r Schritt mußte mit Bedacht gewählt wer<strong>de</strong>n, da <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n tückisch war und<br />

niemals so fest, wie er zu sein vorgab. Fremdartige Laute klangen durch die schattigen Wiesen, unheimliche Rufe und<br />

Schreie. Der Hall trug seltsame Stimmen an die Ohren <strong>de</strong>r Jurakai, und selbst die Sonne schien nicht recht zu wissen,<br />

ob sie die dicke Wolken<strong>de</strong>cke durchstoßen, ihr Licht auf das darunterliegen<strong>de</strong>, feuchte Land werfen sollte.<br />

Sie waren am Mangobu angekommen, <strong>de</strong>m riesigen Sumpf, <strong>de</strong>r sich quer durch das südliche Ruben zog. Vor<br />

Erschöpfung schlotternd hielten sie an <strong>de</strong>n ersten Baumgruppen und schlugen ihr Lager auf. Die Wolken hingen tief,<br />

und schon bald begann ein Regenschauer, <strong>de</strong>n nassen Bo<strong>de</strong>n aufzuschwemmen.<br />

68


IV<br />

Puls <strong>de</strong>s Lebens<br />

Ist dies <strong>de</strong>in Werk? fragte Sanftkralle <strong>de</strong>n Sündigen<br />

Und <strong>de</strong>r Sündige antwortete Ja<br />

Und sind dies <strong>de</strong>ine Laster? fragte Sanftkralle<br />

Und <strong>de</strong>r Sündige antwortete wie<strong>de</strong>rum Ja<br />

Dann bür<strong>de</strong> mir auf, was dich beschwert, sagte Sanftkralle da zu ihm<br />

Und sie nahm die Last auf ihre Schultern<br />

welche die Welt <strong>de</strong>m Volk aufdrängte<br />

Und nun geh, sagte Sanftkralle<br />

Und <strong>de</strong>r Sündige war erlöst<br />

Weißklaues Kin<strong>de</strong>r<br />

Aus „Religion <strong>de</strong>r Jurakai“ von Asan An‘chassar<br />

Talamà kämpfte sich einen Weg durch das dichte Wirrwarr aus bis zum Bo<strong>de</strong>n baumeln<strong>de</strong>n Ästen und<br />

Schlingpflanzen, sprang über knietiefe Wasserlöcher o<strong>de</strong>r stapfte am Ran<strong>de</strong> von kleinen, unscheinbaren Schilfseen<br />

entlang. Die kleinen Seen allerdings stellten eine gut getarnte Falle dar: Überall auf <strong>de</strong>m seichten Wasser wuchsen die<br />

Gräser und das Schilf, verliehen <strong>de</strong>m ganzen See das Aussehen einer ruhigen Wiese. Doch wenn man einen ersten<br />

unvorsichtigen Schritt auf das vermeintlich feste Gras wagte, bekam man schon bald <strong>de</strong>n Fehler in seinem Han<strong>de</strong>ln zu<br />

spüren. Die aufgeweichte, schlickige Er<strong>de</strong> umfaßte <strong>de</strong>n Fuß mit ziehen<strong>de</strong>m Griff, ließ ihn nicht mehr los, so sehr man<br />

sich auch bemühte. Man sank nur noch tiefer in das moorige, stinken<strong>de</strong> Erdreich ein, und wenn nicht zufällig eine<br />

helfen<strong>de</strong> Hand zur Stelle war, steckte man in großen Schwierigkeiten. Außer<strong>de</strong>m krochen eine Menge giftiges Getier<br />

und Schlangen in <strong>de</strong>n brackigen Tümpeln und Schein-Seen, so daß äußerst vorsichtiges und überlegtes Han<strong>de</strong>ln die<br />

Voraussetzung für das Überleben darstellte. Nachtfalke hatte seine bei<strong>de</strong>n Gefährten sorgfältigst gewarnt und sie über<br />

die Lebensarten <strong>de</strong>s Mangobu unterrichtet, soweit sie noch nicht mit <strong>de</strong>n einheimischen Tieren vertraut waren. Selbst<br />

Talamà, die schon mehr von Ruben gesehen hatte als Indigo, konnte nicht von sich behaupten, jemals durch <strong>de</strong>n<br />

Sumpf marschiert zu sein.<br />

Je weiter sie vordrang, <strong>de</strong>sto wärmer, o<strong>de</strong>r besser gesagt, drücken<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong> es, die feuchte Luft lastete auf ihrem<br />

Kreislauf und durchdrang ihre Klei<strong>de</strong>r. Sie geriet ins Schwitzen bei <strong>de</strong>m Versuch, einen merkwürdig verkrümmten<br />

Baum zu umgehen, <strong>de</strong>ssen Wurzeln sich weit über das normale Ausmaß hinaus durch und über die Er<strong>de</strong> erstreckten.<br />

Erst, als sie die Auswüchse erklommen hatte, konnte sie eine Schneise erkennen, die durch das Gewirr von dicken,<br />

elastischen Hin<strong>de</strong>rnissen führte. Irgendwo hinter ihr kämpfte Indigo um das Vorankommen, hatte aber <strong>de</strong>n Vorteil,<br />

daß die vorausgeeilte Talamà einen Weg von zerschnittenen Halmen und Gräsern hinterließ und so einen relativ<br />

ungefährlichen Pfad durch die Sümpfe fertigte. Nachtfalke hatte ihr eingebleut, niemals allein zu versuchen, die<br />

tückischen Wasser zu durchqueren o<strong>de</strong>r durch das Astgewirr zu kriechen. Nur allzu leicht konnte man unversehens<br />

von einem Tier angefallen und gebissen wer<strong>de</strong>n, o<strong>de</strong>r man berührte die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Pflanze, <strong>de</strong>ren Nesseln eines<br />

von hun<strong>de</strong>rt im Mangobu vorkommen<strong>de</strong>n Giften abson<strong>de</strong>rten. So o<strong>de</strong>r so war es nicht ungefährlich, sich <strong>de</strong>n Weg<br />

durch <strong>de</strong>n Sumpf ohne Gefährten zu erkämpfen, aber Talamà hatte das dringen<strong>de</strong> Bedürfnis nach Einsamkeit, wollte<br />

wenigstens für kurze Zeit nicht von Indigo o<strong>de</strong>r Nachtfalke gestört wer<strong>de</strong>n. Herrlich frei flogen ihre Gedanken in alle<br />

Himmelsrichtungen, ungelenkt und ohne Ziel. Es machte Spaß, sich an <strong>de</strong>n Lianen eines großen, verzwirbelten<br />

Baumes über ein Wasserloch zu schwingen, in <strong>de</strong>m es von froschartigen Dingen wimmelte, o<strong>de</strong>r kriechend zwischen<br />

<strong>de</strong>n Riesenwurzeln zu robben. Es war ein Gefühl <strong>de</strong>r Einsamkeit, allerdings nicht schlecht, son<strong>de</strong>rn vielmehr<br />

wun<strong>de</strong>rschön und atemberaubend. In diesem dichten Dschungel von unbekannten Pflanzen, merkwürdigen Tieren, die<br />

hoch oben in <strong>de</strong>n Baumkronen saßen o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n herumsprangen, fühlte sie sich zum ersten Mal wirklich<br />

frei. Sie war in keinster Weise eingeschränkt, konnte tun und lassen, was sie wollte, und all ihr Han<strong>de</strong>ln konnte sie<br />

entwe<strong>de</strong>r an einen noch schöneren, wun<strong>de</strong>rvolleren Ort bringen - o<strong>de</strong>r sie das Leben kosten. Es lag nur in ihrer Hand,<br />

und dieses einzigartige Gefühl wollte sie sich jetzt noch nicht wie<strong>de</strong>r nehmen lassen. Indigo, <strong>de</strong>ssen gedämpften Ruf<br />

sie hin und wie<strong>de</strong>r vernahm, rückte in <strong>de</strong>n Hintergrund, einen Hintergrund, <strong>de</strong>r schon bald wie<strong>de</strong>r zu harter Realität<br />

wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>r sie nur aufgebrochen waren, um fließen<strong>de</strong>s Wasser zu fin<strong>de</strong>n, und nicht, um die blühen<strong>de</strong><br />

Vielfalt <strong>de</strong>r Natur zu bewun<strong>de</strong>rn, die sich an diesem gefährlichen Ort bot.<br />

69


Es war wirklich seltsam, dachte Talamà, während sie vorsichtig durch eine Ansammlung hüfthoher Gräser watete.<br />

Die schönsten Orte <strong>de</strong>r Welt schienen zugleich auch immer die gefährlichsten zu sein. Hier gab es wirklich alles:<br />

Buntgescheckte Vögel, die in <strong>de</strong>r Luft kreischten o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n stelzten, Tiere, die von Ästen hingen und<br />

aussahen, als wären sie eine Kreuzung aus einem kleinen Pferd und einem Bären, und Pflanzen, <strong>de</strong>ren Artenvielfalt<br />

und Pracht <strong>de</strong>n Weiler wie eine blasse Wiese aussehen ließen. Und seltsamerweise war an genau <strong>de</strong>n Orten, die das<br />

meiste Leben beherbergten, auch <strong>de</strong>r Tod allzeit gegenwärtig. Als wenn es einen Ausgleich geben müßte, <strong>de</strong>r besagte:<br />

Je schöner und prächtiger, <strong>de</strong>sto tödlicher...<br />

Der Weg schlängelte sich nun durch ein Gewirr von Gräsern, und sie bog bei einer Stau<strong>de</strong> von hohen, rotgelb<br />

schimmern<strong>de</strong>n Blumen nach links, und um Indigo einen Anhaltspunkt über ihre Wegwahl zu hinterlassen, schnitt sie<br />

die Halme eines niedrigen Grases ab, legte die Stengel wie einen Pfeil auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n. Sie sagte sich, daß dies reichen<br />

müsse, und wand ihren Körper an ein paar schlanken Bäumen entlang. Die Gewächse hier schienen allesamt<br />

son<strong>de</strong>rbar mißgestaltet: Anstatt großer, gera<strong>de</strong> emporwachsen<strong>de</strong>r Stämme, waren sie entwe<strong>de</strong>r zu irgendwelchen<br />

Seiten gekrümmt, bogen sich tief über die Wasserflächen o<strong>de</strong>r drehten sich, Stamm an Stamm, in die Höhe. Von ihren<br />

Ästen baumelten sowohl Lianen, Gräser und die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Schlange, als auch wendige kleine Tierchen, die<br />

sich hin und wie<strong>de</strong>r vom gera<strong>de</strong> besetzten Ast fallen ließen, um sich an <strong>de</strong>r nächstbesten Gelegenheit festzukrallen.<br />

Ein stetiges Rauschen, das mit je<strong>de</strong>m Schritt näherkam, kün<strong>de</strong>te von fließen<strong>de</strong>m Wasser, von <strong>de</strong>m Nachtfalke<br />

behauptete, es wäre unbedingt wichtig, da die stehen<strong>de</strong>n Tümpel nicht zur Trinkwasserentnahme geeignet seien. Als<br />

Talamà über eine neuerliche Ansammlung von kopfhohen Wurzeln geklettert war, ließ sie sich auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite<br />

auf feste Er<strong>de</strong> fallen, richtete sich auf und blieb mit offenem Mund stehen. Der Anblick, <strong>de</strong>r sich ihr bot, war von<br />

unbeschreiblicher Schönheit, und die Jurakai verharrte reglos zwischen <strong>de</strong>n Dschungelriesen.<br />

Ein Fluß schlängelte sich durch eine große Rinne im Sumpf, kroch mit beträchtlicher Geschwindigkeit durch die<br />

Mul<strong>de</strong>n und plätscherte an Steinen, die sich aus <strong>de</strong>m grünen Wasser erhoben und von kleinen, tanzen<strong>de</strong>n<br />

Schaumkronen umgeben waren. Und direkt vor Talamà... erhob sich ein majestätischer Wasserfall, ließ die Fluten<br />

mitten durch vereinzelt hineinhängen<strong>de</strong> Äste krachen und bil<strong>de</strong>te eine schäumen<strong>de</strong>, spru<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Gischt. Winzige<br />

Tröpfchen hingen in <strong>de</strong>r Luft, ließen sie glitzern und erzeugten einen wun<strong>de</strong>rvollen kleinen Regenbogen, <strong>de</strong>r<br />

zwischen <strong>de</strong>n Bäumen glitzerte. Am Fuße <strong>de</strong>s Wasserfalls hatte sich ein kleiner See gebil<strong>de</strong>t, in einem tiefen Blau, das<br />

kühl und rein anmutete und je<strong>de</strong>n Besucher lockte, sich in das Wasser zu werfen und davon zu trinken. Nach<strong>de</strong>m<br />

Talamà einige Sekun<strong>de</strong>n so an Ort und Stelle verharrte, erklangen knacksen<strong>de</strong>, brechen<strong>de</strong> Laute hinter ihr, und wenig<br />

später lan<strong>de</strong>te Indigo auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n neben <strong>de</strong>r Jurakai. Seine zornigen Worte über das Vorauseilen <strong>de</strong>s Mädchens<br />

vergaß er, als sein Blick auf das Naturschauspiel fiel, und ehrfürchtig schwieg er, um die Atmosphäre <strong>de</strong>s Ortes nicht<br />

zu zerstören.<br />

„Ich habe so etwas noch nie in meinem Leben gesehen“ flüsterte Talamà und nahm Indigo am Arm, um gemeinsam<br />

mit ihm auf <strong>de</strong>n kleinen See zuzulaufen. „Es sieht ungefährlich aus, was <strong>de</strong>nkst du?“ Sie zerrte am Ärmel ihres<br />

Gefährten, <strong>de</strong>r sich plötzlich weigerte, noch einen Schritt zu tun.<br />

„Gefährlich scheint mir eher das zu sein, was du gera<strong>de</strong> getan hast“ rügte er das Mädchen, das sich schuldbewußt<br />

umdrehte. Er faßte sie an <strong>de</strong>n Armen. „Du weißt genau, daß wir uns nicht hätten trennen dürfen, Talamà! Dies ist<br />

einfach kein Ort, an <strong>de</strong>m man unbekümmert durch die Wiesen rennen kann. Der Tod lauert in je<strong>de</strong>r Ecke, und wenn<br />

du nicht Acht gibst, versinkst du schneller in einem unscheinbaren Wasserloch, als du auch nur meinen Namen rufen<br />

kannst!“<br />

„Es ist nichts geschehen“ winkte sie verärgert ab und versuchte, sich aus <strong>de</strong>m Griff <strong>de</strong>s Jurakai zu befreien. „Laß mich<br />

los, Indigo.“<br />

Ein Ausdruck <strong>de</strong>s Erstaunens machte sich auf <strong>de</strong>m Gesicht <strong>de</strong>s jungen Mannes breit. „Bist du mir jetzt böse, ja?<br />

Begreifst du nicht, in welcher Gefahr du geschwebt hast, als du allein nach vorn geeilt bist?“<br />

„Und? Warst du nicht in <strong>de</strong>r selben Gefahr, weil du mir ohne Begleiter nachgelaufen bist? Wäre es nicht klüger<br />

gewesen, Nachtfalke zu holen und gemeinsam mit ihm nach mir zu suchen?“<br />

„Aber ich ...“ Indigo fehlten die Worte, und er starrte Talamà wütend in die grün leuchten<strong>de</strong>n Augen, die irgendwie<br />

an diesen farbenfrohen Ort zu passen schienen. Er konnte sich nicht <strong>de</strong>s Eindrucks erwehren, daß sie dies hier genoß,<br />

beinahe lächelte. Mit einem Mal beugte sich das Mädchen flink nach vorn und gab ihrem Gegenüber einen schnellen,<br />

hastigen Kuß auf die Lippen. Dann murmelte sie ein leises „Entschuldigung“, aber <strong>de</strong>r überraschte Indigo wußte<br />

nicht, ob sie es auf ihr Vorauseilen bezog o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Kuß. Sie wand sich aus seinem erschlafften Griff und lief auf<br />

<strong>de</strong>n See zu, ließ <strong>de</strong>n Jungen mit gemischten Gefühlen stehen.<br />

„Warte“, rief er ihr nach und eilte <strong>de</strong>r Gestalt hinterher, die schon am Ufer angekommen war und sich über das<br />

kristallklare Wasser beugte. „Versuch nicht schon wie<strong>de</strong>r, allein weiterzulaufen.“<br />

Talamà drehte sich um und bedachte <strong>de</strong>n Jurakai mit einem breiten Grinsen. „Ich?“ fragte sie scheinheilig und machte<br />

eine ausufern<strong>de</strong> Geste mit <strong>de</strong>n Armen. „Niemals!“ Von dieser Stelle aus, genau auf <strong>de</strong>r gegenüberliegen<strong>de</strong>n Seite <strong>de</strong>s<br />

Wasserfalls, konnte man bis auf <strong>de</strong>n Grund <strong>de</strong>s Sees schauen. Er war nicht beson<strong>de</strong>rs tief, und in <strong>de</strong>r Mul<strong>de</strong> warteten<br />

we<strong>de</strong>r kleine Tierchen noch Schlingpflanzen o<strong>de</strong>r Algen, nur helle, winzige weiße Steinchen lagen dort. Talamà hielt<br />

eine Hand in <strong>de</strong>n See, zog sie jedoch schnell wie<strong>de</strong>r zurück. „Eiskalt“, bibberte sie und verzog <strong>de</strong>n Mund. „Ich glaube,<br />

ich gebe <strong>de</strong>n Gedanken, darin zu Ba<strong>de</strong>n, hiermit wie<strong>de</strong>r auf.“<br />

70


„Du willst darin ba<strong>de</strong>n?“ Ungläubig starrte Indigo sie an. Sie legte ihm einen feuchten Finger auf <strong>de</strong>n Mund, bevor er<br />

fähig war, weitere Dinge zu sagen.<br />

„Jetzt nicht mehr“, sagte sie fröhlich und nahm <strong>de</strong>n Rucksack ab, <strong>de</strong>r von ihren Schultern hing. „Wir sollten die<br />

Wasserschläuche füllen.“ Sie holte die Schläuche hervor, die sie von Nachtfalke bekommen hatte und begann damit,<br />

das kalte, klare Wasser hinein laufen zu lassen. Indigo tat es ihr gleich, und schweigsam saßen sie nebeneinan<strong>de</strong>r,<br />

Talamà lächelnd, <strong>de</strong>r Junge mit noch immer verwirrtem Gesichtsausdruck. Als die Arbeit erledigt war, sah sich das<br />

Mädchen nach allen Seiten <strong>de</strong>s Dschungels um.<br />

„Es ist komisch, nicht wahr?“ sagte sie und richtete die Frage an die Welt im allgemeinen. „Noch in <strong>de</strong>n Tälern war<br />

es furchtbar kalt, tagsüber zwar weitaus weniger als in <strong>de</strong>r Nacht, aber doch kalt genug, um dir die Glie<strong>de</strong>r steiffrieren<br />

zu lassen. Aber hier, an diesem Ort... man könnte meinen, wir hätten Frühling o<strong>de</strong>r Sommer. Alles hier scheint zu<br />

blühen und ge<strong>de</strong>ihen, und es ist warm und feucht. Und das, obwohl wir nicht allzu weit in <strong>de</strong>n Sü<strong>de</strong>n vorgedrungen<br />

sind, und das Klima sich nicht so drastisch hätte än<strong>de</strong>rn dürfen, o<strong>de</strong>r?“<br />

Indigo schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Ich weiß nicht, warum die Unterschie<strong>de</strong> so gewaltig sind, Talamà. Vielleicht liegt es an<br />

<strong>de</strong>r Umgebung. Vielleicht speichert <strong>de</strong>r Mangobu soviel Wärme und Energie, daß hier das ganze Jahr über dieses<br />

feuchtwarme Klima herrscht. Aber das kann ich auch nur vermuten. Wenn du es genau wissen willst, dann solltest du<br />

Nachtfalke fragen.“<br />

„Es war nur ein Gedanke, Indigo. Ich wollte keine Abhandlung über die Wetterverän<strong>de</strong>rung zwischen <strong>de</strong>n<br />

verschie<strong>de</strong>nen Breitengra<strong>de</strong>n Rubens von dir hören. Nein, es hat mich nur interessiert, aber im Grun<strong>de</strong> ist es doch<br />

egal. Es ist einfach bloß schön, daß es selbst in diesem eiskalten Herbst anscheinend Orte gibt, an die die Kälte nicht<br />

gelangt. Komm mit, ich möchte mich hier ein bißchen umsehen, hast du keine Lust?“<br />

„Talamà, ich weiß nicht, ob wir uns hier länger als nötig aufhalten sollten. Immerhin wartet Nachtfalke auf uns, und<br />

wir müssen noch <strong>de</strong>n Weg zurück fin<strong>de</strong>n...“<br />

„Keine Angst, <strong>de</strong>n habe ich markiert. Außer<strong>de</strong>m weiß ich genau, bei welchem Baum ich mir das Knie wo<br />

angeschlagen habe, und welches Gras mir an welcher Stelle in die Arme schnitt. Mit verbun<strong>de</strong>nen Augen könnte ich<br />

die Strecke zurücklaufen, glaub mir.“ Sie sprang über einen kleines Bächlein, das vom See abzweigte und irgendwo in<br />

<strong>de</strong>n Mangobu floß, wartete dahinter auf <strong>de</strong>n sturen Jurakai. Endlich nahm sich dieser ein Herz und setzte ihr nach, als<br />

sie weiter über das steinige Ufer eilte.<br />

„Siehst du <strong>de</strong>n kleinen Pfad, <strong>de</strong>r dort auf <strong>de</strong>n Berg hinaufführt, Indigo? Von oben hat man sicherlich einen<br />

wun<strong>de</strong>rvollen Ausblick über einen großen Teil <strong>de</strong>r Sümpfe, und wir können erkennen, woher <strong>de</strong>r Fluß kommt, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />

Wasserfall speist!“<br />

Schon war sie die ersten Schritte <strong>de</strong>s Hügels hinaufgestiegen, und ihr Begleiter hatte Mühe, sich ihrem Tempo<br />

anzupassen. Oben angelangt blieben die bei<strong>de</strong>n stehen und verschnauften, während ihr Blick über <strong>de</strong>n Mangobu<br />

schweifte. Sie konnten zwar nicht wirklich viel sehen, aber wenigstens die naheliegen<strong>de</strong> Umgebung offenbarte sich<br />

ihnen. Der Fluß, <strong>de</strong>r sich am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s kleinen Bergs in einen reißen<strong>de</strong>n Strom verwan<strong>de</strong>lte, um anschließend<br />

brüllend die Fälle hinunterzukrachen und mit Wucht auf die Oberfläche <strong>de</strong>s Sees aufzuschlagen, war hier, ein gutes<br />

Stück vom Wasserfall entfernt, noch ein recht breiter und gemächlich dahinfließen<strong>de</strong>r Strom. Wie ein aufgeregtes<br />

Kind tastete Talamà sich an das Wasser heran, spielte mit <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n darin und versuchte, einen Blick auf <strong>de</strong>n<br />

Grund zu erhaschen. Indigo wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>m Drang, ebenfalls wie ein Irrer herumzuspringen und zu tun, als ob dies<br />

hier ein Spielplatz wäre. Er ging auf Talamà zu, die am Ufer <strong>de</strong>s Flusses saß und die träge an ihr vorüberströmen<strong>de</strong>n<br />

Wassermassen betrachtete. Sie blickte zu ihm auf, und bevor er einen Laut hervorbringen konnte, war ihre Hand ins<br />

Wasser gefahren und bespritzte ihn mit <strong>de</strong>m kühlen Naß. Erschrocken fuhr er zurück, und lachend stand Talamà auf<br />

und hielt ihn an <strong>de</strong>r Hand, bevor er aus Versehen taumelnd in <strong>de</strong>n Fluß stürzte.<br />

„Ich bitte dich, wir sollten hier nicht herumspielen“ meinte er, aber auch in seinem Gesicht machte sich ein winziges<br />

Lächeln breit. „Das ist nicht <strong>de</strong>r Weilerwald, und die Umstän<strong>de</strong>, unter <strong>de</strong>nen wir uns hier befin<strong>de</strong>n, sind auch nicht<br />

beson<strong>de</strong>rs freudig.“<br />

„Sei nicht so ernst, Indigo“ lachte Talamà und zog ihn fort vom Ufer <strong>de</strong>s Stroms. „Du brauchst nicht so übermäßig<br />

erwachsen zu tun, hier und jetzt, wo Nachtfalke nicht anwesend ist. Auch die Orks sind nicht in <strong>de</strong>r Nähe, und wir<br />

brauchen nichts zu befürchten!“ Sie sprang in <strong>de</strong>n wil<strong>de</strong>n Dschungel, und ihr Gefährte setzte ihr nach. Bald waren sie<br />

wie<strong>de</strong>r am Hang <strong>de</strong>s Hügels, und Talamà rutschte übermütig daran hinunter. Der junge Jurakai hinter ihr folgte rasch,<br />

und nun spiegelte sich auf seinen Zügen nicht mehr <strong>de</strong>r Ernst <strong>de</strong>s erfahrenen Beschützers, son<strong>de</strong>rn die Freu<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r<br />

Natur, die ihn hier umgab. Und er konnte es tatsächlich genießen, <strong>de</strong>nn es war so warm und schwül, daß es ihm<br />

erschien, als wäre er mitten in <strong>de</strong>n Sommer zurückversetzt wor<strong>de</strong>n.<br />

„Warte, Talamà“ rief er <strong>de</strong>m Mädchen nach, doch die ihre Gestalt war schon am kleinen See angekommen. Als er sie<br />

erreichte, <strong>de</strong>utete ihre Hand auf eine Stelle irgendwo hinter <strong>de</strong>n Fluten <strong>de</strong>s Falls, und sie packte energisch seinen<br />

Ärmel.<br />

„Dort vorn ist ein Weg, glaube ich.“ Sie steuerten direkt auf einen schmalen Pfad zu, <strong>de</strong>r am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r steilen<br />

Felswand entlang führte, anscheinend bis zu <strong>de</strong>n tosen<strong>de</strong>n Wassermassen, die aus <strong>de</strong>r Luft herabstürzten. Sie tasteten<br />

sich vorwärts, und auf <strong>de</strong>m glitschigen Untergrund brauchten sie all ihre Konzentration, um nicht abzurutschen und<br />

in <strong>de</strong>n See zu fallen.<br />

71


„Paß auf“ warnte Talamà ihren Begleiter, doch dieser war schon vorsichtig genug. Er wußte zwar nicht, wohin ihn<br />

dieser Weg führen wür<strong>de</strong>, aber die Begeisterung <strong>de</strong>r Jurakai hatte auch ihn ergriffen. Er atmete tief ein, und die<br />

wassergetränkte Luft saugte sich in seine Lungen. Er nieste, als ein paar Tropfen ihm in die Nase gerieten, und seine<br />

Gefährtin mußte ihn und sich selbst festhalten, damit sie nicht vom schmalen Pfad rutschten.<br />

„Wohin gehst du eigentlich?“ erkundigte sich <strong>de</strong>r Jurakai, <strong>de</strong>ssen Kleidung nun bereits so naß war, daß es auch nichts<br />

mehr ausmachen wür<strong>de</strong>, wenn er in <strong>de</strong>n See fiele. Talamà <strong>de</strong>utete gera<strong>de</strong>aus.<br />

„Dorthin“ sagte sie, und als Indigos Blick ihrem ausgestreckten Finger folgte, erkannte er einen Spalte, eine Nische,<br />

die <strong>de</strong>n Wasserfall von <strong>de</strong>m Berghang trennte. Sie gingen hinter <strong>de</strong>n Wasserfall! Aber bevor er protestieren konnte,<br />

hatte Talamà ihn an <strong>de</strong>n Fluten vorbei gezerrt, und mit stocken<strong>de</strong>m Atem bewegten sie sich nun auf <strong>de</strong>m Pfad, zu<br />

ihrer Linken die Felswand und zur Rechten das fallen<strong>de</strong> Wasser. Die schmale Spur, <strong>de</strong>r sie gefolgt waren, verän<strong>de</strong>rte<br />

sich nun, und aus <strong>de</strong>m steinernen Pfad wur<strong>de</strong>n einzelne Blöcke, die aus <strong>de</strong>m Wasser emporragten.<br />

„Wir sollten umkehren“ sagte Indigo, aber tief in sich wollte auch er weiterlaufen und auf diese Weise an die an<strong>de</strong>re<br />

Seite <strong>de</strong>s Flusses gelangen.<br />

„Nein“ erwi<strong>de</strong>rte Talamà, und damit war <strong>de</strong>r Fall erledigt. Leichtfüßig sprang das Mädchen von Stein zu Stein, und<br />

nur Zentimeter trennten sie von <strong>de</strong>n Wassermassen, die neben ihr herabkrachten. Sie setzte <strong>de</strong>n Fuß auf einen<br />

beson<strong>de</strong>rs glitschigen Stein, und Indigo eilte in weiser Voraussicht zu ihr. Als sie versuchte, auf <strong>de</strong>m feuchten Stein<br />

Tritt zu fassen, glitt sie zur Seite, und fast wäre sie in <strong>de</strong>n See und in das schäumen<strong>de</strong> Wasser gefallen, wäre Indigo<br />

nicht zur Stelle gewesen, um ihren Arm zu fassen und sie an sich zu ziehen. Sie klammerte sich an seinen Körper und<br />

spürte <strong>de</strong>n schnellen Puls an seinem Hals. „Danke“, flüsterte sie, dann gingen die bei<strong>de</strong>n nassen Jurakai weiter,<br />

konnten bloß <strong>de</strong>n nächstgelegenen Stein ent<strong>de</strong>cken, da das spritzen<strong>de</strong> Wasser die Sicht versperrte.<br />

Nach ein paar weiteren Steinen zeichnete sich ein dunkles Etwas vor ihnen ab, und Indigo beschlich ein leises<br />

Angstgefühl. Doch als sie das letzte Steinchen hinter sich gebracht hatten, lan<strong>de</strong>ten sie in einer Höhle, die sich feucht<br />

und klamm hinter <strong>de</strong>m Wasserfall erstreckte.<br />

„Das ist ... unglaublich“, murmelte Talamà, und lachend hielt sie Indigo fest und ging mit ihm ein paar Schritte in die<br />

Höhle hinein. Nach nur wenigen Fuß stan<strong>de</strong>n sie vor festem Fels, doch noch immer strahlte die Jurakai über das ganze<br />

Gesicht. „Sieh nur, hier!“ Sie zeigte auf eine kleine Nische im Gestein, in <strong>de</strong>r viele Büschel Gras ein Nest formten, in<br />

<strong>de</strong>m ein rattenartiges Tier lag. „Selbst in einer so unzugänglichen Ecke <strong>de</strong>s Mangobu leben Tiere und Pflanzen. Dort<br />

drüben liegen noch mehr von ihnen, siehst du?“ Verteilt auf die ganze Höhle hatten sich min<strong>de</strong>stens zehn <strong>de</strong>r<br />

schlummern<strong>de</strong>n Tiere auf kleinen Vorsprüngen und in Ecken eingenistet, und <strong>de</strong>r Lärm <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Jurakai schien sie<br />

nicht im geringsten bei ihren Aktivitäten, die gera<strong>de</strong> eben hauptsächlich aus Schlafen bestan<strong>de</strong>n, zu stören.<br />

„Es ist wun<strong>de</strong>rschön hier, nicht?“ Mit verträumten Blick sah Talamà Indigo in die Augen, dann nahm sie seine Arme<br />

und preßte seinen Körper nach unten, <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n entgegen. Nur ein paar Schritt vor ihnen spritzten die Fluten <strong>de</strong>s<br />

Wasserfalls in <strong>de</strong>n See, bestäubten ihre Haare und Körper mit feinen nassen Tröpfchen. Indigo ließ sich von seiner<br />

Begleiterin auf <strong>de</strong>n Fels drücken, und er erhob auch keinen Einspruch, als sie sich tief über ihn beugte, er ihren heißen<br />

Atem auf seinem Gesicht spüren konnte. Talamà umschloß seinen Kopf mit ihren Hän<strong>de</strong>n, legte sich auf ihn, und an<br />

diesem unwirklichen Ort, voll von Wun<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Natur und umgeben von Tieren, die sich die Höhle hinter einem<br />

Wasserfall zu ihrem Zuhause gemacht hatten, sanken ihre Lippen auf seine, und vorsichtig und langsam berührten<br />

sich ihre Zungen.<br />

Er rollte sich auf die Seite, bemerkte <strong>de</strong>n harten Fels, <strong>de</strong>r unter ihm war, überhaupt nicht, und legte seinen Arm um<br />

das Mädchen. Küssend streichelte er über ihren Rücken, und Talamàs Augen waren geschlossen, während er über<br />

ihren Hals strich und dann die langen, nassen Haare aus ihrem Gesicht. Er konnte ihre Zunge spüren, wie sie<br />

eindrang in seinen Mund, behutsam, aber doch mit Nachdruck, und in einem plötzlichen Reflex zog er ihren Körper<br />

an seinen heran, drückte sie an sich, so fest er konnte. Talamà lächelte, während sie sich küßten, und warmes Wasser<br />

rann von Indigos Nasenrücken und floß über das Gesicht <strong>de</strong>s Mädchens. Irgendwie war sie dankbar dafür, <strong>de</strong>nn so<br />

konnte er nicht sehen, daß sich unter die Tropfen, die von seinen Haaren und von seiner nassen Haut fielen, um<br />

anschließend über ihre Züge zu perlen, nun auch Tränen mischten. Glücklich zog sie ihn zu sich heran, als er sich<br />

sanft von ihrem Mund lösen wollte, verkrallte sich in seinem Ärmel und ließ ihn nicht gehen. Das Tosen <strong>de</strong>s Wassers<br />

um sie herum verklang zu einem nebensächlichen, in <strong>de</strong>n Hintergrund rücken<strong>de</strong>n Geräusch, und wie die kleinen<br />

Nager, die in <strong>de</strong>r Höhle lagen und schliefen, war auch für die bei<strong>de</strong>n Jurakai die äußere Welt mit ihren harten, kalten<br />

Eindrücken zur Gleichgültigkeit verschwommen.<br />

Eng umschlungen lagen sie aneinan<strong>de</strong>r, spürten die Nähe <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren, und behaglich fuhren sie <strong>de</strong>m Partner durch<br />

das Haar o<strong>de</strong>r über <strong>de</strong>n Körper, tasteten sich ab und sahen sich tief in die Augen. Dieser winzige, kurze, so unwirklich<br />

erscheinen<strong>de</strong> Moment <strong>de</strong>r Ewigkeit wür<strong>de</strong> bald wie<strong>de</strong>r vergangen sein, doch hier und jetzt, in diesem Augenblick, war<br />

es ihr Moment <strong>de</strong>r Ewigkeit, gehörte nur <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Jurakai, die auf <strong>de</strong>m nassen Bo<strong>de</strong>n lagen und sich küssten, und<br />

wenigstens die Erinnerung daran konnte ihnen niemand mehr nehmen. Hitze dampfte von <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Körpern, in <strong>de</strong>r<br />

kühlen Luft hinter <strong>de</strong>m Wasserfall. Indigo glitt nach unten, küßte Talamàs Hals, weiter nach unten, preßte seine Arme<br />

gegen die ihren, um ihr Wärme zu geben. Ein leichtes Beben ging durch ihren Leib, und Indigo rollte sich neben sie,<br />

zog ihren Kopf zu sich heran, und wie<strong>de</strong>r fan<strong>de</strong>n ihre Mün<strong>de</strong>r zueinan<strong>de</strong>r und ließen die Zeit <strong>de</strong>r Außenwelt als bloße<br />

Nichtigkeit erscheinen.<br />

72


Irgendwann, nach Minuten, Stun<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r auch Jahren, lösten sich Indigos Lippen von <strong>de</strong>nen Talamàs, und er<br />

streichelte zärtlich über ihre Wange. Mit einem Finger strich er ihr Haar zurück, mit <strong>de</strong>m Mund fuhr er nach vorn, bis<br />

sein warmer Atem an ihr Ohr drang.<br />

„Es ist schon spät“ flüsterte er, und seine Stimme war kaum hörbar neben <strong>de</strong>m Tosen <strong>de</strong>s Wassers. „Zu spät, Talamà.“<br />

„Dann laß es für immer zu spät sein“ hauchte sie, und ihre Hän<strong>de</strong> klammerten sich an seinen Leib. „Laß die Zeit<br />

einfach vergehen, Indigo, laß uns hier ertrinken ... ich will nicht fort von diesem Platz.“<br />

Er beugte sich über sie, und nach einem weiteren zärtlichen Kuß richtete er sich auf, zog sie nach oben. Als sie<br />

stan<strong>de</strong>n, küssten sie sich erneut, lagen sich in <strong>de</strong>n Armen und fühlten behaglich <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>rn. Indigo<br />

umfasste ihre Taille, drückte sie an sich, blickte in ihre Augen und zwinkerte lächelnd. Sie unterbrachen <strong>de</strong>n Kuß,<br />

und mit einem glücklichen Grinsen machten sie sich auf <strong>de</strong>n Weg zurück, hinter <strong>de</strong>m Wasserfall hervor und an <strong>de</strong>n<br />

Rand <strong>de</strong>s Mangobu.<br />

Der Weg dorthin erschien ihnen sehr kurz und sehr warm und bunt.<br />

Nachtfalke wartete bereits ungeduldig vor <strong>de</strong>m kleinen Hain aus Bäumen, <strong>de</strong>n sie zur Lagerstätte auserkoren hatten.<br />

Irgendwie hatte er es geschafft, trockenes Holz inmitten eines Sumpfgebietes aufzutreiben, und auf <strong>de</strong>m klammen<br />

Bo<strong>de</strong>n lo<strong>de</strong>rten ein paar kleine Flämmchen, züngelten in <strong>de</strong>r abkühlen<strong>de</strong>n Luft, und <strong>de</strong>r warme Wind ließ sie<br />

gelegentlich aufflackern. Nun, da sie nicht mehr über die offenen Fel<strong>de</strong>r reisten, konnten sie, nein, mußten sie sogar<br />

tagsüber weiterwan<strong>de</strong>rn, um keine Opfer <strong>de</strong>r tückischen Fallen <strong>de</strong>s Mangobu zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Die Mangroven, die unmittelbar um das Lager herum wuchsen, raschelten, wur<strong>de</strong>n auseinan<strong>de</strong>rgeschoben und<br />

offenbarten das glückliche Gesicht einer Jurakai, dicht gefolgt von einem jungen Mann. Nachtfalke atmete erleichtert<br />

auf, und mit Entzücken stellte er fest, daß die bei<strong>de</strong>n anscheinend alle Wasserschläuche gefüllt zurückbrachten. Ihm<br />

entgingen nicht die vielsagen<strong>de</strong>n Blicke, die zwischen Indigo und Talamà gewechselt wur<strong>de</strong>n, und wenngleich er<br />

diese Art von Unbeschwertheit auf einer gefährlichen Reise nicht gutheißen wollte, hielt er sich zurück und freute sich<br />

insgeheim.<br />

Die drei nahmen um das Feuer herum Platz, auf <strong>de</strong>r einen Seite Nachtfalke, <strong>de</strong>r sich eine Decke auf mehrere trockene<br />

Stämme gelegt hatte, damit die Feuchtigkeit <strong>de</strong>s Bo<strong>de</strong>ns nicht durch seine Klei<strong>de</strong>r drang. Er hatte noch zwei weitere<br />

solche kleinen Schlafplätze gebaut, doch Indigo schien sich anzuschicken, wenigstens einen davon mutwillig zu<br />

zerstören. Bevor er Einspruch erheben konnte, sah er, warum <strong>de</strong>r Junge die einzelnen Balken auseinan<strong>de</strong>rzerrte, und<br />

ließ sich schweigend vor <strong>de</strong>m Feuer nie<strong>de</strong>r. Durch die rötlichen Flammen hindurch beobachtete er seinen Gefährten,<br />

<strong>de</strong>r unter Zuhilfenahme von weiteren zerbrochenen Stämmen ein einziges, großes Lager auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite <strong>de</strong>s<br />

Feuers anfertigte. Als er fertig war, legte sich Talamà auf <strong>de</strong>n behelfsmäßigen Bau und kroch unter ihren Mantel.<br />

Indigo legte seine Decke über sie, kauerte sich ebenfalls auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n zusammen und rutschte näher an die Gestalt<br />

Talamàs heran. Er umfaßte ihren Körper, zog sie an sich und drückte sie, obwohl hier, im Mangobu, die Wärme auch<br />

bei Nacht erhalten zu bleiben schien. Sie gaben sich einen schnellen Kuß, und <strong>de</strong>r Jurakai drehte seinen Kopf, um<br />

Nachtfalke in die Augen sehen zu können.<br />

„Ich glaube, es gibt da etwas, das ich dir sagen muß, Falke“ meinte Indigo, und er grinste über die ganze Breite seines<br />

Gesichts. „Ich meine, falls du es nicht schon bemerkt hast ...“<br />

„Diese warme, verträumte Gegend ist wohl wie gemacht für das Balzen, wie?“ fragte Nachtfalke, und an seinem<br />

Tonfall wur<strong>de</strong> klar, daß er längst wußte, wie es um die bei<strong>de</strong>n stand. „Nun, ich muß gestehen, daß dieser Ort nicht<br />

eines gewissen Zaubers entbehrt. Die kleinen Seen, Tümpel und Flüsse üben einen starken Reiz auf das Auge und die<br />

Seele aus, und es wäre erstaunlich, wenn jemand unberührt durch <strong>de</strong>n Sumpf wan<strong>de</strong>rn könnte. Es freut mich, daß ihr<br />

euch so gut versteht, aber ich muß euch bitten: Wer<strong>de</strong>t nicht unvorsichtig, ihr zwei. Es wäre falsch, an einem Ort wie<br />

diesem keine Gefahr zu fürchten.“<br />

„Keine Sorge“ beschwichtigte Talamà, und mit einem kleinen Ruck zog sie Indigo näher an sich heran. „Ich passe<br />

schon auf ihn auf. Er wird bestimmt keinen Ärger machen, das verspreche ich!“<br />

Nachtfalke schnaubte fröhlich, dann ließ er sich zurückfallen auf die Holzbohlen und die feuchtwarme Decke. Da das<br />

Thema anscheinend als behan<strong>de</strong>lt angesehen wur<strong>de</strong>, lehnte sich Indigo ebenfalls nach hinten, in Richtung <strong>de</strong>s<br />

weiblichen Leibes an seiner Seite, kuschelte sich an Talamà. Sein Mund glitt über ihren Hals, küßte ihre Haut und<br />

spielte mit ihrem Ohrläppchen. Die Jurakai krümmte sich, als seine Berührung sie hinter <strong>de</strong>m Ohr kitzelte, und ihre<br />

Hän<strong>de</strong> begannen, ihn unter <strong>de</strong>r Decke zu streicheln und seine verspannten Muskeln zu massieren.<br />

„Ich hoffe, es ist dir Recht, wie sich alles entwickelt hat“ flüsterte sie, und die Blicke <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n trafen sich,<br />

verschmolzen im Dämmerlicht <strong>de</strong>s Dschungels. Die tiefblauen Augen <strong>de</strong>s Jurakai betrachteten Talamàs grün<br />

schimmern<strong>de</strong>, und er sank nach vorn, preßte seine Stirn gegen die ihre. Eine lange Zeit lagen sie still beieinan<strong>de</strong>r,<br />

Gesicht an Gesicht, und Talamàs Herz begann zu rasen vor Glück.<br />

„Ich glaube, ich wußte, daß es so kommen wür<strong>de</strong>. Es ist wie eine Bestimmung, daß wir zueinan<strong>de</strong>r gefun<strong>de</strong>n haben,<br />

nicht?“ Der Jurakai hielt ihre Hand, drückte ihre warmen Finger.<br />

„Ich ... ich <strong>de</strong>nke schon. Obwohl ich die ganze Arbeit selbst erledigen mußte, du Faulpelz.“ Talamà lachte leise auf,<br />

und Indigo küßte sie auf die Lippen.<br />

„Nun, ich war wohl ein wenig zurückhaltend. Aber keine Angst, das hole ich wie<strong>de</strong>r nach.“<br />

73


„Hört, hört“ murmelte das Mädchen vergnügt, vergrub ihr Kinn auf Indigos Brust. „Das sind ja große Worte. Mal<br />

sehen, ob dieser Angeber sie auch halten kann ...“<br />

„Das steht ja wohl völlig außer Frage“, sagte Indigo mit erhobenen Brauen. „O<strong>de</strong>r muß ich erst einen Beweis<br />

abliefern?“ Seine Lippen sanken auf Talamàs Mund, liebkosten ihn, berührten ihn zärtlich und lei<strong>de</strong>nschaftlich<br />

zugleich. Die Zungen <strong>de</strong>r Jurakai umschmiegten sich in Zuneigung, begannen ein Spiel von Umrundungen und<br />

Tasten beim jeweils an<strong>de</strong>ren. Erst nach Minuten zog <strong>de</strong>r Junge sich zurück, betrachtete seine Gefährtin mit gespieltem<br />

Interesse.<br />

„Und?“ fragte Talamà erstaunt. „Fängst du nicht bald an? Ich glaube, da habe ich schon besseres erlebt...“ Sie neigte<br />

sich vor, um ihm zu <strong>de</strong>monstrieren, was sie sich unter einem Kuß vorstellte.<br />

„Ich konnte keinen großen Unterschied erkennen“, meinte Indigo anschließend, und lachend beugte Talamà sich vor,<br />

um ihm eine weitere Kostprobe zu geben.<br />

Bis spät in die Nacht vergnügten sich die bei<strong>de</strong>n auf verspielte Weise, und irgendwann schlummerten sie ein, das<br />

Mädchen auf Indigos Brust, die sich im ruhigen Schlaf hob und senkte. Nachtfalke war schon Stun<strong>de</strong>n früher in das<br />

Reich <strong>de</strong>r Träume gefallen, und alle drei schliefen sie in dieser Nacht glücklich und ohne Sorge, wur<strong>de</strong>n von keinen<br />

schlechten Gedanken und Erinnerungen gequält. Erst als die Sonne am Horizont erschien und <strong>de</strong>n grauen Mangobu<br />

wie<strong>de</strong>r in ein tiefgrünes, geheimnisvolles Land verwan<strong>de</strong>lte, erwachten sie fröhlich und ausgeruht.<br />

Der neue Tag brachte viele Verän<strong>de</strong>rungen mit sich. Erneut waren dicke Wolken über das Land gezogen, ließen <strong>de</strong>n<br />

Himmel wie ein Bett aus Kissen anmuten, nur schwärzer und dunkler. Die drei Jurakai setzten gleich nach <strong>de</strong>m<br />

Aufstehen ihre Reise fort, verfolgten einen Weg, <strong>de</strong>r so weit wie möglich am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sumpfes entlang führte, aber<br />

doch ein gutes Stück von <strong>de</strong>n Graslän<strong>de</strong>rn entfernt war. Große Tiere ließen sich nicht blicken, und Nachtfalke war<br />

froh darum, <strong>de</strong>nn Indigo und Talamà hatten keine Augen mehr für die Umgebung. Lächelnd liefen sie nebeneinan<strong>de</strong>r,<br />

schmusten einmal hier, dann wie<strong>de</strong>r dort, schienen <strong>de</strong>n Ernst <strong>de</strong>r Lage vergessen zu haben. Der Alte schüttelte <strong>de</strong>n<br />

Kopf über so viel Unvernunft und watete weiter durch die nassen Lachen. Ein- o<strong>de</strong>r zweimal kamen sie an einem<br />

großen Fluß vorbei, doch Indigos Vorschlag, die Baumstämme, die im Wasser trieben, zum Überqueren zu benutzen,<br />

wur<strong>de</strong> sogleich von Nachtfalke abgelehnt. Er hatte bereits Erfahrung sammeln können mit Guerna, <strong>de</strong>m Räuber, <strong>de</strong>r<br />

sich durch seine ruhiges Wesen auszeichnete, dann jedoch blitzschnell zuschnappte, wenn ein Opfer in die Falle<br />

gegangen war. Diese Alligatorenart, die zwar recht klein war, kam nur in <strong>de</strong>n Wassern <strong>de</strong>s Mangobu vor, doch<br />

trotz<strong>de</strong>m war sie gefährlicher, als <strong>de</strong>r bloße Anblick verraten wollte. Die Tiere stürzten sich meist im Ru<strong>de</strong>l auf das<br />

unvorbereitete Opfer, das nur darauf aus war, <strong>de</strong>n kleinen Wasserlauf zu durchwaten. Gemeinsam zogen sie das<br />

todgeweihte Geschöpf unter Wasser, wirbelten es solang zwischen ihren peitschen<strong>de</strong>n Schwänzen, bis es in<br />

gna<strong>de</strong>nvolle Bewußtlosigkeit sank und problemlos gefressen wer<strong>de</strong>n konnte. So umgingen sie die Flüsse weiträumig,<br />

nicht selten mußten sie meilenlange Umwege in Kauf nehmen, doch Nachtfalke bestand darauf, keine Risiken<br />

einzugehen.<br />

Gegen Abend entschlossen sich die schweren Wolken endlich dazu, ihre Last auf das Land nie<strong>de</strong>rgehen zu lassen,<br />

füllten <strong>de</strong>n Mangobu mit noch mehr Wasser, als er ohnehin schon trug. Das Vorankommen erschwerte sich immer<br />

mehr, weil aus <strong>de</strong>n seichten Tümpeln knietiefe Wasserlöcher wur<strong>de</strong>n, aus festem Bo<strong>de</strong>n schlickiger Sand. Nach<br />

einiger Zeit entschie<strong>de</strong>n die Jurakai, Rast zu machen bei einer Gruppe großer Bäume, die sich weit in <strong>de</strong>n Himmel<br />

hinaufdrehten, ihre Stämme umeinan<strong>de</strong>r schlangen und sich verzwirbelten. Indigo mußte bei <strong>de</strong>m Anblick<br />

unwillkürlich an das Werk eines geistig verwirrten Glasbläsers <strong>de</strong>nken, und als er erst seinen Gedanken Talamà<br />

mitteilte, lehnten sie bei<strong>de</strong> lachend an die Bäume, während Nachtfalke versuchte, die Gewächse zu ersteigen.<br />

Nach<strong>de</strong>m er einige kleine Tiere von <strong>de</strong>n dicken Ästen gescheucht hatte, kletterten sie allesamt hinauf, breiteten ihr<br />

Lager aus in <strong>de</strong>n verdrehten, mächtigen Hölzern. Auf engstem Raum lagen sie aneinan<strong>de</strong>r, ein paar Fuß über <strong>de</strong>m<br />

Erdbo<strong>de</strong>n, aber immerhin weit genug, um nicht im Nassen zu liegen. Indigo versuchte, Talamà Platz zu machen,<br />

nahm dafür eine noch unbequemere Haltung in Kauf, als er schon innehatte, und Nachtfalke schaffte es beinahe, im<br />

stehen<strong>de</strong>n Zustand, nur gegen einen knolligen Ast gelehnt, einzuschlafen. Doch bevor er ganz in <strong>de</strong>n Schlaf fiel,<br />

rutschte er vom glitschigen Stamm und wäre um ein Haar nach unten gefallen, wobei das Unten mit einem wahren<br />

See von Schlamm gleichzusetzen war. Wenigstens hatte es aufgehört, zu regnen, und hinter <strong>de</strong>n<br />

auseinan<strong>de</strong>rtreiben<strong>de</strong>n Wolken lugte zaghaft ein halber <strong>Mond</strong> hervor, warf ein stummes, weißes Licht auf die<br />

Gestalten, die da in <strong>de</strong>n Bäumen lagen.<br />

Nach mehreren Stun<strong>de</strong>n, Talamà und Nachtfalke hatten es längst fertiggebracht, einzuschlafen, lag Indigo noch<br />

immer wach zwischen <strong>de</strong>n Ästen. Er betrachtete fasziniert das Mädchen, das neben ihm schlief, wie sich ihre Brust<br />

bei je<strong>de</strong>m Atemzug hob, senkte, und wie<strong>de</strong>r hob. Wie ihr schlankes Gesicht sich im Traum nach links, dann nach<br />

rechts wen<strong>de</strong>te, wie ihre Finger in kurzen Abstän<strong>de</strong>n sich verkrampften, dann wie<strong>de</strong>r erschlafften. Er wagte es nicht,<br />

irgen<strong>de</strong>inen Laut von sich zu geben, aus Angst, er könne sie aufwecken, und so leise und flink wie ein Wiesel kletterte<br />

er an <strong>de</strong>m gewun<strong>de</strong>nen Stamm hinab, in das schlammige Tümpelland. Er wußte nicht recht, warum er bei Nacht,<br />

ausgerechnet hier und jetzt, allein loslief, doch eine innere Stimme trieb ihn voran, und er konnte nichts an<strong>de</strong>res tun,<br />

als ihr zu gehorchen, <strong>de</strong>m Flüstern zu lauschen, das in seiner Seele erklang.<br />

74


Wie schlafwan<strong>de</strong>lnd führten ihn seine Schritte durch das Moor, seine Füße versanken halb im Schlick, er tat sich<br />

schwer, überhaupt voranzukommen. Mit schlürfen<strong>de</strong>m Geräusch zog er seine Beine hinter sich her, und mit lautem<br />

Ploppen gab <strong>de</strong>r Morast sie schließlich frei. Er war dankbar, daß er sich bereits ein Stück weit von <strong>de</strong>m Hain entfernt<br />

hatte, so daß er nicht befürchten mußte, seine Gefährten zu wecken. In <strong>de</strong>r nun mondhellen Nacht schlich er sich<br />

weiter durch das Dickicht aus unheimlichen Gewächsen, die direkt vor seinen Augen aus <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n zu sprießen<br />

schienen. Er bog Halme beiseite, doch für je<strong>de</strong>n geknickten Stengel schienen fünf weitere aus <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> zu wachsen,<br />

umwoben ihn, spielten ein seltsames, fremdartiges und feiges Spiel mit ihm. Er stemmte sich gegen die Versuchung,<br />

umzukehren, lauschte <strong>de</strong>m tiefen Ton, <strong>de</strong>r in seinen Ohren raunte, durch seinen Körper wogte und die Beine zum<br />

Laufen animierte.<br />

Schritt für Schritt ließ er seine Gedanken fliegen, fortwehen von diesem son<strong>de</strong>rbaren Gefühl. Es war so einfach, er<br />

mußte nichts weiter tun, als <strong>de</strong>r Stimme zu lauschen, die ihm <strong>de</strong>n Weg genau beschrieb, ihn führte, ihn leitete. Sie<br />

wollte... sie wollte ihm etwas zeigen, etwas zeigen....<br />

Er ließ sich treiben, und wie durch ein Wun<strong>de</strong>r versackten seine Füße nicht ihm Schlamm, peitschten ihm keine <strong>de</strong>r<br />

schnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Halme mehr ins Gesicht. Er wankte voran, angetrieben von seinem Instinkt, o<strong>de</strong>r vielleicht von etwas<br />

an<strong>de</strong>rem, älterem, das er nicht verstehen konnte, nicht verstehen durfte, noch nicht...<br />

Das weiße Licht <strong>de</strong>s <strong>Mond</strong>es fiel auf seine Haut, ließ die hellbraune Farbe milchig glänzen, stumpfte <strong>de</strong>n Ton ab,<br />

nahm ihm das Bunte. Indigo fröstelte, und mit einem Mal wur<strong>de</strong> ihm sehr, sehr kalt, und er rieb sich die Arme, um<br />

wie<strong>de</strong>r Leben in sie hineinzukneten. Wie, als wenn er aus einem tiefen Schlaf erwacht wäre, drehte er sich verwirrt im<br />

Kreise, fragte sich, wie er nur an diesen verlassenen, kühlen Ort gekommen war. Der Sumpf um ihn herum schien<br />

sich zurückgezogen zu haben, er stand auf einer kleinen Lichtung, mitten im Nirgendwo, allein. Furcht befiel ihn. Er<br />

griff an seine Seite, doch Grimm war nicht mehr da! Wo konnte das Schwert nur sein? Hatte er es verloren, auf <strong>de</strong>m<br />

Weg hierher, <strong>de</strong>r ihm noch immer schleierhaft erschien? Mitten in <strong>de</strong>n Sümpfen, wo es sofort versinken wür<strong>de</strong>? Nein,<br />

natürlich nicht! Er schalt sich selbst. Er hatte Grimm abgelegt, als er schlafen gehen wollte, hatte es in eine sichere<br />

Nische zwischen <strong>de</strong>n Bäumen gesteckt. Nun, diese Gedanken halfen ihm nun auch nicht weiter. Wo war er? Und<br />

warum war er hier? Sein gehetzter Blick fiel auf seine Füße, und mit Schrecken bemerkte er, daß er bis zu <strong>de</strong>n Knien<br />

im Schlamm steckte, tiefer und tiefer einsank. Er wollte schreien, aber sein Mund schien gelähmt zu sein, er konnte<br />

die Lippen nicht auseinan<strong>de</strong>r bewegen. Zerrend versuchte er, freizukommen, doch <strong>de</strong>r Schlick hielt ihn fest in seinem<br />

Griff, zog ihn zu sich heran, ließ ihn nicht gehen.<br />

Während Indigo verzweifelt an seinen Beinen riß, sie um je<strong>de</strong>n Preis von diesem dreckigen, dunklen Matsch befreien<br />

wollte, machte sich ein an<strong>de</strong>res, noch weitaus frem<strong>de</strong>res Gefühl in ihm breit. Tränen rannen ihm in die Augen,<br />

erfüllten seine Sicht mit Wasser. Verschwommen sah er, daß <strong>de</strong>r <strong>Mond</strong>, <strong>de</strong>r völlig hinter <strong>de</strong>n Wolken<br />

hervorgekrochen war, sich verfärbte, einen bedrohlichen, düsteren Farbton annahm. Blutrote Schlieren zogen über die<br />

Oberfläche <strong>de</strong>s Himmelsauges, und <strong>de</strong>r Jurakai versuchte sich abzuwen<strong>de</strong>n, wegzusehen. Doch sein Blick blieb<br />

gefesselt von einer Gewalt, gegen die er nichts ausrichten konnte, und so ergab er sich seinem Schicksal, fiel <strong>de</strong>r<br />

Länge nach in <strong>de</strong>n Schlamm, noch immer bis zu <strong>de</strong>n Knien in <strong>de</strong>r schwarzen, nassen Er<strong>de</strong>.<br />

Er konnte ferne Schreie vernehmen, und als er sich umsah, konnte er Gestalten erkennen, die in wil<strong>de</strong>r Flucht um ihn<br />

herumrannten, gegen unsichtbare Fein<strong>de</strong> zu kämpfen schienen... nein, jetzt konnte er auch ihre Wi<strong>de</strong>rsacher sehen: in<br />

ein finsteres Scharlachrot getränkt vom feindlichen Licht, mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r <strong>Mond</strong> die unwirkliche Szenerie malte. Klingen<br />

blitzten auf, und bei<strong>de</strong> Seiten, sowohl vermeintliche Angreifer als auch die fremdartigen Schatten, gingen mit<br />

wüten<strong>de</strong>m Geheul aufeinan<strong>de</strong>r los. Er duckte sich, doch die wild um sich schlagen<strong>de</strong>n Wesen glitten durch ihn<br />

hindurch, passierten seinen Leib, als wäre er nicht vorhan<strong>de</strong>n. Eiseskälte zog durch seine Glie<strong>de</strong>r, wenn eine <strong>de</strong>r<br />

Gestalten durch ihn lief, ihn berührte. Er zuckte zusammen, schloß die Augen, und murmelte ein Gebet, an<br />

Himmelfeuer gerichtet, <strong>de</strong>r auf ihn herabsah. Und Jarondai schien ihn zu erhören, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Lärm um Indigo verebbte,<br />

flaute allmählich ganz ab, und eine unheimliche, verweste Stille legte sich auf das Land. Der Jurakai faßte sich ein<br />

Herz und öffnete seine Augen. Was sich ihm darbot, war ein Gemetzel unglaublichen Ausmaßes. Sowohl die<br />

angreifen<strong>de</strong> Hor<strong>de</strong>, als auch die schwarzen Verteidiger, sie alle lagen auf <strong>de</strong>m leblosen Bo<strong>de</strong>n, verstümmelt, tot.<br />

Der rote <strong>Mond</strong> bewegte sich, flackerte kurz auf. In diesem Moment, in dieser einzigen Sekun<strong>de</strong>, verflüchtigten sich<br />

die Gestalten wie<strong>de</strong>r, verschmolzen mit <strong>de</strong>m Staub <strong>de</strong>r Ewigkeit, aus <strong>de</strong>m sie gekommen waren. Am Ran<strong>de</strong> seines<br />

Blickfel<strong>de</strong>s konnte Indigo nun einen Fleck sehen, <strong>de</strong>r schnell näherkam. Es war die Gestalt einer Frau, und ihre<br />

schwarzen Haare wehten im Wind, ihr ganzer Körper bebte, während sie schwebend auf ihn zukam. Er erkannte sie<br />

wie<strong>de</strong>r. Es war die Frau, die er schon einmal in einem Traum gesehen hatte, vor wenigen Wochen. Er streckte die<br />

Hand nach ihr aus, doch sie blieb auf sicherer Distanz, schwebte vor ihm, und ihre dunklen Augen fixierten ihn.<br />

„Asan... komm zu uns, Asan. Wir brauchen dich...“<br />

„Wer bist du?“ Indigos Worte klangen hart, kühl und ungerecht im Gegensatz zu <strong>de</strong>r sanften, doch durchdringen<strong>de</strong>n<br />

Stimme dieses Wesens.<br />

„Komm zu uns, Asan...“ Die Gestalt begann zu verblassen, verwehte im immer fortwähren<strong>de</strong>n Wind.<br />

Erneut flackerte <strong>de</strong>r <strong>Mond</strong>, und Indigo klatschte mit <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Schlamm. Er zitterte, konnte seine Beine<br />

nicht mehr spüren. Dann, als er herausgefun<strong>de</strong>n hatte, daß sie tief im Morast steckten, aber gelöst wer<strong>de</strong>n konnten,<br />

raffte er sich auf, zog seine Glie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Untergrund und hinkte fort von <strong>de</strong>r seltsamen Lichtung. Ein rascher<br />

75


Blick zum Himmel offenbarte einen weißen, klaren <strong>Mond</strong>, und Indigo fragte sich, was mit ihm vorging. Die Stimme<br />

<strong>de</strong>s Mangobu war zurückgekehrt, hatte Einzug gehalten in je<strong>de</strong>s Blatt, je<strong>de</strong>n kleinen Grasbüschel am Bo<strong>de</strong>n. Das<br />

Pfeifen von Tieren begleitete ihn, als er durch die Nacht taumelte, ziellos in eine Richtung. Wie durch ein Wun<strong>de</strong>r<br />

erreichte er <strong>de</strong>n kleinen Hain, und nach einer kurzen Anstrengung lag er zwischen <strong>de</strong>n schützen<strong>de</strong>n Ästen, Talamà an<br />

seiner Seite. Noch immer erklang das beruhigen<strong>de</strong>, gleichmäßige Schnaufen ihres Atems, und er legte einen Arm um<br />

das Mädchen und schloß die Augen. Eine Stimme, die tief in seiner Seele verborgen war, flüsterte seltsame Worte,<br />

und als er einschlief, murmelte er etwas Unverständliches. Talamà wälzte sich zur Seite, gab Indigo Platz, um sich zu<br />

strecken, und er glitt hinab in einen tiefen, peinigen<strong>de</strong>n Traum voller kämpfen<strong>de</strong>r Wesen und frem<strong>de</strong>r, roter Körper,<br />

die ihm stumme Vorwürfe machten.<br />

Es war schon heller Tag, als Talamà erwachte. Die Wolken<strong>de</strong>cke hatte sich gelichtet, gab die Sicht frei auf eine<br />

strahlen<strong>de</strong>, gera<strong>de</strong> aufgegangene Sonne. Die Jurakai räkelte sich auf <strong>de</strong>m Stamm, wobei das bißchen Platz ihr kaum<br />

ausreichte, um sich zu entfalten, sprang dann von <strong>de</strong>r kleinen Nische zwischen <strong>de</strong>n gewun<strong>de</strong>nen Stämmen und<br />

lan<strong>de</strong>te auf <strong>de</strong>m grasbewachsenen Bo<strong>de</strong>n. Die Fluten, die <strong>de</strong>n Mangobu am vorigen Abend heimgesucht hatten, waren<br />

allem Anschein nach verflossen, und die Er<strong>de</strong> hatte sich wie<strong>de</strong>r in einen vermeintlich festen Untergrund verwan<strong>de</strong>lt.<br />

Indigo und Nachtfalke schliefen noch, und das verwun<strong>de</strong>rte sie. Normalerweise war <strong>de</strong>r Alte immer <strong>de</strong>r Erste, <strong>de</strong>r<br />

einen neuen Tag begrüßte, doch heute schien er in tiefen Träumen versunken.<br />

Nach einem kleinen Frühstück, das aus süßlichen Früchten und Wasser bestand, kletterte sie wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Baum<br />

und beugte sich über <strong>de</strong>n Körper Indigos. Sie rieb sich an ihm, spürte seine Wärme, legte ihr Gesicht an seines. Mit<br />

einem kleinen Ruck erwachte <strong>de</strong>r Jurakai und stieß das erstaunte Mädchen von sich fort. Es hätte nicht viel gefehlt,<br />

um Talamà von <strong>de</strong>m niedrigen Ast zu werfen. Erst nach ein paar Sekun<strong>de</strong>n schien er zur Besinnung zu kommen, und<br />

er entschuldigte sich für sein Verhalten.<br />

„Ist schon gut“ meinte Talamà lächelnd, kniete sich nie<strong>de</strong>r, um <strong>de</strong>m sitzen<strong>de</strong>n Indigo einen Kuß zu geben. Er wich<br />

zurück, konnte <strong>de</strong>n Gedanken an ihre Lippen jetzt nicht ertragen. Die Erinnerungen an die dunklen Augen <strong>de</strong>r Frau<br />

aus seinem Traum, ihre wehen<strong>de</strong>n schwarzen Haare und die seltsamen Worte, waren noch zu frisch.<br />

„Nicht jetzt, Talamà. Bitte versteh’ mich nicht falsch, aber ich muß nach<strong>de</strong>nken.“ Er wandte sich ab und stieg vom<br />

Geäst, blickte anschließend an seinen Beinen herab, wie um zu prüfen, ob sie noch vorhan<strong>de</strong>n waren.<br />

„Voller Schlamm“ murmelte er, und die Jurakai sehnte sich nach seiner Aufmerksamkeit, wenigstens einem<br />

liebevollen Blick. Als er, anscheinend <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n absuchend, davonging, machte sich ein klammes Gefühl in ihrer<br />

Brust breit. Was war los mit <strong>de</strong>m Jungen? Warum sprach er nicht mit ihr? Waren sie sich nicht nah genug, daß er ihr<br />

erzählen konnte, wenn ihn etwas bedrückte?<br />

„Guten Morgen, Talamà. Es ist schon spät, wie mir scheint, mh?“ Das fröhliche, leicht runzlige Gesicht von<br />

Nachtfalke blickte zu ihr herüber, schenkte ihr ein aufmuntern<strong>de</strong>s Lächeln. „Ich muß gut geschlafen haben, <strong>de</strong>nn<br />

normalerweise pflege ich vor <strong>de</strong>r Dämmerung zu erwachen. Nun, wenn wir <strong>de</strong>n Tag noch nutzen wollen, dann sollten<br />

wir uns jetzt beeilen, o<strong>de</strong>r was meinst du? Wo ist Indigo?“<br />

Traurig schüttelte Talamà <strong>de</strong>n Kopf. „Ich weiß es nicht, wirklich. Er ist vor ein paar Minuten aufgebrochen, suchte<br />

anscheinend etwas auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n. Er war sehr merkwürdig vorhin. Er... er hat mich irritiert.“<br />

„Was ist <strong>de</strong>nn geschehen?“ erkundigte sich <strong>de</strong>r Alte, rutschte näher an das Mädchen heran.<br />

„Er hat mir überhaupt keine Beachtung geschenkt, Nachtfalke...“<br />

„Ich weiß, was du meinst. Wie ich die Sache sehe, steckt ihr bei<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Anfangsphase einer Beziehung, und du<br />

scheinst... nun, viel für ihn zu empfin<strong>de</strong>n, richtig?“<br />

„Ja...“ gab Talamà vorsichtig zu. „Das stimmt. Aber er hat mich vorhin behan<strong>de</strong>lt, als wäre ich gar nicht anwesend,<br />

wie eine Person, die er nicht kennt und nicht kennenlernen will!“<br />

„Keine Sorge“ beschwichtigte <strong>de</strong>r Jurakai. „Er ist gera<strong>de</strong> aufgewacht, und womöglich hatte er einen Traum o<strong>de</strong>r etwas<br />

ähnliches und will jetzt lieber allein sein. Ich bin mir sicher, daß auch er tiefe Gefühle für dich hegt. Ja, ich kenne ihn<br />

gut und lange genug, um das mit Bestimmtheit festzustellen. Wahrscheinlich bringt er dir einen Strauß Sumpfblumen<br />

mit, wenn er wie<strong>de</strong>rkehrt.“<br />

„Das bezweifle ich. Ich wer<strong>de</strong> auf je<strong>de</strong>n Fall unsere Sachen packen, damit wir aufbrechen können, sobald Indigo sich<br />

sehen läßt. Ich hoffe, er ist allzu weit gegangen in diesem heimtückischen Sumpf.“<br />

„Ich vertraue <strong>de</strong>m Jungen. Er ist noch unerfahren, aber er lernt unheimlich rasch. Er begeht keinen Fehler ein zweites<br />

Mal, und er wird nicht so dumm sein, sich allein in <strong>de</strong>n Mangobu hinauszuwagen.“<br />

„Hoffentlich.“ Talamà stieg vom Baum herab, und als sie auf die trocknen<strong>de</strong> Er<strong>de</strong> trat, hörte sie ein Geräusch an ihrer<br />

Seite. Indigo stapfte über <strong>de</strong>n schlickigen Grund, <strong>de</strong>n Blick noch immer auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n gerichtet. Er sah auf, und in<br />

seinen Zügen zeigte sich Besorgnis.<br />

„Ich habe etwas gesucht“ erklärte er schwach. „Aber ich konnte es nicht fin<strong>de</strong>n...“<br />

„Indigo.“ Die Worte aus Talamàs Mund ließen <strong>de</strong>n Jurakai aufblicken. Sie schritt auf ihn zu, legte die Arme um<br />

seinen Hals. Er blieb stehen, und mit einem Mal verän<strong>de</strong>rten sich seine harten Züge, wur<strong>de</strong>n weicher und<br />

freundlicher. „Was ist los?“ fragte sie und legte ihre Stirn gegen seine. „Sag es mir, bitte.“<br />

76


Eine lange Zeit starrten sie sich nur an, und irgendwann nahm Indigo ihren Körper, drückte ihn an sich. Er preßte<br />

seine Lippen auf die ihren, und erst nach einem ausgiebigen Kuß löste er sich von ihr. „Es tut mir leid, Talamà. Ich<br />

wer<strong>de</strong> es dir erzählen, aber nicht jetzt. Wenn <strong>de</strong>r richtige Zeitpunkt gekommen ist, in einer ruhigeren Stun<strong>de</strong>. Keine<br />

Angst, es ist nichts schlimmes“ fügte er hinzu, als er ihren besorgten Gesichtsausdruck bemerkte. „Es war nur ein<br />

böser Traum, und ich habe versucht, mir einen Reim darauf zu machen. Es ist vorbei.“ Wie<strong>de</strong>r zog er sie an sich, und<br />

Talamà küßte ihn lei<strong>de</strong>nschaftlich und lang.<br />

„Wirklich?“ Fragend sah sie in seine Augen, die in einem tiefen, seltsamen Blau glänzten.<br />

„Wirklich. Ich... nein, bitte vergiß es. Es war nur ein Traum!“ Er nahm ihre Hand, und gemeinsam gingen sie zum<br />

Hain, um Nachtfalke aufzusuchen. Mit Freu<strong>de</strong> sah <strong>de</strong>r Alte die umschlossenen Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n, stieg <strong>de</strong>n Baum so<br />

hinab, daß die Jurakai sein Grinsen nicht bemerkten.<br />

„Wir sollten uns beeilen, ihr zwei. Wenn das Wetter so bleibt, können wir von Glück re<strong>de</strong>n, und wir sollten es<br />

ausnutzen, solange diese warme Sonne <strong>de</strong>n Schlamm trocknet. Wenn wir weiter nach Nor<strong>de</strong>n wan<strong>de</strong>rn, wird es auch<br />

mit <strong>de</strong>r Wärme vorbei sein, also genießt diese Tage noch.“<br />

„Dazu wollte ich dich etwas fragen, Falke. Wie kann es sein, daß diese Sumpflandschaft so warm und feucht ist,<br />

obwohl wir uns nicht allzu weit vom Hochland entfernt befin<strong>de</strong>n? Eigentlich müßte hier doch ebenfalls die Kälte<br />

Einzug halten, o<strong>de</strong>r?“<br />

„Das ist eine gute Frage, mein Freund. Aber keine, die ich dir beantworten kann, so leid es mir tut. Ich war schon<br />

viele Male hier, auch im Winter, und selbst dann herrscht hier noch dieses drücken<strong>de</strong>, feuchte Klima. Es scheint ein<br />

Zauber auf <strong>de</strong>m Mangobu zu liegen, doch keiner, <strong>de</strong>n ich verstehen könnte. Einige Leute, vor allem die Manur, kamen<br />

schon auf <strong>de</strong>n Gedanken, sich in dieser immerwarmen Zone ein Haus zu bauen, aber sie bedauerten ihre Entscheidung<br />

im Nachhinein. Der Untergrund eignet sich einfach nicht, hier irgen<strong>de</strong>twas zu errichten, das für lange Zeit Bestand<br />

haben soll. Holzbretter verwan<strong>de</strong>ln sich hier innerhalb von Tagen in zerfressene, morsche Fallen, und mit Stein kann<br />

man auf <strong>de</strong>m unebenen Schlamm nicht arbeiten. Aber ich schweife ab. Ich fürchte, eine Antwort auf <strong>de</strong>ine Frage kann<br />

ich dir nicht geben.“<br />

„Nicht so schlimm. Talamà und ich haben uns nur gefragt, wie es sein kann, daß trotz dieses eisigen Herbstes <strong>de</strong>r<br />

Mangobu in <strong>de</strong>r Blüte zu stehen scheint. Wir wer<strong>de</strong>n uns mit <strong>de</strong>iner Antwort zufrie<strong>de</strong>n geben müssen.“<br />

„Dann laß uns aufbrechen, Indigo. Komm, Nachtfalke“ drängte die Jurakai ungeduldig. „Wir können die Frage nach<br />

<strong>de</strong>r Wärme auch auf <strong>de</strong>m Weg erörtern. Aber wie gesagt, wir sollten die Strahlen <strong>de</strong>r Sonne noch ausnutzen, so gut es<br />

geht.“<br />

Nach<strong>de</strong>m sie losgegangen waren, beobachte Talamà Indigos Verhalten, doch was ihn am Morgen bedrückt zu haben<br />

schien, war nun von ihm gewichen. Er kümmerte sich sogar noch stärker als vorher um sie, und manchmal mußte<br />

Nachtfalke sich minutenlang die Zeit damit vertreiben, einem kleinen Reptil zuzuschauen, wie es durch einen<br />

Wasserkanal glitt, während die bei<strong>de</strong>n jungen Jurakai stehen blieben und sich küßten. Trotz <strong>de</strong>r gelegentlichen Rasten<br />

kamen sie erstaunlich schnell voran, <strong>de</strong>r Busch war ihnen an diesem Tage wohlgesonnen. Keine großen Flußläufe<br />

behin<strong>de</strong>rten ihre Reise, und niemand versackte in einem getarnten Wasserloch und mußte von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />

herausgezogen wer<strong>de</strong>n. Das klamme Gefühl, das auf Talamàs Herz gelegen hatte, verflüchtigte sich nach wenigen<br />

Stun<strong>de</strong>n, und fröhlich zogen die drei durch <strong>de</strong>n Mangobu-Sumpf, kletterten über die Wurzeln großer Bäume und<br />

Pflanzen und wateten durch kleine Tümpel. Indigo versuchte sich an einem Reim, und wenn ihm keine Worte mehr<br />

einfielen wollten, halfen Talamà o<strong>de</strong>r Nachtfalke hilfreich aus.<br />

„Der Sommer ist vorbei“, begann <strong>de</strong>r Jurakai, grübelte einige Sekun<strong>de</strong>n über einem weiteren möglichen Satz. Dann<br />

schien er einen Entschluß gefaßt zu haben. „Der Sommer ist vorbei, auf eine Million verschie<strong>de</strong>ner Arten“, „ Die<br />

Wärme <strong>de</strong>r Sonne bricht entzwei, läßt uns lange Zeit nur hoffen und warten“, been<strong>de</strong>te Talamà <strong>de</strong>n Vers. „ Der<br />

Sommer ist zu En<strong>de</strong>, man spürt es überall“, sang sie leise, und Indigo lachte auf.<br />

„Abgesehen vom Mangobu, doch das ist ein Einzelfall.“<br />

„Nein“, lachte Talamà. „Ich hatte an ein etwas an<strong>de</strong>res En<strong>de</strong> gedacht. Vielleicht ein wenig... poetischer.“<br />

„Des Herbstes ausgestreckte kühle Hän<strong>de</strong>, <strong>de</strong>s Winters Kälte wie ein Wall“, intonierte Nachtfalke, und sein Beitrag<br />

wur<strong>de</strong> mit einem anerkennen<strong>de</strong>n Nicken seitens Talamà bedacht.<br />

„Noch einmal in <strong>de</strong>n Seen ba<strong>de</strong>n“ fing Indigo an, „ nur noch einmal auf <strong>de</strong>r Wiese liegen“ steuerte Talamà bei, gab<br />

ihrem Gefährten einen leichten Kuß auf die Wange. „Das letze Mal dünne Klei<strong>de</strong>r tragen...“<br />

„Das letzte Mal einen Heuschnupfen kriegen.“<br />

„Das war nun wirklich nicht sehr poetisch“ rügte Nachtfalke mit gespielter Mißbilligung. „Wenn mich nicht alles<br />

täuscht, zielen die diese Verse darauf ab, die schönen Seiten <strong>de</strong>s Sommers hervorzuheben, mit einem leicht<br />

melancholischem Einfluß.“<br />

„Na gut“ sagte Indigo, und in seinem Blick lag ein Anflug von verletztem Stolz. „Dann will ich euch beweisen, wie<br />

ein wahrer Poet klingt:<br />

Der Sommer ist vorüber, wohin man auch sieht“, sang er mit weicher Stimme. „ Zugvögel fliegen über uns herüber,<br />

und ich frage mich, was nun geschieht...“<br />

Talamà klatschte Beifall, umarmte Indigo, worauf sich ein langer, zärtlicher Kuß anschloß. Nachtfalke wartete<br />

geduldig, und nach einiger Zeit liefen sie weiter, das Pärchen Hand in Hand, mit verträumten Blick.<br />

77


„Ich muß zugeben, dieser Reim ist gar nicht einmal schlecht“ meinte Nachtfalke. „Dafür, daß wir ihn spontan<br />

erfun<strong>de</strong>n haben. Wenn wir Fe<strong>de</strong>r und Papier hätten, wür<strong>de</strong> ich ihn um <strong>de</strong>r Erinnerung Willen aufschreiben.“<br />

„Ach, laß nur, Nachtfalke“ sagte Talamà belustigt. „Es gibt schon genug schlechte Verse. Ich glaube, es besteht kein<br />

Grund, diesen Reim noch hinzuzufügen.“<br />

„Willst du damit etwa an<strong>de</strong>uten, mein Einfall sei es nicht wert, verewigt zu wer<strong>de</strong>n?“ fragte Indigo empört. „Oh Falke,<br />

glaubst du das etwa auch?“<br />

„Ich will dieser intelligenten jungen Frau nicht in ihr Urteil hineinre<strong>de</strong>n“ meinte Nachtfalke, und mit Entsetzen hob<br />

<strong>de</strong>r Junge seine Brauen.<br />

„Das ist wahrlich erniedrigend für meine Seele“ jammerte Indigo, und Nachtfalke und Talamà lächelten gemeinsam.<br />

„Ihr bei<strong>de</strong> seid Schuld am frühen To<strong>de</strong> eines Dichters“ meinte <strong>de</strong>r gebrochene Jurakai und faßte sich theatralisch ans<br />

Herz.<br />

„Ich bereue meine Worte zutiefst, o großer Poet“ lachte Talamà und drückte sich an Indigos Brust, schmiegte sich an<br />

seinen Hals. Ein leichter Ausdruck <strong>de</strong>r Versöhnung huschte über Indigos Antlitz, als die wohltuen<strong>de</strong>n Worte an sein<br />

Ohr klangen.<br />

„Doch wer<strong>de</strong> ich niemals behaupten können, daß <strong>de</strong>r Reim gelungen war, ohne selbst vor Scham zu sterben...“<br />

„So laß uns <strong>de</strong>nn gemeinsam in <strong>de</strong>n bitteren Tod gehen“ hob Indigo an, und mit gespieltem Schmerz fielen die<br />

Jurakai vornüber ins hohe Gras, wan<strong>de</strong>n sich in Qualen auf <strong>de</strong>n Büscheln, um anschließend dahinzusiechen.<br />

Nachtfalke konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, und für einen kurzen Moment bereute er sein Alter, wünschte<br />

sich, wie<strong>de</strong>r jung zu sein und die Unbeschwertheit noch einmal erleben zu dürfen, die diesen bei<strong>de</strong>n anhaftete.<br />

Nach<strong>de</strong>m die bei<strong>de</strong>n Verstorbenen sich wie<strong>de</strong>r aufgerappelt hatten, beschritten sie <strong>de</strong>n weiteren Weg durch <strong>de</strong>n Sumpf<br />

in inniger Umarmung, o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>nfalls versuchten sie es. Spätestens beim Erklettern eines umgefallenen Baumes<br />

wür<strong>de</strong>n sie sich wie<strong>de</strong>r voneinan<strong>de</strong>r trennen müssen, aber für diesen einen Teil <strong>de</strong>r Reise waren sie<br />

zusammengeschweißt und ließen nicht mehr voneinan<strong>de</strong>r ab.<br />

Es war schon lange dunkel, als sie ihr Lager aufschlugen, und ein aufgehen<strong>de</strong>r <strong>Mond</strong>, <strong>de</strong>r am sterngetränkten Himmel<br />

hing, tauchte <strong>de</strong>n Sumpf in ein strahlen<strong>de</strong>s Weiß. Sie bereiteten sich für die Nacht vor, und glücklich schmuste<br />

Talamà mit Indigo, und ihr Beinahe-Streit vom Morgen war längst vergessen. Ihr heutiger Schlafplatz war ein riesiger<br />

umgestürzter Baum, <strong>de</strong>r sich in <strong>de</strong>n Morast gegraben hatte. An manchen Stellen war zwar die Gefahr gegeben, daß<br />

man durch unvorsichtiges hin- und herrutschen vom Stamm kippte, doch weiter oben, im Wipfel, verzweigten sich die<br />

Äste so sehr, daß man bequem auf ihnen ruhen konnte. Nachtfalke verzichtete zugunsten <strong>de</strong>r Verhin<strong>de</strong>rung eines<br />

Buschbran<strong>de</strong>s auf das Entzün<strong>de</strong>n eines Lagerfeuers, und so betteten sich Talamà und Indigo in einem kleinen<br />

Astgewirr, das ihr Gewicht gut trug, zur Ruhe. Nachtfalke lag ein Stückchen weiter oberhalb, fast verborgen von <strong>de</strong>n<br />

verschlungenen Zweigen, die in alle Richtungen sprossen. Er be<strong>de</strong>ckte sich mit Decke und Mantel, schob sich unruhig<br />

von einer Seite auf die an<strong>de</strong>re. Als er endlich einen genehmen Platz gefun<strong>de</strong>n hatte, räusperte er sich und schreckte<br />

damit die bei<strong>de</strong>n jungen Jurakai auf, die damit beschäftigt gewesen waren, sich Zärtlichkeiten ins Ohr zu flüstern.<br />

„Wenn du etwas über die Shat’lan wissen möchtest, Indigo...“ sagte Nachtfalke, und nach kurzem Zögern fügte er<br />

hinzu: „dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, um darüber zu sprechen. Es herrscht keine unmittelbare Gefahr, und wir<br />

sind sehr gut vorangekommen heute.“<br />

„Natürlich interessieren mich die Shat’lan noch immer, Falke!“ Indigo richtete sich überrascht auf, und Talamà an<br />

seiner Seite tat es ihm gleich. „Was willst du mir über sie erzählen?“<br />

„Frag’, was du erfahren möchtest. Ich wer<strong>de</strong> versuchen, <strong>de</strong>ine Fragen so gut wie möglich zu beantworten.“<br />

Erfreut stand Indigo auf, setzte sich auf einen Ast in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s liegen<strong>de</strong>n Nachtfalke. Auch Talamà erhob sich von<br />

ihrem Schlafplatz.<br />

„Und du möchtest sicherlich auch mithören, Talamà... obwohl ich nicht weiß, wieviel du bereits über die Shat’lan in<br />

Erfahrung gebracht hast.“<br />

„Ich weiß so gut wie nichts über sie“ sagte Talamà. „Aber ich wür<strong>de</strong> liebend gerne hören, was du zu sagen hast, und<br />

vielleicht wer<strong>de</strong> auch ich eine Frage an dich haben.“<br />

„Ich wer<strong>de</strong> mich bemühen, euren Wissensdurst zu stillen. Aber nun sagt mir, was euch interessiert, damit wir gezielt<br />

darauf eingehen können. Die Geschichte <strong>de</strong>r Völker ist lang, und ich habe keine Lust, sie von Anfang bis En<strong>de</strong> zu<br />

erzählen.“<br />

„Das ist verständlich“ stimmte Talamà ihm zu.<br />

„Nun, es ist schwer, konkrete Fragen zu formulieren“ meinte Indigo. „Ich weiß ja fast nichts über diese Rasse. Aber<br />

kannst du nicht erzählen, wie es dazu kam, daß sich die Völker <strong>de</strong>r Jurakai und <strong>de</strong>r Shat’lan entfrem<strong>de</strong>ten? Ich meine,<br />

immerhin heißt es, daß sie einst wie Brü<strong>de</strong>r waren...“<br />

Nachtfalke überlegte, und nach einer Weile schien er zu einem Ergebnis gekommen zu sein. „Das alles übersteigt<br />

mein Alter noch um eine Vielfaches, Indigo. Ich selbst kenne es nur aus Überlieferungen, und ich wer<strong>de</strong> euch<br />

berichten, wie es mir berichtet wur<strong>de</strong>.<br />

Nun, es ist schon viele tausend Jahre her, seit sich die Völker voneinan<strong>de</strong>r entfernten. Nie haben sie wirklich im<br />

Einklang gelebt, und nur selten kam es vor, daß sich die Rassen <strong>de</strong>r Jurakai und <strong>de</strong>r Shat’lan mischten. Unser Volk<br />

war schon immer sehr friedlich, doch das unserer dunklen Brü<strong>de</strong>r kriegerisch. Und einmal geschah es - es muß jetzt<br />

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ereits so lange her sein, daß selbst die ältesten Jurakai davon nur noch aus Geschichten wissen - daß ein Drache, groß<br />

und stark, <strong>de</strong>r geistigen Umnachtung zum Opfer fiel. Es war Scharfmaul, ein direkter Nachfahre von Windwolke<br />

Feuerhaut. Dieses Wesen konnte we<strong>de</strong>r durch an<strong>de</strong>re Drachen noch durch die Verehrung <strong>de</strong>r Völker befriedigt<br />

wer<strong>de</strong>n, und die mor<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Bestie brach durch die Städte und fraß alles und je<strong>de</strong>rmann. Es war kaum zu glauben, daß<br />

einen <strong>de</strong>r Großen ein so grausames Schicksal ereilte, daß dieses intelligente Geschöpf nicht mehr seiner Sinne Herr<br />

war. Eine Ratssitzung wur<strong>de</strong> einberufen, um zu beschließen, wie das Land gerettet wer<strong>de</strong>n konnte. Die Drachen<br />

waren, und sind, heilige Wesen, und man konnte nicht einfach mir nichts, dir nichts, einen solchen davon abhalten,<br />

<strong>de</strong>n Willen Himmelfeuers zu erfüllen. Daß <strong>de</strong>r Drache ein Kind Rotkralles war, machte das ganze nur noch un<strong>de</strong>nkbar<br />

schlimmer. Die Sitzungen dauerten Tage und Nächte, und man kam zu keinem Entschluß. Sollte <strong>de</strong>r Drache<br />

aufgehalten wer<strong>de</strong>n, obwohl es das Gesetz verlangte, daß diese Wesen unantastbar waren?<br />

Das Geschöpf aber kümmerte sich nicht um die Verhandlungen, zog weiter mor<strong>de</strong>nd durch Ruben, geistig verwirrt,<br />

wie es war. Ein einzelner Shat’lan, Ealfar Mal’an, ein junger und ehrgeiziger Krieger, faßte sich ein Herz und nahm<br />

Bogen sowie Schwert zur Hand und zog aus, um <strong>de</strong>n Drachen zu töten. Der Rat wußte nichts von dieser Tat, und noch<br />

während er weiter versuchte, zu einer Einigung zu gelangen, konfrontierte Ealfar die Bestie, lieferte sich einen Kampf<br />

auf Leben und Tod mit ihr. Mehrere Tage und Nächte lang umkreisten sich die Wi<strong>de</strong>rsacher, so heißt es. Und<br />

hun<strong>de</strong>rte von Jurakai und Shat’lan fan<strong>de</strong>n sich ein, um diesem einzigartigen Schauspiel an <strong>de</strong>r Grenze zum<br />

Schattenwald beizuwohnen. Die Bestie war nicht dumm, und sie wußte um die Stärke und die Schlauheit Ealfars. Der<br />

Drache versuchte alle er<strong>de</strong>nklichen Hinterhältigkeiten, doch Ealfar wi<strong>de</strong>rstand, fügte bei <strong>de</strong>n heimtückischen<br />

Angriffen <strong>de</strong>m Geschöpf sogar noch Wun<strong>de</strong>n zu. Mit einer List schaffte es Mal’an dann schließlich, <strong>de</strong>n Drachen<br />

dazu zu bringen, ihn frontal und in blin<strong>de</strong>m Zorn anzugreifen. Er--“<br />

„Wie brachte er ihn dazu, Nachtfalke? Ist darüber etwas bekannt?“ Interessiert malte sich Talamà die Situation aus,<br />

wie es wohl gewesen war, als ein einzelner Mann <strong>de</strong>n Kampf gegen einen Drachen aufnahm. „Gebrauchte er die<br />

Worte, o<strong>de</strong>r hat er das Untier mit bloßem Schwert angegriffen?“<br />

„Langsam, Talamà. Nur eine Frage zur gleichen Zeit. Nun, früher gab es die Lehre von <strong>de</strong>n Worten noch nicht, sie<br />

entstand innerhalb <strong>de</strong>r letzten zwei- o<strong>de</strong>r dreitausend Jahre. Sie hat sich bis heute ständig weiterentwickelt, ist<br />

ausgereifter und mächtiger gewor<strong>de</strong>n. Und zu <strong>de</strong>iner an<strong>de</strong>ren Frage: Er reizte <strong>de</strong>n Drachen, in<strong>de</strong>m er ihn mit<br />

Ausfällen und Finten täuschte, bis das Tier so wild war, daß es sich nicht mehr beherrschen konnte. Scharfmaul ging<br />

auf Ealfar los, mit weit geöffnetem Rachen und blitzen<strong>de</strong>n Krallen. Dieser unüberlegte Angriff kostete ihn sein Leben,<br />

<strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Shat’lan wirbelte sein Schwert so kräftig, daß er <strong>de</strong>n Kopf <strong>de</strong>s Drachen entzweischlug, während dieser auf<br />

ihn zuraste. Er selbst wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>m gespaltenen Schä<strong>de</strong>l mitgerissen, und die Zähne <strong>de</strong>s toten Biestes bohrten sich<br />

tief in sein Fleisch. Nur kurze Zeit nach Scharfmaul glitt auch Ealfar in Himmelfeuers ewiges Reich, und die<br />

umstehen<strong>de</strong> Menge trauerte um diesen großen Mann. Jurakai und Shat’lan, die in Einigkeit beieinan<strong>de</strong>r gestan<strong>de</strong>n<br />

hatten, wichen plötzlich auseinan<strong>de</strong>r, gingen <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Volke aus <strong>de</strong>m Weg. Je<strong>de</strong>r von ihnen wußte, daß ein<br />

großes Unheil geschehen war durch diese Tat, und daß sie nicht allein durch <strong>de</strong>n Tod Ealfars gesühnt wer<strong>de</strong>n konnte.<br />

Die Jurakai hielten sich von <strong>de</strong>n Shat’lan fern, weil sie wußten, daß ein Shat’lan es war, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n heiligen Drachen<br />

tötete. Die Shat’lan wie<strong>de</strong>rum mie<strong>de</strong>n die Jurakai, aus <strong>de</strong>ren Reihen niemand <strong>de</strong>n Mut besessen hatte, <strong>de</strong>r mor<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Bestie Einhalt zu gebieten.<br />

Als <strong>de</strong>r Rat von dieser unerwarteten Wendung erfuhr, ging ein entsetztes Stöhnen durch die Reihen, und feindliche<br />

Blicke trafen sich. Die höchsten <strong>de</strong>r Shat’lan, schon immer sehr direkt und zielstrebig, hießen das Han<strong>de</strong>ln Ealfars<br />

gut, im Gegensatz zu <strong>de</strong>n Jurakai. Sie ehrten die Drachen, auch wenn sie mit solch zerstörerischer Gewalt herrschten.<br />

Die geradlinigen Shat’lan wandten sich ab von unserem Volk, zogen sich zurück in die Schattenwäl<strong>de</strong>r. Es heißt, daß<br />

<strong>de</strong>r Zorn von Himmelfeuer noch immer nicht abgeklungen ist, daß ihre Schuld an <strong>de</strong>r Drachenrasse niemals gesühnt<br />

wer<strong>de</strong>n kann.<br />

Nun, das ist auf je<strong>de</strong>n Fall die Geschichte, wie sie manchmal zwischen <strong>de</strong>n Jurakai weitergereicht wird. Doch laßt<br />

euch nicht täuschen von diesen Worten. Die Wahrheit sieht wohl ein wenig an<strong>de</strong>rs aus, und ich glaube nicht, daß die<br />

Shat’lan tatsächlich <strong>de</strong>n Unwillen Himmelfeuers auf sich gezogen haben. Meine Reisen durch die Schattenwäl<strong>de</strong>r<br />

ließen mich manchmal auf diese dunkle Rasse treffen, und es ist etwas an ihnen, das selbst meinen Erfahrungsschatz<br />

übersteigt. Ich bin mir nicht sicher, doch ich glaube, daß sie etwas verbergen, ein Geheimnis haben, das sich mir noch<br />

nicht offenbarte. Aber eines Tages wer<strong>de</strong> ich es herausfin<strong>de</strong>n, das verspreche ich euch.“<br />

„Es ist schwer zu glauben, daß ein Einzelner einen <strong>de</strong>r großen Drachen zur Strecke gebracht haben soll, nicht wahr,<br />

Falke?“ Indigos Blick schweifte in die Ferne, in Richtung <strong>de</strong>s Inneren Reiches und <strong>de</strong>r Schattenwäl<strong>de</strong>r. Je<strong>de</strong>nfalls<br />

vermutete er, daß in dieser Richtung das Innere Reich lag; im Mangobu konnte man sich nie sicher sein.<br />

„Und ich kann nicht verstehen, daß sich wegen dieser einen Sache unsere Völker getrennt haben sollen. Falls es<br />

wirklich so geschehen sein sollte, dann muß die Tat Ealfars weitaus schwerwiegen<strong>de</strong>re Folgen gehabt haben, o<strong>de</strong>r aber<br />

das Band zwischen <strong>de</strong>n Rassen war schon zuvor sehr stark ge<strong>de</strong>hnt“ sagte Talamà.<br />

„Das ist auch mein Be<strong>de</strong>nken. Wegen eines solchen Mißgeschicks wer<strong>de</strong>n keine unüberwindbaren Mauern gebaut“<br />

meinte Nachtfalke und kratzte sich am Kinn. „Aber es nützt nichts, sich <strong>de</strong>swegen <strong>de</strong>n Kopf zu zerbrechen, meine<br />

Lieben. Das alles ist schon sehr lange her, und wir können nur mutmaßen und raten. Die Erzählung verläuft sich<br />

irgendwann im Sand <strong>de</strong>r Geschichte, und möglicherweise wird eine neue erfun<strong>de</strong>n. Doch das sollte uns nicht<br />

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kümmern, <strong>de</strong>nn unsere Aufgabe ist eine an<strong>de</strong>re. Laßt uns schlafengehen, <strong>de</strong>nn ich bin mü<strong>de</strong> vom vielen Re<strong>de</strong>n, und<br />

mein alter Leib braucht einen langen und erholsamen Schlaf. Vielleicht können wir morgen weiterre<strong>de</strong>n, wenn es sich<br />

ergibt. Und übrigens: Wenn meine Berechnungen stimmen, müßten wir <strong>de</strong>n Mangobu bis spätestens in zwei Tagen<br />

hinter uns gelassen haben, und dann dringen wir ins Hochland vor. Dort ist Vorsicht angesagt, <strong>de</strong>nn die weiten<br />

Wiesen können uns schnell verraten. Wir müssen so rasch wie es nur geht nach Irnstwell, um uns Pfer<strong>de</strong> zu besorgen.<br />

Von da an wird <strong>de</strong>r weitere Weg dann unproblematischer und kürzer.“<br />

„Das ist erfreulich“ sagte Indigo, nahm Talamà bei <strong>de</strong>r Hand. „Ich wünsche dir eine gute Nacht, Falke. Wir bei<strong>de</strong><br />

wer<strong>de</strong>n uns jetzt auch ein wenig Ruhe gönnen.“<br />

„Ich wünsche dir ebenfalls eine gute Nacht“ sagte Talamà und kletterte durch das Geäst zurück zu ihrem Schlafplatz.<br />

Gemeinsam machten sie es sich in <strong>de</strong>n dicken Zweigen bequem, und Indigo zog seinen Mantel über sie.<br />

„Eines wür<strong>de</strong> ich gerne wissen, Talamà“ begann <strong>de</strong>r Jurakai leise, so daß Nachtfalke ihn nicht hören konnte.<br />

„Was <strong>de</strong>nn?“ flüsterte die junge Frau, legte ihren Arm über Indigo.<br />

„Du beherrschst die Worte, und das ist eine sehr schwer zu erlernen<strong>de</strong>, aufwendige Kunst. Ich wußte nicht, daß du<br />

überhaupt etwas davon verstehst, bis wir dich in <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> fan<strong>de</strong>n... ich wür<strong>de</strong> gern wissen, wer sie dir beibrachte.<br />

Denn du bist auch nicht viel älter als ich, und ich je<strong>de</strong>nfalls hatte noch keine Zeit, mich mit <strong>de</strong>n Worten zu<br />

beschäftigen.“<br />

„Du hast auch viel mehr mit <strong>de</strong>m Schwert geübt“ gab Talamà zu be<strong>de</strong>nken. „Du und Nachtfalke, ihr übtet doch fast<br />

<strong>de</strong>in ganzes Leben lang. Ich dagegen habe mich schon immer für die alten Künste interessiert, und ich hatte Glück,<br />

daß die Valae mich als Schülerin annahm.“<br />

„Du warst bei <strong>de</strong>r Valae in <strong>de</strong>r Lehre?“ staunte <strong>de</strong>r Jurakai. Die Valae war das Orakel <strong>de</strong>s Volkes gewesen, eine <strong>de</strong>r<br />

ältesten, mächtigsten und angesehensten Frauen <strong>de</strong>r ganzen Rasse. „Das ist in <strong>de</strong>r Tat nicht schlecht. Sie muß dir viel<br />

beigebracht haben... aber ich habe euch zwei nie zusammen gesehen.“<br />

„Wir haben kein Geheimnis daraus gemacht, es aber auch nicht in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit verbreitet. Da die Valae<br />

eigentlich keine Schülerin annehmen darf, durften wir es <strong>de</strong>m Volk nicht einfach so preisgeben. Aber die Weise<br />

meinte, daß ein starkes Potential in mir schlummere, und daß sie mir helfen wür<strong>de</strong>, es zu entfalten. Wir... wir kamen<br />

nie bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Ausbildung. Die Wei<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> zerstört, und die Valae getötet.“<br />

„Aber wie kann das sein?“ wun<strong>de</strong>rte sich Indigo. „Immerhin war sie noch gewandter im Umgang mit <strong>de</strong>n Worten, als<br />

du es bist. Wie konnten diese Schwarzorks sie töten? Sie und all die an<strong>de</strong>ren Jurakai, die diesen Zauber beherrschen.“<br />

„Ich kann es dir nicht sagen, Indigo. Ich weiß es nicht.“ Sie klammerte sich an seinem Arm fest, drückte ihn an sich.<br />

„Vielleicht wur<strong>de</strong>n sie alle überrascht, <strong>de</strong>nn es ging so schnell! Die Worte brauchen wenigstens eine gewisse Zeit, um<br />

sich zu entfalten, und vielleicht blieb nieman<strong>de</strong>m sonst diese Zeit. Ich <strong>de</strong>nke, ich hatte einfach nur Glück.“<br />

„Gut, dann laß uns nicht mehr darüber re<strong>de</strong>n, ja?“ Er küßte sie, schmiegte sich an ihren Körper. „Es ist vorbei, und<br />

wir sollten das Vergangene auf sich beruhen lassen. Wir wer<strong>de</strong>n die Wahrheit womöglich herausfin<strong>de</strong>n, falls wir noch<br />

einmal auf die Orks treffen. Wenn ich einen von ihnen lebend erwische, dann wer<strong>de</strong> ich in Erfahrung bringen, was in<br />

<strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> geschehen ist. Um je<strong>de</strong>n Preis!“ Verbittert drückte er die Jurakai an sich, die ihn sanft streichelte.<br />

„Reg’ dich nicht auf.“ Ein zärtlicher Kuß besänftigte seinen Zorn. Ein weiterer ließ seine Lei<strong>de</strong>nschaft aufflammen;<br />

sie lagen noch lange in <strong>de</strong>n Ästen, gaben sich <strong>de</strong>n Liebkosungen <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren hin, bis Indigos Augen nach Stun<strong>de</strong>n vor<br />

Müdigkeit zufielen, die bei<strong>de</strong>n Jurakai nacheinan<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Schlaf sanken.<br />

80


V<br />

Dunkle Boten<br />

Der Tod ist sinnlos, teilte mir einst jemand mit<br />

Ich sagte ihm, das Leben habe ebensowenig Sinn<br />

Und doch sei es das größte Geschenk, das uns gemacht wur<strong>de</strong><br />

Naigaras „Nachtfalke“ Shen‘tasume<br />

Aus „Chronik <strong>de</strong>r Jurakai“ von Asan An‘chassar<br />

Am Abend <strong>de</strong>s übernächsten Tages lichteten sich die Sumpfwäl<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Mangobu allmählich. Die seltsamen Bäume<br />

machten normaleren, unverdrehten Gewächsen Platz, und nur noch vereinzelt zeigten sich die Flußläufe und Seen <strong>de</strong>s<br />

Feuchtgebietes. Als die Nacht anbrach, hatten die kleine Gruppe <strong>de</strong>n Mangobu vollkommen hinter sich gelassen,<br />

befand sich wie<strong>de</strong>r im offenen Wei<strong>de</strong>land. Die Hochebenen boten we<strong>de</strong>r Schutz noch sonstwelche Sicherheit, und<br />

beinahe rennend versuchten die drei Jurakai, die langen, weiten Flächen zu überqueren. In je<strong>de</strong>m hohem Gras<br />

machten sie halt, rasteten in <strong>de</strong>n Mul<strong>de</strong>n zwischen kleinen Hügeln. Sie mußten wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Nacht marschieren,<br />

durften sich nicht <strong>de</strong>r verräterischen Sonne preisgeben. Es war zwar alles an<strong>de</strong>re als wahrscheinlich, daß jemand sie<br />

hier ent<strong>de</strong>cken könnte, <strong>de</strong>r etwas Böses im Schil<strong>de</strong> führte, doch Vorsicht war besser als Nachsicht. Nachtfalkes<br />

Kompaß <strong>de</strong>ute ihnen die Richtung, in <strong>de</strong>r Irnstwell lag, auf <strong>de</strong>r Karte nur mehrere Finger breit entfernt. Der Alte<br />

bekräftigte, daß die Strecke, und möge sie noch so klein erscheinen auf <strong>de</strong>m Papier, in Wirklichkeit ein recht großes<br />

Stück zum Laufen darstellte, und daß sie die Reise nun nicht auf die leichte Schulter nehmen dürften. Vor allem die<br />

Kälte, die zurückgekehrt war, sobald die Jurakai <strong>de</strong>n warmen Mangobu verlassen hatten, machte <strong>de</strong>n dreien schwer zu<br />

schaffen in <strong>de</strong>r ersten Nacht. Die Kleidung, die in <strong>de</strong>r feuchten Schwüle <strong>de</strong>s Sumpfes nie richtig trocken gewor<strong>de</strong>n<br />

war, hing klamm an ihren Leibern, ließ sie in <strong>de</strong>r Nacht zittern und frieren.<br />

Manchmal mußten sie Halt machen, um ein Feuer zu entzün<strong>de</strong>n, falls sie einen geeigneten Platz fan<strong>de</strong>n, und ihre<br />

steifen Glie<strong>de</strong>r wärmen. Nachtfalke gab bei<strong>de</strong>n Gefährten, sowohl Indigo als auch Talamà, ein Fläschchen mit <strong>de</strong>r<br />

grünen, stärken<strong>de</strong>n Flüssigkeit zu Trinken; anschließend konnten sie die Reise ohne Probleme fortsetzen. Nur <strong>de</strong>r Alte<br />

selbst verzichtete auf die Medizin, vertraute auf die Stärke, die seinen Knochen innewohnte. Obwohl er während <strong>de</strong>r<br />

Phasen <strong>de</strong>s Schlafes von Krämpfen geschüttelt wur<strong>de</strong>, erlag er doch nicht <strong>de</strong>r Versuchung, eine <strong>de</strong>r Phiolen zu leeren,<br />

sich Abhilfe von <strong>de</strong>n Schmerzen zu schaffen. Worte wur<strong>de</strong>n kaum noch gewechselt, die Geschichten am Lagerfeuer<br />

blieben aus. Statt <strong>de</strong>ssen erfüllte das laute Klappern von Zähnen die Dunkelheit, und Indigo und Talamà war es trotz<br />

gegenseitigen Wärmens noch immer zu kalt, um sich an <strong>de</strong>n gemeinsamen Pausen erfreuen zu können.<br />

Am fünften Tage auf <strong>de</strong>n Hochebenen begegneten sie ersten vereinzelten Menschen, meist Bauern o<strong>de</strong>r Schäfer, die<br />

ihre Her<strong>de</strong>n vor sich her trieben, auf <strong>de</strong>m Weg zu einem neuen Futterplatz. Diese Lebenszeichen stimmten die drei<br />

fröhlicher, <strong>de</strong>nn es sah so aus, als wäre das schwarze Übel, das die Wei<strong>de</strong> vernichtete, noch nicht bis hierher<br />

vorgedrungen. Erstaunte Blicke wur<strong>de</strong>n nach <strong>de</strong>n Jurakai geworfen, die in ihren zerfetzten Lumpen durch die Gräser<br />

hinkten. Nachtfalke hörte sich unauffällig um bei einer kleinen Familie, die in einem Bauernhaus auf einem Hügel<br />

lebte, und er erfuhr, daß Irnstwell nur noch wenige Wegstun<strong>de</strong>n entfernt war. Nach einiger Zeit stießen sie sogar auf<br />

<strong>de</strong>n Bytak, einen großen Strom, <strong>de</strong>r sich durch die Täler <strong>de</strong>s Hochlands schlängelte, und an <strong>de</strong>ssen Ufern die Stadt<br />

errichtet wor<strong>de</strong>n war.<br />

Ein Wortwechsel zwischen <strong>de</strong>n Jurakai und <strong>de</strong>n Bewohnern <strong>de</strong>r Ebene ergab, daß die Menschen dieses Landstriches<br />

noch nicht einmal etwas gehört hatten von <strong>de</strong>n Dingen, die weiter östlich im Hochland und in <strong>de</strong>n Tälern geschehen<br />

waren. Möglicherweise waren es tatsächlich nur die Bauern, <strong>de</strong>nen dieses Wissen fehlte, <strong>de</strong>nn Nachtfalke vermutete,<br />

daß die Oberhäupter <strong>de</strong>r Stadt sehr wohl etwas von <strong>de</strong>n Attacken auf die Siedlungen erfahren hatten. Beim besten<br />

Willen konnte er sich nicht vorstellen, daß eine solche Nachricht sich nicht wie ein Lauffeuer verbreitete, <strong>de</strong>nn sogar<br />

die Abgesandten <strong>de</strong>r Jurakai mußten schon durch diese Stadt gewan<strong>de</strong>rt sein, auf ihrem Weg ins Innere Reich.<br />

Als sie die gewaltigen Stadttore erreichten, zeigten sich erste Anzeichen von erhöhter Wachsamkeit, die Nachtfalkes<br />

Meinung bestätigten. Mehr Wachen waren an <strong>de</strong>n Eingängen stationiert, als <strong>de</strong>r Alte sich erinnern konnte, jemals hier<br />

gesehen zu haben. Mißtrauische Blicke folgten ihnen, während sie durch das Tor schritten, und hinter vorgehaltenen<br />

Hän<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n Gerüchte und Verleumdungen gemurmelt. Die Jurakai waren Frem<strong>de</strong>, und das Hauptaugenmerk, auf<br />

das sich die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Wächter richten sollte, waren frem<strong>de</strong> Gestalten, wenn sie auch nicht wußten, wonach<br />

genau gesucht wur<strong>de</strong>. Doch die Angehörigen <strong>de</strong>s Volkes <strong>de</strong>r Jurakai waren nicht unbekannt in Irnstwell, und so<br />

passierte das Grüppchen die Tore und trat ein in eine Welt voller seltsamer Gerüche und Geschrei. Indigo blickte sich<br />

81


verwun<strong>de</strong>rt um, <strong>de</strong>nn noch nie hatte er eine Stadt <strong>de</strong>r Manur aus <strong>de</strong>r Nähe gesehen, Talamà hingegen hatte schon oft<br />

das Vergnügen gehabt. Im Gegensatz zu Eldraja’aro war dies hier ein Rummelplatz; überall tummelten sich<br />

Gestalten, liefen Menschen von rechts nach links und von vorn nach hinten, wuselten umher wie Flöhe in einem<br />

Käfig. Stän<strong>de</strong> waren an <strong>de</strong>n Straßenrän<strong>de</strong>rn aufgebaut, Marktschreier priesen lauthals ihre Waren an, boten Dinge<br />

feil, die fast immer so unbrauchbar waren wie ein stumpfes Schwert, aber manchmal auch kleine Kostbarkeiten, von<br />

unschätzbarem Wert für <strong>de</strong>n Kenner. Doch die Unterschie<strong>de</strong> waren so gering, erschienen <strong>de</strong>m Auge <strong>de</strong>s unwissen<strong>de</strong>n<br />

Betrachters so fa<strong>de</strong>nscheinig, daß ein eingehen<strong>de</strong>s Studium <strong>de</strong>r Waren sowie <strong>de</strong>r Verkäufer notwendig gewesen wäre,<br />

um bei einem Geschäft mit ihnen einen guten Han<strong>de</strong>l zu tätigen. Indigo drehte sich und versuchte, gleichzeitig alle<br />

Eindrücke dieses Tumults aufzufangen, die sich seinen Augen boten. Hier sprang ein kleiner Mann auf und ab,<br />

machte Handstän<strong>de</strong> und schlug Rä<strong>de</strong>r, bekam dafür einen kleinen Lohn von Gelächter, Beifall und <strong>de</strong>r einen o<strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren Münze, die ihm zugeworfen wur<strong>de</strong> und auf <strong>de</strong>m gepflasterten Bo<strong>de</strong>n abprallte. Dort jonglierte jemand mit ein<br />

paar Bällen, und in einer an<strong>de</strong>ren Ecke drängten sich die Menschen massenweise zusammen, um ein bestimmtes<br />

Angebot zu ergattern o<strong>de</strong>r etwas beson<strong>de</strong>res zu sehen. Nirgendwo konnte er das Gesicht eines Jurakai erblicken, von<br />

<strong>de</strong>m eines Dverjae ganz zu schweigen. Obwohl die bei<strong>de</strong>n Rassen sich in Zeiten <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns nähergekommen waren,<br />

wur<strong>de</strong>n doch starke Trennlinien gezogen zwischen Jurakai und Manur. Ein paar <strong>de</strong>r Waldbewohner wur<strong>de</strong>n<br />

hierzulan<strong>de</strong> vielleicht akzeptiert, wenn sie in kleinen Gruppen auftraten, so wie Nachtfalke und seine Gefährten es<br />

taten. Doch mit ziemlicher Sicherheit wür<strong>de</strong> die Anwesenheit von vielen Jurakai einen Aufruf <strong>de</strong>s Erschreckens und<br />

<strong>de</strong>r Furcht durch die Gemüter <strong>de</strong>r Bewohner jagen. Die Manur lebten seit jeher nur unter ihresgleichen, und <strong>de</strong>r<br />

einzige Ort, an <strong>de</strong>m das Volk Indigos wirklich angenommen wur<strong>de</strong>, war <strong>de</strong>r Königliche Hof, möglicherweise auch<br />

umliegen<strong>de</strong> Städte im Inneren Reich. Doch hier draußen, in <strong>de</strong>n weiten Ebenen <strong>de</strong>s Hochlan<strong>de</strong>s, wo die Menschen nur<br />

alle paar Monate o<strong>de</strong>r gar Jahre einen Jurakai zu Gesicht bekamen, kursierten Gerüchte und Geschichten über das<br />

Volk, mit <strong>de</strong>nen kleinen Kin<strong>de</strong>rn Angst eingejagt wur<strong>de</strong>. Es war die Re<strong>de</strong> von Wesen, die <strong>de</strong>s Nachts über das Dorf<br />

herfielen, die unbewachte Häuser ausrauben und Säuglinge aus ihren Wiegen stehlen wollten. Dementsprechend<br />

schräg fielen auch die skeptischen Blicke aus, die <strong>de</strong>n Jurakai geschenkt wur<strong>de</strong>n, falls man sie in <strong>de</strong>m Getümmel<br />

überhaupt beachtete. Talamà nahm Indigo am Arm, ging hinter Nachtfalke her, <strong>de</strong>r einen bestimmten Kurs<br />

eingeschlagen hatte und sich zielstrebig durch die Menschenmenge bewegte. Von allen Seiten her wur<strong>de</strong> geschubst<br />

und gedrängt, und Indigo befiel ein Gefühl <strong>de</strong>r Angst, <strong>de</strong>r Beklommenheit. Noch nie war er einer solch<br />

aufdringlichen, dichten Masse begegnet, und er fühlte sich unwohl und eingezwängt. Er kam zu <strong>de</strong>m Schluß, daß<br />

diese unbekümmerten Manur noch nichts über die drohen<strong>de</strong> Gefahr wissen konnten, so sorglos wan<strong>de</strong>rten sie in <strong>de</strong>n<br />

Straßen und zwischen <strong>de</strong>n Häusern umher. Vielleicht wußten die Räte, die in <strong>de</strong>r Stadt die Fä<strong>de</strong>n zogen, bereits<br />

davon, und auch die Wächter waren eingeweiht wor<strong>de</strong>n, doch <strong>de</strong>m gemeinen Volk mußte bisher jegliche Information<br />

vorenthalten geblieben sein.<br />

Frem<strong>de</strong> Düfte stiegen in die Nase <strong>de</strong>s Jurakai, und er sog <strong>de</strong>n Geruch ein, stellte sich vor, welche Pflanze wohl ein<br />

solches Sekret abson<strong>de</strong>rn könne. Ein Ellbogen traf ihn unvermittelt an <strong>de</strong>r Seite, und Talamà mußte ihn fest zu sich<br />

ziehen, damit ihr verwirrter Gefährte sich nicht im Strom <strong>de</strong>r Menschen verlor.<br />

„Welch schönes Schwert er da hat“ kicherte ein kleingewachsener Manur, und seine struppigen Haare stan<strong>de</strong>n von<br />

seinem Kopf wie die Stacheln von einem Igel. „Verkauft er es uns, verkauft er es?“ Das Männlein hüpfte auf und ab,<br />

hielt sich an Indigos Ärmel fest, und sein Blick wandte sich nicht von Grimm.<br />

„Es ist unverkäuflich“ brummte <strong>de</strong>r Jurakai, sah sich hilfesuchend nach Talamà um. Sie stand neben ihm, bedachte<br />

<strong>de</strong>n Menschen, <strong>de</strong>r nur Fetzen am Leibe trug, mit einem giftigen Knurren. Ihre entblößten Zähne wirkten<br />

angsteinflößend, doch <strong>de</strong>r Manur hatte nur Augen für die Klinge, die an Indigos Seite baumelte. Auch Nachtfalke war<br />

dazugekommen, hielt sich jedoch fern von seinen Gefährten und beobachtete nur.<br />

„Gib es mir, das Schwert, gib es mir! Ha ha!“ Der Dürre wollte nach Grimm greifen, streckte seine Arme danach aus,<br />

doch Indigo schlug ihm auf die Finger.<br />

„Scher dich fort!“ rief er, und ein böswilliger Ausdruck schlich daraufhin auf das Gesicht <strong>de</strong>s Manur.<br />

„Fellbart wollte nur das Schwert anfassen, nur das Schwert! Wollte keinem etwas tun, ich verspreche, mein Herr, ich<br />

verspreche!“<br />

„Das Schwert gehört dir nicht“ wies <strong>de</strong>r Jurakai ihn zurecht, etwas mil<strong>de</strong>r diesmal. „Versuch nicht wie<strong>de</strong>r, es<br />

anzufassen, sonst könnte etwas passieren! Paß lieber auf, daß du nieman<strong>de</strong>m zu nahe trittst mit <strong>de</strong>iner aufdringlichen<br />

Art.“<br />

„Jurakai ihr seid, mein Herr, oh ja! Ich erkenne euch sofort, sofort. Ein schönes Schwert ihr habt, Herr, laßt es <strong>de</strong>n<br />

alten Fellbart sehen, bitte!“ Verzweifelt starrte Fellbart auf Grimm, doch er wagte es nicht, noch einmal danach zu<br />

langen. „Nur eine Sekun<strong>de</strong>, das Schwert, bitte...“ jammerte er, und Indigo spürte Zorn in sich aufsteigen.<br />

„Verschwin<strong>de</strong> endlich!“ schrie er, und <strong>de</strong>r spin<strong>de</strong>ldürre Mann wich erschrocken zurück.<br />

„Die Jurakai nicht nett sind, nein! Wollen <strong>de</strong>m armen Fellbart Böses, nur Böses!“ Von einem Bein auf das an<strong>de</strong>re<br />

hüpfend sprang er davon, wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Menge verschluckt. Indigo sah ihm nach, verlor die Gestalt jedoch bald aus<br />

<strong>de</strong>n Augen.<br />

„Laß uns weitergehen“ meinte Nachtfalke, und die drei quetschten sich erneut durch die überfüllte Straße.<br />

„Was für seltsame Leute es hier gibt...“ murmelte Indigo, während er seinen Gefährten nacheilte.<br />

82


Der alte Jurakai strebte auf eine bestimmte Lücke im Gedränge zu, und nach ein paar weiteren ereignisreichen<br />

Minuten hatten sie endlich eine ruhige, fast leere Stelle erreicht. Sie befan<strong>de</strong>n sich in einer Gasse, einer recht engen<br />

Gasse sogar, wie Indigo feststellte, als er sich umsah. Zwischen <strong>de</strong>n nah beieinan<strong>de</strong>rlehnen<strong>de</strong>n Häuserwän<strong>de</strong>n waren<br />

Wäscheleinen gespannt, und über die baumeln<strong>de</strong>n, trocknen<strong>de</strong>n Kleidungsstücke riefen sich ein paar Frauen etwas zu,<br />

beugten sich dabei gefährlich weit aus ihren Fenstern. Noch immer staunend wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Junge weitergerissen, als<br />

Talamà ihn bei <strong>de</strong>r Hand nahm und Nachtfalke nachzusetzen versuchte. Bald waren sie an einem kleinen Vorsprung<br />

angelangt, <strong>de</strong>r eine mitgenommen wirken<strong>de</strong> Tür verbarg.<br />

„Ein Pfer<strong>de</strong>händler“ erklärte Nachtfalke und betätigte <strong>de</strong>n Klopfer. Nach einiger Zeit wur<strong>de</strong> eine kleine Luke am<br />

oberen Rand <strong>de</strong>r Tür geöffnet, und ein einzelnes Auge spähte zu ihnen hinaus. Nach<strong>de</strong>m das Auge die Gruppe<br />

gemustert hatte, wur<strong>de</strong> das Törchen wie<strong>de</strong>r zugeschlagen, und die Tür öffnete sich zaghaft. Ein untersetzter kleiner<br />

Mann trat hinaus ins Licht, legte eine Hand an die Stirn und schaute auf zu Nachtfalke, schien sich nicht sicher zu<br />

sein, wie er am besten auf die Situation reagierte. Der Jurakai nahm ihm die Entscheidung ab, in<strong>de</strong>m er seine Hand<br />

ausstreckte und <strong>de</strong>n Manur an <strong>de</strong>ssen selbiger faßte. Nach einem Ritual, das bei <strong>de</strong>n Menschen Hän<strong>de</strong>schütteln<br />

genannt wur<strong>de</strong>, und von <strong>de</strong>m Indigo aus Unterrichtungen von seinem Vater wußte, zog Nachtfalke seine Hand wie<strong>de</strong>r<br />

zurück und entrichtete <strong>de</strong>m Manur einen Gruß. Noch immer mißtrauisch beäugte <strong>de</strong>r gedrungene Mann die Jurakai,<br />

vor allem von Talamà schien er <strong>de</strong>n Blick nicht abwen<strong>de</strong>n zu können.<br />

„Ich grüße Euch ebenfalls“ sagte er vorsichtig, und ein unterschwelliger Zorn kochte in ihm. Je<strong>de</strong>nfalls kam es Indigo<br />

so vor, als verberge <strong>de</strong>r Mann etwas, als fühlte er sich durch ihre Anwesenheit hier gestört. „Wie kann ich Euch<br />

helfen, edler Nachtfalke?“<br />

Er sprach das „edler“ sehr vorsichtig und wi<strong>de</strong>rwillig aus, fiel Indigo auf. Talamà und er wirkten überrascht, daß <strong>de</strong>r<br />

Name ihres Freun<strong>de</strong>s in verrufenen Ecken anscheinend so bekannt war, und sie warfen sich einen vielsagen<strong>de</strong>n Blick<br />

zu.<br />

„Wir drei“ Nachtfalke machte eine umfassen<strong>de</strong> Bewegung, die seine bei<strong>de</strong>n Gefährten einschloß „sind auf <strong>de</strong>r<br />

Durchreise. Unser Ziel darf ich dir nicht verraten, doch ich möchte dich um einen Gefallen sowie einen Dienst bitten.“<br />

„Was für einen Gefallen?“ fragte <strong>de</strong>r kleine Mann scharf, und seine Körperhaltung <strong>de</strong>utete darauf hin, daß er sich auf<br />

ein schnelles Umdrehen vorbereitete, um geschwind wie<strong>de</strong>r hinter seiner Tür zu verschwin<strong>de</strong>n.<br />

„Wir brauchen Informationen“ teilte Nachtfalke ihm mit. „Und außer<strong>de</strong>m möchte ich Pfer<strong>de</strong> kaufen von dir, und zwar<br />

eines für je<strong>de</strong>n von uns.“<br />

„Das mit <strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>n ist kein Problem“ murmelte <strong>de</strong>r Manur in sich hinein, scharrte auf <strong>de</strong>m steinernen Bo<strong>de</strong>n mit<br />

<strong>de</strong>n Füßen. „Welche Art von Informationen, sagtet Ihr? Und möchtet Ihr nicht vielleicht eintreten, edler Gast?“<br />

Wie<strong>de</strong>r dieses Wort, das im Tonfall <strong>de</strong>s Mannes so sehr seiner Be<strong>de</strong>utung zu wi<strong>de</strong>rsprechen schien.<br />

„Nein, Nailband. Wir wer<strong>de</strong>n hier draußen bleiben.“ Die knappe Antwort schien <strong>de</strong>n Manur zu verängstigen. Er zog<br />

sich weiter in die Hausnische zurück, und ein wil<strong>de</strong>r Blick durchglitt die schmale Gasse.<br />

„Es ist nicht sicher hier zum Re<strong>de</strong>n“ brachte er leise hervor, doch Nachtfalke winkte ab. „Es ist nirgendwo sicher in<br />

dieser Umgebung. Glaube ja nicht, daß wir auf dich angewiesen wären mit unseren Pfer<strong>de</strong>n, aber du bist <strong>de</strong>r einzige in<br />

dieser Stadt, <strong>de</strong>n ich kenne, <strong>de</strong>r keine Fragen stellt. Und wir wollen keine Fragen“ fügte er scharf hinzu.<br />

„Es besteht kein Grund, mich darauf hinzuweisen“ knurrte <strong>de</strong>r untersetzte Nailband. „Ihr wißt genau, daß ich mich an<br />

meine Abmachungen halte und niemals ein Wort über einen meiner Kun<strong>de</strong>n verlieren wür<strong>de</strong>. Zu nieman<strong>de</strong>m.“<br />

Nachtfalke nickte befriedigt. „Wir brauchen die Pfer<strong>de</strong> morgen früh. Beim Anblick <strong>de</strong>r ersten Sonnenstrahlen will ich,<br />

daß sie vor <strong>de</strong>n Westtoren <strong>de</strong>r Stadt bereit stehen, hast du mich verstan<strong>de</strong>n? Und wir brauchen <strong>de</strong>ine besten Gäule.<br />

Wenn du versuchst, uns irgendwelche zweitklassigen Mähren anzudrehen, wirst du <strong>de</strong>ines Lebens nicht mehr froh<br />

wer<strong>de</strong>n.“<br />

„So gute Pfer<strong>de</strong> kosten natürlich auch eine Kleinigkeit“ meinte Nailband mit plötzlich erwachen<strong>de</strong>m Geschäftssinn.<br />

„Unter fünf Goldstücken kann ich Euch die Tiere nicht überlassen, wenn ihr tatsächlich meine Besten haben wollt.“<br />

„Fünf Goldstücke pro Pferd, und außer<strong>de</strong>m wirst du mir meine Fragen beantworten“ sagte Nachtfalke. Es war eine<br />

Feststellung.<br />

Der kleine Mann ächzte, schnappte nach Luft. „Fünf pro Pferd? Es ist mir immer schon ein Vergnügen gewesen, mit<br />

Euch Geschäfte zu machen, Nachtfalke. Was genau wollt Ihr von mir erfahren. Wenn es in meinem Erfahrungsschatz<br />

liegt, dann wer<strong>de</strong> ich Euch helfen, so gut es mir möglich ist.“<br />

„Was weißt du über seltsame Dinge, die im Hochland vorgehen, Nailband?“<br />

„Ich... man hört Sachen“ stotterte er. „Nichts genaueres. Die Gerüchte im Umlauf sind vage und nur sehr wenigen<br />

Personen bekannt. Ich bin eine von ihnen“ fügte er hinzu.<br />

„Was für Gerüchte?“<br />

„Über... nun, es ist die Re<strong>de</strong> von Überfällen, die auf die Städte im Nordosten verübt wur<strong>de</strong>n. Wißt Ihr mehr darüber?<br />

In Irnstwell sickern diese Informationen so langsam durch, daß man besser selbst aufbricht, um sich ein Bild von <strong>de</strong>r<br />

Sache zu machen, als <strong>de</strong>n Sprüchen von Wächtern Glauben zu schenken.“<br />

„Es geht nicht darum, was wir wissen. Deine Informationen sind mir wichtig. Was hast du alles erfahren von <strong>de</strong>n<br />

Wächtern? Wo sollen diese Überfälle angeblich überall stattgefun<strong>de</strong>n haben?“<br />

83


„Nach <strong>de</strong>m, was mir zu Ohren gekommen ist, in <strong>de</strong>n Städten nahe <strong>de</strong>m Ra’an-Gebirge und im Gebiet um Yark. Alle<br />

Dörfer dort oben seien so gut wie ausgelöscht wor<strong>de</strong>n sein, erzählt man sich. Von mehr weiß ich nichts. Wirklich, ich<br />

schwöre es.“<br />

„Dann bete, daß wir uns erst Morgen früh wie<strong>de</strong>rsehen, mein Freund.“ Nachtfalke schenkte <strong>de</strong>m elendigen Wurm von<br />

Mensch einen grimmigen Blick. Er kramte in seinem Mantel, för<strong>de</strong>rte etwas daraus zu Tage. „Hier sind die fünfzehn<br />

Goldstücke, die dich für die Pfer<strong>de</strong> entlohnen. Die Tiere wer<strong>de</strong>n gefüttert, gesattelt und getränkt sein, haben wir uns<br />

verstan<strong>de</strong>n? Ich will die Besten und Schnellsten, die es im ganzen Hochland gibt, und du wirst dafür sorgen, daß ich<br />

sie auch bekomme.“<br />

„Jawohl, Herr.“ Nailband verneigte sich, und wie<strong>de</strong>r schien Indigo diese Unterwürfigkeit geheuchelt, ja, fast<br />

beleidigend.<br />

„Verschwin<strong>de</strong>“ zischte Nachtfalke, und <strong>de</strong>r Mann wandte sich ab, zog die Tür hinter sich zu. „Also los“ sagte er zu<br />

seinen Gefährten. „Wir müssen ans östliche En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Stadt, folgt mir.“ Gehorsam nickten die bei<strong>de</strong>n Jurakai,<br />

verwun<strong>de</strong>rt über die strenge Autorität ihres Freun<strong>de</strong>s.<br />

„Wißt ihr“ erklärte Nachtfalke auf <strong>de</strong>m Weg durch die Menge, die sich inzwischen ein wenig gelichtet hatte, „ich<br />

mußte ihn auf diese Art behan<strong>de</strong>ln, <strong>de</strong>nn das ist <strong>de</strong>r einzige Tonfall, in <strong>de</strong>m dieser Schlag Mensch überhaupt zuhört.<br />

Dieser Nailband ist ein Gauner, ein Kerl, mit <strong>de</strong>m man besser keine Geschäfte machen sollte. Aber er schul<strong>de</strong>t mir<br />

noch etwas, und ich <strong>de</strong>nke, er wird sein Wort halten und die Pfer<strong>de</strong> bereitstellen. Er weiß genau, was ihm sonst blüht,<br />

und er ist kein Dummkopf.“<br />

Die Menschentraube um das Grüppchen löste sich auf, da die Händler ihre Lä<strong>de</strong>n aufräumten und ihre Zelte<br />

schlossen. Der Abend nahte, und nur noch ein paar <strong>de</strong>r Straßenlä<strong>de</strong>n hielten ihre Pforten offen, warteten auf zahlen<strong>de</strong><br />

Kundschaft. Irnstwell war die größte Stadt im südlichen Hochland, hatte Tausen<strong>de</strong> und Abertausen<strong>de</strong> von<br />

Einwohnern. Des Nachts herrschten die rauhen Gesetze <strong>de</strong>r Straßenban<strong>de</strong>n, und in <strong>de</strong>n verrufenen Vierteln hielten<br />

sich keine rechtschaffenen Bürger mehr auf, sobald die Sonne hinter <strong>de</strong>m Horizont versunken war. Nachtfalke legte<br />

einen Schritt zu, als er bemerkte, daß sie es nicht bis zum Einbruch <strong>de</strong>r Dunkelheit schaffen wür<strong>de</strong>n, zum<br />

gewünschten Ort zu gelangen. Während sie <strong>de</strong>n Weg durch stinken<strong>de</strong> Gassen abkürzten, legte er eine Hand an sein<br />

Schwert, bereit, es nötigenfalls zu ziehen. Von ver<strong>de</strong>ckten Hauseingängen aus sahen ihnen Frauen nach, die ihren<br />

Körper verkauften, <strong>de</strong>m Gesin<strong>de</strong>l von Irnstwell ihre Dienste anboten. Leises Tuscheln erklang, während die Gruppe<br />

vorüberzog, und nicht selten wur<strong>de</strong>n hinter vorgehaltener Hand Mutmaßungen ausgesprochen, Verdachte geäußert.<br />

Unruhig versuchte sich Nachtfalke an <strong>de</strong>n Weg zu erinnern, <strong>de</strong>nn sie waren durch die Abkürzungen in ein Viertel<br />

geraten, in <strong>de</strong>m er sich nicht auskannte.<br />

Nach einer kurzen Orientierungspause wandte er sich in Richtung einer etwas breiteren Straße, und die Jurakai<br />

atmeten auf, als sie kurz darauf in belebteres Gebiet fan<strong>de</strong>n. Nachtfalke steuerte direkt auf einen Dom mit riesigem<br />

Kirchenschiff zu, <strong>de</strong>r sich vor <strong>de</strong>m dunkelroten Abendhimmel abzeichnete. „Wir sind da“ stellte er fest, als sie vor <strong>de</strong>n<br />

mächtigen, massiven Toren <strong>de</strong>s Domes stan<strong>de</strong>n. Die Eisenriegel, die von <strong>de</strong>n Seiten herabhingen, ließen das Tor<br />

unüberwindbar aussehen, recht ungewöhnlich für ein Hause Himmelfeuers. Das dicke Eichenholz krachte laut, als<br />

Nachtfalke gegen die Tür hämmerte, und <strong>de</strong>r Hall trug das Geräusch noch weit in die abkühlen<strong>de</strong> Nacht hinaus.<br />

„Was wollen wir hier?“ fragte Indigo, doch Nachtfalke gebot ihm, zu schweigen.<br />

„Ein alter Freund von mir wohnt hier“ antwortete <strong>de</strong>r Alte und wartete darauf, daß sein Klopfen gehört wur<strong>de</strong>.<br />

Die letzten zwei Tage hatten Dynes und sein Begleiter keinen Schlaf mehr ergattern können, hatten nur Rast gemacht,<br />

um ihren Pfer<strong>de</strong>n ein wenig Ruhe zu gönnen. Je<strong>de</strong>s Wirtshaus, das auf ihrem Weg lag, war von Außen verschlagen<br />

wor<strong>de</strong>n, je<strong>de</strong>r Bauernhof war verlassen. Es schien, als sei die gesamte Gegend ausgestorben, als wären all die<br />

Bewohner fluchtartig aufgebrochen, ohne sich darum zu kümmern, was sie zurückließen. Der Ritter wun<strong>de</strong>rte sich,<br />

was ganze Siedlungen dazu bewegen konnte, all ihre Habseligkeiten zurückzulassen, <strong>de</strong>nn die<br />

Einrichtungsgegenstän<strong>de</strong> befan<strong>de</strong>n sich noch immer in <strong>de</strong>n leeren Häusern.<br />

Auch, als sie die Stadt Darburg erreichten, wur<strong>de</strong> es nicht besser. Keine Wachen zeigten sich vor <strong>de</strong>n Toren, die selbst<br />

am hellichten Tage geschlossen waren. Um die hohen Stadtmauern herum floß ein Nebenarm <strong>de</strong>s Bytak, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n<br />

Menschen hierher geleitet wor<strong>de</strong>n war. Es hatte Jahre gedauert, <strong>de</strong>n Graben auszuheben, doch letztendlich hatte es<br />

sich gelohnt. Darburg gewann mehr und mehr an Größe, Familien kamen vom Land und sie<strong>de</strong>lten sich an. Doch jetzt<br />

wartete – statt <strong>de</strong>m üblichen geschäftigen Treiben - nur gähnen<strong>de</strong> Leere am Burgtor auf <strong>de</strong>n Ritter, und so mußte er<br />

nun weit vor <strong>de</strong>n Toren stehen und rufen, um sich Gehör zu verschaffen. Endlich tauchten ein paar Köpfe über <strong>de</strong>r<br />

Mauer auf, und verängstigte Gesichter sahen zu ihm herab.<br />

„Was ist?“ schrie Dynes sie an, und als die Wachen sahen, daß es nur ein Mann und ein Junge waren, die dort<br />

stan<strong>de</strong>n, wagten sie sich weiter hervor. „Ist bei euch auch die Pest ausgebrochen, daß ihr alles verriegelt habt?“<br />

An Stelle einer Antwort wur<strong>de</strong> die Zugbrücke heruntergelassen, und die bei<strong>de</strong>n Reisen<strong>de</strong>n trabten hinein nach<br />

Darburg.<br />

Sie hatten <strong>de</strong>n Graben noch nicht ganz passiert, da erklang auch schon das metallene Geräusch rasseln<strong>de</strong>r Ketten. Die<br />

Brücke wur<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r hochgezogen. Die Pfer<strong>de</strong> begannen zu scheuen, als sich das Holz unter ihren Hufen plötzlich zu<br />

bewegen begann, und Dynes fluchte so heftig, daß Paves beinahe rot wur<strong>de</strong>.<br />

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„Verdammt, was ist hier los?“ verlangte er zu wissen, nach<strong>de</strong>m zwei an<strong>de</strong>re Wachen sich ihrer gnädigerweise<br />

annahmen und sie empfingen. Ohne auf seine Frage einzugehen, musterten ihn die Männer und hielten ihre<br />

Hellebar<strong>de</strong>n auf ihn gerichtet.<br />

„Wer seid Ihr?“ wollte eine <strong>de</strong>r Wachen wissen. Sie war schwächlich gebaut und sah noch ziemlich feucht hinter <strong>de</strong>n<br />

Ohren aus. Der Ritter fühlte sich nicht in <strong>de</strong>r Lage, Fragen von einem Grünschnabel zu beantworten. „Woher kommt<br />

Ihr?“<br />

Dynes fluchte erneut. Langsam wur<strong>de</strong> es ihm zu viel. Er wußte, daß die Wächter nichts weiter taten, als Befehle zu<br />

befolgen, doch alles hatte seine Grenzen. „Mein ihr nicht auch, daß das ein wenig zu weit geht?“<br />

Eine <strong>de</strong>r Wachen bohrte ihm die Spitze ihrer Waffe in die Kleidung, und jetzt hatte <strong>de</strong>r Ritter endgültig genug. Seine<br />

Gereiztheit hatte von Stun<strong>de</strong> zu Stun<strong>de</strong> mehr zugenommen, als er keinen Schlaf bekam, und anstatt ihm einfach<br />

Einlaß zu gewähren und ihm ein Bett zur Verfügung zu stellen, für das er sogar gut zahlen wür<strong>de</strong>, stach man ihm eine<br />

Hellebar<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Magen. Die Wellen <strong>de</strong>r Übermüdung klatschten an <strong>de</strong>n Strand <strong>de</strong>r Unvernunft, und in die Augen<br />

<strong>de</strong>s Ritters schlich sich ein helles Leuchten. Wäre <strong>de</strong>r Wächter klug gewesen, hätte er seine Hellebar<strong>de</strong> ein Stück<br />

zurückgezogen. So aber stach er sie nur noch fester nach vorn.<br />

Dynes lächelte breit, dann faßte er <strong>de</strong>n Stiel <strong>de</strong>r Waffe und trieb sie mit aller Gewalt zurück, so daß <strong>de</strong>r Wache das<br />

stumpfe, hölzerne En<strong>de</strong> in die Brust gedrückt wur<strong>de</strong>. Keuchend kippte sie, unerwartet getroffen und ihrer Atemluft<br />

beraubt, nach hinten, ließ <strong>de</strong>m Ritter genug Zeit, um <strong>de</strong>n Stiel zum Prügel umzufunktionieren, auszuholen und auch<br />

die an<strong>de</strong>re Wache nie<strong>de</strong>rzustrecken. Er schritt nach vorn, zog einen <strong>de</strong>r Männer zu sich nach oben und schüttelte ihn,<br />

so fest er konnte.<br />

„Und jetzt“ hauchte er <strong>de</strong>m Mann ins Gesicht, „bevor die Höllen gefrieren, sagst du mir endlich, was hier vor sich<br />

geht!“ Gera<strong>de</strong> wollte er <strong>de</strong>n Wächter ein zweites Mal durchrütteln, da rief Paves eine Warnung aus.<br />

Doch <strong>de</strong>r Schrei kam zu spät, und ein Knüppel lan<strong>de</strong>te hart auf Dynes Schä<strong>de</strong>l und schickte ihn in die<br />

Bewußtlosigkeit. Das letzte, was er noch sah, bevor die Schwärze ihn einlullte, war <strong>de</strong>r Junge, <strong>de</strong>r von ein paar<br />

breitschultrigen Männern in Uniform festgehalten wur<strong>de</strong>.<br />

„Ah! Ich wußte, daß er da ist!“ sagte Nachtfalke. Ein Lächeln zog sich über sein Gesicht, als die mächtigen Tore von<br />

Innen her aufgestoßen wur<strong>de</strong>n. Ein ganz in Weiß gewan<strong>de</strong>ter Manur, mit krausem grauem Haar, das ihm über die<br />

Augen fiel, drückte die schweren Holztüren beiseite. Der Mann erblickte <strong>de</strong>n Jurakai, und auch auf sein Gesicht stahl<br />

sich ein fröhlicher Ausdruck. Erleichtert fielen sich die bei<strong>de</strong>n Alten in die Arme, ließen die zwei jungen Jurakai<br />

außen vor. Der kleine Mann klopfte Nachtfalke auf <strong>de</strong>n Rücken, und als sie sich wie<strong>de</strong>r voneinan<strong>de</strong>r getrennt hatten,<br />

begutachteten sie sich interessiert.<br />

„Es ist lange her, Callus“ sagte Indigos Freund, und mit einem glücklichen Grinsen gingen die bei<strong>de</strong>n langsam durch<br />

die Tore. „Als wir uns das letzte Mal sahen, da war... nun, es muß Jahre her sein, nicht wahr?“<br />

„Sechs Jahre“ bestätigte <strong>de</strong>r in eine Kutte gehüllte Mann, schritt neben Nachtfalke durch die Kapelle. Seine Worte<br />

verloren sich in <strong>de</strong>r riesigen Halle, und Talamà und Indigo wan<strong>de</strong>rten erstaunt durch die Halle. Auf <strong>de</strong>n Bänken lagen<br />

und saßen vermummte Gestalten, in Fetzen geklei<strong>de</strong>t und arm. Viele von ihnen schliefen, an<strong>de</strong>re waren in ein Gebet<br />

versunken, und keiner von ihnen schenkte <strong>de</strong>n Jurakai auch nur einen Funken Beachtung. Nachtfalke drehte sich um,<br />

und sein weißgewan<strong>de</strong>ter Freund tat es ihm gleich. „Ich muß dir jeman<strong>de</strong>n vorstellen, Callus“ sagte er und <strong>de</strong>utete<br />

dabei auf seine Gefährten.<br />

„Diese hübsche junge Dame hier ist Talamà, und das dort ist mein Schüler Indigo. Talamà, Indigo, dies hier ist mein<br />

alter Freund Callus Mandible. Er ist <strong>de</strong>r Bischof dieser Kirche, und ich möchte, daß ihr ihn mit <strong>de</strong>m gebühren<strong>de</strong>n<br />

Respekt behan<strong>de</strong>lt. Er ist ein weiser Mann, und er verdient Anerkennung und Hochachtung.“<br />

„Vater.“ Die bei<strong>de</strong>n Jurakai verneigen sich langsam, doch Mandible schnappte empört nach Luft.<br />

„Ach, vergeßt seine Worte, Kin<strong>de</strong>r“ beschwichtigte <strong>de</strong>r Priester rasch. „Behan<strong>de</strong>lt mich nicht wie einen Greis, son<strong>de</strong>rn<br />

tut viel mehr so, als wäre ich einer von euch, <strong>de</strong>nn dann fühle ich mich weit weniger alt. Das, was Nachtfalke euch<br />

rät, dürft ihr nicht ernst nehmen. Er <strong>de</strong>nkt von allen Menschen, daß sie gebrechlich und schwach wären, auch wenn<br />

sie jung sind und kräftig. Und seht mich bloß an: es steckt viel Kraft unter dieser dicken Robe!“ Er grinste breit, und<br />

Talamà und Indigo konnten sich ein Grinsen ebenfalls nicht verkneifen.<br />

„Nun, dann behan<strong>de</strong>lt ihn eben so, wie er es euch rät“ meinte Nachtfalke und legte seinen Arm um die Schulter <strong>de</strong>s<br />

Priesters. „Sprich, mein Alter! Wie geht es dir?“<br />

„Unverän<strong>de</strong>rt“ gab Mandible zurück, lachte ein leises, husten<strong>de</strong>s Lachen. „Die Lehre von Himmelfeuer verliert von<br />

Tag zu Tag an Gläubigen, und mein Dom ist hauptsächlich ein kleines Schmuckstück in einer verdorbenen Stadt.<br />

Aber eins schwöre ich dir: Solange ich lebe, wird diese Kirche die Schönste bleiben, die es in ganz Ruben gibt. Und<br />

wenn dort draußen auch die Welt untergehen sollte, hier drinnen wird sich nichts verän<strong>de</strong>rn!“<br />

„Es freut mich, das zu hören. Ich wußte, wenn es einen Platz gibt, an <strong>de</strong>n ich mich in Irnstwell immer wen<strong>de</strong>n kann,<br />

dann wird das <strong>de</strong>r Dom sein. Wenigstens manche Dinge verän<strong>de</strong>rn sich nicht.“<br />

„Darf ich euch einla<strong>de</strong>n in mein beschei<strong>de</strong>nes Heim?“ fragte <strong>de</strong>r Bischof, und mit einer ausufern<strong>de</strong>n Handbewegung,<br />

die das gesamte Kirchenschiff einschloß, wandte er sich an alle drei Jurakai. „Es mag hier vielleicht ein wenig kühl<br />

sein, doch ich habe auch kleinere Räume als diese Halle zur Verfügung.“<br />

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„Danke, Vater“ sagte Indigo und nahm Talamà liebevoll bei <strong>de</strong>r Hand. Dem alten Priester entging diese Geste nicht,<br />

und er schenkte <strong>de</strong>n zweien ein Lächeln.<br />

„Ich habe, glaube ich, etwas passen<strong>de</strong>res für euch als diese ungastliche Kirche. Wenn ihr heute hier übernachten wollt<br />

– und ihr wer<strong>de</strong>t nicht wagen, mir zu wi<strong>de</strong>rsprechen - dann kann ich euch mein eigenes Häuslein anbieten. Dort ist es<br />

warm, und ich habe immer ein paar Betten für unerwartete Besucher frei.“<br />

„Wir wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>in Angebot gerne annehmen“ sagte Nachtfalke. „Aber laß uns doch erst einmal ein wenig re<strong>de</strong>n. Es<br />

gibt so vieles, das ich mit dir besprechen muß, und uns bleibt so wenig Zeit.“<br />

„Bei Himmelfeuer, wollt ihr mich schon wie<strong>de</strong>r verlassen, wenn ihr noch gar nicht richtig hier seid? Warum?“<br />

„Das erkläre ich dir gleich. Nicht alles ist in so wun<strong>de</strong>rbarem Zustand wie <strong>de</strong>in Dom, Callus, und ich fürchte, die<br />

Neuigkeiten könnten <strong>de</strong>inen Glauben erschüttern. Laß uns an einen Ort gehen, an <strong>de</strong>m wir ungestört re<strong>de</strong>n können.“<br />

Mit besorgtem Gesicht führte Bischof Mandible die drei tiefer in das Kirchenschiff, ging ihnen durch eine kleine Tür<br />

voran, die in <strong>de</strong>n hinteren Teil <strong>de</strong>s Domes führte.<br />

„Im Dom selbst sollten wir nicht offen sprechen“ erklärte er leise, als sie durch <strong>de</strong>n nächsten Raum schritten. „Viele<br />

Obdachlose und Verstoßene leben heutzutage unter meinem Dach, und ich <strong>de</strong>nke, eure Nachricht sollte nicht<br />

unbedingt an je<strong>de</strong>rmanns Ohren gelangen, nicht wahr?“<br />

Nach<strong>de</strong>m sie durch mehrere lange Flure gewan<strong>de</strong>rt waren, erreichten sie einen Raum von nicht unbeträchtlicher<br />

Größe. Die Fenster, die <strong>de</strong>n Blick auf Irnstwell preisgaben, waren gesäumt von wun<strong>de</strong>rvollen, samtenen Vorhängen,<br />

und dicke Teppiche hingen an <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n. Das Zimmer war warm, und ein angenehmer Duft lag in <strong>de</strong>r trockenen<br />

Luft.<br />

„Dies ist ein Teil meiner Wohnung“ meinte Mandible, an Indigo und Talamà gewandt. „Euer Begleiter kennt dieses<br />

Haus bereits gut, <strong>de</strong>nke ich.“ Nachtfalke nickte. Er bewun<strong>de</strong>rte ein paar <strong>de</strong>r neuen Teppiche, die Callus <strong>de</strong>n alten<br />

hinzugefügt hatte, nickte überzeugt mit <strong>de</strong>m Kopf. Der Priester hatte seit jeher eine Sammellei<strong>de</strong>nschaft, die sich in<br />

<strong>de</strong>r Anhäufung von gewebten Teppichen und Vorhängen ausdrückte. Mit je<strong>de</strong>m Jahr kamen neue hinzu, und man<br />

konnte nicht behaupten, daß die Schmuckstücke eines gewissen Stils entbehrten. Mit Mustern übersät zeigten sie<br />

Bil<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Zeit Himmelfeuers, riesige Drachen waren auf <strong>de</strong>n meisten <strong>de</strong>r Teppiche abgebil<strong>de</strong>t. Vor allem die<br />

Schlachtszenen und Kämpfe, die sich auf manchen <strong>de</strong>r Gobelins zeigten, erregten die Aufmerksamkeit Indigos, und<br />

von Ehrfurcht erfüllt stand er vor <strong>de</strong>n mächtigen Wandbehängen und starrte auf die Bil<strong>de</strong>r.<br />

„Dieser ist einer meiner Lieblingsteppiche“ erzählte <strong>de</strong>r alte Mann, während <strong>de</strong>r Jurakai fasziniert einen Teppich<br />

betrachtete, auf <strong>de</strong>m ein Drachen in einen Kampf mit einem Riesen verwickelt war. „Es war die Zeit, in <strong>de</strong>r die Riesen<br />

in Ruben einfielen, und die heiligen Wächter die Ungeheuer wie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> vertrieben. Du wirst die<br />

Geschichte kennen, nehme ich an?“<br />

Indigo nickte leicht. „Ich habe sie ein paar Mal gehört, ja. Zu welcher Zeit haben sich diese Geschehnisse<br />

zugetragen?“<br />

„Oh, wenn man <strong>de</strong>n Geschichtsbüchern vertrauen darf, dann muß das min<strong>de</strong>stens zehntausend Jahre her sein, wenn<br />

nicht noch länger. Natürlich ist das Gemäl<strong>de</strong> nur eine Vermutung, wie es damals tatsächlich gewesen sein könnte. Zu<br />

<strong>de</strong>r Zeit haben ja noch nicht einmal Menschen in Ruben gewohnt, nicht wahr, Falke?“<br />

„Callus hat Recht, Indigo. Die Manur kamen erst viel, viel später nach Ruben, vor achthun<strong>de</strong>rt Jahren vielleicht.<br />

Alles, was davor geschah, wur<strong>de</strong> nur von <strong>de</strong>n Jurakai und <strong>de</strong>n Shat’lan aufgezeichnet.“<br />

„Und von <strong>de</strong>n Dverjae“ ergänzte Talamà, blickte <strong>de</strong>n Priester an.<br />

„Oh, nein“ korrigierte Mandible. „Die Dverjae leben zwar schon länger in Ruben, als die Menschen es tun, trotz<strong>de</strong>m<br />

reicht ihre Geschichte nicht viel länger zurück. Den Überlieferungen zufolge lebt das Kleine Volk erst seit einigen<br />

tausend Jahren in <strong>de</strong>n Gebirgen und Hochebenen Rubens.“<br />

„Auch ich kann das bestätigen“ sagte Nachtfalke. „Die ersten Manur haben sich in Ruben angesie<strong>de</strong>lt, als ich noch<br />

ein junger Spund wie du war, Indigo. Ich habe ihren gesamten Aufstieg miterlebt, von <strong>de</strong>r ersten Schlacht an, die sie<br />

gegen das Volk <strong>de</strong>r Shat’lan führten, bis zu <strong>de</strong>n heutigen Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen gegen die Dverjae. Ihr seid eine sehr<br />

kriegerische Rasse, Callus.“<br />

Betrübt nickte <strong>de</strong>r Priester. „Das stimmt. Allerdings glaube ich, eine Erklärung dafür zu haben, Falke. Ich habe lange<br />

darüber nachgedacht, und ich kam zu <strong>de</strong>m Schluß, daß die Menschen <strong>de</strong>swegen so sein könnten, weil unsere<br />

Lebensspanne im Gegensatz zu <strong>de</strong>r von Jurakai und Dverjae so begrenzt erscheint. Wir sind mit Abstand das<br />

kurzlebigste Volk, und vielleicht wollen wir <strong>de</strong>shalb versuchen, so viel wie möglich zu erreichen und zu erobern,<br />

während wir leben. Es bleibt uns einfach nicht genügend Zeit, um die ganze Sache ein wenig ruhiger anzugehen.“<br />

Grübelnd setzte sich Nachtfalke vor <strong>de</strong>n Kamin, in <strong>de</strong>m ein kleines Feuer lo<strong>de</strong>rte. Die Flammen knisterten, verliehen<br />

<strong>de</strong>m Raum eine gemütliche Atmosphäre. Es war warm, und nach <strong>de</strong>n letzten Nächten in <strong>de</strong>r Freiheit wußten die<br />

Jurakai es zu schätzen, in einem warmen Zimmer zu sitzen.<br />

„Du magst Recht haben, Callus. Aber diese Kurzlebigkeit scheint mir kein Grund, bei je<strong>de</strong>r sich bieten<strong>de</strong>n<br />

Gelegenheit einen Krieg zu beginnen...“<br />

„Oh doch, Falke, <strong>de</strong>r Grund ergibt sich daraus ganz offensichtlich!“ Mandible <strong>de</strong>utete auch Talamà und Indigo, vor<br />

<strong>de</strong>m Feuer Platz zu nehmen, sich etwas von <strong>de</strong>n Getränken einzuschenken, die auf einer kleinen Anrichte<br />

bereitstan<strong>de</strong>n. „Zum einen sind die Menschen gierige, neidische Wesen. Ich habe in meiner langen Zeit als Priester<br />

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einiges erlebt, und ich glaube mich mit <strong>de</strong>r menschlichen Psyche einigermaßen auszukennen. Da die Jurakai - und die<br />

Shat’lan - viel länger leben als die Menschen, liegt es nahe, diesen Vorteil dadurch auszugleichen, in<strong>de</strong>m man die<br />

betreffen<strong>de</strong>n Rassen einfach auslöscht. Damit wäre gegeben, daß zumin<strong>de</strong>st niemand älter wird als die Menschen,<br />

abgesehen von ein paar Tieren, die in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r meisten allerdings nicht zählen. Ich weiß, das sind sehr nie<strong>de</strong>re<br />

Beweggrün<strong>de</strong>, doch manche meiner Rasse können nicht davon ablassen, diesen Weg zu gehen. Aber ihr dürft nicht<br />

vergessen, daß meine Mutmaßungen nur Theorien sind, Schlußfolgerungen, die ich aufgrund von verschie<strong>de</strong>nen<br />

Erfahrungen anstellte. Und noch eines, Falke: Vergiß nicht, daß auf Grund <strong>de</strong>s hohen Alters <strong>de</strong>r Jurakai euer Volk<br />

sich auch noch an alles erinnern kann, was früher geschah. Vielleicht habt auch ihr irgendwann das Bedürfnis nach<br />

Kämpfen und Kriegen, und--“<br />

„Natürlich gibt es einige von uns, die einem Kampf nicht abgeneigt wären“ unterbrach Nachtfalke <strong>de</strong>n Re<strong>de</strong>fluß <strong>de</strong>s<br />

Priesters und warf einen Blick zu Indigo, <strong>de</strong>r diesen erwie<strong>de</strong>rte. „Ich will mich hier auch nicht ausschließen. Aber -<br />

und das ist <strong>de</strong>r springen<strong>de</strong> Punkt - wir Jurakai kämpfen niemals, um unser Land auszuweiten, unseren Besitz zu<br />

vergrößern. Wenn wir zu <strong>de</strong>n Waffen greifen, dann nur zur Verteidigung, niemals zum Angriff. Die Shat’lan haben<br />

sich ebenfalls verteidigt, wenn auch aggressiver, als wir es je taten. Und die Dverjae bleiben in ihren Gebieten, leben<br />

unter ihren Gletschern und in ihren Bergdörfern, manche auch noch am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Hochlands. Aber keine dieser<br />

Rassen ist so kriegerisch wie die <strong>de</strong>r Manur, das läßt sich nicht bestreiten.“<br />

„Gut, Falke. Dann hör mir zu: Die Erfahrungen, die ihr mit <strong>de</strong>m Krieg macht, bleiben euch erhalten! Ihr kämpft<br />

vielleicht, aber die nächsten paar Jahrhun<strong>de</strong>rte lebt ihr weiter, und die Erinnerung mit euch. Die Generationenspanne<br />

meiner Rasse hingegen ist so niedrig, daß wir je<strong>de</strong>s halbe Jahrhun<strong>de</strong>rt unser Wissen fast gänzlich neu aufbauen<br />

müssen. Wir können vielleicht auf Erzählungen, Berichte und Geschichten zurückgreifen, doch im großen und ganzen<br />

müssen die Erfahrungen <strong>de</strong>s Einzelnen je<strong>de</strong>s Mal aufs Neue gesammelt wer<strong>de</strong>n. Ich glaube, daß dies sehr wohl die<br />

Ursache für das Verhalten <strong>de</strong>r Menschen sein könnte, Falke.“<br />

Nachtfalke genehmigte sich einen tiefen Zug Wein, <strong>de</strong>r in unerschöpflichem Vorrat in <strong>de</strong>r Wohnung <strong>de</strong>s Geistlichen<br />

vorhan<strong>de</strong>n zu sein schien. Er dachte einen Moment lang nach, bevor er zu einem Schluß gelangte. „Deine<br />

Überlegungen sind nicht ganz falsch, mein Freund. Ich habe es noch nie von dieser Seite betrachtet - ich war auch<br />

noch nie gewillt, euren Standpunkt zu verteidigen. Im Grun<strong>de</strong> genommen ist es mir egal, was ihr Manur anstellt,<br />

solange es uns nicht betrifft und keinen Scha<strong>de</strong>n anrichtet.“<br />

„Nun, das hat es lei<strong>de</strong>r schon zu oft getan...“ murmelte <strong>de</strong>r Priester und versank in seinem bauschigen Bart, als er sein<br />

Kinn auf die Brust sinken ließ. „Schon viel zu oft, lei<strong>de</strong>r...“ Dann blickte <strong>de</strong>r alte Mann auf, schien sich an etwas zu<br />

erinnern. „Was war mit dieser dringen<strong>de</strong>n Sache, über die du mit mir sprechen wolltest?“<br />

„Bist du bereit, sie dir anzuhören?“<br />

„Was ist es, was dir auf <strong>de</strong>m Herzen liegt? Und ihr bei<strong>de</strong>n“ sagte er zu Talamà und Indigo gewandt, die auf<br />

flauschigem Teppich saßen und lauschten. „Darf ich euch noch etwas anbieten? Möglicherweise etwas zu Essen, o<strong>de</strong>r<br />

ein an<strong>de</strong>res Getränk als Wein?“ Indigo, <strong>de</strong>r mit seinen Armen Talamà umschlossen hielt, verneinte.<br />

„Ich wäre froh, wenn Ihr vielleicht etwas Wasser hättet, Vater“ sagte Talamà und lächelte freundlich. Sie hatte <strong>de</strong>n<br />

kleinen, etwas rundlichen Priester bereits in ihr Herz geschlossen und bemühte sich nun, aufzustehen und selbst nach<br />

<strong>de</strong>m Wasser zu sehen. „Du fin<strong>de</strong>st es dort hinten, neben <strong>de</strong>r Anrichte, mein Kind...“ rief Mandible ihr zu. „Ja, genau<br />

dort. Ähm. Wo waren wir stehengeblieben?“<br />

„Es geht um <strong>de</strong>n Grund unserer Anwesenheit, Callus. Ich fürchte, daß es kein erfreulicher ist. Und ebenso glaube ich,<br />

daß es Neuigkeiten für dich sein wer<strong>de</strong>n, die ich dir zu erzählen habe. Du verläßt <strong>de</strong>ine Mauern schließlich nicht sehr<br />

oft, falls <strong>de</strong>in Verhalten sich nicht grundlegend geän<strong>de</strong>rt haben sollte seit unserem letzten Treffen...“<br />

„Nein, es ist wahr. Ich lebe noch immer zurückgezogen in meinem Dom, wie ein Einsiedlerkrebs in seiner<br />

Muschelschale.“ Der alte Mann lachte verbittert auf. „Die einzigen, die ich regelmäßig zu Gesicht bekomme, sind die<br />

Obdachlosen, die meine Kirche als Zufluchtsort aufsuchen, und mein Gehilfe Pedrich. Pedrich ist es auch, <strong>de</strong>r die<br />

Einkäufe erledigt und für alles an<strong>de</strong>re zuständig ist, das sich mit <strong>de</strong>r Äußeren Welt befaßt. Ich selbst komme nur<br />

gelegentlich hier heraus, um einen neuen Teppich zu kaufen o<strong>de</strong>r bei einer an<strong>de</strong>ren beson<strong>de</strong>ren Gelegenheit. Erzähl<br />

mir von diesen Dingen, die du zu berichten hast, Falke. Ich bin sehr neugierig darauf.“<br />

„Es wird dir nicht gefallen, was ich dir sagen muß, mein Freund.“ Nachtfalke seufzte, versuchte, seine Gedanken so<br />

gut wie möglich in Worte zu fassen. Er erzählte <strong>de</strong>m Priester vom Grund ihrer Reise, vor allem von <strong>de</strong>r zerstörten<br />

Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sommers, und von <strong>de</strong>n vielen getöteten Jurakai. Gelegentlich stöhnte <strong>de</strong>r Vater vor Entsetzen auf, als er<br />

hörte, wie grausam die Angreifer zu Werke gegangen waren. Nach <strong>de</strong>m ausführlichen Bericht sackte <strong>de</strong>r alte Mann in<br />

sich zusammen, tat einen tiefen Zug aus seinem Weinglas, das er zwischenzeitlich mehrere Male neu gefüllt hatte.<br />

„Das sind wahrlich bittere Nachrichten, Falke. Ich wünschte, ihr wärt aus einem erfreulicheren Grund hierher<br />

gekommen. Nein, ich kann das alles gar nicht glauben...“ Mandible schüttelte seinen Kopf, und sein rundlicher Leib<br />

erzitterte. „Es tut mir sehr leid für euch“ teilte er <strong>de</strong>n Jurakai mit, und ein hoffnungsloser Blick aus seinen Augen<br />

streifte die drei Reisen<strong>de</strong>n.<br />

„Dennoch kannst du uns etwas Gutes tun, alter Freund. Allein unser Aufenthalt hier stärkt uns für <strong>de</strong>n weiteren Weg,<br />

und die Nacht in einem warmen Zimmer verbringen zu können, ist mehr, als man sich erhoffen darf.“<br />

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„Es ist das Min<strong>de</strong>ste, was ich für euch tun kann. Falls ihr ein beson<strong>de</strong>res Anliegen habt, dann zögert nicht, es mir<br />

mitzuteilen. Ich wer<strong>de</strong> tun, was in meiner Macht steht. Immerhin bin ich <strong>de</strong>r einzige Priester dieser verkommenen<br />

Stadt, und meine Macht nach Außerhalb mag zwar klein erscheinen, aber ich bin <strong>de</strong>nnoch fähig, viel zu erreichen in<br />

Irnstwell. Ich habe meine Männer überall“ fügte er hinzu. „Sie sind nicht die Besten, aber sie können euch helfen. All<br />

diejenigen, die hier jemals Zuflucht und Unterschlupf gesucht haben, stehen in meiner Schuld.“<br />

„Danke, Callus. Aber <strong>de</strong>ine Gastfreundschaft reicht uns vollkommen. Wir wer<strong>de</strong>n früh morgens aufbrechen müssen,<br />

um schnell voranzukomen. Ich wäre dir sehr verbun<strong>de</strong>n, wenn du meinen bei<strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong>n ihr Schlafgemach zeigen<br />

wür<strong>de</strong>st.“<br />

Der Priester erhob sich, winkte Talamà, ihm zu folgen. Auch Indigo lief hinter <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n her, staunte bei je<strong>de</strong>m<br />

weiteren Schritt durch das geschmückte Haus. Die wun<strong>de</strong>rvollen Teppiche waren hier, in <strong>de</strong>n langen Korridoren, noch<br />

vielfältiger, und die meisten von ihnen stammten mit Sicherheit nicht von Menschenhand. Einige sahen aus, als<br />

wären sie direkt <strong>de</strong>m Webstuhl eines Geisteskranken entsprungen, mit so verlaufen<strong>de</strong>n, ineinan<strong>de</strong>r übergehen<strong>de</strong>n<br />

Farben und Linien, daß es <strong>de</strong>m Jurakai schlecht wur<strong>de</strong>, wenn er sie längere Zeit anstarrte. Er holte Talamà mit ein<br />

paar großen Schritten auf, die ein Stückchen vor ihm lief. Vater Callus öffnete ihnen eine Tür, <strong>de</strong>utete in das Zimmer<br />

und verabschie<strong>de</strong>te sich höflich von ihnen. Er wünschte <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n eine gute Nacht, zwinkerte und zog sich dann<br />

schnell zurück. Er wollte noch ein wenig mit seinem alten Freund Falke plauschen, <strong>de</strong>nn die Gelegenheit dazu ergab<br />

sich lei<strong>de</strong>r nicht allzu oft.<br />

Dynes fand sich in einer schmutzigen Gefängniszelle wie<strong>de</strong>r. Nach<strong>de</strong>m seine Erinnerung zurückgekehrt war und er<br />

sich die schmerzend pochen<strong>de</strong> Wun<strong>de</strong> an seinem Kopf rieb, blickte er sich in seinem neuen Heim um. Er befand sich<br />

in einem kleinen Raum, <strong>de</strong>r an zwei Seiten von Gitterstäben umgeben war. Es gab we<strong>de</strong>r eine dicke Zellentür noch<br />

eine Pritsche o<strong>de</strong>r Strohhaufen, nur <strong>de</strong>n blanken Bo<strong>de</strong>n und die rostigen Metallstangen. Das war gut. Dies war keine<br />

von <strong>de</strong>n Zellen, in <strong>de</strong>nen Gefangene ihre Strichlisten in die Mauern ritzten, um die Tage zu zählen. Keine obszönen<br />

Schmierereien schmückten die Wand, an <strong>de</strong>r er lehnte. Es war nichts weiter als ein Aufenthaltsort für Personen, die<br />

bald wie<strong>de</strong>r auf freien Fuß gesetzt wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n.<br />

Nichts<strong>de</strong>stotrotz war Dynes alleine hier, und niemand schien sich darum kümmern zu wollen, daß er in diesem Loch<br />

lag. Ein paar Fackeln an <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n spen<strong>de</strong>ten helles Licht, doch damit erschöpfte sich die Ausstattung <strong>de</strong>s Flures<br />

auch wie<strong>de</strong>r, in <strong>de</strong>ssen Nische die Zelle gebaut wor<strong>de</strong>n war. Er stand auf und tastete <strong>de</strong>n Raum mit <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n ab,<br />

rüttelte versuchsweise am Schloß <strong>de</strong>r Gittertür. Sie ließ sich nicht öffnen. Entmutigt sank er auf <strong>de</strong>n kalten Bo<strong>de</strong>n<br />

zurück.<br />

Vom Lärm angelockt o<strong>de</strong>r möglicherweise auch nur auf einem Rundgang erschien nach einiger Zeit ein Wächter, <strong>de</strong>r<br />

Dynes einen abschätzen<strong>de</strong>n Blick schenkte.<br />

„Na, wen haben wir <strong>de</strong>nn da? Wenn das nicht <strong>de</strong>r Unruhestifter von Draußen ist...“<br />

„Wo ist <strong>de</strong>r Junge?“ fragte <strong>Arathas</strong> und erhob sich erneut. „Ich hoffe für euch, daß es ihm gut geht.“<br />

„Der Junge hat ein weitaus erwachseneres Verhalten an <strong>de</strong>n Tag gelegt als Ihr. Er hat uns erzählt, daß er Euer<br />

Knappe sei und Ihr ein Ritter. Ist das richtig?“<br />

<strong>Arathas</strong> nickte beiläufig.<br />

„Könnt Ihr es beweisen?“<br />

„Ja, lei<strong>de</strong>r.“ Dynes schnaubte und lächelte grimmig. „Außer<strong>de</strong>m kenne ich <strong>de</strong>inen Herrn ziemlich gut. Ich habe eine<br />

Nachricht für ihn dabei.“ Er griff sich unter sein Wams und zog einen lädierten Brief darunter hervor. „Hat ein wenig<br />

unter <strong>de</strong>n Unbequemlichkeiten <strong>de</strong>r Reise gelitten, fürchte ich.“<br />

Skeptisch, als wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Ritter ihm ein kleines, giftiges Tier entgegenhalten, nahm <strong>de</strong>r Wachposten <strong>de</strong>n Umschlag<br />

und unterzog ihn mit prüfen<strong>de</strong>m Blick einer eingehen<strong>de</strong>n Untersuchung. Anscheinend wagte er es nicht, das Kuvert<br />

zu öffnen, da das echte Siegel <strong>de</strong>s Königs darauf prangte. Er hob fragend die Brauen.<br />

„Kommt mit <strong>de</strong>n besten Grüßen von König Westfald, vielen Dank. Falls das Siegel nicht mehr ganz einwandfrei sein<br />

sollte – ich wer<strong>de</strong> nieman<strong>de</strong>n zwingen, mir zu glauben.“<br />

„Nun, ich <strong>de</strong>nke, daß ihr die Wahrheit sprecht.“<br />

„Du kannst mich ja zu Djenhalm bringen, er wird dir bestätigen, daß er mich kennt. Im Übrigen habe ich sowieso ein<br />

paar Wörtchen mit ihm zu re<strong>de</strong>n.“<br />

Die Wache zog nickend einen klimpern<strong>de</strong>n Schlüsselbund hervor, zögerte dann jedoch. „Ich lasse Euch unter <strong>de</strong>r<br />

Bedingung frei, daß Ihr Euch anständig benehmt. Wie Ihr Euch vielleicht erinnern könnt, habt Ihr zwei Soldaten<br />

Djenhalms bei <strong>de</strong>n Toren grundlos nie<strong>de</strong>rgeschlagen.“<br />

„Hah! Grundlos... die bei<strong>de</strong>n haben es regelrecht herausgefor<strong>de</strong>rt!“<br />

„Sie haben lediglich ihre Befehle befolgt.“<br />

„Dann sollten sie lernen, selbständig zu <strong>de</strong>nken. Unter Umstän<strong>de</strong>n bleibt ihnen die Tracht Prügel dann beim nächsten<br />

Mal erspart.“<br />

Die Wache sah <strong>de</strong>n Ritter kurz an, schüttelte dann <strong>de</strong>n Kopf. „Muß ich Euch wirklich noch länger einsperren?“<br />

Dynes verdrehte die Augen. „Keine Sorge, Mann. Mittlerweile habe ich genug Schlaf bekommen, daß es<br />

wahrscheinlich für zwei Wochen reicht. Ich bin sanftmütig wie ein junges Lamm.“<br />

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Nicht völlig ohne Zweifel, aber <strong>de</strong>nnoch zufrie<strong>de</strong>ngestellt, schloß <strong>de</strong>r Wächter die Zellentür auf und ließ <strong>de</strong>n Ritter<br />

hinaus. Er verzog die Lippen, als er Dynes‘ abgerissene Gestalt im hellen Licht seiner Lampe sah, verkniff sich jedoch<br />

einen Kommentar. Gemeinsam gingen sie <strong>de</strong>n Flur hinab, vorbei an verschie<strong>de</strong>nen an<strong>de</strong>ren besetzten Zellen.<br />

„Ich will bloß hoffen, daß ihr Mistkerle <strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>n nichts angetan habt“ murmelte Dynes während <strong>de</strong>s Laufens, doch<br />

die Wache schüttelte <strong>de</strong>n Kopf.<br />

„Die sind bei uns gut aufgehoben. Außer<strong>de</strong>m hat sich Euer Knappe um sie gekümmert.“<br />

„Und wo ist <strong>de</strong>r Junge?“<br />

Bei soviel Ungeduld blieb <strong>de</strong>m Wächter nichts an<strong>de</strong>res übrig, als resignierend <strong>de</strong>n Kopf zu schütteln. „Er wartet<br />

weiter oben auf Euch. Wir sind gera<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>m Weg zu ihm.“<br />

Bischof Mandible setzte sich wie<strong>de</strong>r zu Nachtfalke, <strong>de</strong>r im Wohnzimmer geduldig gewartet hatte. Er schenkte sich<br />

und seinem Freund ein neues Glas Wein ein und prostete ihm zu.<br />

„Sie scheinen sich sehr zu mögen, mh?“ fragte er, während seine Zunge noch rote Tröpfchen von seinem Bart leckte.<br />

„Talamà und Indigo? Oh ja, obwohl es mir scheint, als wäre das alles von <strong>de</strong>r jungen Frau ausgegangen. Indigo ist<br />

zurückhaltend und sich seiner Gefühle noch nicht ganz bewußt. Weißt du, es schlummert etwas in <strong>de</strong>m Jungen, von<br />

<strong>de</strong>m ich mir nicht sicher bin, was es ist...“<br />

„Was meinst du?“ Der Priester rückte näher an Nachtfalke, legte <strong>de</strong>n Kopf schief. „Was schlummert <strong>de</strong>nn in ihm?“<br />

„Ich muß zugeben, daß er <strong>de</strong>r beste Schüler ist, <strong>de</strong>n ich jemals ausgebil<strong>de</strong>t habe. Und es waren nicht wenige, Callus.<br />

Schon sein Vater war bei mir in <strong>de</strong>r Lehre, nach<strong>de</strong>m ich ihn bei <strong>de</strong>r Königsschlacht kennenlernte. Ich habe auch<br />

an<strong>de</strong>rer Familien Söhne – und Töchter - ausgebil<strong>de</strong>t, doch nie hat auch nur einer von ihnen diese Auffassungsgabe<br />

besessen, die ich tief in Indigo spüren kann. Das Talent ruht noch in ihm, und er weiß nicht, wie er seine Kräfte zur<br />

Entfaltung bringen kann. Aber wenn er es lernt, dann wird er meine und <strong>de</strong>ine Weisheit und Kraft bei weitem<br />

übersteigen, Callus. Es sind seine Fähigkeiten - er lernt schneller, als du ihm die Dinge beibringen kannst.“<br />

„Was vermutest du dahinter, Falke? Ich kenne dich, da ist ein Gedanke, <strong>de</strong>r dich nicht loslassen will, nicht wahr?“<br />

Der alte Priester musterte seinen Freund genau, achtete auf je<strong>de</strong> kleinste Regung seines Gesichtes.<br />

„Ich frage mich, was dort unter Indigos oberer Hülle verborgen ist... und vor allem, ob es guter o<strong>de</strong>r schlechter Natur<br />

sein wird, wenn es sich offenbart.“<br />

„Der Junge erscheint mir sehr aufgeschlossen und aufrichtig. Ich kann mir nicht vorstellen, daß etwas Böses in ihm<br />

ruhen könnte. Auch Teagar ist – er war - einer <strong>de</strong>r besten Männer, die ich kannte. Mach dir <strong>de</strong>swegen nur keine<br />

Sorgen, alter Freund.“<br />

„Vermutlich hast du Recht. Wie immer“ fügte er hinzu und lachte in sich hinein.<br />

„Aber bitte sag‘ mir, steht es wirklich so schlimm um Ruben? Diese Schauergeschichte von <strong>de</strong>m Erdbo<strong>de</strong>n<br />

gleichgemachten Städten ist nicht wenig furchteinflößend...“<br />

„Je mehr ich über diese zerstörerische Gewalt nach<strong>de</strong>nke, <strong>de</strong>sto undurchsichtiger erscheint mir alles. Doch es muß<br />

eine Erklärung für die Angriffe geben, Callus. Ich bin mir sicher. Die hochgewachsenen weißen Wesen sind zwar<br />

fremdartig, aber bestimmt gibt es Aufzeichnungen, in <strong>de</strong>nen von ihnen die Re<strong>de</strong> ist.“<br />

Mandible lächelte erfreut. „Und du <strong>de</strong>nkst, daß dieses Wissen möglicherweise in all <strong>de</strong>n alten Folianten verborgen ist,<br />

die ich in meinem Heim horte.“<br />

„Dein Haus ist <strong>de</strong>r einzige Ort, an <strong>de</strong>m so viele wichtige und uralte Bücher lagern, daß ich tatsächlich Hoffnungen<br />

hege. Aber trotz<strong>de</strong>m beschleicht mich dieses son<strong>de</strong>rbare Gefühl, daß alles Wissen vergebens sein könnte im Angesicht<br />

dieses obskuren, unsichtbaren Gegners...“<br />

Nachtfalke schloß die Augen, und Mandible legte eine Hand auf sein Knie.<br />

„Diese dunklen Tage lassen die Nächte heller erscheinen, als sie sind“ meinte Callus düster und blickte verachtlich<br />

gen Himmel. „Vielleicht sind wir todgeweiht, aber gibt es nicht immer eine Möglichkeit, das Schlechte abzuwen<strong>de</strong>n?"<br />

„Ich bezweifle, daß es noch einen Sinn hat, mein Freund. Aber ich wer<strong>de</strong> es versuchen. Schon allein um Indigo<br />

Willen müssen wir bei<strong>de</strong> diese Nacht damit zubringen, in <strong>de</strong>inen Wälzern zu stöbern und nach <strong>de</strong>n Wesen zu suchen,<br />

die für all die Verwüstungen verantwortlich sind. Erst dann wissen wir genaueres.“<br />

„In diesem Falle sollten wir uns bald an die Arbeit machen, wenn ihr schon im Morgengrauen aufbrechen wollt.“<br />

„Es muß sein, Callus, so gern ich noch geblieben wäre und <strong>de</strong>ine Gastfreundschaft genossen hätte. Doch sollten<br />

unsere Bemühungen scheitern, weiß ich nicht, wie es weitergeht. Wir sind das tote Leben, mein Freund. Talamà und<br />

Indigo wissen nicht, wie schlimm es Ruben wirklich getroffen hat. Ich habe ihnen meine neuesten Erkenntnisse bis<br />

jetzt vorbehalten. Auch wenn die Wahrheit von dicken Nebeln verhüllt wird, glaube ich doch, daß ich die Umrisse <strong>de</strong>s<br />

Übels wenigstens Ansatzweise erkennen kann. Und wenn ich Recht behalte mit meiner Vermutung, dann wer<strong>de</strong>n<br />

selbst alle Legionen gemeinsam, die <strong>de</strong>r König entsen<strong>de</strong>t, machtlos sein. Ich <strong>de</strong>nke, daß wir es mit einem Feind zu tun<br />

haben, <strong>de</strong>ssen Alter unsere Lebensspanne weit übersteigt. Einem Gegner, <strong>de</strong>r so alt und rachsüchtig ist, daß er die<br />

Welt in seinem stinken<strong>de</strong>n Atem versinken lassen könnte.“<br />

„Du sprichst von ihm?“ fragte Mandible, und Angst ließ seine Stimme zittern.<br />

Nachtfalke nickte.<br />

„Aber das ist unmöglich!“ entfuhr es <strong>de</strong>m Priester, doch <strong>de</strong>r Jurakai starrte ihn nur stumm an.<br />

89


„Ah, Dynes. Welch Überraschung“ begrüßte <strong>de</strong>r Lehnsherr von Darburg <strong>de</strong>n Ritter ohne jegliche Begeisterung in<br />

seiner Stimme. „Ich freue mich außeror<strong>de</strong>ntlich, Euch zu sehen.“<br />

„Ganz meinerseits“ sagte Dynes grummelnd und nahm auf einem Hocker Platz. Man hatte ihn ins Arbeitszimmer <strong>de</strong>s<br />

Grafen Djenhalm geführt, doch wenigstens hatte er sich zuvor davon überzeugen dürfen, daß es Paves gut ging.<br />

Jetzt saß er vor <strong>de</strong>m Lehnsherren und wußte nicht recht, wohin die Unterhaltung führen sollte, wegen <strong>de</strong>r er die Stadt<br />

überhaupt betreten hatte. Djenhalm erleichterte ihm die Situation, in<strong>de</strong>m er sich von seinem Stuhl erhob und auf ihn<br />

zu trat.<br />

„Es ist viel geschehen während Eurer Abwesenheit, Dynes.“<br />

„Das ist mir bereits aufgefallen. Warum stehen all die Höfe vor <strong>de</strong>r Stadt leer? Wo sind die Bauern?“<br />

Der Graf schüttelte <strong>de</strong>n Kopf, und echter Mißmut lag auf seinen Zügen. „Sie sind hier, Dynes. Sie sind alle hier.<br />

Mitten in Darburg, in <strong>de</strong>r Stadt. Ich habe versucht, sie so gut wie möglich unterzubringen. Ich habe sogar einige<br />

Familien umquartiert, um Platz zu schaffen.“<br />

<strong>Arathas</strong> mochte <strong>de</strong>n Grafen nicht, aber in ungewolltem Interesse stiegen die Luftblasen <strong>de</strong>r Neugier<strong>de</strong> zur Oberfläche<br />

seines Geistes. „Warum?“ brachte er hervor.<br />

„Habt Ihr noch nichts davon gehört?“<br />

„Sollte ich <strong>de</strong>nn von etwas gehört haben, Djenhalm?“ erkundigte sich <strong>de</strong>r Ritter mißtrauisch.<br />

„Natürlich. Natürlich, ich...“ Der Graf wandte sich ab und begann, unruhig im Zimmer auf und ab zu laufen. Seine<br />

ungleichmäßigen Schritte konnten einen schier in <strong>de</strong>n Wahnsinn treiben. Kummer stand in sein Gesicht geschrieben,<br />

als er fortfuhr: „Die Siedlungen, Dynes. Sie sind alle zerstört wor<strong>de</strong>n.“<br />

„Welche Siedlungen?“<br />

„Hm? Alle; alle...“ Djenhalm setzte sich wie<strong>de</strong>r, klopfte zum Ausgleich mit <strong>de</strong>n Fingernägeln auf seinen Schreibtisch.<br />

„Die ganzen Dörfer und Siedlungen nördlich und südlich von Darburg. Eigentlich fast im gesamten Gebiet von Yark.<br />

Es ist, als wären sie vom Angesicht Rubens gewischt wor<strong>de</strong>n. Einfach so - weg.“<br />

Dynes kniff die Brauen zusammen. „Und wer sollte so etwas tun, Djenhalm? Ich glaube kaum, daß die Bauern bei<br />

einem Aufstand ihre eigenen Dörfer angreifen wür<strong>de</strong>n.“<br />

Djenhalm lachte auf, als er die Worte hörte. „Das waren keine Bauern, Dynes. Nein, bestimmt nicht. Ich habe es mit<br />

eigenen Augen gesehen. Diese Siedlungen wur<strong>de</strong>n mutwillig zerstört. Die Bauern umgebracht. Überall lagen Leichen<br />

herum. Nein, ich bin mir nicht einmal sicher, ob dieses Werk von Menschenhand stammt.“<br />

„Ihr glaubt also, daß die Jurakai o<strong>de</strong>r die Zwerge einen Krieg anfangen wollen?“<br />

„Ich weiß es nicht, Dynes.“ Die Stimme <strong>de</strong>s Grafen war jetzt fast schon ein Schreien. „Ich weiß es nicht!“<br />

„Erzählt mir mehr davon, Djenhalm.“<br />

Der Graf zuckte die Achseln. „Was gibt es sonst noch zu sagen? Eure Lehen sind nicht mehr, je<strong>de</strong>nfalls zum größten<br />

Teil. Sie wur<strong>de</strong>n nie<strong>de</strong>rgebrannt und die Bewohner abgeschlachtet.“<br />

„In meinen Lehen?“<br />

Betrübt sah <strong>Arathas</strong>‘ Gegenüber zu Bo<strong>de</strong>n.<br />

„In <strong>de</strong>r Nachricht, die Ihr <strong>de</strong>m König habt zukommen lassen, hieß es, daß die Bauern aus meinen Lehen zu Euch in<br />

die Stadt gekommen wären.“<br />

„Ja, das ist auch richtig. Anfangs waren es nur ein paar wenige, aber dann wur<strong>de</strong>n es immer mehr. Irgendwann mußte<br />

ich sie aus meiner Stadt vertreiben...“<br />

„Ihr habt was getan?“ wollte <strong>de</strong>r Ritter ungläubig wissen.<br />

„Versteht mich doch, Dynes! Nicht nur die Bewohner von Euren Lehen haben hier Schutz gesucht, auch alle Bauern<br />

aus meinem Gebiet kamen hierher. Diese Stadt besitzt we<strong>de</strong>r genug Platz noch die Nahrungsmittel, um—„<br />

„Ihr habt meine... meine Untergebenen“ Dynes verzog sein Gesicht, als er das Wort benutzte, „wie<strong>de</strong>r<br />

zurückgeschickt? Zu <strong>de</strong>n zerstörten Siedlungen?“<br />

„Mir blieb nichts an<strong>de</strong>res übrig, Dynes.“ Verzweiflung drückte sich in <strong>de</strong>n Worten <strong>de</strong>s Grafen aus, und mit<br />

funkeln<strong>de</strong>n Augen sah er <strong>de</strong>n Ritter an. Der wäßrige Blick heischte nach Vergebung, nicht nach Glauben o<strong>de</strong>r<br />

Diskussion. Der Lehnsherr ließ die Schultern hängen, als er weitersprach.<br />

„Ihr versteht nicht, was hier vor sich geht, Dynes. Es ist wie eine Belagerung. Bloß... bloß ohne Belagerer. Aber ich<br />

glaube, daß diese Angreifer die großen Städte verschonen! Ich glaube, daß wir sicher sind in Darburg!“<br />

<strong>Arathas</strong> gab einen Laut von sich, <strong>de</strong>r vielleicht als ungläubiger Stoßseufzer hätte durchgehen können. „Und wie<br />

kommt Ihr auf diese absur<strong>de</strong> I<strong>de</strong>e?“<br />

„Ich habe Nachrichten nach allen umliegen<strong>de</strong>n Städten gesandt. Thenetos und Mastas... dort geht genau das gleiche<br />

vor wie hier, Dynes. Die Siedlungen und Gehöfte, alle kleinen Dörfer wur<strong>de</strong>n überfallen und vernichtet – aber die<br />

Städte stehen noch! Von Thenetos erhielt ich noch an<strong>de</strong>re Informationen. Düstere, sehr düstere Informationen.“<br />

„Und was besagten sie?“<br />

„Lest selbst.“ Der Graf holte einen Papierfetzen hervor, <strong>de</strong>n er unter ein paar Büchern versteckt hatte. „Diese<br />

Nachricht habe ich vor zwei Wochen erhalten.“<br />

90


Zuerst überflog Dynes die paar Zeilen bloß, dann las er sie aufmerksamer. Nach <strong>de</strong>m dritten Durchlesen hob er die<br />

Brauen und musterte Djenhalms Gesicht. „Glaubt Ihr das, was hier steht?“<br />

„Ich habe allen Grund dazu, Dynes.“<br />

„Verdammt. Verdammt, Djenhalm!“ Der Ritter schnaubte erbost und stampfte mit <strong>de</strong>m Fuß auf. „Wenn das stimmt,<br />

dann haben wir es mit irgendwelchen Orks zu tun! Ich dachte, diese Rasse wür<strong>de</strong> schon lange nicht mehr in Ruben<br />

leben?“<br />

Hilflos zuckte <strong>de</strong>r Graf mit <strong>de</strong>n Achseln. „Was sollen wir nur tun?“<br />

„Ich habe keine Ahnung. Ihr könnt von mir aus hier bleiben und weiter Trübsal blasen, aber ich wer<strong>de</strong> aufbrechen und<br />

nachsehen, wie es um meine Lehen steht. Ich kann nicht glauben, daß alle Höfe zerstört sein sollen.“<br />

„Aber nur hier sind wir sicher!“ protestierte Djenhalm vorsichtig. Dynes blickte ihn an, und Verachtung stieg in ihm<br />

auf. Diese Memme hatte es nicht einmal fertiggebracht, ein paar Bauern, die seine Hilfe benötigten, in einer Stadt<br />

aufzunehmen, die zigtausend Einwohner hatte. Er erwartete nicht, daß sie sich jetzt anbieten wür<strong>de</strong>, ihm Hilfe zu<br />

gewähren. Trotz<strong>de</strong>m, einen Versuch war es wert.<br />

„Wenn es dazu kommt, dann wer<strong>de</strong> ich kämpfen, Djenhalm. Wer<strong>de</strong>t Ihr ein paar Eurer Männer unter meine Obhut<br />

stellen?“<br />

„Wie könnte ich, Dynes? Wenn diese Wesen auch meine Stadt angreifen, brauche ich je<strong>de</strong> kräftige Hand!“<br />

„Aber ihr habt genug starke Männer hier“ sagte Dynes aufgebracht. „In meinen Lehen gibt es nur Höfe und<br />

Siedlungen! Ich habe nicht einen Mann, <strong>de</strong>r mit einer Waffe umzugehen vermag, abgesehen von einer Sense<br />

vielleicht!“<br />

„Es tut mir leid, Dynes. Aber wenn Ihr geht, dann kann ich Euch kein Geleit geben.“<br />

Der Ritter starrte <strong>de</strong>m Grafen noch lang in die Augen, dann wandte er sich ab.<br />

„Was wer<strong>de</strong>t Ihr tun?“ erklang hinter ihm <strong>de</strong>r Ruf Djenhalms, doch <strong>Arathas</strong> vernahm ihn nur noch schwach und<br />

gedämpft, als wäre ein Vorhang über seine Sinne gefallen und wür<strong>de</strong> ihn abschotten von <strong>de</strong>r wachen Welt. Er fühlte<br />

sich schwindlig und benommen, im Rausch <strong>de</strong>s Törichten und Unwirklichen gefangen. Er drehte sich nicht mehr um,<br />

doch er rief zurück, und seine Antwort klang fest, aber Unsicherheit schwelte unter ihrer Oberfläche, wie glühen<strong>de</strong><br />

Kohlen unter einer erkalteten Schicht von Asche.<br />

„Das, was ich bereits angekündigt habe, Djenhalm. Ich wer<strong>de</strong> nach meinen Lehen sehen.“<br />

„Das Zimmer ist nicht schlecht“ sagte Talamà überrascht, blickte sich in <strong>de</strong>m großen Raum um. Auch hier hingen<br />

überall die Gobelins von <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n, zierten die weiße Tapete. Alles hier schien Wärme, Geborgenheit<br />

auszustrahlen, und die Jurakai fühlte sich wohl in diesen Wän<strong>de</strong>n.<br />

„Sieh dir nur unser Bett an“ meinte Indigo und zeigte auf ein Gestell, das größer war als je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>re Bett, das <strong>de</strong>r<br />

Junge je gesehen hatte. „Es ist riesig!“<br />

„Und außer<strong>de</strong>m ein Doppelbett“ schmunzelte Talamà und ließ sich in die weichen Kissen fallen. „Ein netter alter<br />

Kerl, dieser Callus Mandible. Ich mag ihn.“<br />

„Ja, ich mag ihn auch. Er sieht irgendwie... gemütlich aus, mit seinem rundlichen Körper und seinen kurzen Armen<br />

und Beinen. Ich habe nicht viel Erfahrungen mit Manur sammeln können, aber Mandible ist wirklich ein<br />

liebenswerter kleiner Mann.“<br />

„Meine Güte! Sieh dir nur diese Bil<strong>de</strong>r an!“ staunte Talamà mit aufwärts gerichtetem Blick. „Die ganze Decke ist<br />

vollgemalt mit bunten Bil<strong>de</strong>rn, es ist wun<strong>de</strong>rschön. Es muß Jahre gedauert haben, diese ganzen Szenen zu malen, was<br />

<strong>de</strong>nkst du?“<br />

Auch Indigo sah mit offenem Mund nach oben, begutachtete die Malereien, die die verschie<strong>de</strong>nsten Momente aus <strong>de</strong>r<br />

Schöpfungsgeschichte zeigten. Während er so nach oben starrte, umfaßten ihn zwei sanfte Hän<strong>de</strong> am Bauch, zogen<br />

ihn nach hinten auf das riesige Bett. Verschmust drückte Talamà sich gegen seinen Körper, massierte seine<br />

verspannte Muskulatur.<br />

„Seit wir <strong>de</strong>n Mangobu verlassen haben, haben wir keine Möglichkeit mehr gehabt, uns nahe zu sein“ flüsterte sie,<br />

spielte dann zärtlich mit <strong>de</strong>r Zunge an seinem Ohrläppchen. „Ich habe das vermißt.“<br />

Indigo drehte seinen Kopf, so daß sie sich in die Augen sehen konnten. Er beugte sich vor, küßte sie, spürte ihren<br />

festen Leib an seinem. Ein Gefühl <strong>de</strong>r Wärme wallte in ihm empor, kroch durch seinen Magen und ließ sein Gesicht<br />

glühen. Sie küßten sich lei<strong>de</strong>nschaftlich, lang und ausgiebig. Der Junge hob ihren Körper, legte ihn weiter hinauf auf<br />

das Bett. Mit einem breiten Lächeln kroch er zu ihr, schmiegte sein Gesicht an ihrem Bauch. Er konnte unter ihrem<br />

Hemd ihr Herz schlagen hören, konnte fühlen, wie sich mit je<strong>de</strong>m Atemzug ihr Brustkorb hob, dann wie<strong>de</strong>r senkte.<br />

Talamàs Hemd en<strong>de</strong>te ein knappes Stück vor ihrer Hose, und ein wenig Haut von ihr war sichtbar, hellbraun und<br />

glatt. Er blickte sie an, und sie faßte mit ihren Hän<strong>de</strong>n seinen Kopf, fuhr ihm zärtlich durch das Haar.<br />

Indigo ließ erst eine Hand unter ihr Hemd gleiten, dann die zweite. Sein Atem ging schneller, als er über ihre nackte<br />

Haut strich. Er schob sich vor, die Hän<strong>de</strong> noch immer unter ihrer Kleidung, küßte sie. Mit verliebtem Blick sah sie ihn<br />

an, schloß dann ihre Augen vor Wonne. Ihre Zungen umspielten sich in einem heißen, schnellen Tanz, ihre Körper<br />

waren aneinan<strong>de</strong>rgepreßt. Talamà krallte sich fest in Indigos Wams, schob sich nahe an sein Ohr.<br />

91


„Ich lasse dich nie wie<strong>de</strong>r gehen“ wisperte sie, und dann küßten sie sich erneut. Wogen von Wärme durchzuckten die<br />

bei<strong>de</strong>n Leiber, sie rieben sich aneinan<strong>de</strong>r, liebkosten sich. Indigo rutschte ein Stück nach unten, entfernte sich von<br />

Talamàs Mund. Die junge Frau nickte, bäumte leicht ihren Körper auf, um Indigo noch näher zu sein. Er zog seine<br />

Hän<strong>de</strong> aus ihrem Hemd zurück, ließ sie über ihre Beine fahren. Erregt spielte er mit <strong>de</strong>r Zunge in ihrem Bauchnabel,<br />

<strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> noch sichtbar war. Anschließend ließ er seine Hän<strong>de</strong> höher gleiten, öffnete langsam die Knöpfe ihres<br />

Hem<strong>de</strong>s. Gefühlvoll faßte er die Ärmel, zog an ihnen, bis das Kleidungsstück über Talamàs Körper rutschte. Das<br />

Mädchen zitterte, doch sichtlich nicht auf Grund von Kälte. Der Raum war gut geheizt, ein kleines Feuer lo<strong>de</strong>rte im<br />

Kamin in <strong>de</strong>r Ecke. Der flackern<strong>de</strong> Schein <strong>de</strong>r Flammen ließ das Gesicht <strong>de</strong>r Jurakai in einem rötlichen, etwas<br />

abgedunkelten Ton erscheinen, und Indigo war es bei ihrem Anblick, als wür<strong>de</strong> ein Schauer ihn durchfahren. Wie<strong>de</strong>r<br />

lehnte er sich über sie, und wie<strong>de</strong>r küßten sie sich, bis Talamà die Initiative ergriff, <strong>de</strong>n jungen Mann von sich<br />

fortschob. Sie zog sein warmes Wams über seinen Kopf, entblößte seine Brust, legte ihren Kopf daran. Gemeinsam<br />

schmiegten sie sich aneinan<strong>de</strong>r, genossen die Wärme <strong>de</strong>r Haut <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>rn, fühlten <strong>de</strong>n unterschiedlich schnell<br />

schlagen<strong>de</strong>n Puls.<br />

„Ist dir kalt?“ flüsterte Indigo, doch die Jurakai schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Ganz bestimmt nicht“ flüsterte sie zurück,<br />

streichelte mit <strong>de</strong>n Fingerkuppen über seinen Rücken. „Und dir?“<br />

„Angenehm“ murmelte er, spielte mit <strong>de</strong>r Zunge an ihrem Hals. Er be<strong>de</strong>ckte ihren nackten Oberleib mit Küssen, ließ<br />

keine winzigste Stelle aus. Talamà lehnte sich zurück, bettete ihren Kopf zwischen <strong>de</strong>n weichen, großen Kissen und<br />

genoß Indigos Liebkosungen und Streicheleinheiten. Erst, als er sie völlig mit Küssen übersät hatte, wen<strong>de</strong>te sie sich,<br />

legte <strong>de</strong>n Jurakai vor sich. Indigo lag auf <strong>de</strong>m Bauch, fühlte ihre schlanken Hän<strong>de</strong> auf seinem Rücken. Er rollte sich<br />

zur Seite, so daß sie ein Bein über ihn schwingen konnte, und ohne weitere Worte begann sie, ihn fest zu massieren.<br />

Irgendwann machte Indigo durch eine leichte Bewegung verständlich, daß er genug hatte, und rollte sich wie<strong>de</strong>r auf<br />

die an<strong>de</strong>re Seite. Seine Lippen wan<strong>de</strong>rten über ihre Brüste, zwischen ihren Schlüsselbeinen <strong>de</strong>n Hals hinauf,<br />

verharrten auf ihrem Mund.<br />

„So könnte es für die Ewigkeit sein“ nuschelte er, während ihre Mün<strong>de</strong>r sich aneinan<strong>de</strong>rpreßten. Sie lächelte, drückte<br />

ihn an sich. Ein Fenster, das nicht von Vorhängen ver<strong>de</strong>ckt war, ließ das weiße Licht <strong>de</strong>s <strong>Mond</strong>es in das Zimmer<br />

fallen, fahl und trüb. Ein paar Wolken hingen am schwarzen Nachthimmel, und im <strong>Mond</strong>licht konnte man <strong>de</strong>n Rauch<br />

erkennen, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>n Schornsteinen <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Häuser Irnstwells kroch, seine Hitze hinter sich zurückließ. Bis auf<br />

das gelegentliche Knacksen <strong>de</strong>s Feuers war es vollkommen still in <strong>de</strong>m kleinen Raum, eine wohlige, angenehme<br />

Ruhe. Gemeinsam starrten sie hinaus auf die Dächer <strong>de</strong>r Stadt, fühlten sich geborgen in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren.<br />

„Versprich mir, daß du ewig bei mir bleiben wirst“ hauchte Talamà, und mit ihren grünen Augen fing sie Indigos<br />

Blick.<br />

„Versprochen.“ Lächelnd preßte er seine Lippen auf die ihren, drückte sich an sie. Sanft schob er seinen Körper nach<br />

unten, blieb manchmal liegen, um die Haut Talamàs zu schmecken, sein Gesicht auf ihren Leib zu pressen. Ein<br />

Kitzeln durchlief sie, als seine Nase sich in ihren Magen drückte, sie spüren konnte, wie er auf ihr lag. Mit einem<br />

Seufzer legte sie ihre Hän<strong>de</strong> auf seine Schultern, schob ihn weiter nach unten. Als er bei ihrer Hose angelangt war,<br />

verharrte er kurz, dann begann er sanft, sie zu öffnen. Ein Blick in Talamàs Augen <strong>de</strong>utete ihm, unter keinen<br />

Umstän<strong>de</strong>n aufzuhören, diesen einzigartigen Moment nicht verstreichen zu lassen. Glücklich spürte sie, wie Indigo<br />

<strong>de</strong>n Stoff über ihre Beine zog, die Hose anschließend zur Seite warf. Sie mußte irgendwo neben <strong>de</strong>m Bett gelan<strong>de</strong>t<br />

sein, doch Talamà registrierte es nicht. Alles, was wichtig war, die einzige Sache von Be<strong>de</strong>utung, spielte sich hier ab,<br />

auf <strong>de</strong>m Bett. Indigo ließ seine Zunge an ihren Beinen hinabgleiten, und sie lachte kurz, da es kitzelte. Er gelangte bei<br />

<strong>de</strong>n Zehen an, nahm je<strong>de</strong>n einzelnen von ihnen in <strong>de</strong>n Mund, saugte sanft daran. Talamà lachte, beugte sich vor, um<br />

Indigo auf sich zu ziehen. Als sie seinen warmen Leib wie<strong>de</strong>r auf sich spüren konnte, küsste sie ihn, begann damit,<br />

auch seine Hose langsam auszuziehen.<br />

Nach kurzer Zeit lagen sie beinahe nackt aufeinan<strong>de</strong>r, und Talamà konnte fühlen, wie nah ihr Indigo war. Sein heißer<br />

Atem hauchte über ihr Gesicht, und sie schob seinen Kopf zur Seite, um ihren Mund an seinem Hals entlanggleiten zu<br />

lassen. Je weiter sie glitt, <strong>de</strong>sto heftiger, lei<strong>de</strong>nschaftlicher wur<strong>de</strong>n ihre Küsse, und <strong>de</strong>r Körper <strong>de</strong>s Mannes erbebte vor<br />

Erregung. Ein Lächeln flog über Talamàs Züge, als sie sich weiter hinab arbeitete, während <strong>de</strong>r Jurakai in ihren<br />

Haaren ertrank, sich ganz ihrem zarten Spiel hingab.<br />

Vorsichtig zog sie die letzten Kleidungsstücke von ihren Leibern, so daß sie sich endlich vollkommen fühlen konnten.<br />

Indigo stöhnte auf, und sie legte sich neben ihn, preßte sich an seine Brust. Ihre Mün<strong>de</strong>r fan<strong>de</strong>n zueinan<strong>de</strong>r, küßten<br />

sich wie<strong>de</strong>r und wie<strong>de</strong>r. Talamà zitterte, legte sich auf <strong>de</strong>n Rücken, spürte Indigo auf sich ruhen. Er ließ sein Kinn auf<br />

die Stelle zwischen ihrem Hals und ihrer Schulter sinken, legte eine seiner Hän<strong>de</strong> an ihre Wange, umschloß mit <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren die Finger ihrer Rechten.<br />

Er blickte die Jurakai an, mit zärtlichem, versunkenem Blick. „Ja“, hauchte sie. Und dann begannen sie, sich in einem<br />

sanften, langsamen Rhythmus auf <strong>de</strong>m Bett zu bewegen.<br />

Nach einer Zeit, die Talamà vorkam wie das ganze Universum, wie alles, was jemals existiert hatte, existieren wür<strong>de</strong>,<br />

lagen sie erschöpft nebeneinan<strong>de</strong>r, atmeten schwer. Er küßte sie, spürte plötzlich Nässe auf ihrem Gesicht. Erstaunt<br />

blickte er in ihre Augen, sah die winzigen Tränen, die über ihre Wangen rannen.<br />

„Was ist?“ flüsterte er, während er mit seinem Mund ihre Tränen wegküßte.<br />

92


„Nichts“ hauchte sie zurück, schmiegte sich an ihn. „Bleib nur bei mir. Das ist alles.“<br />

Er nickte, drückte sie an seinen Körper, und sein Blick fiel hinaus auf die schlafen<strong>de</strong> Stadt. Er kraulte ihren Rücken,<br />

zog behutsam eine dicke Decke über ihre bei<strong>de</strong>n Körper. Mollige Wärme umfing sie, und <strong>de</strong>r flauschige Stoff saugte<br />

die Schweißperlen auf, die auf ihrer Haut glänzten. Zärtlich fuhr Talamàs Hand über Indigos Arme, streichelte die<br />

weichen Härchen darauf.<br />

Sie waren an einem Punkt angelangt, <strong>de</strong>r so wun<strong>de</strong>rbar war, daß nichts dieses Gefühl von Glück mehr übertreffen<br />

konnte. Das Mädchen blickte in Indigos Augen, versank in diesem einzigartigen, fließen<strong>de</strong>m Blau, während sich ihre<br />

Körper aneinan<strong>de</strong>r schmiegten. Irgendwann sanken sie in einen tiefen, friedlichen Schlummer, und ein zufrie<strong>de</strong>nes<br />

Lächeln umspielte Talamàs schlafen<strong>de</strong> Lippen.<br />

Tief in ihrem Innern, verborgen in <strong>de</strong>n kleinsten Spalten <strong>de</strong>s Herzens, in <strong>de</strong>m tiefen etwas, das man Seele nannte,<br />

ruhten die Gefühle, die man so gern unterdrückte, und die nur in <strong>de</strong>n extremsten Situationen zum Ausbruch<br />

gelangten. Sie flüsterten <strong>de</strong>m Mädchen zu, daß dieses Glück nicht ewig währen wür<strong>de</strong>, und Talamàs Körper<br />

verkrampfte sich, zuckte im Schlaf zusammen.<br />

Dynes ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen. Mit lautem Knallen schlug sie gegen <strong>de</strong>n Türstock, und als das<br />

Schloß eingerastet war, drehte er sich um und hob die Faust. Doch bevor sein Schlag gegen das Holz krachte und ihm<br />

wun<strong>de</strong> Knöchel bescheren wür<strong>de</strong>, ließ eine Stimme ihn verharren. Es war <strong>de</strong>r junge Paves, und schuldbewußt drehte<br />

sich Dynes, musterte <strong>de</strong>n Knaben. Mit fragen<strong>de</strong>m Gesicht beobachtete er ihn, und kopfschüttelnd ließ <strong>de</strong>r Ritter ab<br />

von seinem Vorhaben und begann, die Treppe hinabzusteigen.<br />

„Was ist geschehen?“<br />

<strong>Arathas</strong> überlegte, ob er es <strong>de</strong>m Jungen überhaupt mitteilen sollte, kam dann aber zu <strong>de</strong>m Entschluß, daß er es sogar<br />

mußte. Paves konnte schließlich nicht hierbleiben, und so, wie er ihn einschätzte, wollte er es auch gar nicht. Eben<br />

<strong>de</strong>swegen hatte er ein Recht darauf, zu erfahren, was sie erwarten konnte.<br />

Er kniff die Lippen zusammen und sprach dann, während er weiter hinabstieg. „Hör zu, Paves. Ich habe gera<strong>de</strong><br />

erfahren, daß meine gesamten Lehen in Schutt und Asche liegen sollen. Ein paar <strong>de</strong>r Bauern, die dort lebten, haben<br />

sich anscheinend hierher geflüchtet, wur<strong>de</strong>n aber wie<strong>de</strong>r vertrieben. Diejenigen, die für die Vernichtungen<br />

verantwortlich sind, scheinen nicht menschlicher Natur zu sein. Und es sind auch keine Zwerge o<strong>de</strong>r Jurakai.“ Er<br />

wandte sich <strong>de</strong>m Knaben zu. „Es sind wahrscheinlich Orks o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Monster, und sie zerstören mutwillig und<br />

ohne Reue.“<br />

„Wenn Ihr aufbrechen wollt, um nach Euren Lehen zu schauen, dann komme ich mit Euch“ sagte <strong>de</strong>r Junge und stahl<br />

damit Dynes‘ Frage. Er nickte überrascht.<br />

„Es könnte gefährlich wer<strong>de</strong>n. Nein, es wird gefährlich. Bist du dir sicher, daß du mich begleiten willst?“<br />

Ein zaghaftes Lächeln spielte auf Paves‘ Lippen, als er bejahte.<br />

„Gut. Wir sollten so bald als möglich aufbrechen.“<br />

Die bei<strong>de</strong>n Gestalten eilten die lange Treppe hinunter, bis sie am Fuße ankamen und an <strong>de</strong>n erstaunten Gesichtern <strong>de</strong>r<br />

vereinzelten Wächter vorbeihasteten. Dynes hatte keine Ahnung, wo ihre Pfer<strong>de</strong> untergebracht wor<strong>de</strong>n waren, doch<br />

Paves wußte es und führte ihn hinaus in die kalte Nacht.<br />

Im Kamin zuckten die Flammen, warfen sich von einer Seite auf die an<strong>de</strong>re. Stille herrschte im Zimmer, und die<br />

Wärme zeugte von Geborgenheit und Schutz. Das Licht <strong>de</strong>s untergehen<strong>de</strong>n <strong>Mond</strong>es fiel durch das Fenster, hüllte <strong>de</strong>n<br />

Raum in ein gespenstisches, schweigen<strong>de</strong>s Weiß...<br />

Indigos Augen schlugen auf. Er orientierte sich, spürte Talamàs Arm, <strong>de</strong>r über seiner Brust lag. Der schlafen<strong>de</strong> Leib<br />

<strong>de</strong>s Mädchens lag an seinem Körper, er fühlte die Hitze, die von ihr ausging. Alles schien ruhig, alles schien seinen<br />

normalen Weg zu gehen. Doch nein, etwas war abgrundtief falsch, störte die wun<strong>de</strong>rvolle Ausgewogenheit! Er sah<br />

sich in <strong>de</strong>m Zimmer um, konnte jedoch nichts erkennen, was einen Anlaß zur Sorge bieten wür<strong>de</strong>. Aber dieses<br />

Gefühl... es war real, ebenso real wie <strong>de</strong>r heiße Leib Talamàs an seiner Seite, so real wie die Flammen im Kamin. Er<br />

stieß die Jurakai sanft an, weckte sie zärtlich, aber drängend, auf. Die junge Frau öffnete ihre Augen, sah Indigo ins<br />

Gesicht. Sie wollte ihn küssen, doch er zuckte zurück.<br />

Sie wollte etwas hervorbringen, doch <strong>de</strong>r Jurakai gebot ihr mit einer knappen Geste, still zu sein.<br />

„Irgen<strong>de</strong>twas geschieht“ antwortete er leise, sah mißtrauisch nach allen Seiten. „Ich spüre etwas... etwas, das nicht an<br />

diesen Ort gehört.“ Er stieg aus <strong>de</strong>m Bett, zog rasch seine Kleidung an. Auch Talamà schlüpfte in Hose und Hemd,<br />

betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn.<br />

„Bitte vertrau mir einfach“ sagte Indigo, und Talamà nickte. Natürlich vertraute sie ihm.<br />

Der junge Mann trat an die Tür <strong>de</strong>s Zimmers, legte vorsichtig die Hand um <strong>de</strong>n Knauf. Mit einer leichten Bewegung<br />

drückte er die Klinke, und die Tür glitt lautlos auf. Der Gang dahinter lag erhellt von Kerzenschein vor ihm, und die<br />

bei<strong>de</strong>n Jurakai wagten sich hinaus.<br />

„Laß uns sehen, ob Vater Callus und Nachtfalke noch wach sind.“ Auf leisen Sohlen stahlen sie sich durch <strong>de</strong>n Flur,<br />

zwei Schatten auf <strong>de</strong>r Suche nach <strong>de</strong>m Licht. Noch während sie durch <strong>de</strong>n Korridor liefen, geschah etwas mit <strong>de</strong>m<br />

93


Bo<strong>de</strong>n. Ein Grollen durchlief <strong>de</strong>n Stein unter <strong>de</strong>n Füßen <strong>de</strong>r Jurakai, und ein entferntes Knirschen war zu hören. Das<br />

Beben verebbte schnell wie<strong>de</strong>r, doch Indigo und Talamà sahen sich entsetzt an.<br />

„Was war das?“ fragte die Jurakai, und Angst stand in ihren Augen.<br />

„Ich weiß es nicht... aber wir wer<strong>de</strong>n es herausfin<strong>de</strong>n!“<br />

Als sie in das Wohnzimmer traten, fan<strong>de</strong>n sie Nachtfalke und Mandible vor, in dicke Wälzer versunken, die vor ihnen<br />

auf <strong>de</strong>m Tisch lagen. Halbvolle Weinkelche stan<strong>de</strong>n neben ihren Ellbogen, und wären ihre Augen nicht geöffnet<br />

gewesen, hätte man <strong>de</strong>nken können, sie wür<strong>de</strong>n schlafen. Mit erstauntem Blick musterte Nachtfalke seine Gefährten,<br />

und eine Frage stand bereits auf seinen Lippen.<br />

„Habt ihr es bemerkt?“ wollte Indigo wissen, schritt aufgeregt durch <strong>de</strong>n Raum.<br />

„Was sollen wir bemerkt haben?“ erkundigte sich Nachtfalke und blickte zu Talamà.<br />

„Das Beben, das gera<strong>de</strong> eben durch <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n lief...“ Indigo zögerte, <strong>de</strong>nn eine Welle <strong>de</strong>r Furcht überflutete ihn. Ein<br />

neuerliches Beben, stärker diesmal, ließ <strong>de</strong>n Stein erzittern und die Gläser in <strong>de</strong>n Regalen wackeln. „Da war es schon<br />

wie<strong>de</strong>r!“ stieß er hervor, und Nachtfalke und Vater Callus waren sofort auf <strong>de</strong>n Beinen.<br />

„Verdammt! Wir hätten nicht so leichtfertig sein dürfen...“ rief <strong>de</strong>r alte Jurakai, wandte sich zum Flur, <strong>de</strong>r in die<br />

Kirche führte. „Callus, bitte bleib hier. Wir wer<strong>de</strong>n nachsehen, was dieses Beben zu be<strong>de</strong>uten hat.“<br />

„Ha! Ich wer<strong>de</strong> bestimmt nicht tatenlos hier herumsitzen, während ihr nach draußen rennt, möglicherweise direkt in<br />

euer Ver<strong>de</strong>rben!“ Mit grimmiger Miene stemmte <strong>de</strong>r rundliche Priester die Hän<strong>de</strong> in die Hüften, funkelte Nachtfalke<br />

an. „Außer<strong>de</strong>m kenne ich mich besser in diesem Dom aus als sonst jemand! Wäre doch gelacht, wenn wir die Ursache<br />

nicht fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n.“<br />

„Verdammt, Callus. Aber gut, wenn es <strong>de</strong>in Wille ist. Uns bleibt keine Zeit zum diskutieren. Folge uns, aber nur,<br />

solange wir im Dom sind. Sollten wir nach draußen gehen, dann bleibst du hier drin, hast du verstan<strong>de</strong>n? Es ist zu<br />

gefährlich, mitten in <strong>de</strong>r Nacht durch Irnstwell zu laufen.“<br />

„Natürlich“ stimmte Mandible zu, schwor sich jedoch innerlich, nichts von alle<strong>de</strong>m zu tun. Sollte es dazu kommen,<br />

daß sie in die Nacht hinaus müßten, dann wür<strong>de</strong> er seinem Freund beistehen, und wenn er noch so tobte!<br />

„Dann kommt!“ rief Nachtfalke, und die vier Gestalten zwängten sich durch die schmale Tür, liefen durch <strong>de</strong>n Flur<br />

ins Innere <strong>de</strong>s Doms. Bei fast je<strong>de</strong>m Schritt erbebte nun die Er<strong>de</strong>, und manchmal war das Zittern so stark, daß die<br />

Rennen<strong>de</strong>n innehalten mußten, um sich an <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Ganges zu stützen. Nachtfalke stieß die Tür auf, die in<br />

das Gewölbe <strong>de</strong>s Domes führte, sprintete in <strong>de</strong>n großen Saal. Talamà wußte längst, was vor sich ging.<br />

Die Obachlosen, die in <strong>de</strong>r Kirche ihren einzigen Zufluchtsort sahen, kauerten sich verängstigt in <strong>de</strong>n Ecken <strong>de</strong>r Halle<br />

zusammen, viele lagen vor <strong>de</strong>m steinernen Abbild Himmelfeuers, beteten eine klagen<strong>de</strong>, furchtsame Litanei. Die<br />

bunten Glasfenster, verziert mit verschnörkelten, bunten Bil<strong>de</strong>rn, sprangen eines nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren, und ein wahrer<br />

Scherbenregen ging auf die Anwesen<strong>de</strong>n herunter, ließ die verlumpten Bettler aufkreischen.<br />

„Bei Himmelfeuer!“ rief Vater Callus aus, und verzerrtes Entsetzen spiegelte sich in seinen Zügen wi<strong>de</strong>r. „Was<br />

geschieht hier?“<br />

Talamà, <strong>de</strong>ren Sinne wie geschärft waren, drängte ihre Gefährten, weiter zu laufen. „Wir müssen nach draußen“ wies<br />

sie die an<strong>de</strong>ren an, wandte sich zur Treppe. „Vielleicht fällt uns das ganze Gemäuer auf <strong>de</strong>n Kopf, wenn wir noch<br />

länger warten!“<br />

„Sie hat Recht!“ schrie Indigo, um <strong>de</strong>n Lärm <strong>de</strong>r zerbersten<strong>de</strong>n Scheiben zu übertönen. Verwirrt rannten sie weiter,<br />

mußten immer wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Körpern von umherirren<strong>de</strong>n, im Zickzack laufen<strong>de</strong>n Bettlern ausweichen. Bischof<br />

Mandible murmelte ein angsterfülltes Gebet, bat um Gna<strong>de</strong> für die Menschenleben, die hier in Gefahr schwebten.<br />

Weitere Fenster, die am obersten Kreuzgang <strong>de</strong>s Kirchenschiffes Licht in <strong>de</strong>n Dom einlassen sollten, zersprangen, und<br />

die dicken, schweren Splitter <strong>de</strong>r Scheiben krachten rings um die Flüchten<strong>de</strong>n zu Bo<strong>de</strong>n. Einer <strong>de</strong>r Splitter traf <strong>de</strong>n<br />

Priester am Arm, und mit einem Aufschrei <strong>de</strong>s Schmerzes blieb Mandible stehen, hielt sich die Wun<strong>de</strong>. Der Splitter<br />

ragte aus seiner Schulter, hatte sich tief in sein Fleisch gebohrt. Nachtfalke wandte sich um, sah mit Erschrecken, was<br />

seinem Freund geschehen war. Auch Indigo und Talamà verharrten, auf halbem Wege zwischen Ausgang und <strong>de</strong>n<br />

bei<strong>de</strong>n Alten. Indigo hielt eine abschirmen<strong>de</strong> Hand vor die Stirn, blickte nach oben, und mit übelkeiterregen<strong>de</strong>r<br />

Gewißheit sah er die unausweichliche, nahe Zukunft, die langsam auf sie zurollte wie eine Lawine, die man aus <strong>de</strong>r<br />

Ferne beobachtet: Der große Kronleuchter, <strong>de</strong>r zwischen <strong>de</strong>n Balken <strong>de</strong>s Doms baumelte, hatte sich gelöst, und mit<br />

rauschen<strong>de</strong>r Geschwindigkeit fiel er <strong>de</strong>m Steinbo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Kirche entgegen. Der Jurakai hatte keine Zeit mehr, eine<br />

Warnung zu rufen, geschweige <strong>de</strong>nn, <strong>de</strong>m alten Priester auf an<strong>de</strong>re Weise zu helfen. Noch in <strong>de</strong>r Sekun<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>r er<br />

<strong>de</strong>n fallen<strong>de</strong>n Leuchter bemerkte, krachte das massige Metallgestänge wuchtig auf die Bänke, dann auf <strong>de</strong>n<br />

marmornen Fußbo<strong>de</strong>n. Er zerschmetterte die schreien<strong>de</strong> Gestalt Mandibles, und nur um Haaresbreite verfehlte er <strong>de</strong>n<br />

rennen<strong>de</strong>n Nachtfalke. Der Jurakai prallte gegen das splittern<strong>de</strong> Metall, das plötzlich sein gesamtes Blickfeld<br />

ausfüllte. Er taumelte zurück, schüttelte <strong>de</strong>n Kopf und griff sich verwirrt in die Haare. Mit stumpfem Blick sah er zu<br />

Indigo, <strong>de</strong>r auf ihn zulief, fast bei ihm war. Sein junger Gefährte faßte ihn am Arm, und auch Talamà nahm ihn bei<br />

<strong>de</strong>r Hand. Gemeinsam rannten sie durch die Halle, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Lärm nun zu einem solchen Ausmaß anschwoll, daß<br />

<strong>de</strong>m alten Jurakai ganz schwindlig wur<strong>de</strong>. Unter <strong>de</strong>m Bogen <strong>de</strong>r großen Tore verharrten sie, und Nachtfalke atmete<br />

schwer, schüttelte immer wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Kopf.<br />

94


„Callus“ brachte er hervor, drehte sich in die Richtung, in <strong>de</strong>r er seinen Freund das letzte Mal zu Gesicht bekommen<br />

hatte. Der zerborstene Kronleuchter lag wie ein gefallener Engel auf <strong>de</strong>n Bänken, hatte mehrere Metallstangen tief in<br />

<strong>de</strong>n Marmorbo<strong>de</strong>n gebohrt und <strong>de</strong>n Stein gesprengt.<br />

„Er ist tot“ schrie Indigo, und seine Stimme klang hysterischer, als er beabsichtigt hatte. „Und es hätte nur wenig<br />

gefehlt, daß <strong>de</strong>r Leuchter auch dich erwischt hätte.“<br />

„Einfach zerquetscht“ murmelte Nachtfalke, so leise, daß ihn niemand verstehen konnte. „Einfach zerquetscht,<br />

einfach... Callus...“<br />

Indigo rüttelte seinen Freund an <strong>de</strong>n Schultern, bis Nachtfalke ihn mit wachem Blick in die Augen sah. „Geht es dir<br />

gut, Falke? Ist dir etwas passiert?“<br />

„Nein, nicht körperlich. Danke“ fügte er hinzu, während Talamà damit beschäftigt war, die Tore aufzustoßen. Die<br />

schweren Eisenriegel hatte sie bereits zur Seite geschoben, und mit lautem Knarren schwangen die riesigen Flügel zur<br />

Seite, gaben <strong>de</strong>n Blick nach draußen frei.<br />

Den drei Jurakai bot sich ein Anblick <strong>de</strong>s Grauens, und Talamà zuckte vor Entsetzen zusammen. Die Stadt, wie sie sie<br />

noch am vorigen Abend gesehen hatten, existierte nicht mehr. Häuser waren in sich zusammengebrochen, Flammen<br />

schlugen aus Fenstern, lo<strong>de</strong>rten in <strong>de</strong>n Straßen. Schwarze Gestalten sprangen durch die Nacht, folgten <strong>de</strong>n<br />

flüchten<strong>de</strong>n Einwohnern, metzelten sie nie<strong>de</strong>r. Mor<strong>de</strong>nd zogen sie von Haus zu Haus, töteten die Bewohner, setzten<br />

ihnen nach, wenn sie die Flucht wagen sollten. Die Nacht war erhellt von <strong>de</strong>n Flammen, die überall hervorlo<strong>de</strong>rten,<br />

glühte in einem feindlichen, aggressiven Rot.<br />

Die Schwarzorks waren wie eine Pest, fielen über die Stadt her wie Ma<strong>de</strong>n über ein Stück verfaultes Fleisch. Doch sie<br />

schienen nicht <strong>de</strong>r Grund für das Erbeben <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> gewesen zu sein. Das Zittern <strong>de</strong>s Untergrunds wur<strong>de</strong> durch völlig<br />

an<strong>de</strong>re, gewaltigere Gestalten verursacht.<br />

Brechend schoben sich monströse Köpfe aus <strong>de</strong>m Erdreich, pfer<strong>de</strong>ähnlich, doch um ein hun<strong>de</strong>rtfaches größer.<br />

Nach<strong>de</strong>m sich die massigen Häupter aus <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> gebohrt hatten, Schlamm und Steine nach allen Seiten spritzten,<br />

schlangen die Wesen ihre Leiber aus <strong>de</strong>n entstan<strong>de</strong>nen Löchern. Wenige Sekun<strong>de</strong>n später strömten Scharen von Orks<br />

aus <strong>de</strong>n dunklen Höhlen, suchten sich ihren Weg in die Stadt. Die wurmähnlichen, riesenhaften Geschöpfe in<strong>de</strong>s<br />

krochen über <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, zerfetzten mit ihren langen Klauen die Wän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Steinhäuser, schlachteten wahllos die<br />

rennen<strong>de</strong>n Gestalten, ganz gleich, ob Freund o<strong>de</strong>r Feind.<br />

„Drachen!“ entfuhr es Nachtfalke. „Das sind ganz ein<strong>de</strong>utig Drachen! Aber ich habe noch nie von welchen gehört, die<br />

sich unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> bewegen, außer...“<br />

„Wir müssen irgendwie aus <strong>de</strong>r Stadt heraus!“ schrie Talamà und faßte ihre Gefährten am Arm. „Wenn wir nicht<br />

versuchen, zu fliehen, dann sterben wir auf je<strong>de</strong>n Fall!“<br />

Die drei stiegen die Stufen <strong>de</strong>r großen Treppe hinab, die vor <strong>de</strong>m Dom lag. Indigo und Nachtfalke zogen ihre<br />

Schwerter, und <strong>de</strong>r Junge spürte, wie Grimm in seinen Hän<strong>de</strong>n zu summen begann. Ein Sington schien aus <strong>de</strong>r Klinge<br />

zu entweichen, hoch und freudig, gewaltsam. Er packte das Heft fester, fühlte, wie das Schwert vibrierte, sich vor<br />

Verlangen verschlang. Mit einigen großen Sprüngen setzte <strong>de</strong>r Jurakai die Treppe hinunter, an <strong>de</strong>ren Fuße bereits<br />

Schwarzorks warteten. Mit entschlossenem Blick stellte Indigo sich ihnen, schwang seine Waffe noch im Laufen. Als<br />

Grimm durch <strong>de</strong>n ersten Leib fuhr, das Fleisch entzweischnitt, war es <strong>de</strong>m Jungen, als wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Sington <strong>de</strong>s<br />

Schwertes anschwellen, zu einem lauten Dröhnen wer<strong>de</strong>n. Indigo selbst beherrschte sein Han<strong>de</strong>ln nicht mehr, Grimm<br />

hatte jetzt die Kontrolle über seinen Körper. Mit je<strong>de</strong>m weiteren Schwung, je<strong>de</strong>m krachen<strong>de</strong>n Zusammenschlagen von<br />

Klingen, vernahm <strong>de</strong>r Jurakai einen Aufschrei, ein brüllen<strong>de</strong>s Dröhnen in seinen Ohren. Die Waffe schrie, stieß<br />

zornige Laute aus, während sie ihren Weg durch die Leiber schnitt. Nach nur wenigen Sekun<strong>de</strong>n war das Gemetzel<br />

vorüber, die Orks lagen verstreut auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n. Grimms Gesang wur<strong>de</strong> leiser, zu einem schwachen Singen, das nur<br />

noch am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Hörfähigkeit erklang. Als Indigo sich umblickte, sah er Talamà und Nachtfalke, die gera<strong>de</strong> hinter<br />

ihm die Treppe hinabhasteten.<br />

„Bist du verletzt, Junge?“ fragte <strong>de</strong>r Alte, und eine Mischung aus Angst und Zorn mischte sich in seine Stimme.<br />

„Wieso hast du dich allein in <strong>de</strong>n Kampf geworfen?“<br />

„Es geht mir gut“ antwortete Indigo, während er sein Schwert mit einiger Verwirrung betrachtete. „Aber ich war es<br />

nicht, <strong>de</strong>r die Orks getötet hat! Grimm hat mich geführt... dieser Angriff ging von <strong>de</strong>r Klinge aus, glaube ich.“<br />

„Dann versuch, <strong>de</strong>ine Gefühle zu kontrollieren“ riet ihm Nachtfalke.<br />

„Dort vorn!“ rief Talamà, <strong>de</strong>utete auf eine Stelle, die nur wenige Fuß entfernt war. Schwarzorks zerrten mehrere<br />

Menschen in eines <strong>de</strong>r Löcher hinab. Wenn sich die betreffen<strong>de</strong>n Personen wehrten, wur<strong>de</strong>n sie entwe<strong>de</strong>r bewußtlos<br />

geschlagen o<strong>de</strong>r gleich getötet. „Sie machen Gefangene!“<br />

„Das ist jetzt nicht von Belang“ rief Nachtfalke und lief über die aufgeworfene Er<strong>de</strong>. „Wir müssen weiter!“<br />

Flammen schlugen von überall her aus <strong>de</strong>n Häusern, sofern diese nicht zusammengebrochen waren. Rings um die<br />

Jurakai schoben sich weitere Drachen aus <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, warfen sich über die kreischen<strong>de</strong>n Gestalten, die überall lagen<br />

und rannten. Die kleine Gruppe hielt sich auf <strong>de</strong>r größten Straße, wich <strong>de</strong>n massigen Leibern <strong>de</strong>r Lindwürmer aus, die<br />

nach ihnen schlugen, sie zu fressen versuchten. Milchigweiße Augen, so groß wie Fenster, blickten sie an. Der<br />

grauenvolle Ausdruck in ihnen ließ Indigos Glie<strong>de</strong>r schwach wer<strong>de</strong>n, er hetzte seinem Freund und Talamà nach. Der<br />

95


alte Jurakai ging voran, <strong>de</strong>nn als einziger kannte er sich noch aus in diesem Schlachtgetümmel, das die Straßen<br />

erfüllte.<br />

Sie waren noch nicht weit gekommen, als eine Gruppe Schwarzorks ihnen <strong>de</strong>n Weg versperrte. Es waren nicht<br />

weniger als zwanzig, und mit gefletschten Zähnen näherten sie sich. Grunzlaute erklangen, die Orks verständigten<br />

sich in ihrer Sprache. Wahrscheinlich berieten sie sich, wer von ihnen die vermeintlichen Opfer töten durfte, dachte<br />

Indigo, fühlte das beruhigen<strong>de</strong> Gewicht Grimms in seiner Hand. Der ständige Gesang <strong>de</strong>r Waffe erklang nun lauter,<br />

und in <strong>de</strong>n Armen <strong>de</strong>n Jungen zuckte es erwartungsvoll.<br />

Nachtfalke und Talamà waren stehen geblieben, murmelten leise Verse einer frühen Sprache. Die Worte bil<strong>de</strong>ten sich<br />

langsam, schwebten fast greifbar vor ihnen. Indigo spürte die Macht, die ihnen innewohnte, ihre zerstörerische Kraft.<br />

Er stellte sich in Abwehrhaltung vor seine Freun<strong>de</strong>, hob Grimm zum Schutz vor die Brust. Fünf <strong>de</strong>r Orks lösten sich<br />

aus <strong>de</strong>r Gruppe, kamen auf Nachtfalke und seine Gefährten zu. Doch plötzlich, ohne Vorwarnung, wankte einer von<br />

ihnen, kippte zur Seite und blieb reglos auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n liegen.<br />

Die Schnei<strong>de</strong> einer Axt ragte aus seinem Schä<strong>de</strong>l hervor, hatte seinen Kopf beinahe gespalten. Ein lautstarkes Gebrüll<br />

ließ Indigo herumfahren. Er hielt Ausschau nach <strong>de</strong>m Ursprung <strong>de</strong>s Geräusches.<br />

Mehrere Männer und Frauen hatten sich zusammengerottet, geboten <strong>de</strong>n mor<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Massen <strong>de</strong>r Orks Einhalt, wenn<br />

auch nur für kurze Zeit. Eine weitere fliegen<strong>de</strong> Axt bohrte sich in <strong>de</strong>n Leib eines Gegners, und die brüllen<strong>de</strong><br />

Menschenmenge fiel mit improvisierten Waffen über ihre Peiniger her. Sie überrannten die Angreifer, hackten die<br />

Wesen in sekun<strong>de</strong>nschnelle nie<strong>de</strong>r. Nach<strong>de</strong>m die Rotte von Orks vernichtet wor<strong>de</strong>n war, wandten sich die Manur in<br />

die gleiche Richtung, in die auch die Jurakai entfliehen wollten, und hetzten über die verunstaltete Straße. Alles, was<br />

sich ihnen in <strong>de</strong>n Weg zu stellen wagte, wur<strong>de</strong> sofort nie<strong>de</strong>rgeschlagen. Nachtfalke stieß einen überraschten Ausruf<br />

aus, folgte dann, zusammen mit Indigo und Talamà, <strong>de</strong>n rennen<strong>de</strong>n Menschen.<br />

Sie waren nicht sehr weit gekommen, da ging ein mächtiges Zittern durch <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, die Er<strong>de</strong> bebte noch stärker als<br />

zuvor. Die Menge blieb stehen, orientierungslos und verängstigt. Einzelne Individuen drängten zum Weitermarsch,<br />

doch <strong>de</strong>r Großteil <strong>de</strong>r Menschen verweilte mit besorgten Mienen. Dann splitterte <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n vor <strong>de</strong>r Gruppe, ein<br />

Drachenkopf durchbrach das Erdreich, <strong>de</strong>r alle bisherigen Lindwürmer um ein vielfaches an Größe übertraf. Er starrte<br />

voll Verachtung auf die Gruppe, die kollektiv zu Schreien begonnen hatte, zischte laut und einschüchternd. Dann ließ<br />

er seinen dicken Körper mit Wucht auf die Manur nie<strong>de</strong>rkrachen, zermalmte ihre zerbrechlichen Leiber.<br />

Die Jurakai hatten sich inzwischen einen Weg gesucht, <strong>de</strong>r das Untier umging, und so schnell sie ihre Füße trugen,<br />

rannten sie die Straße hinab. Das Haus, das neben ihnen stand, erzitterte beträchtlich, und nur kurze Zeit später brach<br />

es mit Getöse zusammen, ließ Staubwolken in <strong>de</strong>n nächtlichen Himmel aufsteigen. In <strong>de</strong>n Trümmern wand sich ein<br />

Drache, robbte auf die Jurakai zu, schnappte nach ihnen.<br />

„Vorsicht, Falke!“ schrie Indigo, als <strong>de</strong>r Wurm die kurze Klaue ausstreckte, um nach <strong>de</strong>m Alten zu greifen.<br />

Nachtfalke rollte unter <strong>de</strong>n scharfen Krallen hinweg, kam hinter <strong>de</strong>r Tatze wie<strong>de</strong>r zum Vorschein. Gemeinsam<br />

rannten sie weiter, ließen <strong>de</strong>n Drachen hinter sich zurück. Als Indigo glaubte, daß sie die Stadttore nun ohne weitere<br />

Verzögerungen erreichen könnten, quollen direkt vor ihnen mehrere Schwarzorks aus <strong>de</strong>m Eingang eines Hauses,<br />

stellten sich ihnen in <strong>de</strong>n Weg. Einer von ihnen schwang ein riesiges Schwert, und nur die schnelle Reaktion von<br />

Grimm rettete <strong>de</strong>m Jungen das Leben. Die Klingen prallten aufeinan<strong>de</strong>r, und die Wucht <strong>de</strong>s Schlages ließ Indigo<br />

zurücktaumeln. Schon war <strong>de</strong>r Ork wie<strong>de</strong>r heran, dicht gefolgt von einem zweiten. Grimm fing <strong>de</strong>n nächsten Beinahe-<br />

Treffer ab, und auch <strong>de</strong>n übernächsten. Dann durchbohrte Nachtfalkes Schwert die Brust <strong>de</strong>s ersten Orks, wur<strong>de</strong><br />

herausgezogen, enthauptete <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren. Indigo schaffte es, auf die Beine zu kommen und wandte sich <strong>de</strong>n restlichen<br />

Angreifern zu, um seinem Freund zu helfen. Während er auf die Geschöpfe einschlug, sang Grimm wie<strong>de</strong>r sein<br />

erregtes Lied <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s, feuerte die Sinne <strong>de</strong>s Jurakai zum Kampf an. Gegner um Gegner sank zu Bo<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>r<br />

Macht <strong>de</strong>s Schwertes getötet.<br />

Keuchend verharrten die drei Jurakai, nach<strong>de</strong>m die Körper <strong>de</strong>r Angreifer allesamt die blutige Er<strong>de</strong> be<strong>de</strong>ckten.<br />

„Schnell jetzt“ for<strong>de</strong>rte Nachtfalke sie auf. „Dort vorn sind die Tore! Wir sind fast da!“<br />

„Eure Sachen habe ich bei Sturmauge abgelegt, Herr“ begann Paves zu erzählen, als sie durch die Nacht eilten. „Euer<br />

Schwert und alles an<strong>de</strong>re, was sie Euch abnahmen.“<br />

„Guter Junge.“<br />

„Und was habt Ihr vor, wenn wir Eure Lehen erreichen?“<br />

Dynes zögerte. So weit voraus hatte er gar nicht gedacht. Nun, wahrscheinlich konnten sie sowieso nicht viel tun,<br />

warum also nicht einfach alles auf sich zukommen lassen?<br />

„Für <strong>de</strong>in Alter <strong>de</strong>nkst du ganz schön viel, Kleiner“ meinte er und blickte seinem Knappen ins Gesicht. „Ich glaube,<br />

das wichtigste ist jetzt, daß wir überhaupt aufbrechen. Die meisten Farmer und Bauern haben ein einfaches Gemüt,<br />

und wenn sie sehen, daß Ihr Lehnsherr zu ihnen zurückgekehrt ist, wird ihnen das ein wenig Mut geben. Ich hoffe,<br />

daß sie noch am Leben sind, Paves.“<br />

Zufrie<strong>de</strong>n schnallte <strong>de</strong>r Ritter sich sein Schwert wie<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n Gürtel und wühlte in <strong>de</strong>n Satteltaschen Sturmauges.<br />

Die Suche för<strong>de</strong>rte einen Dolch zu Tage, <strong>de</strong>n er <strong>de</strong>m Burschen reichte.<br />

„Herr?“<br />

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„Nimm ihn, Paves. Falls wir uns irgendwann verteidigen müssen, ist eine Waffe bestimmt nicht die schlechteste I<strong>de</strong>e.“<br />

Mit leuchten<strong>de</strong>n Augen nahm <strong>de</strong>r Knabe <strong>de</strong>n Dolch entgegen und ließ ihn zwischen seinen Fingern kreisen. Er holte<br />

ihn aus seiner kleinen Schei<strong>de</strong> hervor und ritzte versuchsweise seine Haut. Ein blutiger Striemen zog sich sogleich<br />

über die entsprechen<strong>de</strong> Stelle seines Armes. Lächelnd hielt er sich die Wun<strong>de</strong> und ließ <strong>de</strong>n Dolch in seine<br />

Ummantelung zurückgleiten.<br />

„Danke.“<br />

„Bedank dich lieber bei mir, in<strong>de</strong>m du ihn sinnvoll einsetzt.“<br />

Ungeduldig nahm <strong>de</strong>r Ritter die Zügel seines Gauls in die Hand und führte ihn aus <strong>de</strong>n Ställen, hinaus auf die<br />

breiteste Straße Darburgs. Im Schein <strong>de</strong>s abnehmen<strong>de</strong>n <strong>Mond</strong>es lag die Stadt ruhig da, keine Menschenseele war zu<br />

sehen. Nur die gelegentliche Wache, die ihre Run<strong>de</strong>n machte und das Öl von verlöschen<strong>de</strong>n Laternen wie<strong>de</strong>r<br />

nachfüllte, erzeugte schlurfen<strong>de</strong> Geräusche im zerwühlten Staub, <strong>de</strong>r die Er<strong>de</strong> be<strong>de</strong>ckte. Ansonsten herrschte<br />

Totenstille. Bis zum Morgengrauen dauerte es noch ein wenig, und vor <strong>de</strong>r Dämmerung wür<strong>de</strong>n sie bei<strong>de</strong> wohl nicht<br />

zu <strong>de</strong>n Toren hinausgelassen wer<strong>de</strong>n.<br />

Mit einem Mal erweichten die harten, verhärmten Züge Dynes‘, und er lächelte Paves an. „Hast du schon einmal<br />

Karten in <strong>de</strong>r Hand gehabt, Junge?“<br />

„Spielkarten?“ fragte Paves erstaunt. „Natürlich, Herr.“<br />

„Gut. Ich habe nämlich gera<strong>de</strong> eine I<strong>de</strong>e gehabt, wie wir uns die Zeit bis Sonnenaufgang vertreiben können. Komm<br />

mit.“ Sie führten Sturmauge und <strong>de</strong>n weißen Schimmel zurück in die Stallungen und betraten das Wachhaus, aus <strong>de</strong>m<br />

sie vorhin gekommen waren, erneut.<br />

„Ich habe noch nie eine Stadt gesehen, in <strong>de</strong>r die Wächter Nachts nicht spielen wür<strong>de</strong>n, Kleiner.“<br />

Nachtfalke und seine Gefährten waren fast am Ausgang angelangt, die Überreste <strong>de</strong>s zerschmetterten Tores lagen vor<br />

ihnen. Große Gesteinsbrocken und Holzbohlen versperrten <strong>de</strong>n Weg, und sie mußten im Zickzack um die Trümmer<br />

rennen. Ein Heulen ertönte, und die Jurakai blickten nach oben. Von <strong>de</strong>r Zinne eines Turmes, <strong>de</strong>r noch aufrecht stand<br />

und einmal als Unterstand für Wachposten gedient haben mußte, sah ein Ork zu ihnen hinunter, kreischte wütend.<br />

Zwei weitere kamen aus einer kleinen Tür am unteren En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Turmes, schwangen ihre Schwerter und Äxte. Indigo<br />

lief auf sie zu, Nachtfalkes Ruf zum Trotz, daß er warten solle. Grimm zuckte nach vorn, prallte auf die Axt eines<br />

Gegners, ließ sie zur Seite fliegen. Mit einem ausholen<strong>de</strong>n Schlag trennte er <strong>de</strong>n Kopf <strong>de</strong>s Orks von seinem Körper,<br />

wich sofort wie<strong>de</strong>r zurück, um vorbereitet zu sein für <strong>de</strong>n zweiten Angreifer. Hinter ihm schrie Nachtfalke entsetzt<br />

auf, und er konnte auch Talamàs Stimme ausmachen, die in <strong>de</strong>n Aufschrei einfiel. Er konnte sich keinen Reim auf die<br />

Warnungen machen, stieß Grimm vor, umging die Klinge <strong>de</strong>s Orks und trieb das eigene Eisen in <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>s<br />

Wesens. In <strong>de</strong>r selben Sekun<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>r er sein Schwert in <strong>de</strong>n Gegner bohrte, prallte Nachtfalke mit aller Wucht gegen<br />

ihn, schleu<strong>de</strong>rte ihn beiseite.<br />

Indigo lan<strong>de</strong>te im Dreck, Grimm steckte noch immer im Brustkorb <strong>de</strong>s Angreifers. Als <strong>de</strong>r Junge aufblickte, sah er<br />

gera<strong>de</strong> noch, wie ein Schatten, <strong>de</strong>r von oben herabkam, immer schneller auf seinen Freund zuraste. Der auf <strong>de</strong>m Turm<br />

verbliebene Ork war allem Anschein nach gesprungen, wagte einen verzweifelten Versuch, <strong>de</strong>n Jurakai zu töten.<br />

Indigos Mund öffnete sich, um zu schreien, doch es war zu spät. Vor seinem inneren Auge sah er bereits <strong>de</strong>n<br />

durchstoßenen Leib seines Freun<strong>de</strong>s, durch die Unachtsamkeit <strong>de</strong>s Jungen getötet. Doch brachte Nachtfalke es fertig,<br />

sein Schwert zu heben, die Klinge schützend über sich zu halten. Die Waffe <strong>de</strong>s Schwarzorks prallte daran ab, <strong>de</strong>r<br />

Feind wur<strong>de</strong> nach hinten geworfen, rollte auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n. Nachtfalke hatte bei <strong>de</strong>m Angriff sein Schwert verloren und<br />

fluchte. Er richtete sich auf und griff nach unten an sein Bein. Der Dolch, <strong>de</strong>n er dort aufbewahrte, wür<strong>de</strong> ihm nun<br />

gute Dienste leisten. Er zog die kleine Waffe, doch noch bevor er seinen Körper <strong>de</strong>m Ork zuwen<strong>de</strong>n konnte, trieb <strong>de</strong>r<br />

Gegner sein Schwert durch Nachtfalkes Brust, und die bei<strong>de</strong>n Gestalten flogen schleu<strong>de</strong>rnd <strong>de</strong>m Erdbo<strong>de</strong>n entgegen.<br />

So fest er konnte, hämmerte <strong>de</strong>r Angreifer seine Klinge weiter in <strong>de</strong>n Leib von Indigos Freund, rammte das Schwert<br />

bis tief in die Er<strong>de</strong>, spießte Nachtfalke auf. Der Alte blickte seinen Kontrahenten mit vor Entsetzen geweiteten Augen<br />

an, öffnete <strong>de</strong>n Mund. Seine Hand stieß vor, und mit einer letzten Anstrengung stach er <strong>de</strong>m Schwarzork <strong>de</strong>n Dolch in<br />

<strong>de</strong>n Hals. Gleich darauf sackte er zurück, sein Leib glitt an <strong>de</strong>r Schnei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schwertes hinab. Brüllend vor Schmerz<br />

fuhr <strong>de</strong>r Ork in die Höhe, zuckte zusammen und hielt sich <strong>de</strong>n Hals. Er bemerkte Indigo nicht, <strong>de</strong>r mit haßerfülltem<br />

Gesicht auf ihn zurannte, Grimm in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n schwingend, die Zähne gefletscht vor Schmerz und Zorn. Noch bevor<br />

<strong>de</strong>r Junge zuschlagen konnte, verdichtete sich die Luft, ein Dröhnen füllte seine Ohren, und <strong>de</strong>r Körper <strong>de</strong>s Orks<br />

wur<strong>de</strong> hinfortgerissen, schleu<strong>de</strong>rte durch die Luft und wur<strong>de</strong> gegen die steinerne Wand <strong>de</strong>s Turms gequetscht. Nach<br />

einigen Sekun<strong>de</strong>n verhallte das Wort, und was von <strong>de</strong>r Wand herabrann, war nicht viel mehr als zermalmter Schleim.<br />

Indigo blickte sich um, sah Talamà, die wuterfüllt auf <strong>de</strong>n zerquetschten Feind sah. Mit tränenschimmern<strong>de</strong>n Augen<br />

rannte sie zu Nachtfalkes Körper, kniete sich neben <strong>de</strong>n Gefallenen.<br />

Auch Indigo wandte sich <strong>de</strong>r leblosen Hülle zu, die mit verrenkten Glie<strong>de</strong>rn auf <strong>de</strong>m harten Erdreich lag. Nachtfalke<br />

weilte nicht mehr unter ihnen... kein Wesen, das so viel Blut verloren hatte, konnte noch am Leben sein. Der Jurakai<br />

beugte sich über seinen Freund, fuhr mit <strong>de</strong>r Hand über <strong>de</strong>ssen aufgerissene Augen, schloß sanft die toten Li<strong>de</strong>r.<br />

„Es tut mir leid“ flüsterte er. Wie ein zerbrechliches Blatt hielt die Hand <strong>de</strong>s Alten. „Es tut mir leid. Es war meine<br />

Schuld, Falke. Meine Schuld...“<br />

97


Talamà faßte Indigo an <strong>de</strong>r Schulter, drehte ihn zu sich. Sie nahm sein Kinn zwischen ihre Finger, um ihm besser in<br />

die Augen blicken zu können. Langsam schüttelte sie <strong>de</strong>n Kopf. „Es war nicht <strong>de</strong>ine Schuld, Indigo. Er hat das getan,<br />

was du auch für ihn getan hättest. Und das Gleiche gilt für mich. Es hätte je<strong>de</strong>n von uns treffen können, und allein das<br />

Schicksal hat es so gewollt, daß es Nachtfalke war, <strong>de</strong>r an unserer Stelle dort stand.“<br />

Der Jurakai fuhr zurück, schluchzte, schlug Talamàs Hand von sich. Er stand auf, zog zärtlich das Schwert aus <strong>de</strong>r<br />

Brust seines Freun<strong>de</strong>s. Er betrachtete die blutige Schnei<strong>de</strong>, und Zorn verzerrte seine Züge. Mit unverhohlenem Haß<br />

schrie er auf, schlug die Klinge auf <strong>de</strong>n nächsten Stein, hämmerte sie gegen <strong>de</strong>n Fels, bis Funken stoben. Als er<br />

erkannte, daß die Waffe nicht zerbrechen wollte, schleu<strong>de</strong>rte er sie achtlos fort, verschwen<strong>de</strong>te keinen Blick mehr an<br />

sie. Wie<strong>de</strong>r sank er vor seinem Freund auf die Knie, murmelte leise Worte <strong>de</strong>r Entschuldigung. Er hob <strong>de</strong>n Körper<br />

auf, wiegte ihn in seinen Armen wie <strong>de</strong>n Leib eines Kin<strong>de</strong>s, und seine Tränen tropften auf das Gesicht Nachtfalkes,<br />

benetzten sein totes Antlitz mit feinen Wassertropfen. Er hatte seinen besten Freund verloren, vielleicht sogar <strong>de</strong>n<br />

einzigen Freund, <strong>de</strong>n er noch hatte, und nun wußte er nicht, wie er sich verhalten sollte. Falke war sein Lehrer<br />

gewesen, sein Mentor, sein Vater, wenn man es so sagen wollte. Er hatte ihn alles gelehrt, ihm alles beigebracht, was<br />

er wußte, und gemeinsam hatten sie diese Reise begonnen. Wie konnte er jetzt plötzlich nicht mehr da sein? Wie sollte<br />

er <strong>de</strong>nn diesen Weg nun ohne seinen Freund beschreiten? Ebensogut könnte auch er tot sein, an <strong>de</strong>r Stelle von Falke<br />

dort liegen, mit durchstoßenem Herzen! Er bebte, zitterte vor Furcht. Eine Angst, wie er sie noch niemals zuvor in<br />

seinem Leben gespürt hatte, durchflutete ihn, die Angst vor <strong>de</strong>r Einsamkeit. Er hatte nieman<strong>de</strong>n mehr, nieman<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>r zu ihm hielt, nieman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r...<br />

Talamàs Hand legte sich auf seine Wange, und tröstlich strich sie die Tränen hinweg, die über seine Haut perlten. Er<br />

sah zu ihr auf, und auch in ihren Augen glänzte Wasser. Indigo besann sich, und er erkannte, daß es nun jeman<strong>de</strong>n<br />

gab, <strong>de</strong>r ihn brauchte, ebenso wie er Falke gebraucht hatte. Er ließ <strong>de</strong>n Körper seines Freun<strong>de</strong>s zu Bo<strong>de</strong>n sinken, ging<br />

zu seiner Gefährtin und nahm sie in die Arme. Lange Zeit stan<strong>de</strong>n sie in <strong>de</strong>r kühlen Nacht, fühlten die beruhigen<strong>de</strong><br />

Nähe <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren.<br />

„Wir müssen fort“ murmelte er, preßte die junge Frau an sich. „Weit fort, wo niemand uns fin<strong>de</strong>n kann. Wir müssen<br />

sofort aufbrechen, bevor noch weitere Orks kommen!“<br />

Talamà küßte ihn, schmeckte das Salz seiner Tränen, die über seinen Mund geflossen waren. „Ja“ flüsterte sie. Laß<br />

uns gehen.“ Sie wandten sich ab.<br />

„Warte“ sagte Indigo unerwartet, und bückte sich, um <strong>de</strong>n Leib seines Freun<strong>de</strong>s aufzuheben. „Ich kann ihn hier nicht<br />

zurücklassen. Ich darf nicht. Es ist das Min<strong>de</strong>ste, das ich für ihn tun kann.“<br />

Gera<strong>de</strong> wollte das Mädchen erwi<strong>de</strong>rn, daß Nachtfalke zu schwer sei, daß die I<strong>de</strong>e, ihn mitzuschleppen, Wahnsinn war.<br />

Doch ein leises Wiehern klang an ihre Ohren, und erste jetzt bemerkte sie, daß sie dieses Geräusch schon seit<br />

geraumer Zeit vernommen hatte. Erstaunt suchte sie nach <strong>de</strong>r Ursache <strong>de</strong>s Klangs, und ihre Augen hellten sich auf<br />

vor Begeisterung, als sie in Richtung <strong>de</strong>r Mauer sah. Drei Pfer<strong>de</strong> stan<strong>de</strong>n dort, angebun<strong>de</strong>n an einen Holzpflock!<br />

Strahlend zeigte sie auf die Tiere, <strong>de</strong>n letzten Hoffnungsschimmer am düsteren Firmament <strong>de</strong>r Trübseligkeit. Auch<br />

Indigo erkannte die Umrisse <strong>de</strong>r Rösser vor <strong>de</strong>n Mauern <strong>de</strong>r Stadt, und sein Herz tat einen Sprung.<br />

„Der Pfer<strong>de</strong>händler hat sein Wort gehalten!“ rief er voller Freu<strong>de</strong>. „Das sind die Tiere, die er uns versprach!“<br />

Gemeinsam blickten sie sich um, voller Mißtrauen darauf vorbereitet, die untersetzte Gestalt Nailbands zu sehen.<br />

Doch <strong>de</strong>r Manur zeigte sich nirgends, befand sich mit Sicherheit bereits unter <strong>de</strong>n Toten.<br />

„Talamà, bitte tu mir <strong>de</strong>n Gefallen und nimm Grimm für mich mit“ bat er das Mädchen, und die Jurakai suchte nach<br />

<strong>de</strong>m Schwert, fand es bald darauf im Körper eines Orks. Sie zog es heraus, spürte voll Unbehagen die Kraft, die von<br />

<strong>de</strong>r Klinge ausging. „Ich habe es“ sagte sie, konnte die Abscheu in ihrer Stimme nicht völlig verbergen. Indigo trug<br />

<strong>de</strong>n toten Leib zu <strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>n, gefolgt von <strong>de</strong>r jungen Jurakai.<br />

Er hob Nachtfalke auf das stärkste und größte <strong>de</strong>r Rösser, nahm anschließend seine Waffe entgegen. Mit einem<br />

leichten Hieb durchtrennte er die Stricke, die die Tiere hielten, und scheu trabten sie auseinan<strong>de</strong>r, liefen jedoch nicht<br />

davon. Indigo schwang sich auf das Pferd, auf <strong>de</strong>ssen Rücken sein Freund lag, wartete darauf, daß auch Talamà sich<br />

für eines <strong>de</strong>r Tiere entschied. Sie stand bei einer weißen Stute und streichelte zärtlich ihr Fell.<br />

„Lauf, Mädchen“ flüsterte sie <strong>de</strong>m Tier zu. „Du wirst nun nicht mehr gebraucht. Lauf in <strong>de</strong>ine Freiheit.“<br />

Als wenn das Pferd sie verstan<strong>de</strong>n hätte, schritt es nach vorn, fiel bald in einen leichten Trab, dann in einen Galopp,<br />

entschwand in <strong>de</strong>r Ferne. Als sie das Tier aus <strong>de</strong>n Augen verloren hatte, stieg auch sie auf <strong>de</strong>n Rücken eines Tieres,<br />

eines schwarzen, großen Hengstes, spornte es an.<br />

„Lassen wir diese elen<strong>de</strong> Stadt hinter uns!“ rief Indigo, während die Tiere über die Ebene galoppierten, sich von <strong>de</strong>n<br />

brennen<strong>de</strong>n Ruinen Irnstwells entfernten.<br />

„Ja“ schrie Talamà ihm zu, und endlich fühlte sie sich befreit, war <strong>de</strong>r Schwermut von ihr gefallen. „Lei<strong>de</strong>r kann man<br />

die Erinnerung nicht ganz so leicht hinter sich lassen.“<br />

Sie ritten weiter, und am Horizont erblühten die ersten Strahlen <strong>de</strong>r Sonne, tauchten das Land in ein gol<strong>de</strong>nes,<br />

wärmeres Licht.<br />

Als die Strahlen auch durch die schmutzigen Glasscheiben <strong>de</strong>s Wachhauses fielen, sich in ihnen brachen und in<br />

tausendfachen, kleinen Lichtfünkchen die stickige Luft <strong>de</strong>s Zimmers durchschnitten, ließ Paves seine Karten fallen,<br />

98


entlockte damit <strong>de</strong>n Anwesen<strong>de</strong>n einschließlich Dynes einen verblüfften Ausruf. Ein leiser Chor von murmeln<strong>de</strong>n<br />

Stimmen begleitete ihn, während <strong>de</strong>r Knabe <strong>de</strong>n Berg von Münzen in seine Taschen schob.<br />

Er grinste zu <strong>Arathas</strong> hinüber, als eine Hand seinen dünnen Arm umschloß und auf <strong>de</strong>m Tisch hielt.<br />

„Der Junge bekommt keinen einzigen Silberling von mir“ ließ sich einer <strong>de</strong>r Wächter vernehmen und versuchte, ihm<br />

das Geld aus <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n zu klauben. Paves stöhnte und wollte sich befreien, doch <strong>de</strong>r erwachsene Mann war stärker<br />

und packte so fest zu, daß <strong>de</strong>r Junge aufschrie.<br />

„Laßt ihm das Geld“ sagte Dynes, und alle Blicke richteten sich auf ihn. „Er hat es ehrenhaft erspielt. Ihr habt nicht<br />

das Recht, es ihm zu nehmen.“<br />

„Er hatte gar nicht das Recht, hier mitzuspielen“ fauchte <strong>de</strong>r Wächter und ließ nicht locker. „Dies ist eine<br />

Männerrun<strong>de</strong>.“<br />

„Dann schlage ich vor, daß du dich auch wie ein Mann verhältst, Michail“ erklang die Stimme eines weiteren<br />

Wachmannes. „Der Junge hat gewonnen. Laß ihn los.“<br />

Das beifällige Murmeln <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Wachen wur<strong>de</strong> lauter, und wi<strong>de</strong>rwillig zog <strong>de</strong>r Mann namens Michail seine Hand<br />

zurück. Sofort steckte Paves die Silberlinge ein und rückte mit seinem Stuhl nach hinten. Ein gutgemeinter<br />

Handschlag auf seinen Rücken ließ ihn zusammenzucken, aber das Grinsen auf <strong>de</strong>m Gesicht <strong>de</strong>s Wachmanns zeugte<br />

von keiner schlechten Absicht.<br />

„Du hast gut gespielt, Kleiner.“<br />

Paves nickte und sah sich nach Dynes um, <strong>de</strong>r sich ebenfalls zum Gehen anschickte. Er zuckte <strong>de</strong>monstrativ mit <strong>de</strong>n<br />

Schultern.<br />

„War uns ein Vergnügen“ fuhr <strong>de</strong>r Wächter fort, <strong>de</strong>r Paves auf <strong>de</strong>n Rücken geklopft hatte. „Wenn Ihr wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />

Stadt seid, dann laßt etwas von Euch hören, damit wir eine faire Chance bekommen, unsere Silberlinge<br />

zurückzuerspielen.“<br />

Dynes lächelte. „Keine Sorge. Ich lasse niemals eine Gelegenheit aus, um Geld zu verdienen.“<br />

Ohne weitere Worte legte er seinen Arm um <strong>de</strong>n Jungen und geleitete ihn zur Tür <strong>de</strong>s Zimmers. Die Strahlen <strong>de</strong>r<br />

aufgehen<strong>de</strong>n Sonne tauchten es nun in ein gül<strong>de</strong>nes Licht, ließen die Staubflocken wild tanzen und wärmten die<br />

Klei<strong>de</strong>r.<br />

Als sie wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Ställen waren, mel<strong>de</strong>te sich Paves zu Wort.<br />

„Von <strong>de</strong>m Geld, das ich gewonnen habe, könnten wir noch Proviant kaufen, Herr.“<br />

Dynes lächelte und schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Behalt <strong>de</strong>in Silber, Kleiner. Das, was wir brauchen, bezahle ich.“<br />

Sie führten Sturmauge und <strong>de</strong>n Schimmel nach draußen, saßen auf und trabten langsamen Schrittes durch die Stadt.<br />

Schon in aller Frühe eilten hier die ersten Leute durch die Gassen, fingen damit an, Stän<strong>de</strong> zu errichten o<strong>de</strong>r Wasser<br />

vom Brunnen zu holen. Doch in all <strong>de</strong>n Gesichtern lag eine schwelen<strong>de</strong>, unterschwellige Furcht, die sich nicht mehr<br />

abschütteln lassen wür<strong>de</strong>. Bedrückte Mienen sahen angstvoll zu ihnen auf, blickten allerdings sofort zur Seite, sobald<br />

man sie direkt anschaute.<br />

Wie eine Belagerung, hallte es in Dynes Gedanken wie<strong>de</strong>r. Nur ohne Belagerer...<br />

Bei einem kleinen Stand kauften sie eingelegten Fisch und ein wenig salzige Speisen und Würste, die noch länger<br />

haltbar sein wür<strong>de</strong>n. Für ein paar Münzen durfte <strong>Arathas</strong> seine Schläuche mit Wasser und Wein füllen, und sogar ein<br />

Bier ließ sich ergattern, welches aber ohne Umschweife getrunken wer<strong>de</strong>n mußte. Während sie so, mit neuem Proviant<br />

bestückt und bestens gerüstet für <strong>de</strong>n Ritt nach Dynes‘ Lehen, durch die Stadt ritten, zügelte <strong>de</strong>r Ritter plötzlich sein<br />

Pferd. Paves verlangte zu wissen, was los sei, doch <strong>Arathas</strong> sprang nur von Sturmauges Rücken und ging langsam auf<br />

eine gebeugte Frau zu, die damit beschäftigt war, einen Wassereimer auf ihrem Rücken zu tragen.<br />

Erschrocken wich sie zurück, als sie vom anscheinend frem<strong>de</strong>n Mann angesprochen wur<strong>de</strong>, verschüttete dabei die<br />

Hälfte <strong>de</strong>s Wasser. Doch Dynes legte ihr eine beruhigen<strong>de</strong> Hand auf die Schulter und sprach leise und eindringlich,<br />

bis sie still war und lauschte.<br />

„Ich kenne Euch“ begann er ein zweites Mal, und jetzt leuchtete <strong>de</strong>r Funke <strong>de</strong>r Erkenntnis auch im Gesicht <strong>de</strong>r jungen<br />

Frau. „Ihr seid die Tochter <strong>de</strong>s alten Berend, nicht wahr?“<br />

„Herr?“ ließ sich das Mädchen zaghaft vernehmen. Sie mochte vielleicht zwanzig Jahre alt sein, wenn nicht mehr,<br />

doch gebaut war sie wie ein Kind.<br />

„Erinnert Ihr Euch nicht? Ich bin <strong>Arathas</strong> Dynes. Euer Vater besitzt viel Land im südlichen Yark.“<br />

„Ja, Herr“ flüsterte das Mädchen beinahe unhörbar. „Mein Vater und meine Mutter sind tot, Herr.“<br />

Dynes nahm die junge Frau beim Arm und brachte sie zurück zum Brunnen, wo er sie vor sich setzte und wartete, bis<br />

sie sich völlig beruhigt hatte. Auch Paves kam nun angelaufen und führte Sturmauge und sein eigenes Pferd an <strong>de</strong>n<br />

Zügeln hinter sich her.<br />

„Erzählt mir alles“ bat er das Mädchen und reichte ihr <strong>de</strong>n Eimer, <strong>de</strong>n er aufgefangen hatte, als sie ihn vorhin fast zu<br />

Bo<strong>de</strong>n schmiß. „Was ist geschehen? Der alte Berend ist tot?“<br />

Als das Mädchen <strong>de</strong>n Mund öffnete, begann es plötzlich zu schluchzen, und sein Brustkorb bebte heftig. Die an<strong>de</strong>ren<br />

Leute um sie herum taten sogleich, als wür<strong>de</strong> sie dies alles nichts angehen und machten einen großen Bogen um die<br />

drei Gestalten. <strong>Arathas</strong> verfluchte sie alle.<br />

99


„Meine ganze Familie ist tot“ berichtete die junge Frau, nach<strong>de</strong>m sie sich wie<strong>de</strong>r gefaßt hatte. „Das alles hat vor<br />

knapp zwei Monaten o<strong>de</strong>r so angefangen. Vater hörte, daß Räuber ihr Unwesen treiben sollten, und da hat er sich<br />

Nachts auf die Lauer gelegt. Aber mehrere Nächte lang geschah gar nichts, und er hat sich wie<strong>de</strong>r beruhigt. Und dann<br />

war eines Morgens <strong>de</strong>r Hof <strong>de</strong>r Gramnends nichts weiter als Trümmer, und ihre Leichen wur<strong>de</strong>n nicht gefun<strong>de</strong>n...“<br />

Sie sah auf, und ihr Blick traf sich mit Dynes‘ aufmerksamen Augen. „Vater hat mich nach Darburg geschickt. Er<br />

meinte, das wäre sicherer für mich, und er und Mutter wür<strong>de</strong>n bald nachkommen...“<br />

„Und nun wartet Ihr hier, doch Eure Eltern kamen niemals hier an“ schloß Dynes die Erzählung. Betrübt nickte das<br />

Mädchen.<br />

„Viele an<strong>de</strong>re Familien kamen hierher, um Schutz zu suchen. Ich glaube, ein paar Leute blieben stur und verharrten<br />

bei ihren Höfen und Häusern, aber die meisten kamen hierher. Von ihnen erfuhr ich, daß unser Gut das gleiche<br />

Schicksal wi<strong>de</strong>rfahren wäre wie <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Höfen davor. Von Mutter gab es keine Spur, aber Vater haben sie<br />

gefun<strong>de</strong>n... sie sagten, er wäre im Kampf gestorben. Und, daß <strong>de</strong>r Anblick grausam gewesen sei und ich mich<br />

glücklich schätzen solle, in Darburg zu sein.“<br />

„Wo sind all die Familien jetzt?“<br />

„Ein paar von ihnen noch immer hier“ antwortete die junge Frau traurig. „Aber nur diejenigen, die hier Verwandte<br />

haben, von <strong>de</strong>nen sie aufgenommen wur<strong>de</strong>n. Ich lebe bei meiner Großmutter, und wir haben noch ein paar Freun<strong>de</strong><br />

bei ihr untergebracht. Doch die meisten sind wie<strong>de</strong>r zurückgekehrt nach Yark. Djenhalm brauchte <strong>de</strong>n Platz für seine<br />

eigenen Leute, die in Scharen hier eingetroffen sind.“<br />

Dynes schwieg einen Moment lang, aber das, was er gehört hatte, schien alles zu sein, was er <strong>de</strong>m Mädchen entlocken<br />

konnte. Er dankte ihr und wollte sich erheben, als er ein zaghaftes Zupfen am Ärmel seines Mantels spürte. Mit<br />

Augen, in <strong>de</strong>nen ein letzter Hoffnungsschimmer lo<strong>de</strong>rte, blickte ihn die Kleine an.<br />

„Wer<strong>de</strong>t Ihr nach Yark reiten, Herr?“<br />

„Ja. Und zwar noch heute.“<br />

„Wer<strong>de</strong>t Ihr nach meiner Mutter suchen?“<br />

Dynes zögerte, wußte nicht, wie er auf eine so absur<strong>de</strong> Bitte reagieren sollte. Paves nahm ihm die Entscheidung ab.<br />

„Wenn wir sie fin<strong>de</strong>n, und sie noch lebt, dann bringen wir sie nach Darburg“ versprach er <strong>de</strong>m Mädchen. Er sah zu<br />

Dynes, und im stummen Einverständnis nickte <strong>de</strong>r Ritter.<br />

100


VI<br />

Unter verschie<strong>de</strong>nen Himmeln<br />

Und als Weißklaue in <strong>de</strong>n nächtlichen Himmel blickte, glommen dort zwei kleine, helle Punkte.<br />

Und er erkannte die Augen seines toten Sohnes Blauschnei<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r.<br />

Weißklaue nickte, <strong>de</strong>nn von diesem Augenblick an wußte er<br />

Daß alle Kin<strong>de</strong>r Himmelfeuers ihren ewigen Platz am Firmament einnehmen wür<strong>de</strong>n<br />

Aus „Religion <strong>de</strong>r Jurakai“ von Asan An‘chassar<br />

Nach mehreren Stun<strong>de</strong>n ließen sie die Pfer<strong>de</strong> in einen langsameren Trab fallen, damit die Tiere nicht vor Erschöpfung<br />

zusammenbrachen. Indigo gebot Talamà, anzuhalten, und in einem kleinen Tal, genau in <strong>de</strong>r Mitte zwischen zwei<br />

aufragen<strong>de</strong>n Hügeln, machten sie ihren ersten Halt. Der Jurakai stieg ab, hob Nachtfalke vom Rücken <strong>de</strong>s Rosses und<br />

legte ihn vorsichtig zu Bo<strong>de</strong>n. Dann begann er, die leichte Er<strong>de</strong> mit seinem Schwert aufzulockern, die gelösten<br />

Brocken anschließend mit <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n zur Seite zu werfen. Talamà setzte sich neben ihn, beobachtete ihn traurig.<br />

„Das ist nun schon das zweite Mal auf dieser Reise, daß ich ein Loch in <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> wühle“ erläuterte er, und seine Züge<br />

verhärteten sich. „Zuerst bei <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong>, um meine Eltern zu begraben. Nachtfalke sah mir dabei zu, so wie du es jetzt<br />

tust. Und nun begrabe ich Nachtfalke.“ Zornig warf er einige <strong>de</strong>r Klumpen beiseite. Das Loch wur<strong>de</strong> schnell größer,<br />

und nach weniger als einer Stun<strong>de</strong> hatte er eine angemessene Ruhestätte geschaffen. Er holte <strong>de</strong>n Leib seines<br />

Freun<strong>de</strong>s, legte ihn sanft in das aufgeschaufelte Loch.<br />

„Er war ein guter Freund“ sagte Talamà mitfühlend.<br />

Indigo nickte stumm, und gemeinsam stellten sie sich vor die Grube, betrachteten <strong>de</strong>n wun<strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>s alten<br />

Mannes. Der Junge faßte Talamà an <strong>de</strong>r Hand, und das Mädchen senkte <strong>de</strong>n Blick. Leise begann Indigo einen alten<br />

Vers zu sprechen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Toten in Himmelfeuers Reich geleiten sollte.<br />

ist soviel sanftgeweintes Blut<br />

<strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s letzte Trauerstätt?<br />

hilft diese ungebrochne Wut<br />

<strong>de</strong>m Toten nun auf seinem Bett?<br />

hinfort er geht, ins andre Reich<br />

so fern und doch so nah<br />

für ewig hinterm Schatten<strong>de</strong>ich<br />

die Hoffnung mir bewahr<br />

gib dieser alten Seele Ruh<br />

für <strong>de</strong>n Glauben, <strong>de</strong>n er zollte<br />

gelogen ist, was ich hier tu<br />

Erinnerung ich wollte<br />

drum schenk mir keinen Frie<strong>de</strong>n<br />

son<strong>de</strong>rn nimm ihn mit zu dir<br />

<strong>de</strong>n Leib, <strong>de</strong>r dort verschie<strong>de</strong>n<br />

nun fortgeht, weg von mir<br />

„Ich glaube, diese Verse gelten für Falke und Vater Callus zugleich“ brachte er unter einem heftigen Zittern hervor.<br />

„Sie können jetzt in Himmelfeuers Reich bis ans En<strong>de</strong> aller Zeiten diskutieren...“<br />

Die Jurakai bückte sich, umschloß ihren Gefährten mit <strong>de</strong>n Armen. „Sssht“ flüsterte sie. „Es ist vorbei. Laß sie gehen,<br />

Indigo.“<br />

Der Junge stand zögernd auf, wagte einen Schritt nach vorn, kniete sich neben Nachtfalke nie<strong>de</strong>r. Er hob die Hand<br />

seines Freun<strong>de</strong>s aus <strong>de</strong>m Grab und küßte sie zum Abschied. Dann begannen die bei<strong>de</strong>n Jurakai gemeinsam, Er<strong>de</strong> auf<br />

<strong>de</strong>n Körper zu werfen, die Gestalt <strong>de</strong>s Alten langsam zu ver<strong>de</strong>cken. Zum Abschluß legte Indigo einige Blumen auf <strong>de</strong>n<br />

Hügel, zum Ge<strong>de</strong>nken an <strong>de</strong>n Verstorbenen. Dann kehrte er <strong>de</strong>m Toten <strong>de</strong>n Rücken, wandte sich Talamà zu.<br />

101


„Eine Träne mehr, die zu wenig war“ flüsterte er leise. „Zu kurz <strong>de</strong>r Moment <strong>de</strong>r Ewigkeit.“<br />

„Was sind das für Worte?“ fragte das Mädchen überrascht. „Sie klingen... schön.“<br />

„Sie sind gleichzeitig Anfang und En<strong>de</strong> eines Gedichtes, das ich an einem Teppich in Vater Callus Dom gelesen habe.<br />

Ich habe nur einen flüchtigen Blick darauf geworfen und das ist alles, was ich behalten habe, doch ich fin<strong>de</strong>, daß es<br />

irgendwie zu Falke paßt, meinst du nicht auch?“<br />

„Die Verse wer<strong>de</strong>n nun für immer unter <strong>de</strong>n Trümmern <strong>de</strong>r Stadt begraben sein“ sagte Talamà mil<strong>de</strong>. „Es ist vorbei,<br />

Indigo.“<br />

„Ich habe meinen besten Freund verloren“ sagte <strong>de</strong>r Junge kopfschüttelnd „sowie meine Eltern und alles an<strong>de</strong>re, was<br />

ich hatte. Aber trotz<strong>de</strong>m bin ich dankbar.“ Er lächelte, legte seine Stirn an ihre. „Ich habe noch immer dich. Das ist<br />

mehr, als ich mir erhoffen dürfte.“<br />

Glücklich seufzte sie, beugte sich vor, küßte ihn und umarmte ihn. „Keine Angst“ murmelte sie leise. „Ich bleibe bei<br />

dir. Genauso, wie du bei mir bleiben wirst. Du hast es mir schließlich versprochen.“<br />

„Ich wer<strong>de</strong> mein möglichstes tun, um mein Versprechen zu halten.“ Wie<strong>de</strong>r küßten sie sich, und Talamà wollte ihn<br />

drücken, doch er stieß sie sanft von sich fort. „Bitte laß uns jetzt weiterreiten“ bat er, und sie nickte ernst. „Wir haben<br />

noch einen weiten Weg vor uns, und ich möchte diesem Ort entkommen. Nachtfalke ist ihm schon längst entflohen,<br />

<strong>de</strong>nke ich. Das, was dort liegt, ist nurmehr seine sterbliche Hülle. Er selbst weilt schon gar nicht mehr an diesem<br />

Platz.“<br />

„Im Grun<strong>de</strong> bist du <strong>de</strong>inem Freund sehr ähnlich, weißt du das?“ fragte Talamà unvermittelt.<br />

Indigo zögerte. „Ich möchte nicht darüber re<strong>de</strong>n, Talamà. Nicht jetzt. Laß uns gehen.“<br />

Schweigend gingen sie zurück zu ihren Pfer<strong>de</strong>n, und Indigo verstaute Nachtfalkes Hab und Gut in <strong>de</strong>n Satteltaschen<br />

seines Hengstes. Das braune Roß schnaubte, als er es am Hals kraulte, sein Fell rieb.<br />

„Guter Junge“ sagte er in aufheitern<strong>de</strong>m Tonfall. „Bring uns fort von hier, so schnell dich <strong>de</strong>ine Beine tragen.“<br />

Nachtfalkes Begräbnis lag noch keine Stun<strong>de</strong> zurück, als die Pfer<strong>de</strong> begannen, unruhig zu wer<strong>de</strong>n. Vor allem Talamàs<br />

Tier schien zu scheuen, ritt im Zickzack und bockte. Die Jurakai hatte Mühe, sich festzuhalten, rief hilfesuchend nach<br />

Indigo.<br />

„Was ist los?“ schrie er, doch seine Gefährtin war vollauf damit beschäftigt, ihren Gaul im Zaum zu halten. Sie hielt<br />

sich nur noch an <strong>de</strong>r langen Mähne <strong>de</strong>s Rosses fest, die Zügel flatterten ziellos durch die Luft.<br />

„Er geht durch“ rief das Mädchen und stemmte sich in <strong>de</strong>n Sattel. „Was soll ich tun?“<br />

„Versuch ihn zu beruhigen!“ Doch auch Indigos Pferd machte nun Anstalten, sich aufzubäumen und <strong>de</strong>n Jurakai<br />

abzuwerfen.<br />

Die Er<strong>de</strong> grollte, und unter <strong>de</strong>n Hufen von Talamàs Tier zeichneten sich Risse im Bo<strong>de</strong>n ab. Eine kleine Welle lief<br />

über <strong>de</strong>n Erbo<strong>de</strong>n, und Indigo erhaschte einen kurzen Blick darauf.<br />

„Verdammt!“ schrie er und versuchte zu seiner Gefährtin zu reiten. Alles weitere geschah so schnell, daß Indigo nur<br />

noch instinktiv han<strong>de</strong>lte, seiner Eingebung vertraute.<br />

Talamà Pferd verhakte im wil<strong>de</strong>n Galopp die Beine, strauchelte und stürzte zu Bo<strong>de</strong>n, schleu<strong>de</strong>rte die Jurakai ins<br />

Gras. Noch im gleichen Moment öffnete sich die Er<strong>de</strong> hinter <strong>de</strong>m Pferd, und <strong>de</strong>r riesige Kopf eine Drachen brach<br />

unter <strong>de</strong>r Oberfläche hervor. Geblen<strong>de</strong>t von <strong>de</strong>r Sonne, war das Untier sekun<strong>de</strong>nlang orientierungslos, bohrte sich sein<br />

Kiefer in das Fleisch <strong>de</strong>s Rosses und verfehlte Talamà um Längen. Brüllend zerbiß das Untier <strong>de</strong>n Leib <strong>de</strong>s Hengstes,<br />

dann kroch <strong>de</strong>r Drache aus seiner Höhle. Indigo hatte sich in<strong>de</strong>s vom eigenen Pferd geworfen, rollte sich auf <strong>de</strong>m<br />

weichen Bo<strong>de</strong>n ab. Der Lindwurm schlang seinen massigen Körper aus <strong>de</strong>m Loch, robbte auf <strong>de</strong>n Gräsern dahin, bis<br />

er seinen Schä<strong>de</strong>l wie<strong>de</strong>r in das dunkle Erdreich bohrte, im Untergrund verschwand. Indigo rannte auf seine Freundin<br />

zu, bemühte sich, gleichzeitig sein Schwert zu ziehen. Eine Bo<strong>de</strong>nwelle hinter Talamà zeugte von einem neuerlichen<br />

Angriff <strong>de</strong>r Bestie.<br />

„Roll dich zur Seite!“ befahl er <strong>de</strong>r Jurakai, und im letzten Moment hastete das Mädchen nach links, entkam nur<br />

knapp <strong>de</strong>m geöffneten Rachen <strong>de</strong>s Drachen, <strong>de</strong>r erneut aus <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n brach. Indigo lief auf ihn zu, hielt Grimm mit<br />

bei<strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n fest umschlossen, bereit, <strong>de</strong>n Kampf gegen das Untier aufzunehmen. Das riesige Geschöpf bäumte sich<br />

auf, wollte sich auf <strong>de</strong>n Jurakai herabfallen lassen, doch <strong>de</strong>r Junge sprang fort, und <strong>de</strong>r Leib <strong>de</strong>r Kreatur lan<strong>de</strong>te neben<br />

ihm. Mit aller Gewalt rammte er Grimm in die harte Haut <strong>de</strong>s Wesens, und zu seiner Überraschung glitt die Klinge<br />

mühelos durch die Schale, rutschte genau zwischen <strong>de</strong>n einzelnen, geringelten Segmenten <strong>de</strong>s Wurms hindurch.<br />

Schmerzerfüllt brüllte <strong>de</strong>r Drache auf, wandte <strong>de</strong>n Kopf in Richtung seines Peinigers. Indigo zog Grimm aus <strong>de</strong>m<br />

Leib, und graues Blut bespritzte die Gräser und sein Wams. Er fuhr zurück, tänzelte um die eigene Achse und entging<br />

so einem Vorstoß <strong>de</strong>s Wesens, <strong>de</strong>r ihn mit <strong>de</strong>m Kiefer zermalmen wollte. Ein rascher Blick zur Seite offenbarte<br />

Talamà, die reglos auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n lag. Er wußte nicht, warum sie sich nicht rührte; ob <strong>de</strong>r Drache sie nur gestreift<br />

o<strong>de</strong>r schwer getroffen hatte.<br />

Das Untier, schreiend und rasend vor Wut, ringelte sich, um die bluten<strong>de</strong> Wun<strong>de</strong> zusammenzukneifen. Indigo nutzte<br />

<strong>de</strong>n Augenblick, um nach vorn zu stürmen und einen frontalen Angriff zu wagen. Der Kopf <strong>de</strong>s Geschöpfs wackelte in<br />

<strong>de</strong>r Luft, und so fest er konnte trieb <strong>de</strong>r Jurakai Grimm in <strong>de</strong>n Hals <strong>de</strong>r Bestie, drehte die Klinge mehrmals herum.<br />

Mit entsetzten, milchigen Augen starrte <strong>de</strong>r Drache Indigo an, schien ihn sich einzuprägen. Voll Zorn stieß <strong>de</strong>r Junge<br />

102


das Schwert tiefer in das Wesen, bis <strong>de</strong>r Wurm mit verzerrtem Maul <strong>de</strong>n Schä<strong>de</strong>l schüttelte. Indigo ließ los, wollte<br />

nach hinten ausweichen, stolperte aber und fiel in das weiche, blutbespritzte Gras. Der Drachen krümmte sich, und<br />

mit einem irren, lauten Zischen bäumte er sich auf, kippte dann nach vorn, auf <strong>de</strong>n Jurakai zu. Indigo sah Grimm, das<br />

im Hals <strong>de</strong>r Bestie steckte, und mit Furcht nahm er die wohl letzten Sekun<strong>de</strong>n seines Lebens wahr, die eingefroren<br />

und langsam zu vergehen schienen. Der mächtige Drachenkopf krachte auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, begrub <strong>de</strong>n Unterkörper <strong>de</strong>s<br />

Jungen unter sich. Das Schwert Grimm lastete schwer auf seinen Hüften, er konnte es spüren, wie es pulsierte und<br />

sang. Das Blut <strong>de</strong>s Tieres schwappte über <strong>de</strong>n Jurakai, erbrach sich in heftigen Schwällen über ihn. Die dicke<br />

Flüssigkeit rann ihm in die Nase, in <strong>de</strong>n Hals, und er schluckte <strong>de</strong>n warmen, klebrigen Lebenssaft <strong>de</strong>s Drachen. Er<br />

fühlte, wie das Blut durch in seinen Körper strömte, in ihn eindrang und ihn benäßte. Verzweifelt versuchte er, sich<br />

von <strong>de</strong>m Leib <strong>de</strong>s Untiers zu befreien, doch er war eingeklemmt, mußte auf frem<strong>de</strong> Hilfe warten. Die Luft wich ihm<br />

aus <strong>de</strong>n Lungen, und Schwärze begann, seine Sicht zu füllen. Kleine Punkte tanzten vor seinen Augen, während er<br />

nach Luft schnappte, seine eingedrückten Lungen mit Sauerstoff füllen wollte. Wie im Traum sah er Gestalten, die aus<br />

<strong>de</strong>m Loch krabbelten, das <strong>de</strong>r Drache geschaffen hatte. Die Geschöpfe nahmen seine Gefährtin, trugen sie fort, fort...<br />

Noch mehr Schwärze breitete sich vor ihm aus, und seine Sinne schwan<strong>de</strong>n schnell. Das letzte, was er sah, waren die<br />

dunklen Gestalten, die Talamà verschleppten...<br />

Als er zu sich kam, konnte er seine Beine nicht mehr spüren, fühlte eine leere Kälte an ihrer Stelle. Er versuchte, tief<br />

einzuatmen, und erstaunt bemerkte er, daß er wie<strong>de</strong>r Luft bekam! Er sog die lebensschenken<strong>de</strong> Gabe ein, ließ sie<br />

durch seine Lungen wehen, seufzte erleichtert auf. Nach<strong>de</strong>m er genug Kraft gesammelt hatte, um <strong>de</strong>n grausamen<br />

Anblick zu ertragen, <strong>de</strong>n seine Gliedmaßen bieten mußten, öffnete er langsam die Augen.<br />

Die Schwärze um ihn herum schwand, gab <strong>de</strong>n Blick auf sein Umfeld frei. Anscheinend hatte <strong>de</strong>r Drache im To<strong>de</strong><br />

noch gezuckt, war von Indigo heruntergerollt und lag auf <strong>de</strong>m Rücken. Es war reines Glück, daß er sich nicht zur<br />

an<strong>de</strong>ren Seite gewälzt und Indigo zerdrückt hatte.<br />

Eine schnelle Untersuchung seiner Beine ergab, daß es ihnen gut ging. Anstatt <strong>de</strong>r zerquetschten Extremitäten fand er<br />

seine Glie<strong>de</strong>r unversehrt vor, doch ein an<strong>de</strong>rer Anblick machte ihm zu schaffen. Grimm verweilte nicht länger in <strong>de</strong>r<br />

Haut <strong>de</strong>s Biestes, es hatte sich irgendwie gelöst, sich bei <strong>de</strong>m Rollmanöver <strong>de</strong>s Drachens in Indigo gebohrt. Das<br />

Schwert steckte tief in seinem Magen, und ein blutiges Rinnsal troff durch sein Wams, färbte es dunkelrot. Mit<br />

Übelkeit betrachtete er die Waffe, dann faßte er sie vorsichtig, zog sie aus seinem Körper. Sofort quoll Blut aus <strong>de</strong>r<br />

Wun<strong>de</strong>, und Indigo riß Fetzen von seiner Kleidung, um die Blutung abzubin<strong>de</strong>n. Als er einen behelfsmäßigen<br />

Verband angefertigt hatte, richtete er sich zittrig auf, seine wackeligen Knie trugen ihn nur schwächlich. Er hielt<br />

Ausschau nach Talamà, doch weit und breit konnte er keine Spur von ihr ent<strong>de</strong>cken. Wo war sie nur? Hatte sie ihn<br />

zurückgelassen?<br />

Doch nach kurzer Zeit <strong>de</strong>s Überlegens brach die Erinnerung über ihm zusammen wie eine Welle, und <strong>de</strong>r Jurakai fiel<br />

<strong>de</strong>r Länge nach auf das Gras. Die Orks hatten sie mitgeschleppt, das hatte er in seinem Wahn noch erkennen können!<br />

Sie hatten sie in das Loch gezerrt, aus <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Drache hervorgebrochen war. Aber... warum lebte er noch? Die Wesen<br />

mußten ihn für tot gehalten haben, wie er dort unter <strong>de</strong>m Drachen lag, eingequetscht und blutüberströmt... Blut...<br />

dieses Wort weckte eine Erinnerung in ihm. Ja, er wußte es wie<strong>de</strong>r! Er hatte etwas von dieser verabscheuenswerten<br />

Flüssigkeit getrunken, trug einen Teil dieses Ungeheuers in sich! Er spuckte und würgte, doch gleich darauf taumelte<br />

er zur Seite, wur<strong>de</strong> geschüttelte von Krämpfen, verursacht von <strong>de</strong>r Bauchwun<strong>de</strong>.<br />

Seine Sinne schwirrten, als er das frem<strong>de</strong> Blut in seinem Körper pulsieren spürte, wie es sich mit seine Zellen<br />

vereinigte, darin brannte. Verschwin<strong>de</strong>! wies <strong>de</strong>r Jurakai die Substanz an, doch sie ließ sich nicht beirren. Nach einer<br />

Weile erhob sich Indigo wie<strong>de</strong>r, hielt seinen Magen umklammert und suchte nach Grimm. Er fand es auf <strong>de</strong>m Gras,<br />

wo er es hingeschmissen hatte, nach<strong>de</strong>m er sich selbst davon befreite. Dummkopf, schalt er sich selbst. Denk gefälligst<br />

nach! Mit Mühe versuchte er, die Klinge aufzuheben, doch das Gewicht <strong>de</strong>s Schwertes ließ ihn schwarz sehen.<br />

Reumühtig ließ er Grimm auf <strong>de</strong>m verklebten Bo<strong>de</strong>n zurück, taumelte in Richtung <strong>de</strong>r weiten Ebene.<br />

Nachtfalke? fragte er in Gedanken, erwartete eine Antwort aus <strong>de</strong>m Nichts. Doch die Leere antwortete nicht, blieb<br />

stumm und unbeugsam. Indigo schleppte sich nach vorn, über die endlosen Grasflächen, einfach nur weg von diesem<br />

Ort. Dann fiel ihm etwas ein, und erneut hinkte er zum Schauplatz <strong>de</strong>r Schlacht zurück. Er wankte auf die Höhle zu,<br />

aus <strong>de</strong>r die Orks geströmt waren, doch als er vor ihr stand, entfloh seiner Kehle ein Laut <strong>de</strong>r Verzweiflung. Seine<br />

Hoffnung, durch die Höhle zu Talamà zu gelangen, wur<strong>de</strong> durch einen eingestürzten Tunnel zunichte gemacht. Da er<br />

in seiner <strong>de</strong>rzeitigen Verfassung niemals in <strong>de</strong>r Lage sein wür<strong>de</strong>, die Gesteinsbrocken zur Seite zu schaffen, fand er<br />

sich in sein Schicksal ein, schleppte sich durch das hohe Gras.<br />

Alles verloren, raunte es in ihm. Innerhalb eines Tages alles verloren. Der beste Freund tot, die Freundin tot... du<br />

Unglücksbringer! Unglücksbringer!!<br />

„Nein!“ schrie Indigo, stolperte über <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n. „Es war nicht meine Schuld! Ich habe getan, was ich konnte!“<br />

Unglücksbringer, heulten die Stimmen in seinem Kopf, wollten keine Ruhe geben. Wo ist <strong>de</strong>in kleines Mädchen?<br />

fragten sie boshaft. Hast du ihr nicht versprochen, bei ihr zu bleiben? Du hast <strong>de</strong>in Wort gebrochen, <strong>de</strong>in Wort<br />

gebrochen!<br />

103


„Seid still“ flehte <strong>de</strong>r Jurakai und fiel auf die Knie. Er hielt eine Hand auf die Wun<strong>de</strong> gepreßt, doch das Blut drang<br />

durch <strong>de</strong>n Verband, tropfte auf das Gras herab. „Seid endlich still!“<br />

Er kroch weinend weiter, und <strong>de</strong>r blaue Himmel über ihm schien nichts an<strong>de</strong>res zu wollen, als ihn zu verspotten, ihm<br />

seine Fehler zu zeigen. Er blickte hinauf zu <strong>de</strong>n Wolken, zum unbarmherzigen Firmament. „Ich habe alles getan, was<br />

in meiner Macht stand!“ brüllte er, doch <strong>de</strong>r Himmel rührte sich nicht, zeigte sich unbeeindruckt von seinen Worten.<br />

„Ich habe doch alles getan“ schluchzte er, spuckte Blut und Speichel. Das Gerinnsel blieb an seinem Kinn hängen,<br />

baumelte von seinem Kopf. Er wollte es wegwischen, traute sich jedoch nicht, die Hand vom Bauch zu nehmen.<br />

Wohin willst du jetzt gehen, Unglücksbringer? Es gibt keinen Ort mehr, an <strong>de</strong>n du dich wen<strong>de</strong>n kannst. Keinen Ort,<br />

an <strong>de</strong>m du erwünscht bist... Gelächter erklang in Indigos Schä<strong>de</strong>l, und es verstummte auch nicht, als er seine Stirn<br />

mehrmals gegen die Er<strong>de</strong> schlug.<br />

„Geh fort“ murmelte er, Tränen rannen über seine Wangen und vermischten sich mit <strong>de</strong>m Blut. „Geh fort und komm<br />

nie mehr zurück...“<br />

Er wußte nicht, ob er damit die Stimmen meinte o<strong>de</strong>r sich selbst, doch es war ihm gleich. Er kroch bibbernd über die<br />

Ebene, und seine Glie<strong>de</strong>r pochten vor Schmerz.<br />

Ein Scharren, wie von tausend kleinen Käfern, die über <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n wuseln. Dunkelheit. Und ein Gefühl von Tiefe, als<br />

befän<strong>de</strong> man sich unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>... eine son<strong>de</strong>rbare Dunkelheit war es, die an diesem Ort weilte. Schwarz und fest,<br />

kälter als die Nacht. Von überall her erklangen grunzen<strong>de</strong> Geräusche, und Dinge prallten gegen ihren Kopf und<br />

zerkratzten ihr Haut und Arme...<br />

Talamà öffnete vorsichtig die Augen, versuchte etwas auszumachen in <strong>de</strong>r Finsternis. Große Gestalten gingen vor ihr<br />

und hinter ihr. Sie schleppten sie durch einen dunklen Tunnel... Orks! Orks schleiften sie über <strong>de</strong>n felsigen Bo<strong>de</strong>n!<br />

Sie wandte <strong>de</strong>n Kopf, und neben ihrem Gesicht konnte sie die Wand <strong>de</strong>r Höhle wahrnehmen, die zerbröckeln<strong>de</strong> Er<strong>de</strong>.<br />

Lange Wurzeln schabten an ihr vorbei, Würmer wan<strong>de</strong>n sich auf <strong>de</strong>m nassen Bo<strong>de</strong>n. Überall hingen verschlungene<br />

Fä<strong>de</strong>n, baumelten von <strong>de</strong>r Decke, lagen auf <strong>de</strong>m Untergrund. Die Höhlenwand glitt an ihr vorüber, leuchtete in einem<br />

schwachen, gedämpften Licht. Talamà drehte <strong>de</strong>n Kopf, konnte einen Ork erkennen, <strong>de</strong>r eine Fackel in <strong>de</strong>r Hand<br />

hielt. Der plumpe Körper wankte durch <strong>de</strong>n Tunnel, schenkte <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Licht in <strong>de</strong>r Düsternis. Die Jurakai stöhnte<br />

innerlich. Sie wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n wi<strong>de</strong>rlichen Kreaturen durch die Er<strong>de</strong> geschleppt, über <strong>de</strong>n verschlammten Bo<strong>de</strong>n<br />

geschleift. Doch wo war Indigo? Sie blickte sich aufmerksam um, konnte jedoch keine Spur ihres Gefährten<br />

ent<strong>de</strong>cken. Da waren bloß die Orks und Er<strong>de</strong>, Er<strong>de</strong>, Er<strong>de</strong>...<br />

Das konnte nur be<strong>de</strong>uten, daß er entwe<strong>de</strong>r tot war, und dieser Gedanke war so gräßlich, daß sie ihn gleich wie<strong>de</strong>r<br />

verwarf. Die an<strong>de</strong>re Möglichkeit be<strong>de</strong>utete, daß <strong>de</strong>r Junge lebte, <strong>de</strong>m Drachen und <strong>de</strong>n Orks entkommen war! Talamà<br />

seufzte innerlich auf, behielt jedoch trotz<strong>de</strong>m wachsam die Augen offen. Der Griff <strong>de</strong>s sie ziehen<strong>de</strong>n Orks war nicht<br />

allzu stark, und mit ein wenig Glück konnte sie sich vielleicht aus seinen Klauen win<strong>de</strong>n.<br />

Mit einem leichten Zappeln versuchte die Jurakai, sich zu befreien, drehte sich hin und her. Der Schwarzork grunzte,<br />

und sofort sprangen weitere von ihnen herbei, warfen mißtrauische Blicke auf das Mädchen.<br />

Talamà schüttelte sich, wandte sich ab von <strong>de</strong>n häßlichen Gestalten. Sie versuchte, die Worte zu sprechen, doch ihr<br />

Mund war geknebelt, sie konnte nur laut Stöhnen. Die wi<strong>de</strong>rlichen Kreaturen betrachteten sie, musterten ihren Körper<br />

erwartungsvoll. Einer beugte sich über sie, und mit aller Gewalt begann sie zu strampeln, nach ihm zu treten, als sein<br />

stinken<strong>de</strong>r Atem über ihr Gesicht fuhr. Der Ork zuckte zurück, schnaubte verärgert, doch bevor er einen neuen Anlauf<br />

wagen konnte, <strong>de</strong>r Jurakai nahe zu kommen, traf ihn ein Schlag an <strong>de</strong>r Stirn, und mit einem Ächzen taumelte das<br />

Geschöpf und fiel zur Seite. Ein an<strong>de</strong>rer, größerer Ork trat an Talamàs Seite, sah verächtlich auf die am Bo<strong>de</strong>n<br />

liegen<strong>de</strong>, wimmern<strong>de</strong> Gestalt herab.<br />

„Du bist wach“ grunzte er in verständlicher Sprache, und überrascht riß die Jurakai die Augen auf. „Gut. Mach keine<br />

Dummheiten, versuch nicht, zu fliehen. Alles weitere später. Je<strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand wird mit <strong>de</strong>m Tod bestraft.“<br />

Der breitschultrige Ork verschwand wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Dunkelheit <strong>de</strong>r Höhle, ließ Talamà zwischen <strong>de</strong>n schnaufen<strong>de</strong>n<br />

Kreaturen zurück.<br />

Wenn dieses Wesen dazu imstan<strong>de</strong> war, zu sprechen, dann mußte doch es etwas geben, daß in <strong>de</strong>r Rangfolge noch<br />

über ihm stand, etwas, mit <strong>de</strong>m man sich ebenfalls verständigen konnte! Es war nicht viel mehr als die Hoffnung, vom<br />

Regen in die Traufe zu gelangen, aber vielleicht hielt diese Entwicklung ja noch mehr Überraschungen bereit...<br />

Talamà ließ sich auf <strong>de</strong>n Rücken fallen, machte keine Anstalten mehr, sich zur Wehr zu setzen. Vielleicht hatten<br />

diese abscheulichen Biester ja tatsächlich so etwas wie einen Herren, einen Anführer... Ein Gedankenblitz zuckte<br />

durch ihr Gehirn, hinterließ schmerzhafte Erinnerung. Bil<strong>de</strong>r erschienen vor ihrem inneren Auge, von weißen,<br />

hochgewachsenen Wesen, gertenschlank und fluoreszierend. Mächtig in <strong>de</strong>r Beherrschung <strong>de</strong>r Worte, abgrundtief<br />

schlecht. Sie würgte krampfhaft und spuckte auf <strong>de</strong>n Erdbo<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r unter ihr dahinglitt.<br />

Nach Jahrhun<strong>de</strong>rten voller Schlamm, Er<strong>de</strong> und Gesteinsbrocken, die Talamà zerkratzten, die entblößten Stellen ihrer<br />

Haut zerschun<strong>de</strong>n, blieben die Orks stehen, scharten sich zu einer kleinen Gruppe zusammen. Der Anführer, <strong>de</strong>r sich<br />

auch in Rubisch auszudrücken verstand, brüllte einige Grunzlaute, und die fettleibigen Wesen stoben auseinan<strong>de</strong>r.<br />

Anschließend kam <strong>de</strong>r stämmige Ork auf sie zu, ließ seine Augen auf ihrem Körper ruhen.<br />

104


„Steh auf“ befahl er, und die Jurakai bemühte sich, auf die Beine zu kommen. Bis auf ihr luftiges Hemd und ihre Hose<br />

trug sie nichts bei sich, und <strong>de</strong>r Knebel in ihrem Mund verhin<strong>de</strong>rte, daß sie sich unter Zuhilfenahme <strong>de</strong>r Worte<br />

wehren wür<strong>de</strong>. Sie reckte kampflustig ihr Kinn hervor, gab <strong>de</strong>m Geschöpf zu verstehen, daß sie nicht kampflos<br />

aufgeben wür<strong>de</strong>.<br />

„Du wirst mit mir kommen“ erläuterte er ihr, und seine Augen schenkten ihr nicht mehr Aufmerksamkeit als einem<br />

Tier, das man im Wald gefun<strong>de</strong>n und mitgenommen hatte, das jetzt jedoch all seinen Reiz verloren hatte. Er zog einen<br />

dicken Strick aus seiner Kleidung hervor, legte das Seil um Talamàs Hals, stülpte es über ihren Leib und zog an. Der<br />

Strick spannte sich, preßte <strong>de</strong>r Jurakai die Luft aus <strong>de</strong>n Lungen. Mit heftigem Schnaufen versuchte sie, so viel<br />

Sauerstoff wie nur möglich durch die Nase einzuziehen. Es gelang ihr nur schlecht, und mit verschwommenem Blick<br />

stand sie vor <strong>de</strong>m Ork.<br />

„Wenn du gehorchst, dann bleibst du am Leben. Wenn nicht...“ Er lachte mit einem kehligen, grunzen<strong>de</strong>n Laut, <strong>de</strong>r<br />

Talamà einen Schauer über <strong>de</strong>n Rücken jagte. „Komm jetzt, und keine Dummheiten!“<br />

Er packte die Schnur straffer, zog das Mädchen wie ein angebun<strong>de</strong>nes Tier hinter sich her. Die Jurakai stolperte durch<br />

<strong>de</strong>n Tunnel, prallte hier gegen eine harte Wand o<strong>de</strong>r stieß sich dort <strong>de</strong>n Kopf an überhängen<strong>de</strong>n, unterirdischen<br />

Ästen. Immer weiter abwärts führte sie ihr Weg, durch dunkle Gewölbe und klamme Höhlen. Talamàs Blick erhaschte<br />

<strong>de</strong>n einen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Ork, <strong>de</strong>r durch die Stollen wan<strong>de</strong>rte und sie gar nicht wahrzunehmen schien. Die Luft war<br />

stickig, kühl. Es roch nach Er<strong>de</strong> und Exkrementen, und die gelegentlichen Überreste von irgendwelchen Lebewesen,<br />

die auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n zu sehen waren, ermutigten das Mädchen keineswegs.<br />

Echos hallten aus abzweigen<strong>de</strong>n Tunnels zu ihr herüber, Geräusche von Metall, das auf Stein traf, und auch an<strong>de</strong>re<br />

Laute. Rufe, Grunzen und Knurren, die zu ihr vordrangen, sie erschreckten. Die Gefangene hielt sich möglichst weit<br />

von <strong>de</strong>n Stollen fern, blieb dicht hinter <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>s Orks, welche eine seltsame Sicherheit zu be<strong>de</strong>uten schien, hier<br />

unten, so tief in <strong>de</strong>n Gebeinen <strong>de</strong>r Welt. Einmal machten sie halt, als ein an<strong>de</strong>rer Ork aus einem <strong>de</strong>r Gänge kam, eine<br />

riesige, lo<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Fackel in <strong>de</strong>r Hand. Seine schwarze, mit Blessuren übersäte Haut blätterte von seinem freien<br />

Oberkörper, und mit gefletschten Zähnen schrie er etwas in <strong>de</strong>n Tunnel hinein. Talamà glaubte ihren Augen nicht zu<br />

trauen, als plötzlich mehrere gekrümmte Wesen aus <strong>de</strong>m Höhleneingang heraustaumelten, sich ohne Wi<strong>de</strong>rstand<br />

hinter <strong>de</strong>m Ork einglie<strong>de</strong>rten. Die Kreatur versetzte einem <strong>de</strong>r Wesen einen heftigen Schlag gegen <strong>de</strong>n Schä<strong>de</strong>l, und<br />

das arme Geschöpf flog durch die Luft und prallte von <strong>de</strong>r nächsten Wand. Reglos blieb es liegen.<br />

Menschen! ging es Talamà durch <strong>de</strong>nk Kopf, und sie fixierte die kleine Gruppe mit wil<strong>de</strong>m Blick, versuchte in<br />

Kontakt mit ihnen zu treten, während die Orks in ein grunzen<strong>de</strong>s Gespräch vertieft waren. Doch die zerschun<strong>de</strong>nen<br />

Wesen verharrten auf <strong>de</strong>r Stelle, schenkten ihrer Umgebung keine Beachtung. Mit gebrochenem Blick starrten sie ins<br />

Leere, auf einen Punkt, <strong>de</strong>r hinter <strong>de</strong>n Höhlenwän<strong>de</strong>n, hinter ihrem geistigen Horizont lag. Mit Entsetzen erkannte<br />

Talamà zwei Jurakai, die bei <strong>de</strong>n Lebewesen wankten, sich in stummer Umarmung stützten. Ihre Körper waren<br />

übersät mit Wun<strong>de</strong>n und Brandmalen, und ihr Gesicht war unter einer blutigen Schicht aus Kratzern verschwun<strong>de</strong>n.<br />

Sie wollte sich mit einem Stöhnen bemerkbar machen, die Angehörigen <strong>de</strong>s Volkes auf ihre Anwesenheit aufmerksam<br />

machen, doch bereits nach <strong>de</strong>m kleinsten Laut drehte sich ihr Ork um, verpaßte ihr einen Tritt gegen das Schienbein.<br />

Tränen schossen <strong>de</strong>r Jurakai in die Augen, und unter Schmerzen sank sie in die Knie. Doch die kurz gehaltene Leine,<br />

die sie fesselte, ließ ihr keine Luft mehr zum Atmen, und so brachte sie es fertig, sich wie<strong>de</strong>r zu erheben, <strong>de</strong>n Blick zu<br />

Bo<strong>de</strong>n gerichtet. Nach<strong>de</strong>m die Schwarzorks ihr Gespräch been<strong>de</strong>t hatten und die Gruppe weiterzog, zerrte <strong>de</strong>r Große<br />

am Strick, riß Talamà unsanft nach vorn. Sie betrachtete ihren Peiniger mit stummem Haß, prägte sich seine Züge<br />

genau ein. Eine lange Narbe lief schräg über das Gesicht <strong>de</strong>s Geschöpfes, verlieh <strong>de</strong>m Wesen einen Ausdruck von<br />

Kampfeslust. Die funkeln<strong>de</strong>n Augen lagen tief in <strong>de</strong>n Höhlen, und <strong>de</strong>r abscheuliche, hauerbewehrte Mund zuckte<br />

unruhig, während sie über <strong>de</strong>n Erdbo<strong>de</strong>n liefen.<br />

Der Tunnel, durch <strong>de</strong>n sie sich bewegten, beschrieb mehrere harte Kurven, führte noch tiefer ins Innere <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />

hinab. Nach einigen weiteren Biegungen schien <strong>de</strong>r Ork zu zögern, schlich son<strong>de</strong>rbar wachsam durch die Höhle. Als<br />

sie in einen neuen Raum traten, schimmerte ihnen bereits ein leuchten<strong>de</strong>s Weiß entgegen, und Talamà atmete einen<br />

brechreizerregen<strong>de</strong>n, üblen Geruch ein. Sie warf ihren Kopf von einer Seite zur an<strong>de</strong>ren, doch <strong>de</strong>r Gestank ließ sich<br />

nicht vertreiben. Vor einer kleinen Tür stan<strong>de</strong>n die weißen, hochgewachsenen Gestalten <strong>de</strong>r Wesen, gegen die sie und<br />

Nachtfalke in <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> gekämpft hatten, musterten sie mit Gleichgültigkeit. Die Gefangene spürte, wie die<br />

Gedanken von einem <strong>de</strong>r Weißen in ihren Geist drangen, ihr Innerstes durchwühlen wollten. Mit einem heftigen<br />

geistigen Stoß vertrieb sie die Kreatur aus ihrem Kopf, han<strong>de</strong>lte sich durch diese Tat <strong>de</strong>n erstaunten Blick eines <strong>de</strong>r<br />

Geschöpfe ein.<br />

„Was ist mit ihr?“ fragte <strong>de</strong>r Ork an Talamàs Seite ängstlich, trat unbehaglich von einem Bein auf das an<strong>de</strong>re. Die<br />

Weißen blickten ihm mit unverhohlener Verachtung in die Augen und ließen ein boshaftes Zischen erklingen.<br />

„Chataih entsschei<strong>de</strong>t“ zischte eines <strong>de</strong>r Wesen in <strong>de</strong>utlich menschlicher Sprache, und wie<strong>de</strong>r wun<strong>de</strong>rte sich die<br />

Jurakai, warum sich diese Geschöpfe in <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>r Oberwelt zu verständigen wußten.<br />

„Du bisst entlassen, Grark. Mach, dass du wegkommsst.“<br />

Der Ork ließ <strong>de</strong>n Strick fallen, <strong>de</strong>r Talamà fesselte, verschwand rasch durch <strong>de</strong>n Eingang, durch <strong>de</strong>n die Jurakai und<br />

er eingetreten waren. Nach<strong>de</strong>m das Mädchen <strong>de</strong>n Weißen nun allein gegenüberstand, bemühte sie sich um eine<br />

trotzige Haltung.<br />

105


„Dass wird dir nichtss nützen, kleiness Kind“ pfiff einer <strong>de</strong>r Hohen, und in seinem Tonfall mischte sich noch ein<br />

wenig <strong>de</strong>s Singsangs, <strong>de</strong>n Talamà von <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sommers her in Erinnerung hatte. „Chataih erwartet dich<br />

sschon!“<br />

Die Tür wur<strong>de</strong> aufgestoßen, die Jurakai unsanft in <strong>de</strong>n dahinterliegen<strong>de</strong>n Raum beför<strong>de</strong>rt. Es war hell hier, und sie<br />

konnte die Konturen <strong>de</strong>s Gewölbes klar und <strong>de</strong>utlich erkennen. Das Leuchten ging von einem weiteren <strong>de</strong>r Weißen<br />

aus, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>r Höhle auf einem Erdbett ruhte. Er sah auf, als das Mädchen in <strong>de</strong>n Raum purzelte. Talamà<br />

verband die Erscheinung <strong>de</strong>r seltsamen Wesen unmittelbar mit glitschigen, ekligen Molchen. Sie hatte einmal einen<br />

weißen, blin<strong>de</strong>n Molch am Grun<strong>de</strong> eines kleinen Höhlensees ent<strong>de</strong>ckt, und genauso muteten diese Kreaturen an,<br />

schleimig und wi<strong>de</strong>rlich. Sie rochen anscheinend nach überhaupt nichts, waren so neutral wie die Farbe ihrer Haut.<br />

Die kleine Tür hinter ihr wur<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r zugeschlagen, und sie war allein im Raum mit <strong>de</strong>m abscheulichen Wesen. Die<br />

Macht, die von <strong>de</strong>r großen Gestalt ausging, war fast spürbar. Talamà blinzelte, versuchte einen klareren Eindruck von<br />

<strong>de</strong>r Kreatur zu erlangen.<br />

Der Weiße erhob sich von seiner Ruhestätte, schritt mit staksiger Eleganz auf die am Bo<strong>de</strong>n kauern<strong>de</strong> Gestalt Talamàs<br />

zu. Mit Fingernägeln, die so lang und spitz wie Scheren waren, durchschnitt er mühelos die Stricke, die ihren Körper<br />

umfaßten, schenkte ihr frischen Atem. Sie taumelte zurück, griff sich an <strong>de</strong>n Mund, um <strong>de</strong>n Knebel herauszuziehen.<br />

Ein einziger Ton <strong>de</strong>s Schimmern<strong>de</strong>n klatschte sie gegen die nächste Wand, und ihre Arme hingen schwer wie Blei<br />

von ihrem Leib. Dieser Frem<strong>de</strong> war mächtig, und er beherrschte die Worte so gut, wie Talamà es noch nie bei<br />

jeman<strong>de</strong>m gefühlt hatte. Zitternd fiel sie auf die Knie, schaute hilflos zu <strong>de</strong>r riesigen Gestalt auf, die sich über sie<br />

beugte.<br />

„Kein Wi<strong>de</strong>rstand“ sagte <strong>de</strong>r Weiße ohne jeglichen Akzent in <strong>de</strong>r Stimme, zischte nicht einmal. Die Worte<br />

veranlaßten die Jurakai zu sofortigem Gehorsam, weckten <strong>de</strong>n Wunsch in ihr, sich <strong>de</strong>m Wesen zu unterwerfen und zu<br />

fügen. Sie rutschte auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> hin- und her, wand sich weg von dieser abstoßen<strong>de</strong>n Kreatur.<br />

Der Große, <strong>de</strong>ssen Name Chataih sein mußte, wenn Talamà die Weißen vor <strong>de</strong>r Höhle richtig verstan<strong>de</strong>n hatte, langte<br />

nach ihr, schien sie ohne Mühe nach oben zu heben.<br />

„Du bist interessant“ meinte er lediglich, schleu<strong>de</strong>rte sie dann erneut fort von sich. „Entpann dich“ riet er <strong>de</strong>r<br />

verkrümmten Talamà, setzte sich auf <strong>de</strong>n dreckigen Bo<strong>de</strong>n. „Dann wird <strong>de</strong>r Schmerz weniger schlimm sein.“<br />

Seine Züge schienen sich zu verziehen, ein unheimliches, langgesichtiges Lächeln trat auf sein grauenhaftes Antlitz.<br />

Er wiegte sich langsam auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Höhle, und plötzlich schienen sich kalte, nasse Finger sich in Talamàs<br />

Geist zu bohren, in ihrem Kopf zu wühlen. Entsetzt faßte sie sich an <strong>de</strong>n Mund und zog <strong>de</strong>n Knebel heraus. Erstaunt<br />

von ihrer eigenen Schnelligkeit entrang sich ihrer Kehle ein Schrei, und mit einem Hoffnungsschimmer robbte sie<br />

nach hinten. Noch immer stand das furchtbare Lächeln auf <strong>de</strong>m Gesicht von Chataih, und die lange Gestalt beugte<br />

ihren Körper vor, dann zurück. Die hypnotischen, kreisen<strong>de</strong>n Bewegungen faszinierten das Mädchen wi<strong>de</strong>r Willen,<br />

und nur mit größter Anstrengung konnte sie sich <strong>de</strong>m seltsamen Bann entreißen, die Hän<strong>de</strong> vor ihre Augen pressen.<br />

Da das Wesen ihr keine Beachtung zu schenken schien, versuchte sie sich an <strong>de</strong>n Worten, und die Kreatur<br />

beabsichtigte allem Anschein nach nicht, sie daran zu hin<strong>de</strong>rn. Ein Flüstern wisperte aus Talamàs Mund, verstärkte<br />

sich im Hall <strong>de</strong>r riesigen Höhle. Die Worte raschelten durch die stehen<strong>de</strong> Luft und erzeugten Abbil<strong>de</strong>r von sich selbst,<br />

während die Jurakai <strong>de</strong>n vorhan<strong>de</strong>nen Zauber ausweitete, schneller und schneller sang, die Kraft verdichtete. Ein<br />

schallen<strong>de</strong>s Dröhnen erfüllte <strong>de</strong>n Saal, als sie langsam zu einem En<strong>de</strong> kam, und ihre Lippen bebten vor Anspannung<br />

und Konzentration. Ihre Kehle vibrierte unter <strong>de</strong>r Belastung, ihr Körper zitterte.<br />

Das Wesen sah auf, und Talamà ließ los. Die angesammelte Macht <strong>de</strong>r Worte summte durch <strong>de</strong>n Raum, krachte wie<br />

tausend Donnerschläge an <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n entlang, bewegte sich unaufhaltsam auf das Geschöpf in <strong>de</strong>r Mitte zu.<br />

Lächelnd blickte Chataih die Jurakai an, und noch während er einfach nur in ihre Augen blickte, begann das<br />

ohrenbetäuben<strong>de</strong> Geräusch abzuklingen, verbrannte einfach vor <strong>de</strong>r sitzen<strong>de</strong>n Gestalt. Der Zauber löste sich in Nichts<br />

auf, verschwand ohne jegliche Spur. Angst breitete sich in Talamà aus, und sie murmelte einen weiteren Satz <strong>de</strong>r<br />

Macht. Der Weiße zischte, und <strong>de</strong>r Körper <strong>de</strong>r jungen Frau wur<strong>de</strong> noch einmal gegen die Höhlenwand geschleu<strong>de</strong>rt,<br />

diesmal weitaus schmerzhafter.<br />

„Ich bedaure dies zutiefst“ sagte Chataih ruhig und beobachtete die zucken<strong>de</strong> Jurakai. „Aber da du spielen willst,<br />

wer<strong>de</strong> auch ich nun spielen. Allerdings nach meinen Regeln“ meinte er bitter, und das Lächeln versackte in seinen<br />

Zügen, machte einem grimmigen Ausdruck Platz. „Du wirst verlieren.“<br />

Ein Wind erfaßte Talamà, <strong>de</strong>r nicht faßbar war, nicht wirklicher Natur. Er wehte durch sie hindurch, drang durch<br />

ihren Körper und ihre Organe. Je<strong>de</strong> Faser ihres Leibes fror, je<strong>de</strong>r Gedanke löste unsäglichen Schmerz aus. Dann<br />

kamen erneut die eiskalten Finger <strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>n, das Bewußtsein Chataihs bohrte sich in ihren Geist. Sie wand sich,<br />

konnte aber nichts ausrichten gegen die Stärke ihres Gegners. Die Kreatur forschte in ihren oberen<br />

Bewußtseinsbereichen, zerrte Erinnerungen und Ängste daraus hervor. Schluchzend wimmerte das Mädchen um<br />

Gna<strong>de</strong>, wollte <strong>de</strong>r Gestalt Einhalt gebieten. Die Schmerzen verstärkten sich noch, als Chataih tiefer vordrang, in ihr<br />

Innerstes zu gehen schien, es nach außen stülpte und ihre Gedanken freischüttelte. Talamà schrie, faßte sich an <strong>de</strong>n<br />

eisigen Kopf und brüllte. Dann verebbten die Qualen, und die geistigen Finger <strong>de</strong>s Wesens zogen sich zurück. Das<br />

Mädchen lag schnaufend auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, Tränen <strong>de</strong>r Erleichterung flossen aus ihren Augen.<br />

106


„Wo ist <strong>de</strong>r Junge?“ fragte <strong>de</strong>r Weiße erstaunt, und in seinem Gesicht zeigte sich zum ersten Mal eine echte Regung.<br />

Sie konnte fast als Furcht gelten.<br />

„Welcher Junge?“ stöhnte Talamà und unterdrückte die Tränen. Das Wesen musterte sie, verzog dann bösartig die<br />

schmalen Lippen.<br />

„Du hast es nicht an<strong>de</strong>rs gewollt. Jetzt, junge Jurakai“ flüsterte Chataih düster, „wirst du wirklichen Schmerz erleben.“<br />

Wolken...<br />

...dicke, weiße Wolken flogen über die Gräser, kreisten um einzelne Halme, verpufften wie<strong>de</strong>r. Schwarze Pünktchen<br />

mischten sich dazu, tanzten einen wil<strong>de</strong>n, ausgelassenen Tanz mit <strong>de</strong>n Wolken, die dichter wur<strong>de</strong>n, dann wie<strong>de</strong>r<br />

zerrannen.<br />

Indigo langte nach einer von ihnen, doch seine Hand glitt hindurch, lan<strong>de</strong>te auf <strong>de</strong>m feuchten Gras. Die Dämmerung<br />

kroch heran, und zusehends verdunkelte sich <strong>de</strong>r Himmel über <strong>de</strong>r Ebene. Die Kälte kam, und <strong>de</strong>r Junge wußte, daß er<br />

die Nacht nicht überleben wür<strong>de</strong>, wenn er keinen Unterschlupf fand. Bibbernd zog er sich vorwärts, schob sich Hügel<br />

für Hügel hinauf, um sich, an <strong>de</strong>ren Spitze angelangt, auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite wie<strong>de</strong>r herunterrollen zu lassen. Nach<br />

mehreren solchen Berg- und Talfahrten lag er erschöpft auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, hielt sich die pochen<strong>de</strong> Bauchwun<strong>de</strong>. Die<br />

Blutung hatte aufgehört, doch mit je<strong>de</strong>r hastigen Bewegung schien die Wun<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r aufzureißen, drohte ihm <strong>de</strong>n<br />

Bauch zu zerfetzen. Er spuckte ein paar Klumpen dunkelrotes, fast schwarzes Blut auf die Wiese, richtete sich dann<br />

unbeholfen auf. Torkelnd stapfte er eine kleine Anhöhe hinauf, blickte sich sorgsam um auf <strong>de</strong>m Rücken <strong>de</strong>s Kamms.<br />

Fel<strong>de</strong>r, nichts als Fel<strong>de</strong>r gab es um ihn herum, die Ebenen erstreckten sich wie die Unendlichkeit selbst vor seinen<br />

Augen. Keine Höfe, keine Siedlungen, nichts. Mit flauem Gefühl setzte er seinen Weg in die Richtung fort, in <strong>de</strong>r er<br />

<strong>de</strong>n Westen vermutete, trug sich mit <strong>de</strong>n Gedanken an Talamà, an Nachtfalke, an seine Familie. Wo war das Mädchen<br />

nur, wie hatte er es bloß zulassen können, daß die Orks sie in die Finger bekamen? Seine Sinne trieben fort, und die<br />

Bil<strong>de</strong>r von Talamà verblaßten wie<strong>de</strong>r.<br />

Unglücksbringer, riefen die Gräser ihm zu. Unglücksbringer, was tust du jetzt? Schleichst über Wiesen, Fel<strong>de</strong>r,<br />

Wei<strong>de</strong>n... wohin, Junge, wohin...<br />

„Nein“ murmelte Indigo und legte sich auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n. Mit einem Wimmern hämmerte er seinen Kopf gegen die harte<br />

Er<strong>de</strong>, versuchte die frem<strong>de</strong>n Klänge mit Gewalt zum Verstummen zu bringen.<br />

Unglücksbringer, heulten sie, flogen wie Geister über die Ebenen. Geh weit fort, geh und geh... <strong>de</strong>r einsame<br />

Wan<strong>de</strong>rer, in einem frem<strong>de</strong>n, fernen Land...<br />

Die Stimmen quälten ihn, wollten ihm seinen letzten Mut rauben.<br />

„Wer seid ihr?“ schrie er in die angehen<strong>de</strong> Nacht, doch keine Antwort kam zurück. „Wer seid ihr, daß ihr mich<br />

verspotten müßt, wenn ich eh schon so gut wie tot bin...“ Indigos Schluchzen verklang, und das wehen<strong>de</strong> Geräusch<br />

<strong>de</strong>s Win<strong>de</strong>s hallte zwischen <strong>de</strong>n Hügeln.<br />

Mü<strong>de</strong> trieb <strong>de</strong>r Jurakai sich voran. Er wußte, daß eine Rast zur Folge haben wür<strong>de</strong>, daß er einschlief, und daß Schlaf<br />

für ihn nun <strong>de</strong>n unweigerlichen Tod be<strong>de</strong>uten mußte. Er richtete einen flehentlichen Blick an <strong>de</strong>n Himmel, doch das<br />

Reich Himmelfeuers blieb verschlossen, keine Hilfe kam aus <strong>de</strong>n hohen Wolken. Sterne begannen, über ihm zu<br />

erblühen, wie Blumen auf einer Frühlingswiese. Mit einem verzweifelten Faustschütteln machte <strong>de</strong>r Junge seinem<br />

Frust Luft, taumelte <strong>de</strong>n nächsten Hang hinab.<br />

Hügel rauf, hügel runter<br />

Hügel mach mich munter<br />

sang er leise vor sich hin, kicherte beim Klang seiner Worte. Ein weiterer Anstieg, dann eine weitere Kluft, die sich<br />

vor ihm auftat.<br />

Hügel fein, Hügel mein,<br />

laß mich nie allein<br />

bleib an meiner Seite schön<br />

dann werd ich dich wie<strong>de</strong>rsehn<br />

mit pausenlosem bücken<br />

erklimm ich <strong>de</strong>inen Rücken<br />

roll mich an <strong>de</strong>inem Hang<br />

mit Freu<strong>de</strong> dran entlang<br />

Indigo lachte, ein irres, heiteres Lachen. Seine Augen blickten in weite Ferne, nahmen die unmittelbare Umgebung<br />

nicht mehr wahr. Wo sollte er sich <strong>de</strong>nn hinwen<strong>de</strong>n? Es blieben nur die Hügel, Hügel... tausend kleine und große<br />

107


Hügel, und alle wollten sie von ihm erklettert wer<strong>de</strong>n, hatten sich nur aus diesem Grun<strong>de</strong> hier versammelt. Oh ja, die<br />

Hügel waren seine Freun<strong>de</strong>, seine einzigen Freun<strong>de</strong>. Er hatte nicht mehr viele Freun<strong>de</strong>, nein. Aber die Hügel blieben,<br />

blieben an seiner Seite und wärmten ihn.<br />

Der Jurakai begann, ihnen Namen zu geben, mit ihnen zu sprechen, während er hinaufstieg und wie<strong>de</strong>r herabrollte.<br />

„Solomas, das Hügel-Gras“ taufte er <strong>de</strong>n kleinen Berg, <strong>de</strong>n er bestieg, freute sich über die Anwesenheit <strong>de</strong>s<br />

Erdhaufens.<br />

Was tust du nur, Unglücksbringer, zischten die Stimmen in seinem Kopf, doch Indigo pfiff fröhlich vor sich hin. Was<br />

tust du, tust du...<br />

„Hügel rauf, Hügel runter“ sang <strong>de</strong>r Jurakai sein kleines Liedchen erneut, spuckte nur gelegentlich aus, um seinen<br />

Mund von <strong>de</strong>m unangenehmen Blutgeschmack zu befreien.<br />

Sei vorsichtig, Unglücksbringer, sei vorsichtig... schlaf nicht ein in diesem Sein...<br />

Indigo lachte auf, als er merkte, daß auch die Stimmen zu Reimen begonnen hatten, gluckste erheitert vor sich hin.<br />

Der nächste Hügel schien beson<strong>de</strong>rs groß zu sein, und mit Vorfreu<strong>de</strong> lief <strong>de</strong>r Junge darauf zu, warf sich auf <strong>de</strong>n<br />

vermeintlichen Freund. Er wälzte sich im Gras, achtete nicht mehr auf die offene Wun<strong>de</strong> an seinem Bauch, bemerkte<br />

die Tropfen nicht, die auf <strong>de</strong>m Verband erschienen, auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n fielen.<br />

„Auf <strong>de</strong>n Hügel, auf <strong>de</strong>n Hügel“ jauchzte er fröhlich, krabbelte wie ein Käfer an <strong>de</strong>r Steigung empor. Oben<br />

angekommen streckte er seine Glie<strong>de</strong>r aus, legte sich erfrischt auf die nasse Er<strong>de</strong>. Er schloß die Augen, lauschte <strong>de</strong>m<br />

wun<strong>de</strong>rvollen Klang <strong>de</strong>s Win<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r an sein Ohr drang, in seinen Gehörgängen spielte. Die Musik ließ ihn glücklich<br />

aufatmen, und nur ein leichter Schmerz durchzuckte ihn, als er seinen Brustkorb hob.<br />

Bist so fern, Unglücksbringer, bist so fern... sei vorsichtig, kleiner Unglücksbringer... schlaf nicht ein in diesem<br />

Sein...<br />

„Nein“ lachte Indigo, rollte sich zur Seite. „Ich schlaf nicht ein in diesem Sein.“ Er warf einen Blick zum Fuße <strong>de</strong>s<br />

kleinen Berges, robbte darauf zu.<br />

Hör auf die Stimmen aus <strong>de</strong>m Herzen, riefen die Gräser, die Nacht ihm zu. Hör auf die Stimme aus <strong>de</strong>n Schmerzen...<br />

„Herzschmerz, Herzschmerz“, kicherte <strong>de</strong>r Jurakai, richtete sich auf und stolperte vorwärts. Er fiel über seine Füße,<br />

purzelte über <strong>de</strong>n Kamm und rollte <strong>de</strong>n Hügel hinab. Er überschlug sich mehrmals, lan<strong>de</strong>te hart im Gras und blieb<br />

keuchend liegen. Die verkrustete Wun<strong>de</strong> war aufgebrochen, und ein seichter Strom warmen Blutes rann über seine<br />

Hän<strong>de</strong>. Tränen sickerten aus <strong>de</strong>n unglücklichen Augen <strong>de</strong>s einsamen Wan<strong>de</strong>rers, doch sein Gesicht zeigte ein<br />

munteres Lächeln.<br />

Kleiner Unglücksbringer, was bringst du jetzt? fragten die Stimmen traurig. Bringst <strong>de</strong>n Tod ins Haus <strong>de</strong>s Lebens,<br />

bringst das Leben fort von dir...<br />

„Falke“ murmelte Indigo sehnsüchtig, und ein bitterer Ausdruck huschte über seine Züge. „Komm zurück, Falke.“ Der<br />

junge Körper erbebte, und ein langer, qualvoller Heulton drang aus <strong>de</strong>m verklebten Mund. Doch kein Nachtfalke<br />

erschien, und <strong>de</strong>r Jurakai schloß weinend die Augen. Sein Leib rollte sich zusammen unter <strong>de</strong>m kalten<br />

Sternenhimmel, und unruhig schlief Indigo ein, sackte in einen wahnwitzigen Fiebertraum...<br />

Ein Rauschen drang an seine Ohren, und er öffnete vorsichtig die Augen. Die Wun<strong>de</strong> hatte aufgehört zu pochen, und<br />

ein kurzer Blick an sich herab bestätigte seine Vermutung. Sein Wams war trocken und sauber, kein Blut klebte an<br />

seiner Kleidung. Erfreut blickte er sich um, und glücklich fand er sich an einem vertrauten, gemütlichen Platze<br />

wie<strong>de</strong>r. Er stand in <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sommers, und um ihn herum lief das geschäftige Treiben von vielen Jurakai ab.<br />

Einige schleppten Wasser, das sie aus einem Brunnen geschöpft hatten, an<strong>de</strong>re unterhielten sich im Schein <strong>de</strong>r<br />

Abendröte über irgendwelche wun<strong>de</strong>rbar belanglosen, unaufregen<strong>de</strong>n Dinge. Die Gesichter strahlten hell, in <strong>de</strong>n<br />

Augen leuchtete Leben. Indigo wun<strong>de</strong>rte sich, wo das knarren<strong>de</strong>, rauschen<strong>de</strong> Geräusch herkommen mochte, das ihn<br />

aus seinem lieblichen Schlummer gerissen hatte, und er blickte sich neugierig um. Doch außer <strong>de</strong>n lebhaften Gestalten<br />

<strong>de</strong>s Volkes und <strong>de</strong>n großen weißen Zeltbauten konnte er nichts ent<strong>de</strong>cken. Er sah in <strong>de</strong>n Himmel, und dort erblickte<br />

er, was ihm so son<strong>de</strong>rbar erschienen war. Die Sonne hing tief über <strong>de</strong>n weit entfernten Wäl<strong>de</strong>rn, warf sanfte,<br />

leuchten<strong>de</strong> Strahlen über die Wei<strong>de</strong> und schenkte <strong>de</strong>n Jurakai einen ruhigen, schönen Abend. Doch ein Stückchen<br />

neben <strong>de</strong>r Sonne befand sich ein weiterer Himmelskörper, stieg bedrohlich auf, zog schnell über das Firmament. Es<br />

war <strong>de</strong>r <strong>Mond</strong>, <strong>de</strong>r sich rasend über <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> bewegte, sich über Wolken hinwegsetzte, sein fahles Licht auf die<br />

Anwesen<strong>de</strong>n warf. Indigo taumelte zurück, prallte gegen eines <strong>de</strong>r Zelte, starrte wie gebannt auf das Auge im Himmel.<br />

Blutrot war es, ein schattiges, trübes Scharlach, senkte sein düsteres Licht auf die Stadt <strong>de</strong>r Jurakai.<br />

Der Junge stützte sich ab an <strong>de</strong>m Zelt, ging auf einen Bewohner <strong>de</strong>s Lagers zu, faßte ihn an <strong>de</strong>r Schulter. Er wollte<br />

ihn fragen, ob auch er <strong>de</strong>n seltsamen <strong>Mond</strong> sehen konnte, doch <strong>de</strong>r frem<strong>de</strong> Jurakai drehte nicht <strong>de</strong>n Kopf. Indigo ging<br />

um <strong>de</strong>n Mann herum, sah ihm ins Gesicht, und ein Schrei <strong>de</strong>s Schreckens entfuhr ihm. Die Züge <strong>de</strong>s Mannes waren<br />

verzerrt, spiegelten <strong>de</strong>n Schein <strong>de</strong>s roten <strong>Mond</strong>es wi<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r auf seine Haut fiel. Er hatte die Zähne zusammen<br />

gebissen, seine Augen waren nach oben verdreht, so daß das Weiße darin hervortrat. Noch während Indigo <strong>de</strong>n<br />

Jurakai anstarrte, blätterte <strong>de</strong>ssen Haut ab, entblößte eine schwarze, struppige Schicht. Narben und Warzen zogen sich<br />

über die Arme, und ein fauliger Geruch drang an die Nase <strong>de</strong>s Jungen. Hastig trat er ein paar Schritte zurück, stieß<br />

gegen einen an<strong>de</strong>ren Bewohner. Die Person offenbarte das gleiche abscheuliche Verhalten, stand zitternd auf <strong>de</strong>m<br />

Bo<strong>de</strong>n, die alte Haut machte <strong>de</strong>r neuen Platz. Bald war Indigo umgeben von schwarzen, borstigen Wesen, und die<br />

108


Geschöpfe fingen an, mit <strong>de</strong>n Köpfen zu wackeln und ihre fauligen Zungen aus <strong>de</strong>n Mün<strong>de</strong>rn zu schieben. Von Panik<br />

erfüllt taumelte <strong>de</strong>r Junge nach hinten, fiel über eine Unebenheit und lan<strong>de</strong>te auf <strong>de</strong>m Rücken. Der rote <strong>Mond</strong> hatte<br />

seine Bahn am Himmel zu En<strong>de</strong> gebracht, hatte die Sonne verdrängt und verharrte rotierend genau im Zenit. Rotes<br />

Licht flutete die Wei<strong>de</strong> und tauchte sie in eine Welt <strong>de</strong>s Zorns.<br />

Mit schlurfen<strong>de</strong>n Schritten näherten sich die ehemaligen Jurakai Indigo, faßten nach ihm, grapschten nach seiner<br />

Kleidung. Angewi<strong>de</strong>rt wich er ihnen aus, schlang sich unter ihnen hindurch, rannte davon. Er rannte und rannte, lief<br />

zwischen <strong>de</strong>n Zelten auf <strong>de</strong>n Ausgang zu, doch das Lager war endlos lang, besaß we<strong>de</strong>r einen Ein- noch einen<br />

Ausgang. Er rannte weiter durch die Wei<strong>de</strong>, auf <strong>de</strong>r Suche nach einer Möglichkeit, dieser grauenvollen Meute zu<br />

entkommen, als ein schwarzer Jurakai aus <strong>de</strong>n Schatten eines Zeltes hervortrat, ihn an <strong>de</strong>n Armen faßte. Sein<br />

faulen<strong>de</strong>r Atem ertränkte <strong>de</strong>n Jungen in Übelkeit, und das Wesen beugte sich nah vor Indigos Augen.<br />

„Hüte dich vor <strong>de</strong>m dunklen Blut“ quollen Worte aus <strong>de</strong>m Mund <strong>de</strong>r Kreatur wie Ma<strong>de</strong>n aus einem toten Tier. Die<br />

zerrissenen Li<strong>de</strong>r schlossen sich über <strong>de</strong>n Augäpfeln, doch noch immer waren die Pupillen hinter <strong>de</strong>n Hautlappen zu<br />

erkennen. Panisch versuchte Indigo sich loszureißen, aber <strong>de</strong>r Griff <strong>de</strong>s Wesens war stärker.<br />

„Hüte dich“ zischte es wie<strong>de</strong>r, rüttelte <strong>de</strong>n Jurakai gewaltsam. Das Gesicht kam immer näher, drang fast an das<br />

Indigos, und die Hitze <strong>de</strong>s Verfaulen<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong> unerträglich. Eitrige Nässe befeuchtete die Stirn <strong>de</strong>s Jungen, und ein<br />

Zucken ging durch seine Glie<strong>de</strong>r. Dann endlich kniff Indigo seine Augen zusammen, betete zu Himmelfeuer, daß er<br />

das furchtbare Schreckgespenst verschwin<strong>de</strong>n lassen sollte. Und es schien, als wür<strong>de</strong> die göttliche Entität ihn erhören.<br />

Der Geruch verblaßte, und nur die Nässe und die Hitze blieben zurück, als <strong>de</strong>r Junge erwachte. Er wagte es nicht,<br />

aufzuschauen, wand seinen Körper zur Seite. Dann spürte er nichts mehr außer Kälte, und vorsichtig öffnete er seine<br />

Augen.<br />

Im hellen, weißen <strong>Mond</strong>licht zeichnete sich eine riesige schwarze Gestalt über ihm ab, und während er zu schreien<br />

begann, senkte sich die Kreatur über ihn. Sein Ruf verklang ungehört in <strong>de</strong>n endlosen Weiten <strong>de</strong>r Ebene.<br />

Talamà lag in einer Ecke <strong>de</strong>r großen Höhle, blickte stumpf zu <strong>de</strong>m Wesen empor, das sich vor ihr aufgebaut hatte.<br />

Ihre leeren Augen spiegelten das Schimmern wie<strong>de</strong>r, das von <strong>de</strong>m fluoreszieren<strong>de</strong>n Weißen ausging, leuchteten<br />

milchig unter <strong>de</strong>r dunklen Er<strong>de</strong>.<br />

„Genug“ sagte <strong>de</strong>r Hochgewachsene und ließ <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>s Mädchens los. Die kleine Gestalt sackte in sich zusammen,<br />

fiel auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n. Speichel rann aus ihrem Mund und auf das Erdreich.<br />

„Kommt herein!“ sang er laut, und die Tür wur<strong>de</strong> geöffnet, die bei<strong>de</strong>n Weißen, die <strong>de</strong>n Eingang bewachten, traten aus<br />

<strong>de</strong>m Durchgang. Sie nahmen die Jurakai zwischen sich, trugen sie fort. Das Mädchen machte keine Anstalten, sich zu<br />

wehren, obwohl sie ein<strong>de</strong>utig wach war, alles mitbekam, was um sie herum geschah.<br />

„Und schickt mir diesen unfähigen Ork Grark hierher“ meinte <strong>de</strong>r Lange dann düster und setzte sich wie<strong>de</strong>r in die<br />

Mitte <strong>de</strong>s Raumes. Die Weißen nickten und zerrten die Jurakai durch die Tür.<br />

Kurze Zeit später wur<strong>de</strong> sie erneut geöffnet, Grark trat unbehaglich in die Höhle.<br />

„Wie schön, daß ich auch <strong>de</strong>ine Anwesenheit genießen darf, mein Freund“ sang Chataih, und seine dürren Finger<br />

falteten sich. „Ich habe auf dich gewartet.“<br />

„Es tut mir sehr leid, daß Ihr warten mußtet“ beteuerte <strong>de</strong>r Ork sofort und preßte sich an eine Wand. „Ich war nicht in<br />

<strong>de</strong>r Nähe, und <strong>de</strong>shalb...“<br />

„Still! Ich habe dich nicht aufgefor<strong>de</strong>rt, zu sprechen.“<br />

Grark wich noch ein Stück weiter zurück, wäre am liebsten in die Wand gekrochen.<br />

„Wo ist <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Jurakai? Der Junge?“ fragte Chataih scharf, betrachtete <strong>de</strong>n Ork finster.<br />

„Oh, wir ließen ihn an <strong>de</strong>r Oberfläche zurück, Herr! Er...“ Ein lautes Brüllen hallte durch die Höhle, und zum ersten<br />

Mal erlebte <strong>de</strong>r Ork, daß <strong>de</strong>r Hochgewachsene wütend wur<strong>de</strong>. Normalerweise war Chataih die Ruhe selbst, sprach<br />

immer sanft und leise.<br />

„Ich befahl dir doch, mir bei<strong>de</strong> zu bringen, nicht wahr?“<br />

Zitternd sank <strong>de</strong>r Ork auf die Knie, winselte um Gna<strong>de</strong>.<br />

„Herr, <strong>de</strong>r Junge ist tot! Wir haben ihn nur <strong>de</strong>swegen nicht mitgebracht! Der Shur-dai zerquetschte ihn, kam dabei<br />

jedoch ums Leben...“<br />

„Ein Shur-dai wur<strong>de</strong> getötet?“ brauste Chataih auf. „Dafür wirst du persönlich vor <strong>de</strong>m Meister gera<strong>de</strong>stehen!“ zischte<br />

<strong>de</strong>r Weiße und schob sich näher an <strong>de</strong>n Ork. „Wenn ich mit dir fertig bin...“<br />

„Aber Herr, wir haben brachten Euch das Mädchen...“<br />

„Sie ist nichts wert, du Narr. Es ist <strong>de</strong>r Junge, <strong>de</strong>r uns Schwierigkeiten bereiten könnte. Du wirst dafür Sorge tragen,<br />

daß ich innerhalb <strong>de</strong>r nächsten Stun<strong>de</strong>n seinen toten Körper hier vor mir liegen sehe. Falls nicht...“ Die funkeln<strong>de</strong>n<br />

Augen <strong>de</strong>s Hochgewachsenen ließen keinen Zweifel daran, daß <strong>de</strong>r Ork lange und ausgiebig Zeit fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, diesen<br />

Umstand zu bedauern. Unterwürfig verneigte er sich vor <strong>de</strong>m Weißen und zog sich zur Tür zurück.<br />

„Nicht so hastig, Grark. Du wirst früh genug aufbrechen können... aber vorher bekommst du die Belohnung, die du dir<br />

sicherlich für das Mädchen erhofft hast.“ Chataih grinste breit, und <strong>de</strong>r Schwarzork schloß vor Furcht die Augen.<br />

109


Viele, viele Tunnel entfernt staksten die bei<strong>de</strong>n Weißen, die Talamà mitgeschleppt hatte, über <strong>de</strong>n schwarzen<br />

Erdbo<strong>de</strong>n, doch die Schreie <strong>de</strong>s Orks drangen durch die Stollen bis hierher. Einer <strong>de</strong>r Weißen lächelte düster, <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>re ließ sich nichts anmerken.<br />

Die Gänge waren hier nur schlecht gesichert, lediglich kleine Holzbalken stützten die Decke, bewahrten sie vor <strong>de</strong>m<br />

Einsturz. Eine schwere Tür wur<strong>de</strong> aufgerissen, die Jurakai unsanft in <strong>de</strong>n dahinterliegen<strong>de</strong>n Raum gestoßen. Zischend<br />

wechselten die Hochgewachsenen ein paar Worte, verriegelten dann <strong>de</strong>n Eingang und ließen das Mädchen in <strong>de</strong>r<br />

frem<strong>de</strong>n, unheimlichen Umgebung zurück.<br />

Die Augen <strong>de</strong>r Gefangenen blickten stumpfsinnig gera<strong>de</strong>aus, nahmen vielleicht wahr, was sich ihnen offenbarte,<br />

zeigten jedoch keine Reaktion darauf. Talamà rollte sich auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, begann zu schluchzen, noch immer mit<br />

starrem Blick. Ihr Kopf fühlte sich leer an, wie ausgesaugt. Ihre Gedanken waren verschwommen, und <strong>de</strong>r einzige<br />

Trost, <strong>de</strong>n sie verspürte, war, daß Indigo unter Umstän<strong>de</strong>n noch am Leben sein konnte.<br />

Chataih hatte ihr mehr genommen als nur ihre Gedanken... die alte Kraft, die durch ihre A<strong>de</strong>rn geflossen war, die<br />

Kunst <strong>de</strong>r Worte... sie war verebbt. Das Mädchen konnte <strong>de</strong>n Zauber nicht mehr verwen<strong>de</strong>n. Chataih mußte<br />

irgen<strong>de</strong>ine Art von Blocka<strong>de</strong> in ihrem Gehirn verankert haben, <strong>de</strong>nn sie konnte sich nicht einmal mehr daran<br />

erinnern, wie man die Worte aussprach. Der Weiße hatte all ihre Kräfte genommen, sie so schwächlich und wehrlos<br />

wie ein kleines Rehkitz zurückgelassen.<br />

Tränen flossen über ihr Gesicht, und zitternd zog das Mädchen ihr Hemd um sich, raffte ihr Kleidung zusammen, um<br />

Wärme zu speichern. Irgendwo in <strong>de</strong>r Höhle mußte es eine Fackel geben, <strong>de</strong>nn ein schwacher Lichtschein erhellte <strong>de</strong>n<br />

Raum, ließ ihn in einem düsteren Halbdunkel erscheinen. Während die Jurakai sich auf <strong>de</strong>n Steinen<br />

zusammenkauerte, erkannte sie, daß sie nicht allein in dieser Zelle war.<br />

Die Höhle steckte voller Leben, voll von Gestalten, die sich in <strong>de</strong>n Schatten wälzten, schliefen o<strong>de</strong>r leise stöhnten.<br />

Entsetzt fuhr Talamà auf, schenkte ihrer Umgebung ein wenig mehr Beachtung: Jurakai und Menschen zugleich lagen<br />

auf <strong>de</strong>m dreckigen Bo<strong>de</strong>n, und in einer Ecke konnte sie sogar einen Dverjae ausmachen. Die Gestalten waren schwarz<br />

und verdreckt, hatten zerrissene Haut und wun<strong>de</strong> Hän<strong>de</strong>. Ihr Haar hing in manchen Fällen so zerzaust vom Kopf, daß<br />

Talamà es eher für Gestrüpp hätte halten können, und alle trugen sie <strong>de</strong>n gleichen <strong>de</strong>pressiven Gesichtsausdruck zur<br />

Schau, in <strong>de</strong>m keinerlei Hoffnung mehr lag. Das Mädchen setzte sich auf, schlich sich zu einem Jurakai und musterte<br />

ihn. Das lange Gesicht kam ihr vage bekannt vor, doch sie konnte sich nicht erinnern, wo sie es das letzte Mal<br />

gesehen hatte.<br />

Sie berührte <strong>de</strong>n am Bo<strong>de</strong>n Liegen<strong>de</strong>n erschöpft, ihre Stimme nur ein leises Wispern. „Kannst du... kannst du mich<br />

verstehen?“<br />

Falls <strong>de</strong>r Jurakai sie überhaupt sehen konnte, so ließ er es sich nicht anmerken, saß nur schweigend da und schien<br />

durch sie hindurch zu sehen. Sie rüttelte ihn an <strong>de</strong>n Schultern, und die ruckartige Bewegung ließ seine Haare nach<br />

hinten gleiten, die sein Gesicht be<strong>de</strong>ckt hatten, entblößten eine klaffen<strong>de</strong> Wun<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Wange. Erschreckt wich das<br />

Mädchen zurück, betrachtete das Loch mit Mitleid und Ekel zugleich.<br />

„Was ist mit dir geschehen?“ wollte sie wissen, fuhr zärtlich mit ihrer Hand über <strong>de</strong>n Arm <strong>de</strong>s Verwun<strong>de</strong>ten. „Was<br />

haben sie mit dir getan?“<br />

Langsam hob sich <strong>de</strong>r Kopf <strong>de</strong>s Jurakai, und ein irrer, abwesen<strong>de</strong>r Glanz zeigte sich in seinen Pupillen. Durch die<br />

Hautfetzen auf <strong>de</strong>r rechten Gesichtshälfte konnte Talamà die Zähne Erkennen, verfault und gelb. Qualvoll legte <strong>de</strong>r<br />

Jurakai seinen Kopf auf die Seite, schien einzuschlafen mitten in <strong>de</strong>r Bewegung.<br />

„Was...“ murmelte <strong>de</strong>r Mann leise, und wegen <strong>de</strong>r Beanspruchung <strong>de</strong>r Zunge fing die Wun<strong>de</strong> an, wie<strong>de</strong>r zu bluten.<br />

Ein roter Strom rann über sein Kinn, troff auf seinen Schoß. „...wer...“<br />

Die Stimme...<br />

Talamà taumelte mit aufgerissenen Augen zurück, prallte gegen an<strong>de</strong>re Gestalt und verharrte auf <strong>de</strong>m harten<br />

Untergrund. Diese Stimme... die Stimme und die Worte berührten eine sich erinnern<strong>de</strong> Seite in ihr, und als sie<br />

erkannte, wer dort vor ihr saß, wur<strong>de</strong> ihr Übel, und sie übergab sich in ihrem Gefängnis aus Er<strong>de</strong> und Lehm.<br />

„Beltiar...“ sagte sie leise und hockte sich vor <strong>de</strong>n Mann. „Bist du das, Beltiar?“ Liebevoll strich sie die Haare aus <strong>de</strong>m<br />

Gesicht <strong>de</strong>s Jurakai, legte ihn vorsichtig auf <strong>de</strong>n Rücken. „Hör auf zu sprechen und ruh dich aus“ befahl sie <strong>de</strong>r armen<br />

Kreatur, und die Gestalt nickte zitternd. Die irren Augen rasten von links nach rechts, verweilten auf Talamàs Antlitz,<br />

flogen weiter.<br />

„Ruhig, mein Freund, ruhig. Ich wer<strong>de</strong> mich um dich kümmern. Hier, nimm meine Hand.“<br />

Es war kaum zu fassen! Hier unten, in <strong>de</strong>n Tunneln und Katakomben in <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> Rubens, in diesem dunklen, kalten<br />

Gewölbe, hatte sie eine vertraute Person gefun<strong>de</strong>n, jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r auch sie noch von Eldraja’aro her kennen mußte.<br />

Mit wie<strong>de</strong>r erwachen<strong>de</strong>m Mut blieb sie neben <strong>de</strong>m verwun<strong>de</strong>ten Mann liegen, streichelte sanft über seine Züge,<br />

achtete peinlichst genau darauf, nicht die zahllosen heilen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r bluten<strong>de</strong>n Stellen zu berühren. Der Schmerz dieser<br />

armen Kreatur mußte unerträglich sein, allein das Atmen eine niemals en<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Pein.<br />

„Was kann ich nur für dich tun?“ murmelte sie sorgenvoll. „Ich habe nichts, um dir zu helfen.“<br />

Ein Röcheln drang aus Beltiars Kehle, ließ die Hautfetzen an seiner Wange erzittern. Er stöhnte auf, krümmte sich<br />

verzweifelt auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, seine Hand erhoben. Talamà ergriff sie, wärmte sie zwischen ihren Fingern. Die<br />

ausgemergelte Gestalt schnaufte zufrie<strong>de</strong>n und schloß die Augen.<br />

110


„Er wird nicht mehr lange unter uns weilen“ sagte eine tiefe Stimme direkt neben <strong>de</strong>m Mädchen, und erschreckt<br />

drehte sich Talamà, sah einen kurzen Schatten neben sich stehen. Es war ein Dverjae, stämmig gebaut wie alle<br />

Angehörigen <strong>de</strong>s kleinen Volkes. Auch er erschien trotz <strong>de</strong>r muskulösen Arme irgendwie dürr, vertrocknet, und mit<br />

einem mitleidvollen Lächeln neigte er <strong>de</strong>n Kopf, als er <strong>de</strong>n mustern<strong>de</strong>n Blick Talamàs auf sich spürte.<br />

„Es gibt hier nicht viel zu trinken, und noch weniger zu essen“ erklärte er, setzte sich vor <strong>de</strong>r Frau auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n. „Im<br />

Grun<strong>de</strong> genommen gibt es hier gar nichts, abgesehen von Schlägen, Foltern und <strong>de</strong>m langsamen, dahinsiechen<strong>de</strong>n<br />

Tod.“<br />

„Wer bist du?“ fragte Talamà erstaunt. „Und wovon sprichst du?“<br />

„Wovon ich spreche? Das müßte doch offensichtlich sein, o<strong>de</strong>r? Selbst eine Sekun<strong>de</strong> in dieser Höhle wür<strong>de</strong> genügen,<br />

um dir zu zeigen, was ich meine. Und mein Name ist Elan<strong>de</strong>r. Verrätst du mir <strong>de</strong>inen?“<br />

„Nenn mich Talamà“ sagte die Jurakai, während sie noch immer die Hand von Beltiar umschlossen hielt, seine Haut<br />

rieb und an sich drückte.<br />

„Ich freue mich, dich kennenzulernen, Talamà.“<br />

Sein Blick schweifte über die verkrümmten, halbtoten Gestalten in <strong>de</strong>r Höhle. „Bei <strong>de</strong>n meisten hier unten sollte man<br />

darauf verzichten, ein langes Gespräch zu beginnen.“ Mit einem Blick auf Beltiar fügte er hinzu: „Bei manchen wür<strong>de</strong><br />

ich sogar von einem langen Wort abraten.“<br />

Wütend blickte Talamà <strong>de</strong>n Zwerg an. „Wenn du mich nur belästigen und taktlose Kommentare abgeben willst, dann<br />

verschwin<strong>de</strong> besser.“<br />

„Es ist nichts als die Wahrheit, junge Jurakai. Die Leute hier sterben wie die Fliegen, das wirst auch du merken, wenn<br />

du länger mit dabei bist.“ Er zwirbelte an seinem Bart, verdrehte die kleinen weißen Härchen, bis die Strähnen zu<br />

seinem Kinn heraufreichten, ein weiteres Drehen Schmerz verursacht hätte.<br />

„Es sind viele Menschen und Jurakai hier?“ fragte Talamà und sah sich neugierig in <strong>de</strong>m dunklen Raum um. „Wie<br />

viele?“<br />

„Schwer zu sagen. Das ganze Tunnelsystem ist durchzogen von diesen Gefängnissen, und in je<strong>de</strong>m von ihnen leben<br />

und sterben Hun<strong>de</strong>rte. Außer<strong>de</strong>m sind es nicht nur Menschen und Jurakai, son<strong>de</strong>rn auch Dverjae, die hier gefangen<br />

gehalten wer<strong>de</strong>n, wie du vielleicht siehst. Allerdings ist meine Rasse hier längst nicht so stark vertreten wie die <strong>de</strong>r<br />

Manur. Auch <strong>de</strong>in Volk ist eher selten anzutreffen.“<br />

„Wie lange bist du schon hier? Und wie kamst du hierher?“<br />

„Oh, ein paar Wochen. Vielleicht auch ein paar Monate, das weiß man hier nie so genau. Ist schwer zu erkennen, ob<br />

die Sonne scheint o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r <strong>Mond</strong> leuchtet, wenn dich tausend Tonnen Er<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Oberfläche trennen, was meinst<br />

du?“<br />

Die Jurakai schüttelte <strong>de</strong>n Kopf, zuckte mit <strong>de</strong>n Schultern.<br />

„Na, ist ja auch egal. Hierhergekommen bin ich wahrscheinlich auf die gleiche Art wie je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re hier auch: Meine<br />

Stadt wur<strong>de</strong> angegriffen - Fuburburg, falls dir <strong>de</strong>r Name etwas sagt - und die Bewohner entwe<strong>de</strong>r getötet o<strong>de</strong>r hierher<br />

verschleppt. Und nun sitze ich in dieser Höhle und führe ein Gespräch mit einer Jurakai aus <strong>de</strong>m Weilerwald.“<br />

„Woher weißt du, woher ich stamme?“ fragte Talamà verwun<strong>de</strong>rt, doch <strong>de</strong>r Zwerg grinste bloß entschuldigend.<br />

„Nicht hängen lassen, Kleines. Es wird schon wie<strong>de</strong>r. Hoffe ich zumin<strong>de</strong>st“ fügte er hinzu.<br />

„Wun<strong>de</strong>rbar...“ seufzte das Mädchen, machte ein betretenes Gesicht.<br />

„Man kann hier unten überleben“ beeilte <strong>de</strong>r Dverjae sich zu sagen, neigte <strong>de</strong>n Kopf zur Seite. „Aber im Ernst, ich<br />

kann dir einiges zeigen hier unten - immerhin sehe ich nicht aus wie diese jämmerlichen Gestalten dort in <strong>de</strong>n Ecken,<br />

o<strong>de</strong>r?“<br />

„Sprich nicht so über sie!“ sagte Talamà mit erwachen<strong>de</strong>m Zorn und legte sich schützend über Beltiar. „Schließlich<br />

sind sie alle Lebewesen wie du und ich!“<br />

„Mehr o<strong>de</strong>r weniger“ gab Elan<strong>de</strong>r zu und entging nur knapp einer heftigen Ohrfeige. „Ich meine, sieh dich doch um!<br />

Die Hälfte von <strong>de</strong>nen ist bereits tot, o<strong>de</strong>r doch so gut wie. Mir jedoch geht es gut, <strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n entsprechend. Das<br />

liegt an zwei Dingen: Erstens, meine Rasse ist an die Arbeiten gewöhnt, die hier unten verrichtet wer<strong>de</strong>n müssen.<br />

Zweitens, es gibt einige kleine... nun, Tricks, mit <strong>de</strong>nen man sich ein wenig mehr zu Essen und zu Trinken<br />

verschaffen kann.“<br />

„So?“ sagte Talamà mü<strong>de</strong> und legte sich neben Beltiar, <strong>de</strong>r in einen traumlosen Schlaf gesunken war.<br />

„Ja“ bestätigte <strong>de</strong>r Zwerg, und ein reuevoller Ausdruck zeigte sich auf seinen Zügen. „Es tut mir leid, wenn ich <strong>de</strong>ine<br />

Ansichten verletzt habe, aber...“ Er senkte traurig <strong>de</strong>n Blick. „Dieses grauenvolle Zwischenreich, diese Hölle unter<br />

Tage, läßt sich nicht leicht ertragen. Entwe<strong>de</strong>r, du nimmst sie mit Humor... o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Tod. Die meisten hier<br />

wählen die zweite Möglichkeit“ fügte er düster hinzu.<br />

„Vielleicht hast du Recht...“ gestand die Jurakai sich ein, und ihr Blick fiel auf Beltiar. „Hast du ihn gekannt?“ fragte<br />

sie <strong>de</strong>n Zwerg, und Neugier mischte sich in ihre Stimme.<br />

„Ihn dort? Nicht, daß ich wüßte. Ein Freund von dir?“<br />

„Ich kenne ihn aus meiner Heimat in <strong>de</strong>n Wäl<strong>de</strong>rn. Er war... er ist ein guter Kerl. Ich hoffe, daß er stark bleibt und<br />

sich weiterhin <strong>de</strong>m Tod wi<strong>de</strong>rsetzt.“<br />

111


„Du solltest besser hoffen, daß er bald erlöst wird“ gab Elan<strong>de</strong>r zurück und beugte sich über <strong>de</strong>n verwun<strong>de</strong>ten Jurakai.<br />

„So wie er aussieht, hat er es bald hinter sich.“<br />

„Meinst du? Ich...“ Traurig verstummte Talamà, preßte die Hand <strong>de</strong>s Schlafen<strong>de</strong>n an ihre Brust. „Ich hoffe, er wird<br />

trotz <strong>de</strong>r großen Entfernung zum Himmel bis nach oben fin<strong>de</strong>n.“<br />

„Tja, und wenn nicht, dann kann er immer noch in <strong>de</strong>n Bouwu gleiten - die Vorstellung <strong>de</strong>s Paradieses von meinem<br />

Volk. Das Bouwu liegt unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, tief, tief darunter. Ich glaube sogar, daß es noch tiefer liegen soll.“ Er lächelte.<br />

„Habe mich allerdings nie wirklich für diesen Quatsch interessiert. Himmel und Hölle, Fegefeuer und Paradies... das<br />

ist mir irgendwie zu kindisch, muß ich zugeben. Ich achte darauf, so lange wie es geht am Leben zu bleiben, und die<br />

letzte Wahrheit erst so spät wie möglich herauszufin<strong>de</strong>n.“<br />

„Himmelfeuer ist keine Religion, son<strong>de</strong>rn Wirklichkeit“ versetzte die junge Frau, doch Elan<strong>de</strong>r machte ein<br />

unbekümmertes Gesicht.<br />

„Und wenn schon“ meinte er trotzig. „Hast du ihn schon einmal gesehen? Hilft er dir vielleicht gera<strong>de</strong> eben, aus<br />

diesem stinken<strong>de</strong>n Loch zu entkommen?“<br />

„Nein“ gab Talamà zu, doch tief in ihrer Seele glaubte sie es. „Er leitet uns, und er ist in uns. Und wenn nicht er, dann<br />

etwas an<strong>de</strong>res.“<br />

„Das ist mir zu hoch“ sagte <strong>de</strong>r Zwerg, schien dann über etwas nachzu<strong>de</strong>nken. „Das ist mir zu hoch - im wahrsten<br />

Sinne <strong>de</strong>s Wortes!“ Er kicherte, und Talamà schob sich näher an Beltiar, drängte sich von <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>s Dverjae<br />

hinweg.<br />

„Keine Sorge“ murmelte Elan<strong>de</strong>r plötzlich, und mit einem Mal war sein Gesicht sanft und mitfühlend. „Es sind nur<br />

Worte, meine junge Jurakai. Nur Worte, die hier unten keine Be<strong>de</strong>utung mehr haben. Nimm sie nicht zu ernst.“<br />

„Worte können mächtig sein“ erwi<strong>de</strong>rte Talamà, doch zögernd fügte sie hinzu: „Obwohl die Worte hier tatsächlich<br />

nicht von Belang zu sein scheinen.“ Noch immer spürte sie diese vollkommene Leere in sich, wo einst die Kräfte <strong>de</strong>r<br />

Worte geschlummert hatten. Doch all diese Macht schien sich verflüchtigt zu haben, war ihr durch Chataih<br />

genommen wor<strong>de</strong>n.<br />

„Ich möchte ausruhen“ meinte sie mü<strong>de</strong>, und <strong>de</strong>r Dverjae setzte sich zu ihr.<br />

„Natürlich“ sagte er beruhigend. Seine Stimme klang einschläfernd und nett. „Es tut mir leid, wenn ich dich<br />

erschreckt habe... ich bin es nicht mehr gewohnt, zu re<strong>de</strong>n wie einst. Diese Welt verän<strong>de</strong>rt dich, und zwar auf keine<br />

angenehme Weise.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich wer<strong>de</strong> auf dich Acht geben, während du schläfst.“<br />

Talamà wußte nicht warum, doch tief in sich fühlte sie Behaglichkeit, als <strong>de</strong>r kleine Mann neben ihr saß, fühlte, daß<br />

sie einen Freund gefun<strong>de</strong>n hatte in dieser dämonischen Welt <strong>de</strong>r Dunkelheit. Sie wußte, daß ihr kein Leid geschehen<br />

wür<strong>de</strong>, solange <strong>de</strong>r Zwerg an ihrer Seite weilte. Sie sackte hinweg in einen gna<strong>de</strong>nvollen Schlaf, <strong>de</strong>r viele <strong>de</strong>r<br />

leidvollen Erinnerungen in Vergessenheit ertränkte.<br />

Kälte durchspülte Indigos Körper, floß durch seine A<strong>de</strong>rn, als Furcht Besitz von seinem Herzen ergriff. Ein lautes,<br />

wüten<strong>de</strong>s Schnauben erklang seinem Ohr, und heiße Luft wehte an seinem Hals. Er rollte sich zur Seite, doch <strong>de</strong>r<br />

Schatten <strong>de</strong>r riesigen Gestalt, die über ihm stand, drehte sich, neigte sich bedrohlich über ihn. Ein Schrei entrang sich<br />

seiner Kehle, und mit tasten<strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n suchte er nach Grimm, hatte vergessen, daß das Schwert jetzt irgendwo auf<br />

<strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s Hochlan<strong>de</strong>s liegen mußte, blutverschmiert und einsam. In Panik kroch er nach hinten, wich einem<br />

erneuten Angriff <strong>de</strong>s riesigen Wesens aus, das mit seinem monströsen Kopf...<br />

... Indigo verharrte auf <strong>de</strong>r Stelle, blinzelte einmal, dann noch einmal, um einen klareren Blick zu gewinnen. Ein<br />

glückliches Lachen entrang sich seiner Kehle, als er erkannte, wer tatsächlich vor ihm stand, hier sein vermeintlicher<br />

Bedroher war. Sein schwarzer Hengst, von <strong>de</strong>m er sich getrennt hatte, um Talamà beizustehen, war zurückgekehrt!<br />

Das Tier hatte ihn aufgestöbert, hier, mitten im Nirgendwo! Und noch dazu hatte ihn das Pferd aufgeweckt, ihn<br />

wahrscheinlich vor <strong>de</strong>m sicheren Tod bewahrt. Glücklich schlang er die Arme und <strong>de</strong>n Hals <strong>de</strong>s Tieres, rieb sich am<br />

warmen Fell. Ein weiteres Schnauben ließ heißen Atem über seinen Nacken fahren, und erfreut spürte er die wohlige<br />

Wärme.<br />

„Guter Junge“ lobte <strong>de</strong>r Jurakai das Roß, streichelte <strong>de</strong>n muskulösen Leib. Ein rascher Blick zeigte ihm, daß sogar die<br />

Satteltaschen noch um das Tier hingen, Nahrung und Medikamente auf <strong>de</strong>n jungen Mann warteten. Er tätschelte das<br />

Pferd sanft, kraulte es hinter <strong>de</strong>m Ohr und schmiegte sich an <strong>de</strong>n vertrauten Körper. Das Tier senkte <strong>de</strong>n Kopf und<br />

begann damit, ein paar Grasbüschel vom Bo<strong>de</strong>n zu klauben, kaute auf ihnen herum.<br />

„Ja, friß dich satt, mein Guter. Du bist ein wun<strong>de</strong>rbares Pferdchen, weißt du das?“ Er kramte in <strong>de</strong>n Taschen, die um<br />

<strong>de</strong>n Rücken <strong>de</strong>s Tiers gebun<strong>de</strong>n herabhingen, fand nach kurzer Zeit, was er gesucht hatte. Eine kleine Phiole mit<br />

grünlich schimmern<strong>de</strong>r Flüssigkeit, das Heilmittel, das Nachtfalke ihm zweimal hatte zukommen lassen, das ihn<br />

je<strong>de</strong>smal gestärkt hatte. Er trank die ölige Substanz hastig, untersuchte dann seinen Bauch, um festzustellen, wie<br />

schlimm es um die Wun<strong>de</strong> stand.<br />

Nicht sehr gut, fand er heraus, als er <strong>de</strong>n Verband gelöst hatte. Eiter und Blut perlten von seiner aufgeschlitzten Haut,<br />

und ein heftiges Ziehen ging durch seinen Magen, als er die Stelle abtastete. Schnell legte er einen neuen,<br />

professionelleren Verband an, benutzte Leinen, die er aus <strong>de</strong>n Satteltaschen zog. Bald konnte er wie<strong>de</strong>r aufrecht<br />

stehen, auch wenn <strong>de</strong>r Schmerz ihm dabei die Luft aus <strong>de</strong>n Lungen zu pressen schien.<br />

112


„Die Reise geht weiter“ flüsterte er <strong>de</strong>m Pferd ins Ohr, schwang sich anschließend unbeholfen in <strong>de</strong>n Sattel. Der<br />

Hengst trabte vorwärts, und zuerst dachte Indigo, daß er sterben müßte bei je<strong>de</strong>m Aufprall eines Hufes, bei je<strong>de</strong>m<br />

winzigen Rucken. Die Bauchwun<strong>de</strong> schien in seinem Kopf zu pochen, quetschte ihm alle vernünftigen Gedanken aus<br />

<strong>de</strong>m Geist. Nach einiger Zeit hatte er eine bequemere Lage gefun<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>r Ritt gestaltete sich zusehends<br />

angenehmer.<br />

„Ich glaube, du hast dir einen Namen verdient, nicht wahr, mein Guter?“ Der Jurakai überlegte eine Weile, bis er<br />

lächelnd die Zügel in die Hand nahm, das Roß zu noch schnellerem Ritt anspornte. „Windmähne!“ rief er fröhlich,<br />

drängte das leise Pochen <strong>de</strong>r Wun<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Hintergrund seines Denkens. „Windmähne wird dir gefallen, <strong>de</strong>nke ich!<br />

Wie fin<strong>de</strong>st du <strong>de</strong>inen neuen Namen, mh?“<br />

Ohne eine Antwort galoppierte <strong>de</strong>r Hengst weiter in die Richtung, die Indigo ihm vorgab, und sein Haar flatterte im<br />

Wind. „Auch wenn du mir <strong>de</strong>rzeit keine Antwort geben willst“ lachte <strong>de</strong>r Junge, „machst du <strong>de</strong>inem Namen trotz<strong>de</strong>m<br />

alle Ehre! Reite, Windmähne, reite!“<br />

Die schwarze Gestalt <strong>de</strong>s Pfer<strong>de</strong>s schnellte über die Ebenen, umlief die höheren Hügel geschickt, sprang über kleine<br />

Flußläufe, während sich hinter <strong>de</strong>m Rücken <strong>de</strong>r zwei Reisen<strong>de</strong>n die ersten Strahlen <strong>de</strong>r aufgehen<strong>de</strong>n Sonne über <strong>de</strong>n<br />

Horizont erhoben. Indigo hatte alle Mühe, sich im Sattel zu halten, klammerte sich an <strong>de</strong>n beben<strong>de</strong>n Körper. Nach<br />

einiger Zeit stand Himmelfeuers Auge sichtbar am Firmament, offenbarte <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Reisen<strong>de</strong>n, daß sie sich genau<br />

gen Westen bewegten. Erfreut lachte Indigo auf, sog die frische Morgenluft ein, genoß die ersten Strahlen eines neuen<br />

Tages. Die Flüssigkeit aus Nachtfalkes Rucksack machte ihn euphorisch, ließ die Situation weit weniger schlimm<br />

anmuten, als sie tatsächlich war, verlieh ihm neue Kräfte.<br />

Hier bin ich! schrie ein Teil <strong>de</strong>s Jurakai enthusiastisch, verkün<strong>de</strong>te die Botschaft über Rubens Weiten. Hier bin ich<br />

noch immer, obwohl hun<strong>de</strong>rte von Orks mich töten wollten, ein Drache gegen mich gekämpft hat! Hier bin ich, und<br />

niemand ist imstan<strong>de</strong>, mich aufzuhalten! Ich und du, Windmähne, ich und du! Wir bei<strong>de</strong> zeigen es ihnen, ihnen allen!<br />

Er klopfte <strong>de</strong>m Pferd kameradschaftlich auf <strong>de</strong>n Rücken, und nach ein paar Minuten zog er die Zügel, be<strong>de</strong>utete <strong>de</strong>m<br />

Hengst, stehen zu bleiben.<br />

„Wir machen eine Rast, mein Junge“ teilte er <strong>de</strong>m Tier mit, das unruhig auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n scharrte. „Du brauchst hier<br />

keine Angst mehr zu haben! Wir haben die Bestien hinter uns gelassen. Jetzt sind wir auf <strong>de</strong>m Weg zum König, um<br />

ihm die Nachricht von <strong>de</strong>n schrecklichen Angriffen zu überbringen! Nichts hält uns mehr auf.“<br />

Da das Roß an<strong>de</strong>rer Meinung zu sein schien und sich immerfort schüttelte, beeilte <strong>de</strong>r Jurakai sich, ein wenig Brot<br />

und Wasser aus einer <strong>de</strong>r Taschen zu holen und sich die Nahrung in <strong>de</strong>n Mund zu stopfen.<br />

„Ich kann nicht essen, während ich reite“ erklärte er Windmähne, und das Pferd wieherte mitfühlend. „Nimm auch<br />

einen Schluck, Junge.“ Indigo kippte einen Teil <strong>de</strong>s Wassers in eine Schale, überließ die kühle Flüssigkeit <strong>de</strong>m Pferd.<br />

Nach<strong>de</strong>m sie bei<strong>de</strong> gesättigt waren, stieg <strong>de</strong>r Jurakai wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Rücken <strong>de</strong>s Tieres. „Ich vertraue <strong>de</strong>inen<br />

Instinkten, mein Freund. Wenn du <strong>de</strong>nkst, daß diese Gegend nicht sicher ist, dann will ich dir Glauben schenken.<br />

Aber trotz<strong>de</strong>m sollten wir bald eine Rast einlegen, Windmähne. Ich muß schlafen, <strong>de</strong>nn sonst könnte es passieren, daß<br />

ich auf <strong>de</strong>inem Rücken einnicke und aus <strong>de</strong>m Sattel falle.“<br />

Das Pferd trabte voran, und selbst als die Sonne ihren Zenit erreicht hatte, schien das Roß keine Anstalten zu machen,<br />

langsamer zu wer<strong>de</strong>n. Indigo freute sich einerseits darüber, daß sie so gut vorankamen, an<strong>de</strong>rerseits befürchtete er das<br />

schlimmste für Pferd und Reiter, wenn Windmähne nicht bald eine Rast einlegte.<br />

Doch erst am Abend ließ sich das unermüdliche Tier dazu überre<strong>de</strong>n, langsamer zu traben, gemächlich dahinzutrotten<br />

auf <strong>de</strong>r Suche nach einem geeigneten Rastplatz. Die Hügel hatten sie hinter sich gelassen, und vor ihnen erstreckte<br />

sich das Innere Reich. Zu Indigos Linken tauchten am Horizont die Umrisse eines riesigen Wal<strong>de</strong>s auf, und nach <strong>de</strong>m<br />

Betrachten <strong>de</strong>r Shat’lan-Karte wußte <strong>de</strong>r Jurakai, daß dies <strong>de</strong>r Schattenwald sein mußte, o<strong>de</strong>r doch wenigstens ein<br />

Ausläufer davon. Er ließ Windmähne darauf zulaufen, war überglücklich darüber, bald eine Pause einlegen zu<br />

können. Die Wirkung <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r letzten Nacht eingenommenen Medizin hatte sich verflüchtigt, und das dumpfe,<br />

stetige Pochen <strong>de</strong>r Wun<strong>de</strong> war zurückgekehrt. Die Heilung war zwar fortgeschritten, eine kleine Kruste hatte sich über<br />

<strong>de</strong>m zerfetzten Fleisch gebil<strong>de</strong>t, doch tat die aufgerissene Stelle noch immer höllisch weh. Mit gerunzelter Stirn<br />

beobachtete Indigo das Land, die Wäl<strong>de</strong>r, konnte nichts ent<strong>de</strong>cken, was Anlaß zur Sorge gegeben hätte.<br />

An einer kleinen Baumgruppe machten sie Halt, und Indigo führte <strong>de</strong>n Hengst zu einem nahe gelegenen Fluß, tränkte<br />

das Tier und bediente sich ebenfalls von <strong>de</strong>m kühlen Naß. Er wußte, daß er nun etwas schmerzhaftes, doch<br />

unvermeidbares zu tun hatte, und so kniff er die Augen zusammen und trennte <strong>de</strong>n Verband von seinem Bauch. Das<br />

Leinen riß Stückchen <strong>de</strong>r getrockneten Kruste mit sich, und die offenen Stellen begannen sofort zu bluten. Mit bitterer<br />

Miene hielt <strong>de</strong>r Jurakai sich die Wun<strong>de</strong>, wartete, bis <strong>de</strong>r Schmerz so weit abgeklungen war, daß er sich wie<strong>de</strong>r<br />

bewegen konnte. Eiter und Blut tropften von seinem Bauch, lan<strong>de</strong>ten auf seinen Beinen o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n. Der<br />

Junge betrachtete die Verletzung, und Übelkeit stieg in ihm auf. Die Wun<strong>de</strong> sah gar nicht gut aus, hatte sich in<br />

Wirklichkeit sogar noch verschlechtert im Gegensatz zu gestern Abend. Er war während <strong>de</strong>s Ritts unter <strong>de</strong>r ständigen<br />

Benebelung <strong>de</strong>r grünen Flüssigkeit gestan<strong>de</strong>n, hatte es nicht gemerkt, wie schädlich das ständige Auf und Ab gewesen<br />

war. Außer<strong>de</strong>m schien sich Dreck in die offene Stelle gefressen zu haben, was nicht weiter verwun<strong>de</strong>rlich war. Wenn<br />

man bedachte, wieviele Hügel Indigo bestiegen hatte, um sich anschließend an ihrem Hang herunterrollen zu lassen,<br />

so wäre es unwahrscheinlich gewesen, wenn sich kein Schmutz verfangen hätte. Nun, je<strong>de</strong>nfalls hieß es jetzt, daß er<br />

113


die Wun<strong>de</strong> so gut wie möglich ausspülen mußte, um die Gefahr einer Entzündung zu vermin<strong>de</strong>rn. Er holte einen<br />

kleinen Ast hervor und steckte ihn sich zwischen die Zähne, dann biß er fest zu, um ein Gefühl für das Holzstück zu<br />

bekommen. Als er sich genügend vorbereitet hatte, zog er ein kleines Messer aus seinem Stiefel, eines <strong>de</strong>r Sorte, wie<br />

Nachtfalke es immer mit sich herum getragen hatte.<br />

Er langte in <strong>de</strong>n Fluß, schaufelte Wasser heraus und spülte das Blut hinfort. Die Kälte ließ ihn erschau<strong>de</strong>rn,<br />

zusammenzucken, doch das Schlimmste stand ihm noch bevor. Nach<strong>de</strong>m die Verletzung äußerlich gereinigt war,<br />

mußte er die dreckigen Stellen aufbrechen, die infektiösen Stoffe entfernen. Er atmete tief ein, seine Hän<strong>de</strong> zitterten,<br />

dann ließ er seine Zähne hart in das Holz fahren. Das beruhigen<strong>de</strong> Geräusch von knirschen<strong>de</strong>n Zähnen machte ihm<br />

keinen Mut, als er das saubere Messer langsam an die Kruste führte. Er fuhr mit <strong>de</strong>r Klinge in die verdreckten Stellen,<br />

weinte vor Schmerz, als er die Schnei<strong>de</strong> drehte, um <strong>de</strong>n Schmutz zu lösen. Dann preßt er das Messer wie<strong>de</strong>r heraus,<br />

hebelte die eingefressene Er<strong>de</strong> und <strong>de</strong>n Schlamm mit hinaus. Ein stetiger Blutfluß ergoß sich über seine Beine, doch<br />

trotz<strong>de</strong>m schabte er weiter, beför<strong>de</strong>rte je<strong>de</strong>n kleinsten Schmutzpartikel aus <strong>de</strong>r Wun<strong>de</strong>. Als er fertig war, griff er nach<br />

<strong>de</strong>m bereitgelegten Tuch, band sich die nun vollkommen offene Verletzung ab, stöhnte laut auf, als <strong>de</strong>r feste Stoff sich<br />

über sein Fleisch legte. Er wußte, daß er nicht zu fest zuziehen durfte, da er sonst spätestens morgen die gleiche<br />

Prozedur von vorhin wie<strong>de</strong>rholen durfte, das eingeeiterte Leinentuch von seinem Bauch lösen mußte. Mit einem<br />

letzten, straffen Ruck verknotete er <strong>de</strong>n Verband, dann sank er hinterrücks auf das Gras, ruhte sich in <strong>de</strong>r<br />

hereinbrechen<strong>de</strong>n Dunkelheit von <strong>de</strong>n Qualen aus. Er war geneigt, einzuschlafen, doch eine innere Stimme drängte<br />

ihn, zuerst ein sicheres Lager aufzuschlagen und nach Windmähne zu sehen.<br />

Mühsam versuchte er, auf die Beine zu kommen, dabei seinen Magen so wenig wie möglich zu belasten. Wenigstens<br />

schien Grimm keine lebensnotwendigen Teile von ihm zerschnitten zu haben, <strong>de</strong>nn sonst wäre er jetzt vermutlich<br />

schon tot, läge irgendwo zwischen zwei Hügeln und wür<strong>de</strong> von ein paar Mäusen zernagt. Dankbar für diese kleine<br />

Gabe lief er auf wackeligen Knien zurück zu <strong>de</strong>r Baumgruppe, an <strong>de</strong>r sein Pferd schon auf ihn wartete. Er streichelte<br />

Windmähne sanft über die Schnauze, benei<strong>de</strong>te das Tier um <strong>de</strong>n intakten, in keinster Weise verwun<strong>de</strong>ten Magen. Mit<br />

leisen Worten flüsterte er <strong>de</strong>m Hengst zu, daß es jetzt Zeit war, zu schlafen, und zwar für sie bei<strong>de</strong>, dann breitete er<br />

eine kleine Decke vor sich aus, legte sich darauf und kuschelte sich ein. Zum Glück hatte Nachtfalke an alles gedacht,<br />

als sie aufgebrochen waren, hatte gut geplant...<br />

...Nachtfalke... wo mochte er jetzt wohl sein? War er tatsächlich bei Himmelfeuer, in <strong>de</strong>n ewigen Stätten <strong>de</strong>r Drachen?<br />

Es war ein tröstlicher Gedanke, sich vorzustellen, daß sein Freund nun von oben auf ihn herabblickte, ihn beobachtete<br />

und ihn möglicherweise sogar beschützte...<br />

Indigo rutschte unruhig auf <strong>de</strong>m kalten Bo<strong>de</strong>n, wickelte sich noch tiefer in das Deckchen ein. Die Kälte kam, und er<br />

spürte in seinen Knochen, daß es eine harte Nacht wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Ihm war sowieso schon fast zu kalt, selbst mit <strong>de</strong>r<br />

Decke, <strong>de</strong>nn sein Körper hatte so viel Blut verloren, daß es einige Zeit dauern wür<strong>de</strong>, diesen Verlust wie<strong>de</strong>r wett zu<br />

machen. Bibbernd rieb er seine Arme, gab das Vorhaben jedoch schon bald wie<strong>de</strong>r auf, als das Pochen <strong>de</strong>r Verletzung<br />

unerträglich wur<strong>de</strong>, durch seine Arme zuckte und seine Muskeln sich verkrampfen ließ. Er blickte in <strong>de</strong>n dunklen<br />

Sternenhimmel empor, suchte nach einem Anzeichen von Falke, einem Hinweis darauf, daß sein Freund tatsächlich<br />

dort oben weilte. Doch auch wenn Nachtfalkes Tod schrecklich war, so wußte er doch wenigstens sicher Bescheid, daß<br />

<strong>de</strong>r Jurakai das Schlimmste nun hinter sich hatte. Ganz im Gegensatz zu Talamà, die sich in <strong>de</strong>n Fängen <strong>de</strong>r Orks<br />

befin<strong>de</strong>n, jedoch ebensogut tot sein konnte. Schniefend und mit Bedauern dachte er an die schönen Stun<strong>de</strong>n, die er mit<br />

<strong>de</strong>m Mädchen verbracht hatte, an all die glücklichen Momente, die sie erleben konnten, obwohl sie sich auf einer<br />

<strong>de</strong>rart gefährlichen Reise befan<strong>de</strong>n... jetzt waren diese Momente unwie<strong>de</strong>rbringlich verloren, hatte das Glück sich<br />

abgewandt von ihnen. Er mußte zugeben, daß die Beziehung, und mochte sie noch so kurz gewesen sein, nicht einer<br />

gewissen Romantik entbehrt hatte...<br />

Während Indigo über Talamà nachsinnend unter <strong>de</strong>m kleinen Baumhain kauerte, die Sterne ein fahles Licht auf ihn<br />

warfen, sank er langsam aber sicher in <strong>de</strong>n Schlaf, träumte unwirkliche, unruhige Träume von Messern und seltsamen<br />

Pfer<strong>de</strong>n, Hügeln, die über lange Ebenen wan<strong>de</strong>rten, und großen, fliegen<strong>de</strong>n Drachen.<br />

Windmähne ruhte unweit neben ihm, und gelegentlich entwich <strong>de</strong>n Nüstern <strong>de</strong>s Tieres ein Schnauben, und ein Lid<br />

<strong>de</strong>s Hengstes hob sich, entblößte ein wachsames Auge, das nach Verfolgern Ausschau hielt, fiel dann wie<strong>de</strong>r zu.<br />

Als die frem<strong>de</strong>n Wesen jedoch tatsächlich so nah herangekommen waren, daß Windmähne sie hätte spüren können,<br />

war das Pferd in einen so tiefen Schlaf gesunken, daß es die schwarzen Gestalten, die sich um <strong>de</strong>n Baum scharten, gar<br />

nicht wahrnahm.<br />

Die Tür zu Talamàs Höhle wur<strong>de</strong> aufgestoßen, und ein kleiner Orkkopf erschien vor <strong>de</strong>r Schwelle.<br />

„Steh auf“ sagte Elan<strong>de</strong>r in gequältem Tonfall, und die Jurakai rappelte sich hoch. „Es ist mal wie<strong>de</strong>r soweit. Ich<br />

schätze, sie wer<strong>de</strong>n dich noch etwas härter herannehmen, da dies <strong>de</strong>ine erste Woche ist. So machen sie es mit allen,<br />

die hier neu dazukommen.“<br />

„Was müssen wir tun? Was für eine Arbeit ist das?“<br />

„Laß dich überraschen“ meinte <strong>de</strong>r Dverjae und hob vielsagend die Augenbrauen. „Du wirst es noch früh genug<br />

herausfin<strong>de</strong>n.“<br />

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„Alle rauskommen!“ brüllte <strong>de</strong>r Schwarzork vor <strong>de</strong>r Tür in gebrochenem Rubisch. Die kehligen Untertöne in seiner<br />

Sprache ließen <strong>de</strong>n Satz klackend und knirschend ertönen. Mit einer unmißverständlichen Geste <strong>de</strong>utete er allen<br />

Bewohnern <strong>de</strong>s finsteren Raumes, sich ohne Umschweife fertigzumachen. Die Geschöpfe, die nicht tot o<strong>de</strong>r am<br />

Sterben waren, schleppten sich mühselig durch das Gewölbe, verursachten ein unheimliches, mehrstimmiges<br />

Gestöhne, welches wie das Murmeln einer Mönchsgruppe von <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n wi<strong>de</strong>rhallte. Als die kleine Menge sich im<br />

Tunnel versammelt hatte, ging <strong>de</strong>r Ork in die Höhle hinein, trat nach <strong>de</strong>n am Bo<strong>de</strong>n liegen<strong>de</strong>n Gestalten, um zu<br />

sehen, wer sich nur vor <strong>de</strong>r Arbeit drücken wollte. Talamà wollte zu einem Schrei ansetzen, doch <strong>de</strong>r Zwerg zog sie<br />

am Ärmel und legte ihr die Hand vor <strong>de</strong>n Mund.<br />

„Still, du Närrin! O<strong>de</strong>r willst du gleich am ersten Tag unangenehm auffallen? Das ist das Geheimnis <strong>de</strong>s Überlebens<br />

in dieser Hölle: Verhalte dich unauffällig und paß darauf auf, daß schlimme Dinge immer nur an<strong>de</strong>ren zustoßen.“<br />

„Das ist ein wi<strong>de</strong>rlich eigennütziges Motto“ flüsterte das Mädchen zurück, verhielt sich jedoch still.<br />

„Nun, hier unten gibt es kein „gemeinsam“. Dieses Wort solltest du sofort aus <strong>de</strong>inem Wortschatz streichen, <strong>de</strong>nn gute<br />

Taten wer<strong>de</strong>n nur schamlos ausgenutzt. Diese Geschöpfe hier ringen um ihr nacktes Überleben...“ er machte eine<br />

ausufern<strong>de</strong> Handbewegung, die die vielen gebeugten, zerschun<strong>de</strong>nen Gestalten um sie herum einschloß. „...und es<br />

kümmert sie herzlich wenig, wenn jemand an<strong>de</strong>res tot umfällt, solange dabei nur etwas für sie herausspringt. Ist auch<br />

verständlich, fin<strong>de</strong> ich. Ruhig jetzt, unser Aufseher kommt wie<strong>de</strong>r.“<br />

Knurrend trat <strong>de</strong>r Ork aus <strong>de</strong>m Gewölbe und hob einen langen Stock. Vor ihm taumelte eine menschliche Frau, die alt<br />

und vertrocknet aussah. Der Schwarzork schlug ihr mit <strong>de</strong>r Waffe gegen die Schulter, und vor Schmerz krümmte sich<br />

die Alte, preßte ihre Hand auf die getroffene Stelle. Ein weiterer Schlag <strong>de</strong>s Prügels sauste auf ihre Finger nie<strong>de</strong>r, und<br />

schluchzend brach die Frau auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n zusammen. Der Ork trat fest zu, damit sie endlich aufstand, die Arbeit<br />

nicht unnötig verzögerte.<br />

„Ich euch gewarnt“ zischte er und zeigte auf die am Bo<strong>de</strong>n liegen<strong>de</strong> Manur. „Wer sich drückt vor Arbeit, <strong>de</strong>r Strafe<br />

bekommt!“<br />

„Das ist unmenschlich!“ murmelte Talamà entsetzt, und Elan<strong>de</strong>r nickte bestätigend.<br />

„Du hast Recht. Aber immerhin sind diese Orks auch keine Menschen, darum ist es wahrscheinlich in Ordnung.“<br />

„Du weißt genau, was ich meine“ ereiferte sich die Jurakai und funkelte <strong>de</strong>n Zwerg böse an. „So dürfen sie keine<br />

leben<strong>de</strong>n Wesen behan<strong>de</strong>ln! Was bringt ihnen das? Besser arbeiten wird diese Frau auch nicht, wenn er sie mit <strong>de</strong>m<br />

Prügel zusammenschlägt.“<br />

„Doch vielleicht wer<strong>de</strong>n wir besser arbeiten“ gab <strong>de</strong>r Kleine zu be<strong>de</strong>nken.<br />

Die Gruppe von Menschen, Jurakai und <strong>de</strong>m einen Dverjae wur<strong>de</strong> durch <strong>de</strong>n langen Tunnel gescheucht, <strong>de</strong>r nur<br />

spärlich beleuchtet war von vereinzelten Fackeln. Die Luft war stickig und verbraucht, roch nach Ausdünstungen und<br />

Furcht. Talamà atmete durch ihr Hemd ein, um <strong>de</strong>n wi<strong>de</strong>rlichen Gestank nicht riechen zu müssen. Der Zwerg<br />

schnaubte belustigt, als er <strong>de</strong>r Jurakai bei ihren Bemühungen zusah, dann rempelte er sie sanft an.<br />

„Laß <strong>de</strong>in Hemd unten“ riet er ihr und lachte leise. „Du wirst es nicht schaffen, <strong>de</strong>m Geruch auf ewig zu entfliehen.<br />

Und außer<strong>de</strong>m wirst du dich innerhalb von wenigen Minuten daran gewöhnt haben.“<br />

An Elan<strong>de</strong>rs Aussage zweifelnd schob Talamà <strong>de</strong>n Stoff von <strong>de</strong>r Nase, und <strong>de</strong>r bestialische Gestank drang in ihre<br />

Lungen. Der Geruch in <strong>de</strong>r Gefängnishöhle war schon schlimm genug, mit all diesen toten und sterben<strong>de</strong>n<br />

Geschöpfen, doch hier, in diesen Gängen... es ließ sich beinahe nicht aushalten.<br />

„Wohin laufen wir?“ erkundigte Talamà sich bei ihrem kleinen Freund, doch <strong>de</strong>r zuckte mit <strong>de</strong>n Schultern.<br />

„Woher soll ich das wissen? Sie führen uns je<strong>de</strong>smal zu einer an<strong>de</strong>ren Stelle, vermutlich, um zu verhin<strong>de</strong>rn, daß wir<br />

uns hier unten auszukennen beginnen. Aber ich sage dir: Es ist nicht halb so verwirrend, wie sie uns <strong>de</strong>nken machen<br />

wollen! Tag für Tag sehe ich Abbiegungen und Tunnelschächte, an <strong>de</strong>nen wir schon früher vorbeigelaufen sind.<br />

Allmählich beginne ich diesen ganzen Irrgarten zu verstehen, <strong>de</strong>nke ich. Achte auf die Ablagerungen und<br />

Gesteinschichten, sie helfen dir, dich zu orientieren.“<br />

Talamà blickte sich aufmerksam um, doch für sie erschienen alle Steine in dieser Höhle gleich, zeigten keine<br />

Unterschie<strong>de</strong>. Die Sedimentablagerungen trugen zwar verschie<strong>de</strong>ne Musterungen zur Schau, doch nur für ein geübtes<br />

Auge offenbarten sie einen echten Anhaltspunkt über <strong>de</strong>n Aufenthaltsort. Die Jurakai, die fast ihr ganzes Leben im<br />

Wald verbracht hatte, konnte mit diesen Erdschichten nicht das geringste anfangen, und so verflog ihr Interesse bald.<br />

Ihr kleiner Freund jedoch prägte sich die einzelnen Abzweigungen und die Biegungen genau ein, achtete auf je<strong>de</strong>s<br />

winzige Detail.<br />

Gelegentlich kamen sie an einer weiteren Gruppe von Arbeitern vorbei, und Talamà begann, einen ersten Eindruck<br />

von <strong>de</strong>n zu verrichten<strong>de</strong>n Tätigkeiten zu gewinnen: Die losen Erdwän<strong>de</strong> mußten gestützt wer<strong>de</strong>n, die lockeren Stellen<br />

hartgeklopft und festgedrückt. Manche <strong>de</strong>r Arbeiter hatten Hacken und Spaten, gruben damit Schächte in <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n<br />

o<strong>de</strong>r schlugen Löcher in die Wand. Die armen Kreaturen sahen nicht auf, als Talamàs Gruppe vorbeiging, und falls<br />

sich doch eines <strong>de</strong>r Wesen dazu hinreißen lassen sollte, einen kurzen Blick zu riskieren, so wur<strong>de</strong> die Tat mit einem<br />

harten Schlag auf <strong>de</strong>n Kopf o<strong>de</strong>r gegen die Beine bestraft. Die Orks, die hier Aufsicht hatten, stan<strong>de</strong>n mürrisch vor<br />

<strong>de</strong>n Arbeitern, langweilten sich, während ihre Untergebenen sich zu To<strong>de</strong> mühten. Ein kaltes Gefühl <strong>de</strong>s Hasses stieg<br />

in <strong>de</strong>r Jurakai auf, als sie heimlich beobachtete, wen die Orks arbeiten ließen. Kin<strong>de</strong>r waren genauso vertreten unter<br />

<strong>de</strong>n zittern<strong>de</strong>n Gestalten wie uralte Männer und Frauen, und auch einige Jurakai schafften unter <strong>de</strong>n böswilligen<br />

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Prügeln <strong>de</strong>r Aufseher. Doch alle Versuche, in Kontakt zu treten mit Angehörigen ihres Volkes, wur<strong>de</strong>n sofort von<br />

Elan<strong>de</strong>r vereitelt.<br />

„Laß sie arbeiten“ meinte er betrübt und hielt Talamà an <strong>de</strong>r Hand. „Es wäre verheerend für sie und für dich, wenn du<br />

sie ablenken o<strong>de</strong>r sogar ein Gespräch beginnen wür<strong>de</strong>st. Wahrscheinlich wür<strong>de</strong>n diese gequälten Kreaturen die Strafe<br />

nicht überleben. Vergiß nicht, daß du noch stark bist und frisch, während diese Wesen nicht einmal mehr laufen<br />

können ohne stechen<strong>de</strong> Schmerzen. Wobei <strong>de</strong>r Schmerz recht oft von einem kräftigen Stock herrührt, <strong>de</strong>r von einem<br />

Ork geschwungen wird.“<br />

„Vielleicht kenne ich einen von ihnen“ warf die Jurakai ein und schaute sich im Tunnel um. Der Aufseher von ihrer<br />

Gruppe lief ein Stück weit hinter ihnen, bemerkte ihr Verhalten nicht.<br />

„Wenn du das herausfin<strong>de</strong>st, dann wirst du nicht mehr lange an dieser Erkenntnis Freu<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>n.“ Finster biß <strong>de</strong>r<br />

Zwerg die Zähne zusammen und stieß einen wüten<strong>de</strong>n Laut aus. „Vertrau mir, ich habe meine Erfahrungen schon<br />

gesammelt“ lachte er verbittert, und Talamà schenkte ihm einen verwun<strong>de</strong>rten Blick.<br />

„Was ist geschehen?“ wollte sie wissen, und neu erwachte Neugier<strong>de</strong> regte sich in ihr.<br />

„Mit <strong>de</strong>m Dverjae, <strong>de</strong>n ich ansprach? Nun, ich schätze, daß er nicht mehr am Leben ist, wenn du es unbedingt wissen<br />

willst. Obwohl ich das natürlich nicht mit Sicherheit sagen kann. Wäre immerhin möglich, daß die Orks ihm eine<br />

ambulante Behandlung zukommen ließen, nach<strong>de</strong>m sie seinen Schä<strong>de</strong>l mit einem Prügel zertrümmert haben.“<br />

„Oh. Das...“ Talamà verzog das Gesicht. „Das tut mir leid. Ich wußte nicht....“<br />

„Es braucht dir nicht leid zu tun. Ich habe <strong>de</strong>n Fehler ein einziges Mal begangen, und ich möchte, daß er dir erspart<br />

bleibt. Niemand sollte sich schuldig fühlen am Tod eines Freun<strong>de</strong>s. Und ich habe ihn nur angesprochen, weil ich<br />

dachte, ein vertrautes Gesicht ent<strong>de</strong>ckt zu haben. Lei<strong>de</strong>r konnte ich nicht mehr überprüfen, ob ich <strong>de</strong>n armen Kerl<br />

tatsächlich kannte. War zu schwer zu erkennen unter all <strong>de</strong>m Blut.“<br />

„Was haben sie mit dir gemacht?“ fragte Talamà und betrachtete <strong>de</strong>n Zwerg aufmerksam. „Dir scheint es gut zu<br />

gehen, trotz <strong>de</strong>ines Vergehens.“<br />

„Ha!“ machte <strong>de</strong>r Kleine und zog <strong>de</strong>n Ärmel seines Wamses zurück. Eine schlecht verheilte Wun<strong>de</strong> offenbarte sich<br />

<strong>de</strong>m Mädchen, und mit einem traurigen Laut legte sie <strong>de</strong>m Zwerg die Hand auf die Schulter.<br />

„Wieso tun die so etwas?“ fragte sie, schüttelte <strong>de</strong>n Kopf.<br />

„Nun, ich schätze, aus unserer Höhle wird auf je<strong>de</strong>n Fall niemand mehr auf <strong>de</strong>n Gedanken kommen, ein Gespräch mit<br />

an<strong>de</strong>ren Gefangenen zu beginnen. Ist auch ganz gut so, glaube ich.“<br />

„Ruhe!“ schrie <strong>de</strong>r hinter ihnen laufen<strong>de</strong> Ork und drängte sich an <strong>de</strong>n Manur vorbei, bis er bei Talamà und ihrem<br />

Gefährten angelangt war.<br />

„Schweigt!“ sagte er und ließ seinen Knüppel auf Talamàs Hüfte heraubsausen. Der nächste Schlag traf Elan<strong>de</strong>r, und<br />

mit stummer Verachtung faßte er sich an die schmerzen<strong>de</strong> Stelle. Der Ork knurrte wütend, dann ging er wie<strong>de</strong>r ans<br />

En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r kleinen Gemeinschaft, und die ängstlichen Menschen wichen vor ihm zurück, machten Platz, als er<br />

vorbeistapfte.<br />

Schweigend trottete Talamà neben <strong>de</strong>m Zwerg, und <strong>de</strong>n weiteren Weg sprachen sie kein Wort mehr. Elan<strong>de</strong>r schenkte<br />

<strong>de</strong>r Jurakai einen mitfühlen<strong>de</strong>n Blick, und das Mädchen nickte daraufhin, machte eine Geste, die an<strong>de</strong>utete, daß sie<br />

<strong>de</strong>m Aufseher <strong>de</strong>n Tod wünschte. Nach längerer Zeit und einer schier endlosen Wan<strong>de</strong>rung durch die Höhlen kamen<br />

sie bei einer Sackgasse an. Stumm verharrten sie vor <strong>de</strong>r Wand und warteten auf weitere Befehle.<br />

„Hierbleiben“ sagte <strong>de</strong>r Ork und wandte sich ab. Aus einem Seitentunnel stieß ein weiterer Aufseher zu ihnen und<br />

wachte über die Gruppe, während <strong>de</strong>r erste durch die langen Gänge eilte. Nach einer Weile kehrte <strong>de</strong>r Ork zurück,<br />

und neben ihm stakste einer <strong>de</strong>r Weißen, lief auf diese stelzen<strong>de</strong>, ungelenkige und doch elegante Weise, die allen <strong>de</strong>r<br />

Hochgewachsenen anhaftete.<br />

Beim Anblick <strong>de</strong>s Wesens brach Talamà auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n zusammen, und die Erinnerungen an Chataih quollen aus<br />

einer verdrängten Nische ihres Geistes hervor. Sie keuchte, als sie an die Schmerzen dachte, die <strong>de</strong>r Weiße ihr<br />

angetan hatte, an die Qualen, die sie erlei<strong>de</strong>n hatte müssen. Elan<strong>de</strong>r stützte sie, und bald schaffte sie es, wie<strong>de</strong>r auf die<br />

Beine zu kommen.<br />

„Was ist?“ flüsterte <strong>de</strong>r Zwerg ihr zu und hielt ihre Hand.<br />

„Ich... es war nur ein kurzer Schwächeanfall“ meinte die Jurakai und beobachtete die verhaßte Gestalt <strong>de</strong>s<br />

Hochgewachsenen mit funkeln<strong>de</strong>m Blick. „Nicht weiter von Be<strong>de</strong>utung.“ Sie schüttelte die helfen<strong>de</strong> Hand <strong>de</strong>s<br />

Zwerges ab, konzentrierte sich vollkommen auf <strong>de</strong>n Weißen.<br />

Das Wesen sang in seiner seltsamen Sprache, und ein Rumpeln ging durch <strong>de</strong>n Tunnel.<br />

„Nicht erschrecken“ meinte <strong>de</strong>r Dverjae, und kurz darauf sah Talamà, warum Elan<strong>de</strong>r ihr <strong>de</strong>n Rat gegeben hatte. Mit<br />

einem mächtigen Donnern schob sich ein monströser Kopf durch <strong>de</strong>n Gang, gefolgt von <strong>de</strong>m sich win<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Körper.<br />

Das pfer<strong>de</strong>ähnliche Haupt wackelte von einer Seite zur an<strong>de</strong>ren, und als die riesige Echse das Maul öffnete, entblößte<br />

sie große, spitze Zähne. Das Tier bewegte sich nach vorn, bis es vor <strong>de</strong>r festen Erdwand lag, die Klauen in die<br />

gegenüberliegen<strong>de</strong>n Tunnelwän<strong>de</strong> preßte. Der Weiße gab <strong>de</strong>r Bestie ein Zeichen, und auf <strong>de</strong>n Singsang <strong>de</strong>s<br />

Hochgewachsenen hin begann <strong>de</strong>r Drache, sich in die Er<strong>de</strong> zu schieben, durchbrach <strong>de</strong>n Untergrund und legte einen<br />

Gang frei mit seinem muskulösen Körper. Nach wenigen Fuß beschrieb <strong>de</strong>r Leib <strong>de</strong>s Wesens eine Kurve, und das<br />

Biest fraß sich in eine an<strong>de</strong>re Richtung weiter. Der Ork, <strong>de</strong>r die Aufsicht über die Gruppe hatte, nahm ein paar<br />

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mitgebrachte Werkzeuge zur Hand, verteilte sie unter <strong>de</strong>n anwesen<strong>de</strong>n Personen. Auch Talamà und Elan<strong>de</strong>r bekamen<br />

jeweils eine Schaufel, dann wur<strong>de</strong>n sie zum Stollen getrieben.<br />

„Was genau müssen wir tun?“ fragte das Mädchen, und <strong>de</strong>r Zwerg <strong>de</strong>utete auf die bröckeln<strong>de</strong> Er<strong>de</strong>.<br />

„Hartklopfen“ antwortete <strong>de</strong>r Kleine und schlug mit <strong>de</strong>r Schaufel an die weiche Erdwand. „So lange, bis die Gefahr<br />

eines Einsturzes gebannt ist. So geht es je<strong>de</strong>n Tag, meine Liebe: Entwe<strong>de</strong>r zwängt sich ein Drache durch die Wän<strong>de</strong>,<br />

und wir sorgen dafür, daß <strong>de</strong>r Stollen auch begehbar bleibt, o<strong>de</strong>r wir graben selbst. Die letztere Möglichkeit ist die<br />

weitaus unangenehmere, wenn du mich fragst. Mit <strong>de</strong>m Biest als Vorarbeiter bleibt uns wenigstens ein Teil <strong>de</strong>r Arbeit<br />

erspart.“<br />

Die Gruppe begann, auf die losen Erdbrocken einzuschlagen, die Wän<strong>de</strong> zu festigen. An manchen Stellen mußten<br />

große Brocken abgetragen wer<strong>de</strong>n, um das Vorankommen zu ermöglichen, doch stetig ging die Arbeit voran. Der Ork<br />

beobachtete die schuften<strong>de</strong>n Personen gleichgültig, kippte sich dann und wann einen Schluck Wein o<strong>de</strong>r etwas<br />

Ähnliches in <strong>de</strong>n Mund. Mit einem Rülpsen schlich er durch die versammelten Manur und versetzte ihnen ganz nach<br />

Lust und Laune Schläge o<strong>de</strong>r Tritte.<br />

Mit Haß beobachtete ihn die Jurakai, und als er an ihr vorüberging und ihr einen Schlag gegen <strong>de</strong>n Rücken versetzte,<br />

schloß sie die Augen und schwor sich Rache. Der Aufseher wan<strong>de</strong>rte weiter, um die Manur zu schikanieren, die am<br />

entgegengesetzten En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Tunnels arbeiteten.<br />

„Wieso unternimmt niemand etwas?“ wollte Talamà wissen und funkelte <strong>de</strong>n Ork böse an. „Warum arbeiten sie alle,<br />

ohne sich aufzulehnen?“<br />

„Da fragst du noch?“ meinte Elan<strong>de</strong>r und verzog <strong>de</strong>n Mund. „Erstens sind die meisten hier gar nicht mehr in <strong>de</strong>r<br />

Lage, sich zu wehren. Zweitens, was wür<strong>de</strong> das bringen? Natürlich könntest du einen von <strong>de</strong>n Mistkerlen mit <strong>de</strong>iner<br />

Schaufel nie<strong>de</strong>rschlagen, aber was dann? Glaubst du, du wür<strong>de</strong>st an ihm dort vorbeikommen?“<br />

Talamà sah sich um, erkannte in einiger Entfernung das leichte weiße Leuchten von <strong>de</strong>m Hochgewachsenen, <strong>de</strong>r<br />

anscheinend über mehrere neue Tunnel wachte. Manchmal verschwand er für ein paar Sekun<strong>de</strong>n, doch kurz danach<br />

tauchte er wie<strong>de</strong>r auf, bewachte die elen<strong>de</strong>n Arbeiter. Etwas Abseits von ihm stan<strong>de</strong>n gleich mehrere Orks,<br />

unterhielten sich in ihrer kehligen, grunzen<strong>de</strong>n Sprache.<br />

Kopfschüttelnd schuftete Talamà weiter, preßte das Blatt ihres Spatens gegen die Wand. Als die bei<strong>de</strong>n eine Stelle<br />

bearbeitet hatten, drängte <strong>de</strong>r Aufseher sie zur nächsten, wo die gleichen stumpfsinnigen Aufgaben zu erledigen<br />

waren.<br />

„Vergiß <strong>de</strong>ine Fluchtgedanken, Mädchen“ sagte Elan<strong>de</strong>r mü<strong>de</strong> und hackte auf einen Erdklumpen ein, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Weg<br />

versperrte. Der Brocken zerbrach, und aus <strong>de</strong>n Überresten krabbelten kleine Dinge davon, Würmer wan<strong>de</strong>n sich auf<br />

<strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n. Bevor die Tierchen es schaffen konnten, sich wie<strong>de</strong>r in die Er<strong>de</strong> zu bohren, hob <strong>de</strong>r Zwerg sie auf und bot<br />

<strong>de</strong>r Jurakai die Speisen an. Voller Ekel wich sie zurück, betrachtete die sich win<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Würmer mit verzogenem<br />

Gesicht.<br />

„Das ist nicht <strong>de</strong>in Ernst“ murmelte sie, und ihre Stimme war von Zweifel erfüllt.<br />

„Es ist mein voller Ernst“ sagte Elan<strong>de</strong>r, und fröhlich schob er sich einen langen Tausendfüßler zwischen die Zähne.<br />

Knirschend zerbiß er das Tier, und Talamàs Magen drehte sich, als sie das knacken<strong>de</strong> Geräusch vernahm.<br />

„Du brauchst dieses Zeug, um hier zu überleben“ erklärte er und stopfte sich auch die restlichen Dinge in <strong>de</strong>n Mund.<br />

Die Jurakai wandte die Augen ab, drückte stur mit ihrer Schaufel gegen die Höhlenwand, bis die wi<strong>de</strong>rlichen Laute<br />

verklungen waren, <strong>de</strong>r Dverjae die Tiere geschluckt hatte.<br />

„Wirklich gut. Ein wenig sandig vielleicht, aber gut.“<br />

„Aber... es wird hier doch sicherlich auch noch etwas an<strong>de</strong>res zu Essen geben“ protestierte Talamà und sah sich nach<br />

<strong>de</strong>m Wächter um, <strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> eine neue Run<strong>de</strong> begann. „O<strong>de</strong>r nicht?“ fragte sie leise.<br />

„Natürlich“ gab Elan<strong>de</strong>r zurück und schaufelte Er<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m Weg. „Aber es ist so wenig, daß die Rationen von zehn<br />

Personen nicht für eine reichen wür<strong>de</strong>. Darum mußt du dir <strong>de</strong>ine Nahrung auf an<strong>de</strong>re Weise beschaffen. O<strong>de</strong>r du<br />

stirbst.“<br />

„Klingt wun<strong>de</strong>rbar“ murmelte das Mädchen. „Aber ich wer<strong>de</strong> erst von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, wenn ich<br />

wirklich Hunger habe.“<br />

„Wie du meinst. Dann bleibt bis dahin mehr für mich übrig.“<br />

Nach Stun<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r kalten Finsternis rief ihnen <strong>de</strong>r Aufseher etwas zu, und erleichtert wandten sich die Mitglie<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>r Gruppe ab von <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n, eilten zur Weggabelung. Das letzte Stück überrannten sie sich fast, und die Starken<br />

unter ihnen hatten <strong>de</strong>n Vorteil, die an<strong>de</strong>ren zurückdrängen zu können, sie von sich fortzustoßen. Auch Talamà und<br />

Elan<strong>de</strong>r rannten nach vorn, und durch die Planung <strong>de</strong>s Zwergs waren sie als erste beim Ork. Der Dverjae hatte es so<br />

eingerichtet, daß sie beim Schrei <strong>de</strong>m Aufseher am nächsten waren, nicht mit <strong>de</strong>n übrigen Manur zu kämpfen hatten.<br />

Verächtlich warf <strong>de</strong>r Ork <strong>de</strong>r Gruppe ein paar Stückchen Brot zu, und mit gestreckten Hän<strong>de</strong>n langten die<br />

Ausgehungerten danach, rangen um die kleinen Klumpen, die Leben be<strong>de</strong>uteten. Mit finsterer Zufrie<strong>de</strong>nheit kehrte<br />

<strong>de</strong>r Ork ihnen <strong>de</strong>n Rücken, ging durch <strong>de</strong>n Gang zu an<strong>de</strong>ren Angehörigen seiner Rasse und holte <strong>de</strong>monstrativ ein<br />

Stückchen Fleisch hervor, zerkaute die Nahrung genüßlich. Talamà und Elan<strong>de</strong>r, die einen Großteil <strong>de</strong>s Brotes für<br />

sich beanspruchen konnten, zogen sich in eine Ecke <strong>de</strong>r Höhle zurück, und die Jurakai wollte <strong>de</strong>n Brotklumpen ganz<br />

verzehren, als <strong>de</strong>r Zwerg ihr davon abriet.<br />

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„Nimm nur wenig“ meinte er, steckte einen Teil <strong>de</strong>s eigenen Brots in eine Tasche. „Es ist besser, zu sparen.<br />

Außer<strong>de</strong>m gibt es nur in unserer Zelle Wasser, darum warte lieber. Sonst wird dich <strong>de</strong>r Durst in <strong>de</strong>n Wahnsinn<br />

treiben, und es wird noch eine Zeit dauern, bis wir wie<strong>de</strong>r gehen können.“<br />

„Wie lange lassen sie uns <strong>de</strong>nn hier arbeiten?“ fragte Talamà entsetzt.<br />

„Das ist unterschiedlich“ sagte Elan<strong>de</strong>r. „Kommt darauf an, wie groß <strong>de</strong>r Tunnel ist, <strong>de</strong>n wir bearbeiten sollen. Wenn<br />

wir fertig sind, dann wer<strong>de</strong>n wir entwe<strong>de</strong>r woan<strong>de</strong>rs eingesetzt, o<strong>de</strong>r wir dürfen aufhören.“<br />

Schweigend verrichteten sie ihre Arbeit, stan<strong>de</strong>n nebeneinan<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>m dunklen Gang und klopften das lockere<br />

Erdreich fest. Auch die restlichen Manur waren wie<strong>de</strong>r ans Werk gegangen, und einige hatten vor Erschöpfung zu<br />

weinen begonnen. Mitleid regte sich in Talamà, als ein Mädchen an ihr vorüberlief, das eine Schaufel auf <strong>de</strong>r Schulter<br />

trug, die größer als die junge Manur selbst war. Die Kleine maß höchstens zehn Jahre, wenn nicht weniger, und ihre<br />

aufgeschürften Arme und Beine ließen die Jurakai zusammenzucken. Sanft berührte sie das Mädchen an <strong>de</strong>r Schulter,<br />

und erschrocken fuhr die Manur herum, betrachtete Talamà furchtsam. Niemand sonst schien sich um das Mädchen<br />

zu kümmern, und nach einem kurzen Blick zum Ork, <strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> in ein Gespräch mit seinen Kamera<strong>de</strong>n versunken<br />

war, holte Talamà die Brotkrumen hervor und drückte sie <strong>de</strong>m Mädchen in die Hand. Die Kleine starrte sie an, dann<br />

murmelte sie etwas und lief davon, stopfte sich das Brot während <strong>de</strong>s Laufens in <strong>de</strong>n Mund.<br />

Elan<strong>de</strong>r stöhnte kummervoll und blickte <strong>de</strong>r rennen<strong>de</strong>n Gestalt nach.<br />

„Glaubst du, daß die Nahrung für uns alle hier reichen wird?“ fragte er aufgebracht, doch Talamà beschwichtigte ihn.<br />

„Ich mußte es tun“ gab sie zurück, und ein Ausdruck <strong>de</strong>r Leere spiegelte sich in ihren Augen. „Ich konnte nicht<br />

an<strong>de</strong>rs. Und es tut mir nicht leid“ betonte sie. „Die Kleine braucht das Brot nötiger als ich. Es war nur gerecht, daß ich<br />

es ihr überließ.“<br />

Der Zwerg seufzte. „Das ist <strong>de</strong>ine Sache. Aber du wirst herausfin<strong>de</strong>n, daß es so etwas wie Gerechtigkeit hier unten<br />

nicht gibt. Es heißt Leben o<strong>de</strong>r Sterben, und die meisten hängen irgendwo in <strong>de</strong>r Mitte davon.“<br />

„Darum geht es nicht“ erwi<strong>de</strong>rte Talamà.<br />

Der Dverjae schüttelte <strong>de</strong>n Kopf und arbeitete weiter. „Du hast noch viel zu lernen.“<br />

„Möglicherweise“ gab die Jurakai zu und hackte sinnlos auf einen großen Stein ein.<br />

„Wo hast du eigentlich genau gewohnt?“ fragte <strong>de</strong>r Zwerg unvermittelt und beobachtete die junge Frau, wie sie auf<br />

<strong>de</strong>n Fels hämmerte.<br />

„In Eldraja’aro, falls dir <strong>de</strong>r Name etwas sagt.“ Bei <strong>de</strong>m Wort nickte Elan<strong>de</strong>r aufmerksam, und Talamà fuhr fort. „Der<br />

erste Angriff erfolgte jedoch im Sommerlager <strong>de</strong>r Jurakai, und ich <strong>de</strong>nke, daß ich die Einzige war, die <strong>de</strong>n Orks<br />

entkam. Mit ein paar an<strong>de</strong>ren, die mich fan<strong>de</strong>n, brach ich dann auf, um <strong>de</strong>m Hochkönig die Nachricht <strong>de</strong>r Attacken<br />

zuzutragen und ihn um Hilfe zu bitten. Aber jetzt sieht alles nicht mehr ganz so rosig aus; was haben diese Orks nur<br />

vor?“<br />

„Ich habe keine Ahnung, was <strong>de</strong>r Zweck dieser ganzen Tunnelgraberei ist. Noch weiß ich, warum die Siedlungen und<br />

Dörfer angegriffen wer<strong>de</strong>n, aber ich weiß, daß die Orks nicht die Urheber <strong>de</strong>s Aufruhrs sind. Diese Weißen dort<br />

drüben“ er <strong>de</strong>utete auf <strong>de</strong>n Hochgewachsenen, <strong>de</strong>r am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Ganges an <strong>de</strong>r Wand lehnte, „sind noch viel<br />

grausamer und übler als die Schwarzorks. Wenn sie jeman<strong>de</strong>n schlagen, dann ist es meist endgültig. Selbst diese<br />

grunzen<strong>de</strong>n Mistkerle haben Angst vor <strong>de</strong>n Weißen. Und ich glaube, daß auch die Glühwürmchen, wie ich sie nenne,<br />

nur Lakaien sind. Sie behan<strong>de</strong>ln die Drachen mit großer Ehrfurcht, und wie es aussieht, sind die fetten Würmer noch<br />

eine Stufe höher gestellt. Was über ihnen kommt, ist mir allerdings unklar. Bloß kann ich mir nicht vorstellen, daß die<br />

Drachen diese Angriffe aushecken, beim besten Willen nicht.“<br />

„Die Weißen - Glühwürmchen, wenn du so willst - was genau tun sie?“<br />

„Sie beobachten meist. Manchmal kommen sie nachts in die Gefängnisse, ziehen ein paar von uns heraus und<br />

verschwin<strong>de</strong>n mit ihnen. Wir sehen die Betroffenen niemals wie<strong>de</strong>r. Ansonsten verhalten sie sich eher ruhig. Wir<br />

haben mehr mit <strong>de</strong>n Orks zu tun.“<br />

Da Talamà keine weiteren Fragen mehr stellte, schwieg auch Elan<strong>de</strong>r, und eine lange Zeit hackten sie nur auf ein<br />

wenig Er<strong>de</strong> ein o<strong>de</strong>r drückten die Wän<strong>de</strong> fest. Die Gedanken <strong>de</strong>r jungen Frau hingen in <strong>de</strong>n darauffolgen<strong>de</strong>n Stun<strong>de</strong>n<br />

hauptsächlich bei Indigo und Nachtfalke und bei ihrem Volk, das sie auf so tragische Art und Weise verloren hatte.<br />

Nach einer Zeit, die wie eine Ewigkeit erschien, durften sie endlich ihre Werkzeuge abgeben und wur<strong>de</strong>n durch die<br />

Tunnel zurück zu ihrem Gefängnis getrieben. Talamà hielt Ausschau nach <strong>de</strong>m kleinen Mädchen, <strong>de</strong>m sie das Brot<br />

geschenkt hatte, konnte es jedoch nicht sehen in <strong>de</strong>r Menge von Manur. Bald stan<strong>de</strong>n sie wie<strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>r Tür, und <strong>de</strong>r<br />

Ork schubste sie hinein, schlug sie, wenn sie nicht schnell genug durch die Öffnung sprangen. Dann krachte das Tor<br />

zu, und Dunkelheit umfing die Gruppe. Die Manur liefen durch die Höhle, suchten sich ihren Schlafplatz und<br />

kauerten sich dort nie<strong>de</strong>r, und auch Talamà und <strong>de</strong>r Zwerg begaben sich zu ihren kleinen Nestern. Sie machten es sich<br />

so bequem wie möglich auf <strong>de</strong>m harten Untergrund, und Talamà kuschelte sich in eine Nische an <strong>de</strong>r Wand.<br />

„Wann gibt es <strong>de</strong>nn etwas zu essen und zu trinken?“ fragte sie Elan<strong>de</strong>r, doch <strong>de</strong>r hob nur fragend die Achseln.<br />

„Unterschiedlich. Wenn sie gera<strong>de</strong> Lust haben, bringen sie etwas. Manchmal vergessen sie uns auch, ob absichtlich<br />

o<strong>de</strong>r nicht, und dann gibt es gar nichts.“<br />

Doch nach einiger Zeit öffnete sich die Tür erneut, und zwei Orks kamen herein, verteilten Wasserschälchen und Brot<br />

unter <strong>de</strong>n Anwesen<strong>de</strong>n. Nur wer sich noch regte empfing eine Gabe, die Toten und Sterben<strong>de</strong>n gingen leer aus.<br />

118


Elan<strong>de</strong>r hatte einen kleinen Trick, und obwohl die Jurakai diese Vorgehensweise wi<strong>de</strong>rlich fand, hin<strong>de</strong>rte sie <strong>de</strong>n<br />

Zwerg doch nicht daran, ihnen dadurch mehr Nahrung zu beschaffen.<br />

Nach<strong>de</strong>m sie bei<strong>de</strong> ihr Brot und ihr Wasser bekommen hatten, kroch Elan<strong>de</strong>r durch die dunkle Höhle, suchte sich<br />

einen großen Manur, <strong>de</strong>r bereits tot war o<strong>de</strong>r doch so gut wie. Er zog die leblose Person über sich, lugte unter einer<br />

Achsel hindurch, um zu sehen, wann <strong>de</strong>r Aufseher vorbeikam. Anschließend rüttelte er <strong>de</strong>n Körper ein wenig, hob<br />

<strong>de</strong>n Arm <strong>de</strong>s Menschen nach oben. Der Ork grunzte und warf <strong>de</strong>m Liegen<strong>de</strong>n einen Kanten Brot zu, stellte eine<br />

Wasserschüssel vor <strong>de</strong>n vermeintlich Leben<strong>de</strong>n. Sobald <strong>de</strong>r Verteiler <strong>de</strong>r Nahrungsmittel weitergegangen war, schob<br />

Elan<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n toten Leib von sich fort und wie<strong>de</strong>rholte die Prozedur mit <strong>de</strong>m nächsten Manur. Nach<strong>de</strong>m die Tür hinter<br />

<strong>de</strong>n Schwarzorks wie<strong>de</strong>r ins Schloß gefallen war, sammelten Talamà und <strong>de</strong>r Zwerg die unrechtmäßig erworbenen<br />

Gaben ein, brachten sie an ihre Schlafstätte. Insgesamt lagen fünf Mahlzeiten vor ihnen, und grinsend betrachteten die<br />

bei<strong>de</strong>n das Gesammelte. Je<strong>de</strong>r von ihnen verzehrte zwei <strong>de</strong>r Brotstücke, doch das dritte brachte Talamà ihrem alten<br />

Freund Beltiar. Elan<strong>de</strong>r war zwar <strong>de</strong>r Meinung, daß es Verschwendung war, <strong>de</strong>m Jurakai noch etwas zu geben, doch<br />

Talamà bestand darauf, flößte <strong>de</strong>r Gestalt das aufgesparte Wasser zärtlich ein.<br />

Beltiar hustete, als die Flüssigkeit durch seine Kehle rann, und Talamà wiegte seinen Kopf in ihren Armen. Dann<br />

versuchte sie, ihn dazu zu bewegen, das Brot zu essen, doch wegen <strong>de</strong>r offenen Wun<strong>de</strong> an seiner Wange weigerte sich<br />

<strong>de</strong>r Dahinsiechen<strong>de</strong>, etwas an<strong>de</strong>res als Wasser in seinen Mund zu lassen. Die Hautfetzen, aus <strong>de</strong>nen sein Gesicht<br />

bestand, waren entzün<strong>de</strong>t und schwarz, und Talamà konnte ihn nur zu gut verstehen. Sie teilte das Brot mit Elan<strong>de</strong>r,<br />

und eine Zeit lang blieb <strong>de</strong>r Zwerg bei ihnen sitzen, leistete <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Jurakai Gesellschaft. Dann rollte er sich auf<br />

<strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n zusammen und versuchte, ein wenig Schlaf zu fin<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r kalten Höhle.<br />

„Elan<strong>de</strong>r?“ fragte Talamà nach einer Weile, riß <strong>de</strong>n Dverjae aus einem unruhigem Schlummer.<br />

„Was ist?“ fragte <strong>de</strong>r Kleine mürrisch, blieb aber regungslos liegen.<br />

„Wer<strong>de</strong>n all die Toten hier niemals weggebracht? Bleiben sie hier drin, bei <strong>de</strong>n Leben<strong>de</strong>n?“<br />

„Nein“ gähnte <strong>de</strong>r Zwerg und än<strong>de</strong>rte seine Ruheposition. „Sonst wäre hier bereits alles restlos überfüllt. Alle paar<br />

Tage schaut hier eines von <strong>de</strong>n verdammten Glühwürmchen vorbei, und gemeinsam mit ein paar Orks schaffen sie<br />

dann die ganzen Leiber fort. Keine Ahnung, was mit ihnen geschieht.“ Brummelnd sank <strong>de</strong>r Zwerg wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n<br />

Schlaf, ließ Talamà mit ihren traurigen Gedanken allein.<br />

Die Jurakai summte ein Lied, um Beltiar zu beruhigen, auch ihn in <strong>de</strong>n Schlaf zu wiegen. Als er nach Stun<strong>de</strong>n<br />

endlich im Reich <strong>de</strong>r Träume weilte, wußte das Mädchen nicht, ob das an ihrem Lied lag o<strong>de</strong>r daran, daß <strong>de</strong>r Arme<br />

unter <strong>de</strong>n Schmerzen einfach bewußtlos gewor<strong>de</strong>n war. Sie bettete <strong>de</strong>n Kopf <strong>de</strong>s alten Freun<strong>de</strong>s auf einem Laken, das<br />

sie einem <strong>de</strong>r herumliegen<strong>de</strong>n Toten entriß, dann streichelte sie Beltiar über die Haare und legte sich auf die Er<strong>de</strong>. Sie<br />

ließ ihre Gedanken treiben, dachte an Indigo, <strong>de</strong>r nun irgendwo an <strong>de</strong>r Oberfläche weilen mußte, wenn er nicht schon<br />

tot war. Mit einem Kopfschütteln verwarf sie die schreckliche Vorstellung, daß ihr Gefährte nicht mehr am Leben sein<br />

könnte, malte sich lieber aus, was Indigo jetzt gera<strong>de</strong> wohl tun mochte. Sicherlich saß er an einem Lagerfeuer -<br />

vorausgesetzt natürlich, daß es gera<strong>de</strong> Abend war - und briet irgen<strong>de</strong>in Tier, das er erlegt hatte. Und bald, schon sehr<br />

bald, wür<strong>de</strong> er am Hofe <strong>de</strong>s Königs eintreffen und in Sicherheit sein...<br />

Die Frem<strong>de</strong>n Schatten schlichen am Hain entlang, an <strong>de</strong>r kleinen, stillen Insel <strong>de</strong>r Ruhe in <strong>de</strong>n Weiten <strong>de</strong>r Fel<strong>de</strong>r, nah<br />

<strong>de</strong>n Ausläufern <strong>de</strong>s Schattenwal<strong>de</strong>s. Die Wesen bewegten sich lautlos, schlichen über das feuchte Gras und knieten<br />

sich auf die nasse Er<strong>de</strong>. Eines <strong>de</strong>r Geschöpfe machte eine rasche Handbewegung, und auf <strong>de</strong>ren Verheiß hin liefen<br />

weitere Wesen über die Wiese, setzten sich neben die Gestalt in Schwarz.<br />

Indigo wälzte sich in seinem fiebrigen Traum, quälte sich durch erdachte Szenarien, die nur Übles bereithielten, keine<br />

Erholung be<strong>de</strong>uteten. Der Jurakai stöhnte leise auf, weckte Windmähne mit <strong>de</strong>m Geräusch. Das Pferd öffnete die<br />

Augen, und ein aufgeschrecktes Wiehern entwich seinen Lungen, als es die Wesen sah, die sich um das Lager<br />

drängten.<br />

Mit einem mißmutigen Murmeln rollte sich Indigo auf die an<strong>de</strong>re Seite, hielt sich unbewußt mit <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n die<br />

Wun<strong>de</strong>. Blut sickerte durch <strong>de</strong>n Verband, färbte seine Haut rot. Im Traum flogen gera<strong>de</strong> Drachen über ihn hinweg,<br />

hatten sich zuerst aus <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> gebohrt, um sich anschließend in die Lüfte zu erheben, <strong>de</strong>r Schwerkraft zu trotzen.<br />

Unwirsch öffnete er ein Auge, spähte hinaus in die dunkle Nacht. Als er nichts von Be<strong>de</strong>utung ent<strong>de</strong>cken konnte,<br />

wollte er die schweren Li<strong>de</strong>r schon wie<strong>de</strong>r zu fallen lassen, doch aus einem plötzlichen Reflex heraus entschied er sich<br />

dagegen. Er atmete schwer, <strong>de</strong>nn das Pochen <strong>de</strong>s Schmerzes hatte sich verstärkt, erklang als dumpfes Dröhnen in<br />

seinen Ohren, floß durch seine schwachen Glie<strong>de</strong>r. Beunruhigt versuchte er, in <strong>de</strong>r Dunkelheit zu sehen, und<br />

tatsächlich zeigten sich schwarze Flecken auf <strong>de</strong>r mondbeschienenen Wiese, waren Stellen zu erkennen, die sich vom<br />

Untergrund abhoben. Der Jurakai verfluchte sich, keinen besseren Rastplatz gewählt zu haben, und rollte sich auf die<br />

Seite. Der Verband quetschte sich in seine Wun<strong>de</strong>, und unwillkürlich entfuhr ihm ein lauter Aufschrei. Hastig blickte<br />

er sich nach allen Seiten um, doch die schwarzen Flecken auf <strong>de</strong>r Wiese hatten ihre Position nicht verän<strong>de</strong>rt. Nun,<br />

falls diese Gestalten Wirklichkeit sein sollten und keine bloße Einbildung, ein Hirngespinst, das aus <strong>de</strong>n fieberhaften<br />

Träumen entstan<strong>de</strong>n war, dann mußten sie spätestens jetzt mitbekommen haben, daß er hellwach war, o<strong>de</strong>r dies doch<br />

zumin<strong>de</strong>st zu sein versuchte.<br />

119


Windmähne trabte ein paar Schritte im Kreis, wußte anscheinend nicht, wohin er sich wen<strong>de</strong>n sollte. Mit einem<br />

schnellen und schmerzhaften Ruck richtete Indigo sich auf, trat auf <strong>de</strong>n Hengst zu, streichelte über das glatte Fell <strong>de</strong>s<br />

Tieres. Der Jurakai lief gebückt, da die Verletzung aufrechtes Stehen nicht zuließ. Beruhigend fuhr er <strong>de</strong>m Pferd über<br />

die Nase, blickte ihm in die wachen Augen. Seinen kleinen Dolch in <strong>de</strong>r einen, die an<strong>de</strong>re Hand auf das Pferd gelegt,<br />

krümmte er sich zitternd in <strong>de</strong>r eisigen Nachtluft, spähte wie<strong>de</strong>r hinaus auf die Gräser.<br />

„Kommt raus!“ rief er schwach, und <strong>de</strong>r Geschmack von Blut mischte sich in seinen Speichel. Angewi<strong>de</strong>rt spuckte er<br />

aus, sah sich nach einer Bewegung im Grasland um. Nach einiger Zeit taumelte er ein paar Schritte nach vorn, darauf<br />

bedacht, nicht <strong>de</strong>r Länge nach auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n zu fallen und sich <strong>de</strong>n Frem<strong>de</strong>n völlig ohne Gegenwehr preiszugeben.<br />

„Was ist?“ schrie er mit brechen<strong>de</strong>r Stimme, schüttelte angriffslustig eine Faust. „Traut ihr euch nur im Geheimen, ist<br />

es das? Kommt raus und kämpft ehrlich, wenn ihr <strong>de</strong>n Mut dazu habt!“<br />

Wie<strong>de</strong>r wartete er eine Zeit lang, und die einzigen Geräusche waren sein beben<strong>de</strong>r, zittern<strong>de</strong>r Atem und das<br />

Schnauben von Windmähne, das irgendwo hinter ihm erklang. Dann trennte sich einer <strong>de</strong>r Schatten von seiner<br />

Umgebung, löste sich von <strong>de</strong>m ihn umgeben<strong>de</strong>n Schwarz wie ein Tropfen Farbe, <strong>de</strong>r vom Bild perlt. Der <strong>Mond</strong>schein<br />

offenbarte seine düsteren Konturen. Er war aus einer vollkommen unvermuteten Nische getreten, hatte sich an einer<br />

Stelle versteckt, in <strong>de</strong>r Indigo bestimmt keine Gefahr vermutet hätte. Die stämmige Gestalt trug einen enganliegen<strong>de</strong>n,<br />

fließen<strong>de</strong>n Stoff, <strong>de</strong>r sich im Licht zu brechen schien, sich mit <strong>de</strong>n Bewegungen <strong>de</strong>s Win<strong>de</strong>s vereinigte. Irgendwo, tief<br />

unter einer Kapuze verborgen, mußte ein Gesicht zu <strong>de</strong>m Jurakai aufblicken, mußten zwei Augen ihn fixieren, die er<br />

von hier nicht sehen konnte.<br />

„Wer bist du?“ rief <strong>de</strong>r Junge, und seine Stimme hatte an Festigkeit gewonnen, erklang härter und bestimmter.<br />

Die Gestalt schritt nach vorn, bis nur noch wenige Fuß sie von Indigo trennten, dann verharrte sie reglos. Eine lange<br />

Zeit über musterte ihn <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong>, und <strong>de</strong>r Jurakai fühlte sich unbehaglich, wollte am Liebsten in <strong>de</strong>n unsicheren<br />

Schutz <strong>de</strong>r Bäume fliehen, an <strong>de</strong>nen Windmähne stand. Endlich begann <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong> zu sprechen, und seine tiefe,<br />

jedoch sanfte Stimme schwebte über die Wiesen.<br />

„Ich grüße dich, mein Freund.“ Das Wesen verneigte sich vor ihm, dann richtete es sich auf und zog die Kapuze vom<br />

Kopf. „In diesen Zeiten kann man nicht vorsichtig genug sein, doch unsere Herzen wußten, daß du es sein wür<strong>de</strong>st,<br />

<strong>de</strong>r uns hier erwartet.“<br />

Verdutzt starrte Indigo in das Gesicht <strong>de</strong>s Mannes, prägte sich die markanten Züge gut ein. Ein Vollbart zierte das<br />

längliche Gesicht, und eine scharfe Nase ragte über <strong>de</strong>n schmalen Lippen hervor. Mehr konnte er nicht erkennen in<br />

<strong>de</strong>r Dunkelheit, doch das bereits Gesehene genügte ihm vollkommen.<br />

„Der euch erwartet? Wovon sprecht Ihr?“ verlangte <strong>de</strong>r Jurakai zu erfahren, und die Festigkeit war aus seinem Ton<br />

gewichen wie die Spannung aus einem gestrafften Seil. Doch er verspürte keine Angst mehr, fühlte sich nur noch<br />

sehr, sehr mü<strong>de</strong> und ausgelaugt. Dieser Frem<strong>de</strong> war anscheinend keine unmittelbare Bedrohung, kein Ork, und<br />

Indigos Körper schrie nach Schlaf. Er brauchte Erholung. Der Junge ließ sich ins Gras sinken und warf <strong>de</strong>n Dolch<br />

fort, schüttelte <strong>de</strong>n vernebelten Kopf, um die Schläfrigkeit aus seinen Gedanken zu vertreiben. Die schwarze Gestalt<br />

war näher gekommen, stand nun direkt vor <strong>de</strong>m Jurakai und beugte sich zu ihm hinab. Als <strong>de</strong>r junge Wan<strong>de</strong>rer<br />

aufsah, blickte er in zwei dunkle, finstere Augen, die schwärzer waren als die Nacht selbst, wie zwei Löcher im<br />

Gewebe <strong>de</strong>s Seins. Seine Sinne schwan<strong>de</strong>n, während er versuchte, seine Faszination zu überwin<strong>de</strong>n, sich abzuwen<strong>de</strong>n<br />

von <strong>de</strong>n seltsamen Augen.<br />

„Wir sind Freun<strong>de</strong>“ erklärte <strong>de</strong>r große Mann und griff Indigo hilfsbereit unter die Schultern. „Vertrau mir, es wird dir<br />

nichts geschehen.“<br />

Indigo wollte einen Protest ausstoßen, doch <strong>de</strong>r Blutverlust und die Schmerzen hatten ihn anscheinend mehr<br />

geschwächt, als er angenommen hatte. Statt einer Erwi<strong>de</strong>rung drang nur ein Blubbern von seinen Lippen, und die<br />

Anstrengung <strong>de</strong>r letzten Tage sickerte nun durch seine Knochen. Erschöpft sackte <strong>de</strong>r Jurakai in <strong>de</strong>n Armen <strong>de</strong>s<br />

Mannes zusammen, ließ sich einfach auf <strong>de</strong>n stützen<strong>de</strong>n Körper fallen. Der Frem<strong>de</strong> bemerkte, daß Indigo eine<br />

Verletzung verbergen wollte, und mit unnachgiebigem Griff hob er die Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Jungen von <strong>de</strong>ssen Bauch. Er<br />

murmelte überrascht, als er die klaffen<strong>de</strong> Wun<strong>de</strong> sah, rief etwas, das Indigo nicht verstehen konnte. Dann wandte er<br />

sich wie<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n einsamen Wan<strong>de</strong>rer und hielt seine Hand.<br />

„Du bist schwer verletzt, mein Freund. Es ist ein Wun<strong>de</strong>r, daß du solch eine Wun<strong>de</strong> überhaupt überlebt hast ohne<br />

fachmännische Versorgung. Aber hab keine Angst, unsere Heiler wer<strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>iner annehmen. Du wirst schnell<br />

wie<strong>de</strong>r genesen.“<br />

Weitere Schatten drangen aus <strong>de</strong>m Dunkeln, drängten sich um Indigo und stützten seinen schwachen Leib. Ein paar<br />

an<strong>de</strong>re räumten das Lager auf, verstauten die wenigen Gegenstän<strong>de</strong>, die <strong>de</strong>r Jurakai ausgepackt hatte, säuberlich in<br />

<strong>de</strong>n Satteltaschen von Windmähne, streichelten <strong>de</strong>n Hengst sanft. Der Junge warf einen letzten Blick auf sein Pferd,<br />

ließ dann <strong>de</strong>n Kopf hängen und die Gedanken gleiten. Mit einem donnern<strong>de</strong>n Rauschen kippte seine wache Welt, und<br />

er sank in einen tiefen, erholsamen Schlaf. Vorsichtig legten die schwarzen Kapuzen ihn auf eine improvisierte Trage<br />

und schleiften ihn in Richtung <strong>de</strong>s Schattenwal<strong>de</strong>s. Zwei <strong>de</strong>r Wesen nahmen Windmähne bei <strong>de</strong>n Zügeln, führten das<br />

Pferd durch die Nacht. Dann folgten auch die letzten dunklen Gestalten, und <strong>de</strong>r Rastplatz <strong>de</strong>s Wan<strong>de</strong>rers lag so<br />

einsam und verlassen da, wie er ihn vorgefun<strong>de</strong>n hatte.<br />

120


VII<br />

Schattenseiten<br />

Wissen allein kann niemals genug sein.<br />

Nur, wer es anzuwen<strong>de</strong>n weiß, ist sein wirklicher Herr.<br />

Teagar Jael’vre<br />

Aus „Chronik <strong>de</strong>r Jurakai“ von Asan An‘chassar<br />

Dynes zügelte sein Roß Sturmauge, als er vor sich Umrisse eines weiteren Gutes sah. In <strong>de</strong>n letzten Tagen waren sie<br />

bereits an vielen zerstörten Höfen vorbeigekommen, hatten die schrecklichen Überbleibsel gesehen, die die Angreifer<br />

zurückgelassen hatten. Mit zusammengezogenem Herzen hatte <strong>de</strong>r Ritter die Opfer betrachtet, die Familien, die er seit<br />

seiner Kindheit gekannt hatte, <strong>de</strong>ren Söhne und Töchter er hatte aufwachsen sehen. Hier lagen sie nun, verstümmelt<br />

und zerfetzt zwischen <strong>de</strong>n Trümmern, bei manchen die Haut schon abgefressen von Vögeln und an<strong>de</strong>ren Tieren.<br />

Paves, <strong>de</strong>r soviel Tod und Ver<strong>de</strong>rben nicht gewohnt war, hielt sich, als wür<strong>de</strong> ihm das alles nicht zusetzen. Jedoch<br />

merkte <strong>Arathas</strong> daran, wie still <strong>de</strong>r Junge je<strong>de</strong>smal wur<strong>de</strong>, wenn sie einen verwüsteten Hof betraten, welche<br />

innerlichen Qualen <strong>de</strong>r Knabe durchlei<strong>de</strong>n mußte. Meistens ließ er ihn bei <strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>n, während er die Trümmer<br />

absuchte, sich nach Überleben<strong>de</strong>n umsah. Doch wer o<strong>de</strong>r was immer dort auch gehaust haben mochte, er hatte nichts<br />

zurückgelassen, das noch zu retten gewesen wäre. Langsam verstand <strong>de</strong>r Ritter, warum Djenhalm so verängstigt<br />

gewesen war wie eine gefangene Maus.<br />

„Das dort vorn ist mein Heim“ teilte Dynes seinem Schützling mit. Ohne einen Gefühlsausdruck zu offenbaren, nickte<br />

Paves.<br />

„Es ist ebenfalls zerstört“ sagte er. „Ob die, die... Frem<strong>de</strong>n auch die Siedlungen angegriffen haben, die unbewohnt<br />

sind?“<br />

„Keine Ahnung“ antwortete Dynes und ritt auf das Gebäu<strong>de</strong> zu, das einst sein Zuhause gewesen war. Nur ein paar<br />

Löcher in <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n und zerbrochene Fenster zeugten davon, daß <strong>de</strong>r unbekannte Feind auch hier sein Unwesen<br />

getrieben hatte, doch nach so vielen Erfahrungen genügten bereits diese Hinweise, um zu erkennen, was hier<br />

vorgefallen war. Der Ritter ließ Sturmauge zurück und lugte vorsichtig um die zerborstene Tür herum in sein<br />

ehemaliges Heim. Dunkelheit und Verwesungsgeruch warteten darin.<br />

Dynes entzün<strong>de</strong>te ein Streichholz und sah sich im einstigen Heim um. Auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n war Dreck und Schlamm, und<br />

durch eine zerborstene Tür trat er ins Nebenzimmer. Dicke Holzbalken lagen hier, gebrochen o<strong>de</strong>r gespalten,<br />

wahrscheinlich von Schwertern o<strong>de</strong>r Äxten. Die Menschen die sich in diesem Raum verschanzten, hatten seine<br />

gesamten Möbel vor die Tür gestellt, doch es hatte nichts geholfen. Blutige Spuren waren auf <strong>de</strong>n Dielen zu sehen,<br />

überall die Spuren eines Kampfes. Der Ritter drang weiter in das Haus ein, durchquerte sein früheres Arbeitszimmer<br />

und blickte in die Küche, an <strong>de</strong>r das Geschehen anscheinend vorübergegangen war. Die Einrichtung sowie die<br />

einzelnen Utensilien lagen noch immer aufgeräumt in <strong>de</strong>n Regalen, nur ein paar benutzte Dinge ließen darauf<br />

schließen, daß sich jemand an seinen Vorräten zu schaffen gemacht hatte. <strong>Arathas</strong> wußte nicht, wie lange die<br />

Verfolgten sich hier eingeschlossen hatten, doch es war nicht lange genug gewesen. Der Verwesungsgeruch wur<strong>de</strong><br />

stärker, je weiter er sich ins Haus begab, war jetzt schon brechreizerregend. Als er sein Schlafzimmer betrat, fand er<br />

endlich die Leichen, nach <strong>de</strong>nen er gesucht hatte.<br />

Überall waren blutige Schlieren an <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n, abgetrennte Körperteile be<strong>de</strong>ckten <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n. Sein Bett, ein stabiles<br />

Stück aus Eichenholz, zierte nun in vielen kleinen Teilen <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n. Überall lagen weiße Daunen, schmückten das<br />

Zimmer auf groteske, winterliche Weise. In <strong>de</strong>n Ecken waren mehrere Männer und Frauen aufeinan<strong>de</strong>rgeworfen<br />

wor<strong>de</strong>n. Sie hatten <strong>de</strong>n Angreifern auf je<strong>de</strong>n Fall einen würdigen Kampf geliefert, auch wenn sie letztendlich <strong>de</strong>n<br />

kürzeren gezogen haben. Dynes bewun<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>n Mut dieser Menschen, die sich bis zur letzten Sekun<strong>de</strong> gegen <strong>de</strong>n<br />

Feind behaupteten. Er untersuchte die Leichen und wur<strong>de</strong> sich schmerzlich <strong>de</strong>r Verluste gewahr, die er und sein<br />

Lehen erlitten hatten. Bis jetzt waren die meisten Leichen auf so grausame Weise verstümmelt gewesen, daß er sie<br />

meist nicht wie<strong>de</strong>rerkannt hatte, doch diesen hier wur<strong>de</strong>n nur schwere Wun<strong>de</strong>n zugefügt, man massakrierte sie<br />

allerdings nicht. Der Grund dafür entzog sich <strong>de</strong>m Ritter.<br />

Er hob <strong>de</strong>n Kopf einer Frau an, nahm ihren Leib vom Bo<strong>de</strong>n und betrachtete ihr Gesicht. Es stand nur Furcht darin<br />

geschrieben, verblaßt war das Lächeln, mit <strong>de</strong>m sie ihre Kin<strong>de</strong>r bedacht hatte und ihre Freun<strong>de</strong> erfreute. Er fuhr über<br />

ihre Augen und bettete sie auf <strong>de</strong>m zerkleinerten Bett, auf <strong>de</strong>n Fe<strong>de</strong>rn eines geplatzten Kissens. Dann begann er, auch<br />

die an<strong>de</strong>ren Körper vom Haufen zu nehmen und nebeneinan<strong>de</strong>r zu legen. Er ent<strong>de</strong>ckte immer mehr <strong>de</strong>r Menschen, die<br />

121


für ihn das gewesen waren, was man gemeinhin als Familie bezeichnete. Während er <strong>de</strong>r letzten Leiche über’s Gesicht<br />

fuhr, trat <strong>de</strong>r junge Paves in <strong>de</strong>n Raum. Es war leicht zu erkennen, daß er ein Würgen unterdrückte, doch tapfer<br />

verzog er nicht einen Muskel seines Gesichtes. In <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n hielt er ein Ding, das Dynes nicht erkannte.<br />

„Was tust du hier, Junge“ fragte er und musterte das Etwas, das <strong>de</strong>r Knabe bei sich trug. Es sah fast aus wie...<br />

„Eine Hand“ teilte Paves sachlich mit, und seine Stimme verriet nichts von <strong>de</strong>m, was vielleicht in ihm vorgehen<br />

mochte. „Sie stammt nicht von einem Menschen.“<br />

Dynes hob die Brauen und betrachtete das abgetrennte Ding. Es war tatsächlich nicht menschlichen Ursprungs, sah<br />

vielmehr aus wie die Hand eines Reptils. Grün und warzig und auf <strong>de</strong>m Rücken überzogen mit einer Schicht feiner,<br />

sruppiger Borsten. Sie war schwarz, obwohl das natürlich an <strong>de</strong>r fortschreiten<strong>de</strong>n Verwesung liegen konnte.<br />

„Du hast Recht, Paves.“ Er musterte das Glied erneut und schüttelte dann <strong>de</strong>n Kopf. „Schätze, daß die Geschichte, die<br />

Djenhalm mir erzählte, etwas Wahres an sich hat.“<br />

„Welche Geschichte, Herr?“<br />

„Orks. Djenhalm hatte einen Bericht bekommen, in <strong>de</strong>m von Orks die Re<strong>de</strong> war.“<br />

„Mir wur<strong>de</strong> beigebracht, daß die Orks aus Ruben vertrieben wur<strong>de</strong>n, als die Jurakai hierherkamen. Sie drängten die<br />

Orks fort, bis hinter die Grenzen <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s...“<br />

Dynes nickte. „Und nun scheinen sie zurückgekehrt zu sein. Vielleicht können wir hier wirklich nichts mehr tun. Die<br />

Höfe scheinen ausnahmslos vernichtet wor<strong>de</strong>n zu sein. Ich glaube nicht, daß wir noch jemand fin<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r am<br />

Leben ist. Laß uns nach Darburg reiten und Bericht erstatten. Immerhin befin<strong>de</strong>n sich noch ein paar <strong>de</strong>r Gutsherren in<br />

<strong>de</strong>r Stadt.“ Er blickte auf die Leichen, die nun <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n be<strong>de</strong>ckten.<br />

„Wenn es noch jeman<strong>de</strong>n gibt, <strong>de</strong>r unsere Hilfe benötigt, dann fin<strong>de</strong>n wir ihn dort.“<br />

Indigo spürte einen leichten, stechen<strong>de</strong>n Schmerz in <strong>de</strong>r Magengegend, und die Schwärze vor seinen Augen begann,<br />

an Farbe zu gewinnen. Er ließ die Li<strong>de</strong>r geschlossen, atmete ruhig und tief, um <strong>de</strong>n Anschein <strong>de</strong>s Schlafes zu wahren.<br />

Glühen<strong>de</strong> Funken tanzten in seiner Vorstellung, wechselten von Rot zu Blau und von Blau zu Gelb. Die leuchten<strong>de</strong>n<br />

Farben verblaßten nach einiger Zeit, schimmerten dann aber wie<strong>de</strong>r umso heller. Vorsichtig lugte er unter halb<br />

geschlossenen Augenli<strong>de</strong>rn hervor, machte sich ein Bild von <strong>de</strong>r Umgebung.<br />

Alles schien aus Schlieren und sich drehen<strong>de</strong>n Schleifen zu bestehen. Er konnte nur verschwommene Umrisse<br />

erkennen, nichts konkretes. Ein Mann - o<strong>de</strong>r vielleicht auch eine Frau - schien ein Stück vor ihm zu sitzen, war leicht<br />

über ihn gebeugt. Er richtete seinen benebelten Blick nach links, konnte aber nur Dunkelheit sehen.<br />

Nun, wenn sie mich bis jetzt nicht getötet haben, dann wer<strong>de</strong>n sie es auch dann nicht tun, wenn ich aufwache, sagte<br />

sich <strong>de</strong>r junge Mann und gähnte <strong>de</strong>monstrativ. Dann schlug er die Augen auf, betrachtete <strong>de</strong>n Raum, in <strong>de</strong>m er<br />

augenblicklich untergebracht wor<strong>de</strong>n war.<br />

Es war eine kahle Höhle mit festen schwarzen Wän<strong>de</strong>n. Ein paar Kerzen in <strong>de</strong>n Ecken erhellten das Zimmerchen<br />

spärlich, und auch sonst fehlte es <strong>de</strong>m Raum an Einrichtungsgegenstän<strong>de</strong>n. Vor <strong>de</strong>m Bett, in <strong>de</strong>m er lag, stand nur<br />

noch ein Stuhl, ansonsten waren keine Möbel zu erkennen. Auf <strong>de</strong>m Stuhl saß in erwartungsvoller Haltung ein Greis,<br />

mit runzeligem Gesicht und ergrauten Haaren. Der Alte starrte Indigo aufmerksam an, richtete jedoch kein Wort an<br />

ihn.<br />

Der Jurakai sah an sich herab, bemerkte, daß er bis auf eine recht kurze Hose vollkommen nackt war. Um seine<br />

Bauchwun<strong>de</strong> herum war ein dicker Verband gewickelt wor<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>r stechen<strong>de</strong> Schmerz von vorhin hatte daher<br />

gerührt, daß <strong>de</strong>r Alte mit einem Finger auf die Verletzung gepocht hatte. Eine lange Zeit starrten sich die bei<strong>de</strong>n in<br />

die Augen, und <strong>de</strong>r Jurakai konnte seinen gebannten Blick nicht von <strong>de</strong>m Greis abwen<strong>de</strong>n. Die Iris <strong>de</strong>s Mannes... sie<br />

war völlig schwarz. Es gab we<strong>de</strong>r einen Hauch von Farbe in ihr, noch, daß sich das Licht in irgen<strong>de</strong>iner Weise darin<br />

brach! Es war ein leuchten<strong>de</strong>r Schwarzton, <strong>de</strong>r Indigo vom Gesicht <strong>de</strong>s Alten aus anstarrte. Endlich brachte <strong>de</strong>r<br />

Jurakai ein Räuspern zustan<strong>de</strong>, zog seinen Körper ein wenig nach hinten. Die Wun<strong>de</strong> schmerzte nicht mehr, trotz <strong>de</strong>r<br />

schnellen Bewegung, und <strong>de</strong>r Junge fragte sich, wie weit die Heilung wohl schon fortgeschritten war.<br />

„Ich, ähm...“ stotterte er heiser, und lächelnd reichte <strong>de</strong>r Alte ihm einen mit Wasser gefüllten Krug. Dankbar nahm<br />

<strong>de</strong>r Jurakai das Gefäß entgegen, ließ sich die kühle Flüssigkeit auf <strong>de</strong>r Zunge zergehen. Dann nickte er anerkennend<br />

und lächelte ebenfalls.<br />

„Wer seid Ihr?“ fragte er langsam, für <strong>de</strong>n Fall, daß <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong> seine Sprache nicht beherrschte. Doch <strong>de</strong>r Greis<br />

schien Rubisch wun<strong>de</strong>rbar zu sprechen, antwortete fließend und mit wohlklingen<strong>de</strong>r Stimme.<br />

„Ich bin Jel’ari von <strong>de</strong>n Nagua’ra’sche. Aber bitte nenn’ mich nur Jel’ari.“<br />

„Jel’ari...“ murmelte Indigo und sah sich neuerlich im Zimmer um.<br />

„Könnt Ihr mir sagen, wo ich bin? Und Eure schwarzen Augen... Ihr seid ein Shat’lan, nicht wahr?“<br />

Der Greis nickte stumm, lächelte weiterhin. „Du bist in einem Malasa, junger Freund. Hast du bereits von <strong>de</strong>n<br />

Malasae gehört? Nein, natürlich nicht. Fast niemand, <strong>de</strong>r kein Shat’lan ist, weiß etwas darüber.“<br />

„Was ist ein Malasa? So etwas wie ein Aufenthaltsort für Kranke o<strong>de</strong>r Verwun<strong>de</strong>te?“ fragte Indigo, warf einen<br />

vielsagen<strong>de</strong>n Blick auf seinen Bauch.<br />

122


„Oh, nein“ lachte <strong>de</strong>r Alte, und seine vertrocknete Stimme klang angenehm und sanft. „Das Malasa ist ein Ort, an<br />

<strong>de</strong>m sich Shat’lan aufhalten. Wir leben hier, und all unsere... nun, häuslichen Dinge lagern hier. Die Malasae und die<br />

Wäl<strong>de</strong>r sind unsere Heimat.“<br />

„Es ist also so etwas wie eine Wohnung, o<strong>de</strong>r... ein Haus?“ meinte <strong>de</strong>r Jurakai und hob die Augenbrauen.<br />

„Aber ganz und gar nicht. Du solltest es dir selbst ansehen, mein Freund. Hier ist Kleidung für dich. Übrigens wäre<br />

ich dir sehr verbun<strong>de</strong>n, wenn ich auch <strong>de</strong>inen Namen erfahren dürfte.“ Jel’ari reichte <strong>de</strong>m Jungen ein paar schöne,<br />

wärmen<strong>de</strong> Kleidungsstücke, die Indigo mit Freu<strong>de</strong>n entgegennahm.<br />

„Entschuldigt, Herr. Indigo Jael’vre, und ich stamme aus Eldraja’aro. Die Stadt liegt im Weilerwald, ein ganzes Stück<br />

östlich von hier.“<br />

„Ich weiß, wo Eldraja’aro sich befin<strong>de</strong>t“ kicherte <strong>de</strong>r Alte vergnügt, und Indigo fragte sich, was daran so lustig sein<br />

sollte. „Du brauchst übrigens keine große Rücksicht mehr auf die Wun<strong>de</strong> zu nehmen. Sie ist fast verheilt, und wenn<br />

du kein weiteres Messer hineinsteckst, dann wird sie bald völlig verschwun<strong>de</strong>n sein.“<br />

Erstaunt sah Indigo auf <strong>de</strong>n Verband hinab, <strong>de</strong>r um seinen Leib geschlungen war. Tatsächlich, kein Schmerz<br />

durchzuckte seine Körper, auch dann nicht, als er sich vom Bett erhob, die Verletzung behutsam abtastete.<br />

„Wie lange habe ich geschlafen?“ fragte er neugierig, und <strong>de</strong>r Shat’lan musterte ihn aufmerksam.<br />

„Lang“ antwortete er vage, und um seine Augen bil<strong>de</strong>ten sich kleine Fältchen, als er die Stirn runzelte. „Sehr lang,<br />

junger Jurakai. Dreimal ging <strong>de</strong>r <strong>Mond</strong> auf und wie<strong>de</strong>r unter, bis <strong>de</strong>in Geist in <strong>de</strong>inen Körper zurückgefun<strong>de</strong>n hat. Du<br />

scheinst <strong>de</strong>n Schlaf nötig gehabt zu haben.“<br />

„Ja, das mag stimmen...“ Nach<strong>de</strong>nklich streifte Indigo die Hose über seine Beine, knöpfte dann auch das Hemd zu. Es<br />

leuchtete in einem warmen, beruhigen<strong>de</strong>m Braun, ebenso wie die an<strong>de</strong>ren Kleidungsstücke, die er nun trug. Sogar die<br />

Schuhe, die er angezogen hatte, waren farblich genau auf die restlichen Klei<strong>de</strong>r abgestimmt.<br />

„Und nun folge mir, mein junger Freund. Du wirst viel zu staunen haben...“<br />

Mit langsamen, tasten<strong>de</strong>n Schritten ging <strong>de</strong>r Jurakai <strong>de</strong>m Alten hinterher, hinaus aus <strong>de</strong>m Raum und hinein in das<br />

vermeintliche Haus, das Malasa, wie Jel’ari es genannt hatte. Zuerst führte ihr Weg sie einen schmalen Gang<br />

hinunter, <strong>de</strong>ssen Decke und Wän<strong>de</strong> eng beieinan<strong>de</strong>rlagen. Dann öffnete <strong>de</strong>r Greis einen Vorhang und gab die Sicht<br />

nach draußen frei. Mit einem ungläubigen Stöhnen taumelte Indigo nach hinten, hielt sich an <strong>de</strong>r vertrauten<br />

Höhlenwand fest, um nicht umzufallen.<br />

Der Anblick, <strong>de</strong>r sich ihm bot, war überwältigend. Das Malasa war auf je<strong>de</strong>n Fall kein Haus, das konnte er jetzt mit<br />

Sicherheit sagen. Das riesenhafte Gewölbe, das vor ihm lag, war angefüllt mit <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nsten Dingen. Doch so<br />

groß die Auswahl und Vielfalt auch sein mochte, die sich hier darbot, niemals wirkte etwas fehl am Platze o<strong>de</strong>r zuviel.<br />

All die Dinge in <strong>de</strong>r phantastischen Höhle schienen sich nahtlos an ihren Platz zu fügen, als müßten sie sich hier<br />

befin<strong>de</strong>n, wären schon seit ewigen Zeiten dort.<br />

Der erste und pompöseste Blickfang war ein graziler, verschnörkelter Brunnen in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>s Gewölbes, und<br />

kristallklares Wasser plätscherte aus verschie<strong>de</strong>nen Öffnungen, quoll aus <strong>de</strong>n Mün<strong>de</strong>rn von kleinen Steinstatuen o<strong>de</strong>r<br />

rann durch vorgefertigte Steinbahnen. Doch bei genauerem Hinsehen erkannte man, daß all die Laufbahnen, durch die<br />

das Wasser schoß und an Geschwindigkeit gewann, nicht wirklich als Verzierung und Prunk gedacht waren, son<strong>de</strong>rn<br />

daß sie einen einfachen, simplen Zweck erfüllten. Die Wasserläufe flossen nicht ziellos durch die Bahnen, verteilten<br />

sich vielmehr, gabelten sich an wichtigen Stellen, um dann ihren weiteren Weg durch Höhlenwän<strong>de</strong> zu beschreiten,<br />

direkt in die Unterkünfte von Shat’lan flossen. Die Statuen und Figuren, die um <strong>de</strong>n Brunnen herum thronten,<br />

konnten durchaus zur bloßen Schau dort angebracht wor<strong>de</strong>n sein, doch Indigo argwöhnte, daß hinter <strong>de</strong>m technisch<br />

raffiniertem Aufbau noch eine zweite Funktionsweise steckte, die sich <strong>de</strong>m bloßen Augen nicht gleich offenbarte.<br />

Um <strong>de</strong>n Brunnen ragten verdrehte Säulen auf, waren aus <strong>de</strong>m Stein <strong>de</strong>r Höhle gemeißelt, zeigten Landschaften, Tiere<br />

und an<strong>de</strong>re Lebewesen. In <strong>de</strong>n Farben <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s waren die Steinarbeiten bemalt, schimmerten in grünlichem Braun<br />

o<strong>de</strong>r in welkem, herbstlichem Rot.<br />

Und um <strong>de</strong>n Brunnen herum, in tausend kleinen Einzelheiten hervorgehoben, verziert und verschnörkelt... die Stadt<br />

<strong>de</strong>r Shat’lan selbst, das Malasa, die Stätte <strong>de</strong>s Lebens. Ein Quell unerschöpflicher Energien, voll von unverbrauchten<br />

I<strong>de</strong>en und geschickter künstlerischer Aktivität. Kopfschüttelnd betrachtete Indigo die riesige Halle, das enorme<br />

Gewölbe, das sich unterhalb <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> erstreckte. Wohin er <strong>de</strong>n Blick auch wandte, sofort sprangen ihm hun<strong>de</strong>rt neue,<br />

aufregen<strong>de</strong> Dinge ins Auge, die er nicht kannte, die ungewohnte Gefühle in ihm weckten. Und zwischen all diesen<br />

son<strong>de</strong>rbaren, anmutigen Verzierung lebte und bewegte sich das Volk <strong>de</strong>r Shat’lan, schöpfte Wasser aus <strong>de</strong>m großen<br />

Brunnen und verrichtete Arbeiten in solcher Vielzahl und Vielfältigkeit, daß Indigo <strong>de</strong>r Kopf schwirrte.<br />

Er keuchte hingebungsvoll und sah zu Jel’ari, <strong>de</strong>r ihn mit einem warmherzigen Lächeln betrachtete.<br />

„Dies ist ein Malasa, junger Freund. Und es ist nicht das einzige seiner Art. Überall im Schattenwald verteilt sind<br />

unsere Städte, durchziehen <strong>de</strong>n Untergrund von Ruben.“<br />

„Aber... aber ich dachte, die Shat’lan wären längst...“<br />

„Ausgestorben? Das <strong>de</strong>nken alle, die es nicht besser wissen. Aber es ist falsch. Wir leben zurückgezogen, doch tot sind<br />

wir noch lange nicht.“<br />

„Ich dachte, ihr wäret Einzelgänger. Mein Freund, Nachtfalke, er hat mir ein wenig über euch erzählt...“<br />

123


„Nachtfalke?“ fragte Jel’ari nach<strong>de</strong>nklich. „Nein, <strong>de</strong>r Name sagt mir nichts. Aber das ist nicht weiter verwun<strong>de</strong>rlich.<br />

Ich befasse mich nicht allzu sehr mit <strong>de</strong>m Leben, das sich außerhalb unserer Wäl<strong>de</strong>r abspielt. Was hat <strong>de</strong>in Freund dir<br />

alles gesagt, junger Jurakai?“<br />

„Er meinte, daß er schon <strong>de</strong>s öfteren auf Shat’lan getroffen wäre. Aber noch nie auf mehrere gleichzeitig, und daraus<br />

schloß er, daß ihr wohl wenig Sinn für Gemeinschaft haben wür<strong>de</strong>t... doch dies hier...“<br />

„Wir sind nur selten an <strong>de</strong>r Oberfläche. Und wenn, dann versteckt und nicht sichtbar für das Auge eines frem<strong>de</strong>n<br />

Beobachters. Wir wer<strong>de</strong>n niemals gesehen. Wir geben uns zu erkennen. Niemals an<strong>de</strong>rsherum.“<br />

„Außer<strong>de</strong>m erzählte mir Falke, daß es nur noch wenig Shat’lan geben wür<strong>de</strong>... wenn überhaupt noch welche von euch<br />

leben. Aber hier müssen wenigstens Hun<strong>de</strong>rt sein, allein in dieser einen, riesigen Höhle!“<br />

„Es sind weit mehr“ meinte <strong>de</strong>r Alte leise. „Weit, weit mehr. Doch komm, ich habe jeman<strong>de</strong>m versprochen, daß er<br />

dich sofort sehen wird, wenn du aufwachst. Wir müssen ihm einen Besuch abstatten.“<br />

„Wer ist es?“ wollte Indigo wissen, doch Jel’ari gab keine Antwort. Ahnungen und Wünsche formten sich in Indigo,<br />

wur<strong>de</strong>n jedoch auf <strong>de</strong>r Stelle wie<strong>de</strong>r verworfen. Es gab also jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r ihn sehen wollte, sobald er erwacht war.<br />

Wer konnte das sein? Einer seiner ersten Gedanken lautete Nachtfalke, doch das war unmöglich. Der alte Jurakai war<br />

tot, daran hatte kein Zweifel bestehen können. Aber vielleicht war es Talamà o<strong>de</strong>r einer seiner Freun<strong>de</strong>, die zum<br />

Königshof aufgebrochen waren...<br />

Hun<strong>de</strong>rte von Mutmaßungen durchzuckten <strong>de</strong>n Jungen, während sie über einen schmalen, dünnen Steg liefen, <strong>de</strong>r sich<br />

quer durch die Halle zog und nirgends befestigt zu sein schien. Es war hell in <strong>de</strong>m Gewölbe, <strong>de</strong>nn unzählige Fackeln<br />

brannten auf Po<strong>de</strong>sten, erzeugten ein flackern<strong>de</strong>s, gelblich rotes Licht. An einer Gabelung bog <strong>de</strong>r Shat’lan ab, führte<br />

Indigo über eine Brücke, direkt auf einen Eingang in <strong>de</strong>r Höhlenwand zu. Rasch zog <strong>de</strong>r Alte die Vorhänge beiseite,<br />

und die bei<strong>de</strong>n traten in einen dunklen Gang, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Jurakai an <strong>de</strong>n Tunnel erinnerte, <strong>de</strong>n sie vorhin durchschritten<br />

hatten. Erst jetzt fiel ihm auf, daß keine Geräusche an sein Krankenbett gedrungen waren, obwohl er nahe an <strong>de</strong>r<br />

großen Halle gelegen hatte. Und auch hier, in diesem engen, kleinen Gang, war es ruhig und still. Aber draußen<br />

gingen doch hun<strong>de</strong>rte von Shat’lan ihren Tätigkeiten nach! Machten sie <strong>de</strong>nn keinen Lärm? Doch so sehr Indigo sich<br />

auch zu erinnern versuchte, es fiel ihm schwer, über die Laute nachzu<strong>de</strong>nken, die er in <strong>de</strong>m Gewölbe vernommen<br />

hatte. Es waren keine Töne gewesen, kein bestimmter Laut, <strong>de</strong>r durch die Wän<strong>de</strong> dringen wür<strong>de</strong>. Wenn die Gestalten,<br />

die sich am Bo<strong>de</strong>n bewegt hatten, tatsächlich Geräusche erzeugten, dann waren sie so leise, daß man sie schon durch<br />

einfache Vorhänge dämpfen konnte.<br />

Mit ein paar hastigen Schritten schloß Indigo zu Jel’ari auf, <strong>de</strong>r bereits am an<strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> auf ihn wartete. Er <strong>de</strong>utete<br />

ihm mit einer Handbewegung, sich in <strong>de</strong>n Raum zu begeben, und <strong>de</strong>r Jurakai tat, wie ihm geheißen.<br />

Ein kleines Zimmer lag vor ihnen, und im hinteren Teil <strong>de</strong>s Raumes stand ein langer Tisch, be<strong>de</strong>ckt von unzähligen<br />

Büchern, Karten und an<strong>de</strong>ren Papieren. Eine Person saß an <strong>de</strong>m Tisch, hielt eine Fe<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Hand, und sein<br />

Arbeitsplatz wur<strong>de</strong> nur von einer kleinen Kerze beleuchtet. So prunkvoll und wun<strong>de</strong>rschön die Shat’lan die große<br />

Halle auch gestaltet hatten, so unscheinbar und wenig schmuckvoll richteten sie anscheinend ihren privaten Besitz<br />

ein. Die Gestalt, die auf einem kleinen Hocker mit <strong>de</strong>m Rücken zu ihnen saß und in eine schwarze Kutte gewan<strong>de</strong>t<br />

war, senkte ihr Haupt, zeigte allein durch diese Gebär<strong>de</strong>, daß sie von <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Besuchern Notiz genommen hatte.<br />

Die Person saß hoch, <strong>de</strong>r Körper war weit über <strong>de</strong>n Tisch geneigt, obwohl <strong>de</strong>r Stuhl nur sehr klein war. Er - o<strong>de</strong>r sie -<br />

mußte recht groß sein.<br />

„Ich grüße dich, mein Freund“ sagte die verhüllte Gestalt mit einer tiefen, männlichen Stimme. Indigo wußte, daß er<br />

diesen Klang schon einmal vernommen hatte, konnte sich jedoch nicht erinnern, wo.<br />

„Ich grüße Euch ebenfalls“ sagte er unbeholfen und trat in die Mitte <strong>de</strong>s Raumes.<br />

Der Mann wischte mit einer raschen Handbewegung die Blätter zur Seite, an <strong>de</strong>nen er gearbeitet hatte, erhob sich<br />

dann langsam von seinem Hocker. Er wandte sich seinen Besuchern zu, musterte <strong>de</strong>n Jurakai mit interessiertem Blick.<br />

Ein dicker Vollbart zierte das harte, kantige Gesicht <strong>de</strong>r Gestalt, und nun erinnerte sich Indigo, woher er diesen Mann<br />

kannte.<br />

„Ihr wart es, <strong>de</strong>r mich bei <strong>de</strong>n Bäumen empfangen habt!“ sagte er aufgeregt, und die stämmige Person nickte.<br />

„Das stimmt. Und du darfst ruhig weniger förmlich sein“ sagte <strong>de</strong>r Mann gelassen, und ein breites Grinsen schob sich<br />

über seine Züge. Er fuhr sich mit <strong>de</strong>r einen Hand durch <strong>de</strong>n buschigen Bart, kratzte sich am Kinn. „Ich bin Keldar<br />

Uleandaris. Ein Shat’lan, wie du sicher schon herausgefun<strong>de</strong>n hast.“ Mit <strong>de</strong>n finsteren, dunklen Löchern, die seine<br />

Augen waren, sah er <strong>de</strong>n Jungen erwartungsvoll an.<br />

„Das habe ich, Keldar. Ich bin Euch - entschuldige, ich bin dir zu tiefstem Dank verpflichtet. Dafür, daß ihr mich<br />

hierhergebracht und meine Wun<strong>de</strong> behan<strong>de</strong>lt habt.“<br />

„Nicht <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong> wert“ sagte Keldar und richtete sich an Jel’ari. „Laßt uns bitte allein, Sala’mey. Ich benötige ein<br />

wenig Zeit mit <strong>de</strong>m Jungen.“<br />

Jel’ari verneigte sich kurz, ging dann durch <strong>de</strong>n Gang zurück in die große Halle. Anschließend stan<strong>de</strong>n sich Keldar<br />

und Indigo einige Sekun<strong>de</strong>n lang wortlos gegenüber, bis <strong>de</strong>r Schwarzgewan<strong>de</strong>te <strong>de</strong>m Jurakai anbot, sich zu setzen.<br />

Der Auffor<strong>de</strong>rung nachkommend nahm Indigo auf einem kleinen Stuhl Platz, während Keldar sich wie<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m<br />

Hocker begnügte, auf <strong>de</strong>m er schon vorher gesessen hatte.<br />

„Ich glaube, wir haben uns viel zu erzählen, mein junger Freund. Und du hast viele Fragen, nehme ich an?“<br />

124


„Ich...“ Indigo zögerte einen Moment. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Es ist so viel Neues hier um mich<br />

herum, so viel unbekanntes und unbeschreibliches...“<br />

„Dann laß mich dir die ersten Fragen stellen“ bot Keldar an und rutschte näher an <strong>de</strong>n Jurakai. „Wie lautet <strong>de</strong>in<br />

Name?“<br />

„Indigo Jael’vre. Ich stamme aus Eldraja’aro.“<br />

„Du warst nicht allein unterwegs, zumin<strong>de</strong>st anfangs nicht, habe ich Recht?“<br />

„Ich... ja. Ich habe meine Reise mit Nachtfalke begonnen, und etwas später schloß sich uns noch eine Frau namens<br />

Talamà an. Es sind bei<strong>de</strong>s Jurakai.“<br />

„Welche Reise? Und wo sind <strong>de</strong>ine Gefährten nun?“ wollte Keldar wissen.<br />

„Nachtfalke ist tot“ sagte Indigo bitter, schmeckte die Galle, die ihm aufstieg. Er schluckte das Gefühl, nahm sich<br />

zusammen. „Und Talamàs Aufenthaltsort ist mir nicht bekannt. Möglicherweise ist sie ebenfalls tot. Aber ich glaube,<br />

daß die Schwarzorks sie verschleppt haben. Wir drei waren unterwegs, um Hochkönig Westfald Bericht zu erstatten<br />

von <strong>de</strong>n Dingen, die in Ruben vorgehen.“<br />

„Ich weiß, wovon du sprichst“ sagte Keldar ernst und blickte an Indigo vorbei. „Aber dieses Thema soll uns jetzt nicht<br />

beschäftigen. Später können wir uns über diese schwarze Brut unterhalten, doch zuerst möchte ich ein paar an<strong>de</strong>re<br />

Sachen erfahren. Es tut mir übrigens sehr leid, von Nachtfalkes Tod zu hören. Ich habe ihn gekannt. Er war eine gute<br />

Seele.“<br />

„Du kanntest Nachtfalke? Woher?“<br />

„Auch das kann ich dir noch nicht beantworten. Aber ich möchte dich eines Fragen: Wieviel wußtest du über die<br />

Shat’lan, bevor du hierher kamst? Und wieviel weißt du jetzt?“<br />

„So gut wie nichts“ gestand Indigo und schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Ich glaube, das alles übersteigt meinen Horizont ein<br />

wenig...“<br />

„Ganz sicher nicht, mein Freund. Es ist nur vieles neu für dich, doch... laß mich dir etwas zeigen.“<br />

Die in eine Robe gehüllte Gestalt Keldars stand auf, faßte <strong>de</strong>n Jurakai an <strong>de</strong>r Schulter. Gemeinsam schritten sie durch<br />

<strong>de</strong>n Raum, machten vor einem großen Spiegel Halt, <strong>de</strong>r die gesamte Hälfte einer Wand einnahm. Die pechschwarzen<br />

Augen <strong>de</strong>s Shat’lan starrten in die gespiegelten Pupillen von Indigo, betrachteten <strong>de</strong>n Jungen aufmerksam.<br />

„Was siehst du?“ fragte Keldar, zeigte mit einem Finger in <strong>de</strong>n Spiegel.<br />

„Nichts ungewöhnliches“ meinte Indigo und zuckte die Achseln. „Was sollte ich <strong>de</strong>nn...“ Seine Stimme verklang, als<br />

er sein eigenes Abbild betrachtete. Sein Blick glitt von unten nach oben an seiner Gestalt hinauf, an <strong>de</strong>r braunen<br />

Kleidung, die ihm Jel’ari hatte zukommen lassen. Nichts von Be<strong>de</strong>utung zeigte sich an seinem Leib, doch als er in<br />

sein Gesicht sah...<br />

„Es muß an <strong>de</strong>m Licht liegen!“ sagte Indigo fest und faßte Keldar am Arm. „Es liegt am Licht, nicht wahr?“<br />

„Sieh genau hin“ befahl <strong>de</strong>r Mann in <strong>de</strong>r Robe, und <strong>de</strong>r Jurakai blickte erneut in <strong>de</strong>n Spiegel. Seine eigenen Augen,<br />

die blauen Augen, die er schon tausen<strong>de</strong> von Malen betrachtet hatte... sie waren dunkler gewor<strong>de</strong>n. Etwas von ihrer<br />

Helligkeit war gewichen, hatte einem leichten Anflug von Finsternis Platz gemacht.<br />

„Das kann nicht sein“ murmelte Indigo und stützte sich an Keldars stämmiger Gestalt.<br />

„Aber es geschieht“ meinte <strong>de</strong>r Bärtige mit einem Lächeln. „Du kannst dich <strong>de</strong>m nicht entziehen. Es mag noch<br />

ungewöhnlich für dich sein, weil du <strong>de</strong>n Hintergrund für die Verfärbung nicht kennst. Aber schau nur in die Augen<br />

eines Neugeborenen Shat’lan: Dann wirst du sehen, daß unsere Kin<strong>de</strong>r nicht mit schwarzen Augen auf die Welt<br />

kommen. Es ist ein Prozeß, <strong>de</strong>r durchlaufen wird, ein langjähriges Ritual.“<br />

„Aber ich bin erst seit wenigen Tagen hier“ protestierte <strong>de</strong>r Jurakai und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. „Warum<br />

verdunkeln sich meine Augen?“<br />

„Es hat nichts damit zu tun, wieviel Zeit du bei uns verbracht hast, mein Freund. Auch wenn du niemals nach<br />

Ney’fasa’le gekommen wärst, wür<strong>de</strong>n <strong>de</strong>ine Augen diesen dunklen Ton angenommen haben.“<br />

„Ist Ney’fasa’le diese Stadt? Dieses Malasa?“<br />

„Das ist sie. Es gibt Dinge, von <strong>de</strong>nen du noch erfahren mußt. Und Personen, die du noch kennenzulernen hast. Es<br />

wird noch lange dauern, bis du begreifst, warum <strong>de</strong>in Aufenthalt hier wichtig ist. Wichtig für uns und für dich<br />

gleichermaßen.“<br />

„Dann möchte ich zuerst erfahren, warum diese Verän<strong>de</strong>rung mit meinen Augen vorgeht. Was hat das zu be<strong>de</strong>uten?“<br />

Verwirrt starrte <strong>de</strong>r junge Mann das Spiegelbild an, sein Spiegelbild, das sich auf einmal verfrem<strong>de</strong>t hatte und nicht<br />

länger <strong>de</strong>n Jurakai zu zeigen schien, <strong>de</strong>r er zu sein glaubte.<br />

„Wie bereits erwähnt, ist es ein Prozeß, <strong>de</strong>r die Farbe <strong>de</strong>r Iris verän<strong>de</strong>rt. Es hängt mit <strong>de</strong>n Riten meines Volkes<br />

zusammen. Die Wesen, die du als Drachen kennst – sie leben in <strong>de</strong>n südlichen Gebirgen. Ein Shat’lan, <strong>de</strong>r seinen<br />

hun<strong>de</strong>rtsten Sommer erreicht hat, wird einer Prüfung, einem Ritual unterzogen—„<br />

„Worin besteht dieses Ritual?“ fragte Indigo neugierig.<br />

„Wir leben in Symbiose mit <strong>de</strong>m El’cha<strong>de</strong>rar – <strong>de</strong>m Drachen. Unser Dienst an ihn besteht darin, ihn vor Ent<strong>de</strong>ckung<br />

zu schützen. Je<strong>de</strong>r Nicht-Shatlan, <strong>de</strong>r die Schattenwäl<strong>de</strong>r betritt, wird von uns wie<strong>de</strong>r vertrieben, bevor er die<br />

Südlichen Gebirge erreichen kann“ fuhr Keldar fort. Ich weiß nicht, wieviel du bereits über die Drachen weißt...“<br />

125


„Ich habe es mit ein paar von ihnen zu tun bekommen“ meinte Indigo. „Zuerst in Irnstwell, danach auf <strong>de</strong>r Flucht. Ich<br />

habe einen von ihnen getötet.“<br />

Keldars Augenbrauen hoben sich überrascht.<br />

„Diese Wesen, die euch bedrohten - sie besitzen keine Gemeinsamkeiten mit <strong>de</strong>n El’cha<strong>de</strong>rar. Wir haben ein wenig<br />

über sie herausgefun<strong>de</strong>n. Im Gegensatz zu <strong>de</strong>m Drachen, <strong>de</strong>n die Shat’lan rufen, können diese Wesen nicht fliegen.<br />

Auch sind sie kleiner und... an<strong>de</strong>rs als <strong>de</strong>r El’cha<strong>de</strong>rar. Es war keine schlechte Tat, ein solches Tier umzubringen.“<br />

„Ich habe es getan, um das Leben von Talamà zu retten. Und meines, natürlich.“<br />

„Das steht außer Frage. Das plötzliche Auftauchen dieser Abart <strong>de</strong>r Drachen stellt uns vor ein großes Rätsel. Aber um<br />

wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>ine Augen zurückzukommen: Bei dieser Prüfung wird <strong>de</strong>r Shat’lan allein in die Wäl<strong>de</strong>r geschickt. Er<br />

darf keine frem<strong>de</strong> Hilfe annehmen, noch darf er Gegenstän<strong>de</strong> verwen<strong>de</strong>n, die ihm nicht zur Verfügung gestellt<br />

wer<strong>de</strong>n. Wenn er es schafft, seinen Geist rein zu halten, dann ist er in <strong>de</strong>r Lage, einen El’cha<strong>de</strong>rar zu rufen. Er muß<br />

das Tier reiten und gleichzeitig aus <strong>de</strong>n Drüsen, die nahe <strong>de</strong>r Schwingen <strong>de</strong>s Drachen verlaufen, eine Substanz<br />

gewinnen, die für mein Volk sehr wichtig ist – das Geysa. Diese Flüssigkeit, die eine Mischung aus <strong>de</strong>n<br />

verschie<strong>de</strong>nsten Säften eines Drachen darstellt, ist kostbar und einzigartig auf dieser Welt. Das Geysa ist ein<br />

hochwirksames Gift, und in bestimmten Mengen verabreicht sofort tödlich. Doch verwen<strong>de</strong>t man es sorgsam und<br />

geschickt... offenbart es ungeahnte Möglichkeiten.“<br />

„Ist diese Flüssigkeit einer <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong> für die seltsame Farbe eurer Augen?“<br />

„Sie ist <strong>de</strong>r einzige Grund. Die Prüflinge haben die schwierige Aufgabe zu erfüllen, auf <strong>de</strong>m von ihnen gerufenen<br />

El’cha<strong>de</strong>rar zu reiten und das Sekret aus <strong>de</strong>n Drüsen <strong>de</strong>s Drachen zu gewinnen. Wenn bei<strong>de</strong>s vollbracht ist, steigen sie<br />

in die Gemeinschaft <strong>de</strong>r Sti’luna auf. Es ist nur eine von vielen Stufen, die ein Shat’lan in seinem Leben zu<br />

durchlaufen hat, jedoch wahrscheinlich die Wichtigste. Ich möchte - und darf - dich nicht einweihen in alle Riten<br />

unseres Volkes, <strong>de</strong>nn du bist dazu noch nicht bereit, noch hast du das Recht darauf.“<br />

„Was bewirkt das Geysa, Keldar? Wie verän<strong>de</strong>rt es <strong>de</strong>n Körper?“<br />

„Das offensichtlichste Merkmal sind die schwarzen Augen. Schon kurze Zeit nach <strong>de</strong>m ersten Genuß <strong>de</strong>r Droge -<br />

<strong>de</strong>nn nichts an<strong>de</strong>res stellt das Sekret dar - beginnen die Augen, sich zu verfärben. Die an<strong>de</strong>ren Verän<strong>de</strong>rungen sind...<br />

unterschwelligerer Natur. Sie sind nicht körperlich erkennbar. Zu<strong>de</strong>m braucht es Zeit und Übung, ihre Wirkung zu<br />

beeinflussen und zu lenken. Ich wer<strong>de</strong> dir später mehr erklären.“<br />

„Aber wieso sind meine Augen ebenfalls dunkler gewor<strong>de</strong>n?“ fragte Indigo verblüfft. „Immerhin habe ich nichts von<br />

<strong>de</strong>m Geysa zu mir genommen. Je<strong>de</strong>nfalls kann ich mich nicht daran erinnern.“<br />

„Das ist unmöglich“ sagte <strong>de</strong>r Shat’lan schlicht. „Du mußt mit <strong>de</strong>m Sekret in Berührung gekommen sein, ansonsten<br />

ist die Verfärbung <strong>de</strong>iner Iris völlig ausgeschlossen.“<br />

„Ich habe das Geysa noch nie gesehen!“ ereiferte sich <strong>de</strong>r Jurakai.<br />

Keldar rieb sich das Kinn. „Dann laß mich nach<strong>de</strong>nken. Du sagtest, daß du einen <strong>de</strong>r Drachen getötet hast, die aus <strong>de</strong>r<br />

Er<strong>de</strong> kamen?“<br />

„Ich... ja.“<br />

„Diese Kreaturen sind zwar keine El’cha<strong>de</strong>rar, aber <strong>de</strong>nnoch mit <strong>de</strong>n Drachen verwandt. Wur<strong>de</strong>st du vom Blut <strong>de</strong>s<br />

Wesens benetzt?“<br />

„Ich glaube, ich habe das wi<strong>de</strong>rliche Zeug sogar geschluckt“ erinnerte sich Indigo voller Ekel.<br />

„Du hast es geschluckt?“ Der Jurakai nickte auf Keldars erstaunten Blick hin. „Das ist in <strong>de</strong>r Tat ein sehr starker<br />

Kontakt mit <strong>de</strong>m Geysa.“<br />

„Ich dachte, die Substanz wür<strong>de</strong> in einer Drüse an <strong>de</strong>r Drachenschwinge produziert?“<br />

„Trotz<strong>de</strong>m fließt sie durch das Blut <strong>de</strong>s El’cha<strong>de</strong>rar, mein Freund. Es ist zwar kein reines Geysa, doch auch nicht viel<br />

weniger wirksam. Es ist ein Wun<strong>de</strong>r, daß du noch am Leben bist. Möglicherweise hat dich <strong>de</strong>r Umstand gerettet, daß<br />

diese wurmähnlichen Kreaturen nicht mehr viel vom ursprünglichen Drachenblut in sich tragen.“<br />

„Nun, wenn das so ist...“ Indigo zuckte die Achseln. „Inwiefern verän<strong>de</strong>rt diese Droge mich noch, Keldar?“<br />

Der Shat’lan verzog die Lippen, schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Du wirst es verstehen, wenn du es fühlst. Zum einen ist es die<br />

Fähigkeit, an<strong>de</strong>re Wesen besser zu verstehen. Nicht nur Shat’lan, Jurakai o<strong>de</strong>r Manur – je<strong>de</strong>s leben<strong>de</strong> Geschöpf auf<br />

dieser Welt wird sich dir offenbaren. Durch das Geysa bist du fähig, Gefühle zu erkennen, manchmal sogar Gedanken.<br />

Es läßt dich... verstehen. Ich weiß nicht, wie ich es dir am besten erklären kann. Sagen wir einfach, du bist in <strong>de</strong>r<br />

Lage, einem an<strong>de</strong>ren Geist etwas wortlos mitzuteilen, auch über große Entfernung.“<br />

„Ich kann es mir nicht vorstellen“ gab Indigo zu.<br />

„Das mußt du auch nicht. Es gibt noch eine an<strong>de</strong>re, stärkere Wirkung <strong>de</strong>s Geysa. Nicht viele bringen es jemals fertig,<br />

sie anzuwen<strong>de</strong>n, geschweige <strong>de</strong>nn, sie überhaupt zu ent<strong>de</strong>cken. Es heißt, daß jemand, <strong>de</strong>r die Droge seinem Willen<br />

unterwirft, fähig sein wird, <strong>de</strong>n Geist an<strong>de</strong>rer zu verän<strong>de</strong>rn und zu beeinflussen. Ich selbst bin weit entfernt von dieser<br />

Kraft... ich glaube, es gibt nur wenige Shat’lan, die mit dieser Macht vertraut sind.“<br />

„Das alles klingt wie Zauber, Keldar. Wer<strong>de</strong> ich etwas von <strong>de</strong>m Geysa... zu mir nehmen dürfen?“<br />

„Die Antwort auf diese Frage ist noch unklar, mein junger Freund. Aber wenn sich alles so entwickelt, wie es<br />

vorgesehen ist, dann wirst du noch weitaus mehr Kontakt haben mit <strong>de</strong>m Geysa, als dir vielleicht lieb sein wird. Habe<br />

Geduld.“<br />

126


„Was ist <strong>de</strong>nn vorgesehen?“<br />

„Alles zu seiner Zeit.“ Keldar legte erneut seinen Arm um die Schultern <strong>de</strong>s Jurakai und zeigte mit <strong>de</strong>r Hand zum<br />

Ausgang. „Ich glaube, daß dich jemand erwartet. Geh nur.“<br />

„Wer..“ wollte <strong>de</strong>r Junge zu einer Frage ansetzen, doch <strong>de</strong>r Shat’lan legte ihm einen Finger auf die Lippen.<br />

„Geh zu ihr. Alles weitere wird sich dir eröffnen.“<br />

Verdutzt wandte <strong>de</strong>r Jurakai sich ab, schüttelte verwirrt <strong>de</strong>n Kopf. Was wollte dieser Mann eigentlich von ihm? Und<br />

wieso wur<strong>de</strong>n ihm anscheinend Dinge verschwiegen, die sein Leben betrafen? Er fühlte sich ebenso verraten wie<br />

seinerzeit in <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong>, als Nachtfalke ihn mit seinen zwei<strong>de</strong>utigen Bemerkungen in <strong>de</strong>n Wahnsinn getrieben hatte.<br />

Konnte sich eigentlich niemand auf dieser Welt klar ausdrücken? Mit einem letzten Blick in <strong>de</strong>n Spiegel, <strong>de</strong>r ihm<br />

noch immer die dunkelblauen Augen zeigte, die so fremd und ungewohnt anmuteten, trat er von Keldars Seite und auf<br />

<strong>de</strong>n Ausgang zu. Das hintergründige Lächeln <strong>de</strong>s Shat’lan gefiel ihm genauso wenig wie seine undurchsichtigen<br />

Worte, und schnellen Schrittes eilte er auf die Vorhänge zu, die das Drinnen vom Draußen, <strong>de</strong>r großen Halle,<br />

trennten. Er schob die dicken Stoffe beiseite, wollte durch <strong>de</strong>n Ausgang treten, doch eine Gestalt versperrte ihm <strong>de</strong>n<br />

Weg. Mit weit aufgerissenen Augen blieb Indigo stehen, und für eine Zeit, die ihm wie tausend Jahre erschien und<br />

gleichzeitig wie nur wenige Sekun<strong>de</strong>n, beobachteten sich die bei<strong>de</strong>n Personen.<br />

Es war eine Frau, die dort vor ihm stand, und... ihre Züge schienen vertraut zu sein, ließen <strong>de</strong>n Wunsch in ihm<br />

aufsteigen, sie festzuhalten, sie in die Arme zu schließen. Er ergrün<strong>de</strong>te dieses son<strong>de</strong>rbare Gefühl, und langsam wur<strong>de</strong><br />

ihm klar, wer dieses Wesen war. Er hatte sie schon oft gesehen, in <strong>de</strong>n fieberhaften Träumen, die ihn geplagt hatten.<br />

Sie war es gewesen, die ihn gerufen hatte, die ihn mit <strong>de</strong>m son<strong>de</strong>rbaren Namen angesprochen hatte, <strong>de</strong>r ihm jetzt<br />

nicht mehr einfallen wollte. Ihre schwarzen Haare flossen über ihre Schultern, wellten sich um ihren Körper. Doch es<br />

waren ihre Augen, die <strong>de</strong>n Jungen so faszinierten.<br />

Genauso wie in <strong>de</strong>n Träumen, fuhr es ihm durch <strong>de</strong>n Kopf. Sie war es! Sie war das Mädchen aus seinen Träumen!<br />

„Wer... wer bist du“ fragte er unsicher, wußte nicht, ob er dieses seltsame Geschöpf überhaupt ansprechen durfte.<br />

Sie nickte ihm zu, und ein leichtes Lächeln flog über ihr Antlitz. Gleich darauf wandte sie ihm <strong>de</strong>n Rücken zu, ging<br />

behen<strong>de</strong> eine kleine Treppe hinunter, die hinab in <strong>de</strong>n großen Saal führte. Ohne lange zu Überlegen lief Indigo ihr<br />

nach, und er hatte es schwer, sie nicht zu verlieren. Doch im Gegensatz zu <strong>de</strong>n Träumen, in <strong>de</strong>nen er nichts gegen ihr<br />

Verschwin<strong>de</strong>n hatte unternehmen können, brauchte er ihr hier nur nachzulaufen.<br />

Der Weg, <strong>de</strong>n die Shat’lan beschritt, führte vorbei an <strong>de</strong>m prächtigen Brunnen, an <strong>de</strong>ssen Seite sich mehrere Männer<br />

und Frauen aufhielten, in schwarze Roben gewan<strong>de</strong>t, passend zur Farbe ihrer Augen. Er eilte an ihnen vorüber, folgte<br />

<strong>de</strong>m geheimnisvollen Mädchen, das sich so oft schon davongestohlen hatte. Sie drehte sich manchmal um, wartete auf<br />

ihn, lächelte ihm zu, und er beschleunigte seinen Gang, begann zu rennen. Diesmal wür<strong>de</strong> er sie nicht gehen lassen!<br />

Die umherlaufen<strong>de</strong>n Shat’lan beachteten die bei<strong>de</strong>n gar nicht, schienen ihre Aufmerksamkeit nur auf die vor ihnen<br />

liegen<strong>de</strong>n Aufgaben zu richten. Nach einer Umrundung <strong>de</strong>s ganzen Gewölbes bog die schlanke Gestalt <strong>de</strong>s Mädchens<br />

in einen winzigen Gang ein, und das letzte, was er von ihr sah, waren ihre wehen<strong>de</strong>n Haare. Er rannte auf die Nische<br />

zu, die sich als kleiner Eingang in eine weitere Halle erwies.<br />

Bevor <strong>de</strong>r Jurakai Zeit fand, um die Bauten in diesem neuerlichen Gewölbe zu bewun<strong>de</strong>rn, mußte er <strong>de</strong>r sich<br />

entfernen<strong>de</strong>n Frau hinterherrennen, die die Halle bereits zur Hälfte durchquert hatte. Er schickte sich an, sie<br />

aufzuholen, hätte bei <strong>de</strong>m Versuch fast einen großen, grimmig dreinblicken<strong>de</strong>n Mann gerammt, <strong>de</strong>r durch das<br />

Gewölbe lief. Der Shat’lan schenkte ihm einen <strong>de</strong>sinteressierten Blick, und Indigo murmelte etwas entschuldigen<strong>de</strong>s.<br />

Das Malasa war unwahrscheinlich groß, <strong>de</strong>nn zu allen Seiten hin erstreckten sich Gänge, die in an<strong>de</strong>re Höhlen<br />

führten. Er folgte <strong>de</strong>m Mädchen unbeirrt, bis sich die Shat’lan schließlich dazu durchzuringen schien, in eine<br />

Behausung einzutreten. Sie verharrte einen Moment lang vor einem großen Vorhang, vergewisserte sich, daß Indigo<br />

ihr auch zusah, und schlüpfte durch die Stoffe in <strong>de</strong>n Raum dahinter.<br />

Mit ein paar langen Schritten erreichte <strong>de</strong>r Junge <strong>de</strong>n Eingang, und vorsichtig zog er die Vorhänge beiseite, trat<br />

unaufgefor<strong>de</strong>rt in das Zimmer ein, das dahinterlag. Ein frem<strong>de</strong>r Geruch strömte in seine Nase, füllte seine ganze<br />

Wahrnehmung. Es roch nach Wachs, nach Kerzen und Feuer, und dazu mischte sich ein Duft von... Wasser, so kam<br />

es <strong>de</strong>m Jurakai zumin<strong>de</strong>st vor. Er konnte in <strong>de</strong>m ersten kleinen Vorzimmer nieman<strong>de</strong>n erblicken, bewun<strong>de</strong>rte jedoch<br />

<strong>de</strong>n wun<strong>de</strong>rvollen Teppich, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n zierte. Mit allen Farben <strong>de</strong>s Regenbogens brachte dieser eine bunte Pracht<br />

zum Ausdruck, und beinahe reuevoll ging Indigo langsam über <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, darauf bedacht, das Gewebe <strong>de</strong>s<br />

wun<strong>de</strong>rsamen Stoffes möglichst wenig zu berühren. Er hob einen seiner neuen Schuhe, doch kein Schmutz zeigte sich<br />

an <strong>de</strong>r Sohle. Der Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Malasa war vollkommen sauber, so schien es.<br />

Mit interessiertem Blick wan<strong>de</strong>rte er durch das Zimmer auf die einzige Tür zu, die sich am an<strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> präsentierte.<br />

Außer <strong>de</strong>m Teppich war <strong>de</strong>r Raum leer, wirkte trotz<strong>de</strong>m gefüllt und genutzt. Er legte die Hand an <strong>de</strong>n Türknauf,<br />

wollte eintreten, besann sich dann jedoch eines besseren. Vorsichtig klopfte er an das Holz, wartete einen Augenblick.<br />

Als nach mehreren Sekun<strong>de</strong>n noch keine Antwort kam, fragte sich Indigo, ob er überhaupt durch <strong>de</strong>n richtigen<br />

Vorhang gegangen war. Aber ja, er hatte das Mädchen genau beobachtet! Er befand sich in <strong>de</strong>r richtigen Behausung,<br />

<strong>de</strong>ssen war er sich sicher. Mit einem flauen Gefühl drehte er <strong>de</strong>n Knauf, stieß die Tür sanft in das dahinterliegen<strong>de</strong><br />

Zimmer. Ein paar Kerzen spen<strong>de</strong>ten ein flackern<strong>de</strong>s, trübes Licht, und auf leisen Sohlen trat er in <strong>de</strong>n Raum. Ohne<br />

irgen<strong>de</strong>in Geräusch zu verursachen trat die Schwarzhaarige plötzlich vor ihn, versperrte ihm <strong>de</strong>n Weg. Sie mußte<br />

127


hinter <strong>de</strong>r Wand gewartet haben, und mit einem erschreckten Ächzen fuhr Indigo zurück. Sie schüttelte <strong>de</strong>n Kopf,<br />

griff nach ihm und zog ihn zu sich heran. So eng beieinan<strong>de</strong>rstehend, er konnte ihren Atem auf seinem Gesicht<br />

spüren, begann sie mit einem Mal zu sprechen.<br />

„Ich habe dich erwartet, Asan“ flüsterte sie, und ihre alles verschlucken<strong>de</strong>n Augen zogen ihn näher, ließen die<br />

Außenwelt zur bloßen Nebensächlichkeit verkommen.<br />

Asan! Das war <strong>de</strong>r Name, mit <strong>de</strong>m sie ihn auch in <strong>de</strong>n Träumen gerufen hatte!<br />

„Wie ist das möglich?“ fragte er sie - und insgeheim auch sich selbst, <strong>de</strong>nn hatte Keldar bei ihrer ersten Begegnung<br />

nicht etwas ähnliches gesagt?<br />

Doch anstatt ihm eine Antwort auf seine Frage zu geben, beugte sie sich vor, gab ihm einen sanften Kuß auf die<br />

Lippen. Als sie sich zurückzog, starrten sie sich eine lange Zeit in die Augen.<br />

„Ich glaube, ich habe dich ebenfalls erwartet“ meinte Indigo, und die Bil<strong>de</strong>r aus seinen Träumen wur<strong>de</strong>n zur Realität,<br />

das Wunsch<strong>de</strong>nken holte die Wirklichkeit ein. „Wie heißt du?“<br />

„Saya“ sagte das Mädchen leise. „Ich habe dich gesehen. Nachts, in meinen Träumen. Ich wußte, daß du kommen<br />

wür<strong>de</strong>st, Asan. Ich sagte Vater, daß ich mit dir sprechen wollte, sobald du da wärst.“<br />

Indigo überlegte rasch, dann kam er zu einer Erkenntnis.<br />

„Keldar - er ist <strong>de</strong>in Vater, richtig?“<br />

Saya nickte bestätigend, fuhr ihm durch das Haar. Die Geste brachte eine leise Erinnerung an Talamà, wie ein<br />

Windhauch, <strong>de</strong>r einen vertrauten Geruch mit sich bringt, jedoch sofort wie<strong>de</strong>r verfliegt.<br />

„Ich habe auch von dir geträumt. Wie kommt es, daß wir bei<strong>de</strong> die gleichen Erscheinungen hatten?“<br />

„Ich weiß es nicht“ gestand das Mädchen, zog Indigo auf eine Nische im Zimmer zu, legte ihn auf ein flaches Bett.<br />

„Eine höhere Macht?“<br />

Indigo hob die Brauen. „Das alles ist sehr... seltsam.“<br />

Sie küßten sich erneut, und <strong>de</strong>m Jurakai war, als wür<strong>de</strong>n die Bil<strong>de</strong>r, die er noch in seinen Gedanken verwahrt trug,<br />

lebendig wer<strong>de</strong>n. Saya war genauso, wie er sie von seinem Traum her kannte, selbst ihre Stimme klang gleich. Er<br />

fragte sich, was das zu be<strong>de</strong>uten hatte.<br />

„Wie sahen <strong>de</strong>ine Träume aus?“ wollte Indigo wissen, und die Shat’lan schien zu überlegen.<br />

„Ich weiß es nicht mehr. Wenn ich morgens aufwachte, waren die Bil<strong>de</strong>r fort. Nur noch <strong>de</strong>in Gesicht verweilte in<br />

meinem Gedächtnis, <strong>de</strong>ine Stimme klang in meinen Ohren.“<br />

„Was habe ich gesagt?“<br />

„Du flüstertest, daß die Zeit gekommen wäre, Asan. Etwas in <strong>de</strong>r Art. Ich bin mir nicht sicher, <strong>de</strong>nn die Träume<br />

waren sehr verwirrend.“<br />

„Die Zeit wäre gekommen? Für was?“<br />

„Vielleicht für uns. Aber nein, das glaube ich nicht. Es gibt eine... wahrscheinlichere Alternative. Etwas, das dir Vater<br />

mit Sicherheit noch nicht gesagt hat. Doch es ist wichtig für dich.“<br />

„Was ist das?“<br />

„Eine Prophezeiung. Sie ist sehr alt, und all das aufgezeichnete Wissen befin<strong>de</strong>t sich in Büchern, die im Besitz <strong>de</strong>r<br />

Avalare sind. Sie ist eine <strong>de</strong>r Gelehrtesten und Weisesten <strong>de</strong>r Shat’lan. Sie <strong>de</strong>utete das Buch, und fast alle ihre<br />

Voraussagen gingen in Erfüllung.“<br />

„Eine Prophezeiung? Worum geht es dabei?“<br />

„Sie han<strong>de</strong>lt auch von dir, soviel ich weiß. Nein, keine Angst“ stimmte sie ihn mil<strong>de</strong>, als er das Gesicht zu einer<br />

Maske <strong>de</strong>r Verwun<strong>de</strong>rung verzog. „Du wirst alles genau erfahren, wenn die Zeit dazu gekommen ist.“<br />

„Das scheint mir je<strong>de</strong>r zu sagen in letzter Zeit“ meinte Indigo mürrisch. Er hob die Stimme und intonierte: „Wenn die<br />

Zeit reif ist, wirst du es erfahren...“<br />

Saya bewegte sanft ihren Kopf, preßte ihr Kinn in die Mul<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Schlüsselbeinen <strong>de</strong>s Jurakai. Sie<br />

küßte ihn zärtlich, und seine Wut verflog. Dann richtete er sich plötzlich auf, sah <strong>de</strong>r jungen Frau in die Augen.<br />

„Wieso nennst du mich bei diesem Namen - Asan?“<br />

„Weil es <strong>de</strong>in Name ist“ antwortete das Mädchen sanft. „Schau in dich hinein... was siehst du?“<br />

„Das kann nicht sein“ flüsterte Indigo verwirrt. „Asan - doch mein Name lautet an<strong>de</strong>rs...“<br />

„Es ist <strong>de</strong>in Jurakai-Name, <strong>de</strong>r dir geläufig ist. Doch es sind nur Buchstaben, aneinan<strong>de</strong>rgereiht. Welche Be<strong>de</strong>utung<br />

hat dieses Wort noch für dich?“<br />

„Mein Leben lang hat dieser Name mir gehört“ erwi<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>r Junge unsicher. „Aber trotz<strong>de</strong>m ist Asan so...<br />

vertraut...“<br />

„Weil es <strong>de</strong>in Name ist“ wie<strong>de</strong>rholte Saya. „Bitte frage nicht, woher ich das weiß. Ich könnte dir keine Antwort<br />

geben.“<br />

„Woher weißt du soviel über mich?“<br />

„Aus <strong>de</strong>n Erinnerungen, die morgens von dir blieben. Und von <strong>de</strong>r Avalare.“<br />

„Ich bin verwirrt“ gestand <strong>de</strong>r Jurakai und schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Weißt du eigentlich, wie mein richtiger Name lautet -<br />

o<strong>de</strong>r willst du es überhaupt erfahren?“<br />

„Indigo“ wisperte die Frau, und <strong>de</strong>r junge Mann fuhr zusammen. „Ich habe ihn schon oft gehört.“<br />

128


„Wo?“ fragte <strong>de</strong>r Jurakai und betrachtete sie verwun<strong>de</strong>rt. „Je<strong>de</strong>r scheint hier in Rätseln zu sprechen, scheint mir.“<br />

Saya holte tief Luft, dann preßte sie Indigo auf das Bett hinunter, setzte sich auf seine Brust. Ihre schwarzen Haare<br />

hingen über ihren Kopf, wellten sich über ihre Schultern.<br />

„Ich hätte dir diese Frage gern etwas später beantwortet. Aber das läßt sich nun auch nicht än<strong>de</strong>rn. Nun, erinnerst du<br />

dich noch an Eldraja’aro, als <strong>de</strong>in Freund Nachtfalke dich besuchte?“<br />

„Natürlich“ meinte Indigo schwach.<br />

„Ich war diejenige, die etwas unvorsichtig war, als ihr euch in eurem Sa’e unterhalten habt. An <strong>de</strong>m Abend, als du<br />

versucht hast, mich draußen zu fin<strong>de</strong>n. Ich bin dir nur knapp entkommen, muß ich zugeben.“<br />

Indigo dachte nach, dann fiel ihm <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong> Abend wie<strong>de</strong>r ein. „Ja“ sagte er langsam. „Da war etwas vor<br />

meinem Sa’e. Ich dachte mir, daß wir belauscht wür<strong>de</strong>n.“ Er runzelte die Stirn.<br />

„Ich bin euch noch ein zweites Mal nahe gekommen. Zu nahe, um genau zu sein. Aber ich wollte es nicht. Es ergab<br />

sich, lei<strong>de</strong>r.“<br />

„Wovon sprichst du, Saya? Bitte re<strong>de</strong> weiter.“<br />

„Ihr bei<strong>de</strong>, Nachtfalke und du, ihr habt unter dieser Eiche geschlafen. Ich lag im Wald, weit abseits von euch, als<br />

dieses merkwürdige Gefühl mich überkam. Ich habe gespürt, daß sich etwas unter <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n bewegt, etwas großes,<br />

am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s. Und etwas Böses noch dazu. Es bewegte sich durch die Er<strong>de</strong>, und ich wollte zu euch laufen<br />

und euch warnen. Doch <strong>de</strong>in Freund hielt mich für einen Feind. Er hat mit <strong>de</strong>n Worten diese Flammenwand<br />

erschaffen, die mich zuerst daran hin<strong>de</strong>rte, zu euch zu gelangen. Ich wollte euch nur warnen, Indigo!“<br />

„Du warst die schwarze Gestalt, die mich durch <strong>de</strong>n Wald verfolgt hat?“<br />

„Ich wollte nur, daß du stehenbleibst, damit ich mit dir re<strong>de</strong>n kann! Es war ein so schreckliches Gefühl, so grauenvoll.<br />

Dieses etwas, das dort unten durch <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n kroch, hatte nur Zerstörung im Sinn. Alles, was ich wollte, war, euch<br />

ein Zeichen zur Wachsamkeit zu geben.“<br />

„Du hättest mich fast umgebracht, Saya“ sagte Indigo, doch er konnte ihr nicht böse sein.<br />

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie leid mir das tut! Als ich gesehen habe, daß du in diesen Fluß springen wolltest,<br />

bekam ich wirklich Angst! Ich habe versucht, dich festzuhalten , und ich habe dir sogar gesagt, daß ich dir nichts<br />

Böses will! Aber du scheinst mich nicht gehört zu haben, und dann war es auch schon zu spät.“<br />

„Und ich dachte, daß ich mich getäuscht hätte, als ich dich sprechen hörte.“ Indigo schnaubte belustigt. „Ich hatte<br />

Glück, daß Nachtfalke auf mich aufgepaßt hat“ sagte er und atmete erleichtert aus. „Sonst wäre ich ertrunken.“<br />

„Es tut mir schrecklich leid. Aber mein Gefühl hat sich bewahrheitet, schätze ich. Dieses Ding, das durch <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n<br />

gekrochen ist, hat sich genau in Richtung eures Sommerlagers bewegt. Ich glaube, es waren die Drachen, die unter <strong>de</strong>r<br />

Er<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Weg für die Schwarzorks geebnet haben.“<br />

„Du weißt also davon“ seufzte Indigo.<br />

„Von <strong>de</strong>r Zerstörung <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Kreaturen, die über Ruben herfallen? Ich bin mit bei<strong>de</strong>m vertraut.<br />

Immerhin mußte auch ich über die Ebenen, um wie<strong>de</strong>r hierher zu gelangen. Ich habe gesehen, wie die Drachen an die<br />

Oberfläche stießen in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nsten Siedlungen <strong>de</strong>r Menschen.“<br />

„Es war ein schrecklicher Anblick“ sagte Indigo betrübt. „Wir waren gera<strong>de</strong> in Irnstwell, als die Orks angriffen.“<br />

„Irnstwell? Dann habe ich eure Spur wohl gänzlich verloren gehabt, <strong>de</strong>nn mein Weg war ein an<strong>de</strong>rer. Nach<strong>de</strong>m du in<br />

<strong>de</strong>n Fluß gefallen bist, konnte ich euch nicht mehr ent<strong>de</strong>cken. Ihr wart wahrscheinlich nach mir in <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong>, glaube<br />

ich.“<br />

„Ich weiß es nicht. Aber langsam wird mir einiges klar, Saya. Ein paar kleine Steinchen fügen sich zu einem größeren<br />

Bild zusammen.“<br />

„Das freut mich für dich. Auch für mich sind noch viele Dinge unklar, Asan. Vater erzählt mir längst nicht alles,<br />

mußt du wissen. Es gibt so vieles, das ich nur zufällig erfahren habe.“<br />

„Was mich interessiert: Wieso hast du uns verfolgt, als wir losgelaufen sind? Welchen Grund hattest du dafür?“<br />

„Ich... nun, ich war neugierig. Ich wollte <strong>de</strong>n Jungen sehen, <strong>de</strong>r mir schon seit so langer Zeit in meinen Träumen<br />

erscheint. Das ist alles. Ich hatte niemals vor, euch zu erschrecken o<strong>de</strong>r gar Angst einzujagen, wie es dann schließlich<br />

eingetroffen ist. Aber ihr könnt mir auch dankbar sein! Ich habe <strong>de</strong>n Hirsch vertrieben, <strong>de</strong>r sich an euren Rucksäcken<br />

zu schaffen gemacht hat, als ihr bei<strong>de</strong> im Wald wart. Der Gauner hätte all eure Vorräte und die Kräuter <strong>de</strong>ines<br />

Freun<strong>de</strong>s verschlungen, wenn ich nicht eingegriffen hätte.“<br />

Indigo lachte herzlich. „Ach, <strong>de</strong>swegen waren nur ein paar <strong>de</strong>r Sachen durchwühlt. Ich dachte, daß <strong>de</strong>r Hirsch einfach<br />

keinen Gefallen gefun<strong>de</strong>n hatte an unserem Hab und Gut!“<br />

„Nein“ meinte Saya und preßte ihre Lippen auf seine. „Das war ich.“<br />

Nach einem langen Kuß schob Indigo die junge Frau sanft von sich, sah ihr in die Augen.<br />

„Was wird nun geschehen?“ verlangte er zu erfahren, doch Saya drückte ihn wie<strong>de</strong>r nach unten.<br />

„Ich wer<strong>de</strong> dich zur Avalare bringen. Gemeinsam mit meinem Vater wird sie dir vieles erklären. Aber das hat Zeit“<br />

fügte sie hinzu und küßte <strong>de</strong>n Jurakai. „Wenn die alten Schriften Recht behalten... dann wird uns bei<strong>de</strong>n weitaus<br />

weniger Zeit verschie<strong>de</strong>n sein... darum sollten wir die Stun<strong>de</strong>n genießen, die mir Vater zugestan<strong>de</strong>n hat.“<br />

Wie zur Bestätigung hob Indigo <strong>de</strong>n Kopf, blies die Kerzen aus, die auf <strong>de</strong>m nahen Leuchter flackerten, und zog das<br />

Mädchen über sich. In <strong>de</strong>r Dunkelheit begannen sie, all die verlorene Zeit aus ihren Träumen nachzuholen.<br />

129


Düsternis umfing Talamà und Elan<strong>de</strong>r, während sie sich einen Weg durch <strong>de</strong>n Tunnel schlugen. Krabbeln<strong>de</strong> Dinge<br />

krochen zwischen <strong>de</strong>n Zehen <strong>de</strong>r Jurakai, doch die junge Frau war noch nicht so weit, das Verspeisen <strong>de</strong>r ekelhaften<br />

Tierchen in Erwägung zu ziehen. Sie zuckte mit <strong>de</strong>n Füßen, und ein angewi<strong>de</strong>rter Laut erklang tief aus ihrer Kehle.<br />

„Hast du wie<strong>de</strong>r einen Tausendfüßler zertreten?“ fragte <strong>de</strong>r Zwerg neckisch und stieß <strong>de</strong>m Mädchen leicht in die Seite.<br />

„Und das, obwohl ich dir gesagt habe, daß man mit <strong>de</strong>m Essen nicht spielen soll.“<br />

„Bitte hör auf, Elan<strong>de</strong>r. Es ist so schon schlimm genug. Wenn sie uns wenigstens eine Fackel dagelassen hätten...“<br />

Sie befan<strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>rzeit in einem kleinen Gang, <strong>de</strong>r sich durch die lockere Er<strong>de</strong> schlängelte, und von <strong>de</strong>m Licht, das<br />

im Haupttunnel glühte, war in <strong>de</strong>r Höhle nichts mehr vorzufin<strong>de</strong>n. Außer<strong>de</strong>m war es kalt und feucht, und die bei<strong>de</strong>n<br />

froren, während sie <strong>de</strong>n Schlamm beiseite schoben.<br />

„Wohin wird eigentlich diese ganze Er<strong>de</strong> gebracht, die wir hier herausschaufeln?“ erkundigte sich Talamà, obwohl ihr<br />

die Antwort im Grun<strong>de</strong> genommen vollkommen gleich war. „Er<strong>de</strong>, Er<strong>de</strong> und nochmals Er<strong>de</strong>. Es hat nie ein En<strong>de</strong>!“<br />

„Nicht so laut“ riet <strong>de</strong>r Dverjae mit zischen<strong>de</strong>r Stimme. „O<strong>de</strong>r willst du, daß einer von ihnen kommt, um<br />

nachzuschauen, wer die Geräusche verursacht? Möglicherweise auch noch ein Glühwürmchen, wenn wir Pech<br />

haben.“<br />

„Dann hätten wir wenigstens Licht.“<br />

„Ha!“ machte <strong>de</strong>r Zwerg empört. „Das war min<strong>de</strong>stens ebenso zynisch wie mein Gere<strong>de</strong>! Ich sagte doch, daß die Zeit<br />

dich verän<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong>.“<br />

„Es war nur ein Scherz. Die verdammten Weißen wären das Letzte, was ich noch um mich haben möchte. Da sind mir<br />

sogar die Tausendfüßler und das an<strong>de</strong>re Gekrabbele lieber, das hier herumfleucht.“<br />

„Schmecken wahrscheinlich auch besser als die Weißen“ gab Elan<strong>de</strong>r zu be<strong>de</strong>nken. Da keiner von ihnen mehr eine<br />

weitere Bemerkung fallen ließ, hackten sie stumm auf die Er<strong>de</strong> ein, arbeiteten sich Zoll um Zoll tiefer in die lehmige<br />

Schicht. Nach einigen Stun<strong>de</strong>n erklangen knirschen<strong>de</strong> Schritte, und <strong>de</strong>r Dverjae verharrte unruhig. Auch das<br />

Mädchen blieb still stehen, lauschte, ob die Schritte sich in ihre Richtung bewegten. Ein Schrei ertönte, und er war<br />

ganz ein<strong>de</strong>utig an sie gerichtet.<br />

„Rauskommen!“ brüllte <strong>de</strong>r Schwarzork, <strong>de</strong>r sie beaufsichtigte, und schweigend krochen sie aus <strong>de</strong>m schmalen Loch<br />

hervor, das sie im Laufe <strong>de</strong>s Tages - o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Nacht - zustan<strong>de</strong> gebracht hatten. Ein an<strong>de</strong>rer Ork stand neben <strong>de</strong>m<br />

ihren, und sein Gesichtsausdruck verriet Haß und tiefe Abneigung gegen alle Lebewesen, die nicht seiner Rasse<br />

angehörten. Furchtsam musterte Talamà das Wesen, in <strong>de</strong>ssen Blick Verachtung glitzerte. Der Ork sah schlimm aus,<br />

schlimmer noch als die meisten, die die Jurakai bis jetzt zu Gesicht bekommen hatte. Das auffälligste Merkmal war<br />

wohl sein rechter Arm, <strong>de</strong>nn er fehlte gänzlich. Nur ein dicker Stumpf erinnerte daran, daß sich an <strong>de</strong>r Stelle einmal<br />

ein Glied <strong>de</strong>s Körpers befun<strong>de</strong>n hatte. Über das Gesicht und die sichtbaren Hautpartien zogen sich Narben, Wundmale<br />

und üble Verbrennungen. Ein Auge war völlig herausgebrannt wor<strong>de</strong>n, und ein klaffen<strong>de</strong>s Loch zierte nun die<br />

betreffen<strong>de</strong> Stelle im Gesicht. Das Wesen fletschte die Zähne, als es Talamà näher betrachtet hatte, und mit einem<br />

wüten<strong>de</strong>n Geheul warf es sich nach vorn, peitschte die Jurakai mit einem mächtigen Schlag zu Bo<strong>de</strong>n. Zitternd blickte<br />

Talamà auf, sah in das Gesicht ihres Angreifers, und mit einem Mal wur<strong>de</strong> ihr klar, daß sie <strong>de</strong>n Ork schon früher<br />

gesehen hatte. Das Geschöpf streckte die eine, ihm verbliebene Hand nach ihr aus, drückte sie gegen die Höhlenwand.<br />

Der faulige Atem <strong>de</strong>r Kreatur drang ihr in die Nase, und sie hustete unter <strong>de</strong>m Gestank. Der an<strong>de</strong>re Ork verfolgte das<br />

Schauspiel belustigt, stützte sich auf die Hän<strong>de</strong>, während Talamàs Peiniger ihr die Luftröhre zudrückte. Hilflos stand<br />

Elan<strong>de</strong>r neben <strong>de</strong>n dreien, wußte nicht, was er tun sollte.<br />

„Na, kannst du dich noch an mich erinnern, Süße?“ grunzte <strong>de</strong>r Ork und packte noch fester zu. „Früher habe ich noch<br />

nicht so ausgesehen, mh? Muß wohl etwas passiert sein in <strong>de</strong>r Zwischenzeit. Und das geht auf <strong>de</strong>ine Rechnung!“<br />

„Grark!“ stieß Talamà hervor, als <strong>de</strong>r Name ihr durch <strong>de</strong>n Kopf schoß, <strong>de</strong>n die Weißen genannt hatten, bevor sie in<br />

Chataihs Höhle geworfen wur<strong>de</strong>. „Hat unser hochgewachsener Freund dir eine Lektion erteilt?“<br />

Wütend schrie <strong>de</strong>r Ork auf, preßte seine Stirn gegen ihr Gesicht. „Willst du <strong>de</strong>ine Strafe noch erhöhen, Mädchen? Du<br />

brauchst nur einen Ton zu sagen, dann kann ich <strong>de</strong>ine Schmerzen auch verdoppeln...“<br />

„Ist das Chataihs Werk?“ fragte sie heiser, und Grark trat ihr mit einem Bein in <strong>de</strong>n Magen, als er <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>s<br />

Weißen hörte.<br />

„Ja, das ist es“ gab <strong>de</strong>r Ork zu und fauchte erbost. „Zum Glück kannst du dich noch an mich erinnern, Süße. Dann<br />

weißt du wenigstens, warum du stirbst! Du hast es <strong>de</strong>inem Freund zu verdanken, du wi<strong>de</strong>rlicher kleiner Mensch! Er<br />

hat einen Shur-dai getötet, und das hat unseren Meister nicht erfreut. Oh nein, ganz im Gegenteil.“<br />

Talamà zog rasch ihre Schlußfolgerungen, antwortete dann bittersüß: „Sein Tod gegen <strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Drachens. Das fin<strong>de</strong><br />

ich nur gerecht.“<br />

„Unter diesen Umstän<strong>de</strong>n hätte ich meinen Arm vielleicht behalten!“ brüllte <strong>de</strong>r Ork sie an, doch sie konnte ihr<br />

Gesicht nicht von ihm abwen<strong>de</strong>n, so sehr sie es sich auch gewünscht hätte. „Aber er war nicht mehr dort! Verstehst<br />

du? Das hat <strong>de</strong>n Meister noch mehr erzürnt, wie du dir vielleicht vorstellen kannst... und jetzt wirst du erfahren, was<br />

er mir angetan hat. Stück für Stück, Abschaum. Bis du weißt, was Schmerzen sind!“<br />

130


Erleichterung durchströmte das Mädchen, als <strong>de</strong>r Ork preisgab, was ihren Überlebenswillen hier unten angefacht<br />

hatte. Indigo lebte! Er hatte <strong>de</strong>n Drachen getötet und war entkommen! Eine Träne <strong>de</strong>s Glücks rollte über ihre Wange,<br />

doch Grark <strong>de</strong>utete sie falsch.<br />

„Weinen nützt dir jetzt auch nichts mehr, mein Kind. Hier hast du, was du mich gekostet hast!“<br />

Er rammte ihr sein Knie in <strong>de</strong>n Magen, und Talamà wollte sich krümmen, wur<strong>de</strong> jedoch vom festen Griff <strong>de</strong>s Orks<br />

davon abgehalten. Das narbenübersäte Wesen ließ sie fallen, und mit einem harten, knacksen<strong>de</strong>n Geräusch brach sie<br />

auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n zusammen. Ein Lachen entfuhr Grark, als er mit seinen eisenbesetzten Schuhen zutrat, ihren Körper<br />

ein<strong>de</strong>ckte mit harten Tritten.<br />

„Laß sie in Ruhe!“ schrie Elan<strong>de</strong>r, und <strong>de</strong>r Ork drehte <strong>de</strong>n Kopf, musterte <strong>de</strong>n kleinen Aufmüpfigen, <strong>de</strong>r da ungefragt<br />

seine Stimme erhob. Er funkelte <strong>de</strong>n Zwerg böswillig an, dann grunzte er etwas in seiner kehligen Sprache, und <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>re Ork nickte. Anschließend wandte er sich wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r liegen<strong>de</strong>n Gestalt Talamàs zu, und mit einem freudigen<br />

Grinsen zückte er ein Messer, bückte sich grinsend.<br />

Elan<strong>de</strong>rs Aufseher griff nach einer nahestehen<strong>de</strong>n Schaufel, streckte <strong>de</strong>n empörten Dverjae damit genüßlich nie<strong>de</strong>r.<br />

Der Zwerg wur<strong>de</strong> gegen die Höhlenwand geschmettert. Mit bluten<strong>de</strong>r Nase blickte er auf, und Haß spiegelte sich in<br />

seinen Zügen. „Das wirst du mir irgendwann bezahlen“ flüsterte er, dann traf ihn die Schaufel erneut, krachte gegen<br />

seinen Kiefer, brach beinahe <strong>de</strong>n Knochen.<br />

„Arbeiten“ grunzte <strong>de</strong>r Aufseher und zeigte auf <strong>de</strong>n Tunnel. „Sofort.“ Ein unmißverständlich ausgestreckter Finger<br />

<strong>de</strong>utete auf das Loch, in <strong>de</strong>m er und Talamà noch vor wenigen Minuten gesteckt hatten, und wi<strong>de</strong>rwillig kroch<br />

Elan<strong>de</strong>r hinein. Als er einen letzten Blick auf seine Freundin erhaschte, konnte er gera<strong>de</strong> noch erkennen, wie Grark<br />

das Messer hob, zum ersten Stich ansetzte. Mit schlagbereiter Schaufel stand <strong>de</strong>r Aufseher hinter ihm, <strong>de</strong>shalb ließ er<br />

sich in das Loch fallen, hörte hinter sich <strong>de</strong>n gellen<strong>de</strong>n Aufschrei Talamàs. Er biß die Zähne zusammen, wünschte<br />

sich, <strong>de</strong>r Jurakai helfen zu können. Er schob sich tiefer in <strong>de</strong>n schwarzen Tunnel, doch je weiter er auch vordrang, die<br />

Schreie Talamàs verfolgten ihn durch die dunkle Er<strong>de</strong>. Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Ganges kauerte er sich auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, faltete<br />

seinen Körper in Embryonalhaltung zusammen und legte die Hän<strong>de</strong> auf die Ohren, um <strong>de</strong>n Schmerz seiner Freundin<br />

nicht hören zu müssen. Doch die gequälten Laute waren so nah, als wür<strong>de</strong> das Mädchen direkt neben ihm liegen.<br />

Tausen<strong>de</strong> und Abertausen<strong>de</strong> von Malen wie<strong>de</strong>rholte sich die schreckliche Reihenfolge von Lauten, und bald hatte <strong>de</strong>r<br />

Zwerg nichts an<strong>de</strong>res mehr in seinem Geist als die grausigen Töne. Zuerst ein Schrei, ausgestoßen von Talamà. Dann<br />

das wi<strong>de</strong>rliche Lachen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Orks. Dann ein leises Wimmern, das aus <strong>de</strong>m Mund <strong>de</strong>s Mädchens kam. Dann<br />

Ruhe. Gnädige, kurzweilige Stille, bis zum nächsten Schrei. Und so ging es weiter. Schluchzend rollte sich Elan<strong>de</strong>r<br />

von einer Ecke <strong>de</strong>s schmalen Ganges in die an<strong>de</strong>re, verfluchte seine Unfähigkeit, verfluchte sich, weil er <strong>de</strong>r einzigen<br />

Person nicht helfen konnte, die ihm hier unten noch wichtig war.<br />

Irgendwann verebbten die Geräusche, doch <strong>de</strong>r Dverjae blieb reglos liegen, zitterte in Anbetracht <strong>de</strong>ssen, was er<br />

vorfin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, wenn er nun nach draußen ging. Er wollte <strong>de</strong>m Anblick nicht ausgesetzt wer<strong>de</strong>n, wür<strong>de</strong>, wenn nötig,<br />

für immer in dieser Höhle bleiben, sich für <strong>de</strong>n Rest seines jämmerlichen Lebens von Larven und Würmern ernähren,<br />

Wasser aus <strong>de</strong>r feuchten Er<strong>de</strong> saugen...<br />

„Herauskommen!“ grunzte <strong>de</strong>r Aufseher von Draußen, ließ damit Elan<strong>de</strong>rs schlimmste Alpträume wahr wer<strong>de</strong>n.<br />

Bibbernd schob er sich ans Licht, kroch aus <strong>de</strong>m Loch heraus, hielt seine Augen geschlossen. Ein schneller Blick<br />

offenbarte, daß Grark nicht mehr da war, nach getaner Arbeit gegangen sein mußte. Er stolperte nach vorn, sah we<strong>de</strong>r<br />

nach links noch nach rechts, taumelte einfach gera<strong>de</strong>aus, direkt in die Arme <strong>de</strong>s Orks.<br />

„Du jetzt aufheben Frau“ schnaubte die Kreatur und schubste <strong>de</strong>n Zwerg von sich weg.<br />

Nein, das konnte er nicht von ihm verlangen! Nicht nur, daß er hatte mit anhören müssen, wie seine Freundin starb!<br />

Er mußte sie auch noch in das Gefängnis schleppen, ihren toten Körper tragen! Mit einer geistigen Anstrengung, die<br />

er nie für möglich gehalten hätte, zwang er sich, seine Augen zu öffnen, einen Blick auf die Überreste Talamàs zu<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Er würgte, als er die gekrümmte Gestalt <strong>de</strong>s Mädchens am Bo<strong>de</strong>n liegen sah, das Blut, das die Er<strong>de</strong> be<strong>de</strong>ckte. Aber<br />

was war das? Sie hatte sich bewegt, ganz ein<strong>de</strong>utig! Ihre Hand hatte sich gehoben! Er hastete zu ihr, drehte ihren<br />

Körper sanft auf die Seite, betrachtete ihr Gesicht. Die Li<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Mädchens schlugen auf, doch die blutigen Augen<br />

sahen ihn nicht an, blickten in eine ferne, an<strong>de</strong>re Richtung. Vielleicht blickten sie gera<strong>de</strong>wegs in <strong>de</strong>n Himmel; <strong>de</strong>r<br />

Zwerg wür<strong>de</strong> es nicht erfahren.<br />

„Oh verdammt“ weinte er, und Tränen strömten über seine Wangen. „Was hat er dir nur angetan, Kleines? Was hat er<br />

dir nur angetan?“ Er hielt ihre Hand, und ihr Mund öffnete sich. Doch falls sie etwas hatte sagen wollen, ging <strong>de</strong>r<br />

Laut in einem Schwall von Blut unter, <strong>de</strong>r über ihre Lippen quoll. Behutsam schob Elan<strong>de</strong>r seine Arme unter ihren<br />

Leib, hob sie so vorsichtig auf, als bestün<strong>de</strong> sie aus dünnstem, feinstem Glas, wie eine zerbrechliche Puppe, die bereits<br />

Risse zeigte. Er schluckte hart, dann drehte er sich um, machte <strong>de</strong>m Ork klar, daß sie gehen konnten.<br />

Während sie durch die Höhlen liefen, perlten Tränen von seinem Gesicht, lan<strong>de</strong>ten auf <strong>de</strong>r geschän<strong>de</strong>ten Haut <strong>de</strong>r<br />

Jurakai, verwässerten das Blut. Irgendwann schienen sie vor ihrem Gewölbe angekommen zu sein, aber <strong>de</strong>r Zwerg<br />

wußte nicht mehr, wie die Tür ausgesehen hatte, durch die er die letzten Wochen täglich hinein- und hinaus gegengen<br />

war. Er stolperte über die Schwelle, achtete darauf, daß <strong>de</strong>m Mädchen nichts zustieß, taumelte in die Höhle hinein.<br />

Sanft ließ er Talamà auf die Decken sinken, die seinen eigenen Schlafplatz darstellten, streichelte über ihren Kopf.<br />

131


„Keine Angst“ flüsterte er in ihr Ohr, tupfte ihre Wun<strong>de</strong>n mit Tüchern ab. „Ich bleibe bei dir.“<br />

Aus einem Versteck holte er Wasser hervor, das er im Laufe <strong>de</strong>r Zeit zusammengetragen hatte. Es mußten mehrere<br />

Liter sein, und wehmütig blickte er auf die gefüllten Schalen. Es blieb noch Zeit, bis die an<strong>de</strong>ren Gefangenen von<br />

ihrer Arbeit zurückkehrten, trotz<strong>de</strong>m mußte er seine Aufgabe so schnell wie möglich erledigen. Wenn einer <strong>de</strong>r<br />

Wärter hereinkam und die Vorräte erblickte, wür<strong>de</strong> es ihm noch schlechter ergehen als seiner kleinen Freundin, daran<br />

hegte er keine Zweifel.<br />

„Ich habe eine Menge Wasser aufgespart“ teilte er <strong>de</strong>m Mädchen mit, das mit leerem Blick an die Decke starrte. „Ich<br />

dachte nicht, daß ich es auf diese Weise verbrauchen wür<strong>de</strong>, doch...“<br />

Er nahm ein Tuch, feuchtete es mit <strong>de</strong>r kostbaren Flüssigkeit an, reinigte die Wun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Jurakai. Nach langer Zeit<br />

war <strong>de</strong>r Körper sauber, und alle Verletzungen, die noch bluteten, waren fachmännisch abgebun<strong>de</strong>n. Mit sanftem Griff<br />

öffnete er <strong>de</strong>n Rachen Talamàs, flößte ihr ein wenig von <strong>de</strong>m Wasser ein. Zuerst sah es so aus, als wür<strong>de</strong> sie es<br />

tatsächlich schlucken, doch dann erbrach sich die junge Frau, spuckte das Wasser auf <strong>de</strong>n sandigen Bo<strong>de</strong>n. Nach<br />

vielen weiteren Versuchen, die <strong>de</strong>n Zwerg fast seine gesamten Vorräte kosteten, schien Talamà die Gabe endlich<br />

anzunehmen, und mit einem erlösten Seufzer küßte <strong>de</strong>r Zwerg ihre Stirn.<br />

„Ich wer<strong>de</strong> dich schon wie<strong>de</strong>r auf die Beine bringen, Kleines. Verlaß dich auf mich.“<br />

Das Stöhnen <strong>de</strong>r Jurakai ließ ihn zusammenfahren, und mit bitterem Ausdruck streichelte er über ihre Wange. Von<br />

Außen betrachtet sahen ihre Verletzungen gar nicht so schlimm aus... doch Elan<strong>de</strong>r wußte nicht, inwiefern ihre<br />

inneren Organe betroffen waren, wie viele Brüche sich das Mädchen zugezogen hatte. Es war möglich, daß die<br />

Jurakai keine einzige heile Rippe mehr im Leib hatte, und bei <strong>de</strong>m Gedanken erzitterte <strong>de</strong>r Dverjae, legte seine Stirn<br />

an einen Arm <strong>de</strong>s Mädchens.<br />

„Es tut mir leid“ murmelte er und hoffte, daß Talamà ihn hören konnte. Verstehen wür<strong>de</strong> sie ihn wahrscheinlich nicht<br />

- er konnte sich selbst nicht verstehen. Aber was hätte er tun sollen? Wenn er eingegriffen hätte, dann läge er jetzt<br />

vermutlich ebenso zerschun<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r tot in <strong>de</strong>m Gang, könnte ihr auch nicht mehr helfen als jetzt.<br />

Aber du hättest es wenigstens versucht, flüsterte eine boshafte Stimme in ihm, und er wußte, daß er diese Stimme<br />

niemals mehr zum Verstummen bringen können wür<strong>de</strong>. Solange er lebte, wür<strong>de</strong> er diese Bür<strong>de</strong> mit sich tragen<br />

müssen, doch im Gegensatz zu Talamàs Schicksal war er damit noch verhältnismäßig gut weggekommen. Er<br />

streichelte <strong>de</strong>n Arm <strong>de</strong>r jungen Frau, und vorsichtig wickelte er sie in eine Decke ein, damit ihr die Kälte nichts<br />

anhaben konnte. Als er sich sicher war, daß das Mädchen schlief, kroch er davon, um nach <strong>de</strong>m Freund <strong>de</strong>r Kleinen<br />

zu sehen. Er mußte sich nun auch noch um diesen Beltiar kümmern, <strong>de</strong>n Talamà immer so liebevoll umsorgt hatte.<br />

Das war das Min<strong>de</strong>ste, was er tun konnte, sagte er sich.<br />

Als er <strong>de</strong>n Leib Beltiars schließlich fand, stockte ihm fast <strong>de</strong>r Atem vor Schreck. Der Körper <strong>de</strong>s Jurakai regte sich<br />

nicht mehr, lag auf <strong>de</strong>r sandigen Er<strong>de</strong> wie tot. Ein Zucken durchfuhr Elan<strong>de</strong>rs Herz, und er bückte sich, um <strong>de</strong>n Puls<br />

<strong>de</strong>s Jurakai zu überprüfen. Er behielt Recht mit seiner Vermutung. Kein Leben befand sich mehr in <strong>de</strong>m Leib <strong>de</strong>s<br />

Mannes, und <strong>de</strong>r Zwerg hockte sich neben ihn, richtete ein stilles Gebet an Himmelfeuer und alle an<strong>de</strong>ren Götter, die<br />

es vielleicht geben mochte.<br />

Er hat die Reise nun hinter sich, ging es <strong>de</strong>m Dverjae durch <strong>de</strong>n Kopf, und traurig be<strong>de</strong>ckte er <strong>de</strong>n toten Körper mit<br />

ein paar Laken. Ich wünsche dir Frie<strong>de</strong>n, mein Freund. Auch wenn ich dich nie kennenlernen konnte.<br />

Er ging zurück zu Talamà, legte sich neben sie und schlang einen Arm um ihren verwun<strong>de</strong>ten Leib. Nach langer Zeit<br />

schaffte er es endlich, in <strong>de</strong>n Schlaf zu sinken, und als die Orks in die Höhle kamen, um <strong>de</strong>n Überleben<strong>de</strong>n ihr Brot<br />

und die Wasserschälchen zu bringen, hielten sie die bei<strong>de</strong>n ineinan<strong>de</strong>r geschlungenen Gestalten für tot, gaben ihnen<br />

keine Nahrung.<br />

Es dämmerte.<br />

Der Himmel Rubens verfinsterte sich zusehends und tauchte das Land in ein kühles Licht voll von dunklen Gedanken<br />

und finsteren Erinnerungen. Doch trotz <strong>de</strong>r Kälte <strong>de</strong>r heranziehen<strong>de</strong>n Nacht hatte Dynes sich entschlossen<br />

weiterzureiten, entgegen aller Vernunft und entgegen <strong>de</strong>n Protesten seines kleinen Begleiters. Er mußte sich<br />

eingestehen, daß Paves Recht hatte mit seiner For<strong>de</strong>rung, schnellstmöglich einen geschützten Platz aufzusuchen und<br />

sich dort bis zum Morgengrauen zu verschanzen. Aber an<strong>de</strong>rerseits – was hatte es <strong>de</strong>njenigen gebracht, die sich zu<br />

verbarrikadieren versuchten und sich hinter festen Mauern versteckten? All ihre nach Hilfe heischen<strong>de</strong>n Körper lagen<br />

nun tot in <strong>de</strong>n vermeintlich sicheren Häusern, verstümmelt und abgeschlachtet von einem Feind, <strong>de</strong>r längst als<br />

ausgestorben o<strong>de</strong>r doch zumin<strong>de</strong>st vertrieben galt.<br />

Der Ritter spornte sein Pferd an, darauf bedacht, soviel Weg wie nur irgend möglich zwischen sich und seine<br />

verwüsteten Lehen zu bringen. Die leerstehen<strong>de</strong>n Höfe verletzten sein Innerstes, quälten ihn auf eine Art, wie er sie<br />

noch nie gekannt hatte. Sie schienen ihm klar machen zu wollen, daß er diejenigen, die ihm vertrauten und seiner<br />

Hilfe bedurften, allein gelassen und schändlich verraten hatte. Auch wenn er machtlos gewesen wäre gegen die<br />

Hor<strong>de</strong>n von Orks, die augenscheinlich hier gehaust hatten, so wäre es doch eine Wohltat gewesen, im Kampf zu<br />

sterben, umgeben von <strong>de</strong>n Leuten, die ihr Dasein mit <strong>de</strong>m Bewirten <strong>de</strong>r Fel<strong>de</strong>r und <strong>de</strong>r bloßen Freu<strong>de</strong> am Leben<br />

fristeten. So aber hatte er einfach nur versagt.<br />

132


Das Bibbern seines jungen Freun<strong>de</strong>s riß ihn schließlich aus <strong>de</strong>m Strom <strong>de</strong>r Gedanken, ließ ihn wie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>n Wogen<br />

<strong>de</strong>s Selbstmitleids aufsteigen. Er besann sich <strong>de</strong>r Verantwortung, die er nun trug, auch wenn sie tausendmal geringer<br />

sein sollte. Aber – und das re<strong>de</strong>te er sich ständig ein: Es kam nicht auf die Menge <strong>de</strong>r Menschenleben an. Dieses eine<br />

Leben, das jetzt auf ihn angewiesen war, war nicht min<strong>de</strong>r wert als alle an<strong>de</strong>ren Leben zusammengenommen, die in<br />

seinen Lehen dahingesiecht waren. Und wenn er nicht Acht gab, dann wür<strong>de</strong> er selbst darin versagen, dieses letzte<br />

Leben zu schützen. Er ritt an <strong>de</strong>n Knaben heran, <strong>de</strong>r stoisch auf seinem Roß verharrte und die Arme vor Kälte<br />

verschränkte. Mit einer schnellen Geste warf <strong>Arathas</strong> Paves eine Decke zu, und wie in Trance nahm <strong>de</strong>r Junge sie an,<br />

wickelte sich mit starrem Blick darin ein.<br />

„Wir sollten bald rasten“ teilte Dynes seinem Begleiter mit und verfluchte sich dafür, so unnachgiebig gewesen zu<br />

sein. Ein wenig mehr Nach<strong>de</strong>nken hätte sicherlich nicht gescha<strong>de</strong>t, und noch dazu hätten sie jetzt warmen Bo<strong>de</strong>n<br />

unter <strong>de</strong>n Füßen und könnten vor einem prasseln<strong>de</strong>n Feuer sitzen, anstatt durch die schlottern<strong>de</strong> Kälte zu reiten.<br />

Mit halb erfrorenen Glie<strong>de</strong>rn brachte <strong>de</strong>r Knabe ein so armseliges Nicken zustan<strong>de</strong>, daß Dynes unwillkürlich<br />

auflachen mußte und sich dafür einen mißtrauischen Blick einhan<strong>de</strong>lte.<br />

„Nichts für Ungut“ erklärte er, noch immer mit einem Lächeln auf <strong>de</strong>n verbissenen Zügen. „Aber <strong>de</strong>in Hun<strong>de</strong>blick<br />

könnte wahrscheinlich sogar die Orks dazu bringen, dir einen sicheren Rastplatz zur Verfügung zu stellen. Wenn du<br />

nur—„<br />

Das Surren eines Pfeiles erfüllte die kühle Luft, und plötzlich verstummt und wachsam hielten die bei<strong>de</strong>n Reiter,<br />

warteten auf eine weitere Regung aus <strong>de</strong>n Schatten. Sie befan<strong>de</strong>n sich mitten auf einem Waldpfad, zu je<strong>de</strong>r Seite<br />

gesäumt von hohen Fichten und Tannen, und in <strong>de</strong>r Schwärze <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s war absolut nichts zu erkennen, was auf<br />

einen Angreifer hätte hin<strong>de</strong>uten können. Nach ein paar Sekun<strong>de</strong>n erschien <strong>de</strong>r Pfeil bereits wie eine schlechte<br />

Erinnerung, als wäre das Geschoß bloße Einbildung gewesen. Und immerhin hatte keiner <strong>de</strong>r Reisen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Pfeil<br />

überhaupt gesehen, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Schutze <strong>de</strong>r Dunkelheit auf sie abgeschossen wor<strong>de</strong>n war.<br />

Doch Dynes spürte noch immer <strong>de</strong>n eisigen Luftzug, als das Projektil nahe – zu nahe – an seinem Kopf vorbeistreifte,<br />

fühlte noch immer <strong>de</strong>n Hauch <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r nur wenige Fingerbreit entfernt an ihm vorübergegangen war und ihn –<br />

für dieses Mal – verschont hatte.<br />

Ihr Warten wur<strong>de</strong> mit einem zweiten Pfeil belohnt, <strong>de</strong>r diesmal, da die bei<strong>de</strong>n Reiter still stan<strong>de</strong>n, nur um<br />

Haaresbreite am Gesicht <strong>de</strong>s Ritters vorbei zischte. Dynes kniff die Brauen zusammen und spähte ins Dickicht, das<br />

von Sekun<strong>de</strong> zu Sekun<strong>de</strong> schwärzer zu wer<strong>de</strong>n schien. Entwe<strong>de</strong>r war dieser Schütze so verdammt schlecht, daß er<br />

selbst ein stehen<strong>de</strong>s Ziel auf kurze Entfernung verfehlte, o<strong>de</strong>r aber er war verdammt noch mal so gut, daß die Schüsse<br />

nur um Millimeter danebengehen sollten.<br />

Er blickte sich zu Paves um, <strong>de</strong>r wie erstarrt auf seinem Schimmel verharrte.<br />

„Wer seid Ihr?“ fragte Dynes unwirsch und erhielt als Antwort prompt einen dritten Pfeil, <strong>de</strong>r ihn diesmal am Ohr<br />

streifte. Den Schmerz ignorierend blieb <strong>de</strong>r Ritter aufrecht in seinem Sattel und hob ein weiteres Mal an, eine zweite<br />

Frage formulierend.<br />

„Wollt Ihr uns umbringen o<strong>de</strong>r bloß Angst einjagen?“<br />

Einen Moment lang herrschte völlige Stille, als Angreifer, Ritter und Knappe die weiteren Möglichkeiten bedachten,<br />

die diese Situation ergeben wür<strong>de</strong>. Dann ertönte eine Stimme aus <strong>de</strong>n Tiefen <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s. Sie war männlich und ohne<br />

Zweifel verunsichert.<br />

„Sprecht noch einmal“ verlangte sie. Das Zittern darin schien die Zielsicherheit <strong>de</strong>s Schützen Lügen zu strafen, doch<br />

Dynes wagte nicht, sich zu wi<strong>de</strong>rsetzen. Schließlich war nicht er es, <strong>de</strong>r verborgen im Wald hockte und einen Bogen<br />

in <strong>de</strong>r Hand hielt.<br />

„Was wollt Ihr von uns? Wenn es Geld ist, dann—„<br />

„Sir?“ erklang die gestaltlose Stimme, und kurz darauf bogen sich Zweige und Äste auseinan<strong>de</strong>r, und knacken<strong>de</strong>s<br />

Holz verwies auf eine im Unterholz laufen<strong>de</strong> Person. Dann brach sie zwischen <strong>de</strong>m Gestrüpp hervor, die Waffe noch<br />

immer in <strong>de</strong>r Hand. Ein ungläubiger Ausdruck verzerrte das Antlitz <strong>de</strong>s Mannes, als er zu Dynes aufblickte und<br />

hingebungsvoll keuchte.<br />

„Sir <strong>Arathas</strong>? Herr?“<br />

Dynes betrachtete die zerlumpte Gestalt, dann nickte er. Endlich reifte auch in ihm die Erkenntnis, daß er diese<br />

gebrochene Stimme schon einmal gehört hatte. Dieser Mann, <strong>de</strong>r dort vor ihm stand und ein so abgemagertes Gesicht<br />

zur Schau trug, daß es einen Bettler hätte veranlassen können, ihm all Hab und Gut zu überlassen, besaß eine kleine<br />

Mühle an einem Nebenarm <strong>de</strong>s Bytak. Jetzt war er freilich nicht halb so gut geklei<strong>de</strong>t wie es normalerweise <strong>de</strong>r Fall<br />

war, und auch sein Mienenspiel war bei weitem nicht so einstudiert wie immer, doch es war noch immer <strong>de</strong>r selbe<br />

Mann, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn im Sommer seinen kleinen Mühlteich zur Verfügung stellte, damit sie darin ba<strong>de</strong>n konnten.<br />

„Mallag“ sagte <strong>Arathas</strong>, und die zerrissene Gestalt sah mit geweiteten Augen zu ihm auf. Dynes schnaubte und<br />

gestattete sich nun, die Hand an sein Ohr zu halten und zu prüfen, wie es darum stand. Er tastete vorsichtig daran<br />

herum, sich <strong>de</strong>s schuldb wußte nicickes Mallags durchaus gewahr. Es hätte schlimmer kommen können, befand er<br />

nach kurzer Weile. Der Pfeil hatte ihm das Ohr keineswegs zerfetzt, son<strong>de</strong>rn nur sauber durchschnitten. Jetzt blutete<br />

es zwar wie eine geschlachtete Sau, doch <strong>de</strong>r Schnitt wür<strong>de</strong> bald wie<strong>de</strong>r verheilen und nur eine verknorpelte Narbe<br />

zurücklassen.<br />

133


„Herr“ hauchte <strong>de</strong>r Mann und trat auf Sturmauge zu, senkte <strong>de</strong>n Kopf. „Ich wußte nicht, daß Ihr es seid, Herr.<br />

Niemand von uns hätte gedacht, daß Ihr wie<strong>de</strong>rkehrt! Wir hielten Euch entwe<strong>de</strong>r für so klug, nicht hierher zu<br />

kommen o<strong>de</strong>r aber für tot.“<br />

„Ihr? Wen meinst du mit „ihr“, Mann?“ Trotz <strong>de</strong>s kürzlichen Angriffs auf seine Gehörmuschel hatte sich <strong>de</strong>r beißen<strong>de</strong><br />

Unterton in Dynes Stimme bereits zurück geschlichen.<br />

„Wir alle, Herr.“ Mallag atmete auf. „Diejenigen, die sich nach <strong>de</strong>n Orks—„<br />

„Mallag!“ Der scharfe Ruf eines weiblichen Wesens hallte durch das Unterholz und sorgte dafür, daß <strong>de</strong>r Müller<br />

augenblicklich verstummte. Die Schatten im Wald verdichteten sich und flossen in <strong>de</strong>r Gestalt einer verhüllten Frau<br />

wie<strong>de</strong>r zusammen, die das Geschehen verärgert betrachtete.<br />

„Mallag“ wie<strong>de</strong>rholte sie und stürmte auf <strong>de</strong>n Mann zu, ohne <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Reisen<strong>de</strong>n auch nur einen Funken<br />

Aufmerksamkeit zu schenken. „Wie kommst du dazu, dich Frem<strong>de</strong>n so achtlos Preis zu geben?“ Sie musterte <strong>de</strong>n<br />

Zurechtgewiesenen, und es war unschwer zu erkennen, daß sie mit sich selbst rang, um nicht gewalttätig zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Erst jetzt bemerkte sie <strong>de</strong>n Blick in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s Müllers, <strong>de</strong>r noch immer zu Dynes starrte. Die Frau folgte seinem<br />

Beispiel und drehte sich ebenfalls, um zu sehen, welcher dahergelaufene Narr eine solche Tat rechtfertigte. Sie setzte<br />

zu einer schnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Bemerkung an, doch dann verwan<strong>de</strong>lten sich die Worte noch auf ihrem Wege durch <strong>de</strong>n Hals<br />

und en<strong>de</strong>ten in einem erstickten: „Herr?“<br />

Zum zweiten Mal an diesem Abend bekräftigte Dynes diese Frage mit einem Nicken und schwang sich von<br />

Sturmauges Rücken.<br />

„Ich bin es. Zara, Mallag, dies dort ist mein Begleiter Paves.“ Er <strong>de</strong>utete auf <strong>de</strong>n Jungen, <strong>de</strong>r sich noch nicht völlig in<br />

die neue Situation eingefun<strong>de</strong>n hatte.<br />

Die Frau namens Zara warf <strong>de</strong>m Knaben einen schnellen, abschätzen<strong>de</strong>n Blick zu, befand ihn für ungefährlich und<br />

wandte sich wie<strong>de</strong>r an Dynes.<br />

„Ihr habt Euch verspätet“ meinte sie und hob die Brauen. Ihre dunklen Augen leuchteten in <strong>de</strong>r späten Abendröte, und<br />

unter ihrem langen Haarschopf zeigten sich ebenfalls Anzeichen von Ungepflegtheit und Schmutz. Nichts<strong>de</strong>stotrotz<br />

wirkte sie um einiges autoritärer als <strong>de</strong>r Mann neben ihr, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme wie die einer<br />

Anführerin, stark und selbstsicher.<br />

„Es gibt viele Neuigkeiten. Keine guten, aber das wißt Ihr bereits. An<strong>de</strong>renfalls müßte ich annehmen, daß Ihr bei<br />

Eurem Aufenthalt am Hofe geblen<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>t.“<br />

„Ja“ antwortete Dynes. „Ich habe gesehen, was aus <strong>de</strong>n Siedlungen gewor<strong>de</strong>n ist. Sie wur<strong>de</strong>n alle zerstört.“<br />

„Nicht alle“ sagte die Frau und lächelte hintergründig. „Und es gibt noch ein paar an<strong>de</strong>re Dinge, die Euch<br />

überraschen wer<strong>de</strong>n. Kommt mit, ich wer<strong>de</strong> sie Euch zeigen.“<br />

Im abgedunkelten Zimmer saßen Indigo, Keldar, Saya und Jel’ari auf <strong>de</strong>r einen Seite <strong>de</strong>s großen Tisches, auf <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren die Avalare. Die Gelehrte breitete mehrere Schriftstücke vor ihnen aus, fuhr mit <strong>de</strong>r Hand sanft über die<br />

zerknitterten Papiere. Bücher stapelten sich neben ihr auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, be<strong>de</strong>ckten <strong>de</strong>n gesamten Raum. Keine offenen<br />

Kerzen durften hier stehen, zu gefährlich wäre es für die herumliegen<strong>de</strong>n, leicht entzündlichen Dinge gewesen. Kleine<br />

Wachsdochte in Glasgefäßen hielten Flämmchen am Leben, grauer Rauch kräuselte sich aus <strong>de</strong>n Bottichen, zerfaserte<br />

in <strong>de</strong>r unbewegten Luft.<br />

„Dies“ sagte die Avalare und zeigte auf einen großen Folianten in braunem Einband, „ist das Buch Rendar. We<strong>de</strong>r<br />

über Alter noch über Herkunft ist etwas bekannt. Es enthält Geschichten und Offenbarungen, die gleichermaßen<br />

zutreffend wie erfun<strong>de</strong>n sind. Nur die Zukunft zeigt, welche Worte die Wahrheit sprechen und welche nicht.“<br />

Indigo hob fragend die Brauen.<br />

„Was steht so wichtiges in diesem Buch?“ fragte er und musterte die Alte höflich. Blaue gefärbte Haare fielen <strong>de</strong>m<br />

gebeugten Wesen über die Schultern, und kohleschwarze Augen blickten ihn unter buschigen Brauen an. Das<br />

verrunzelte Gesicht war verwelkt, doch eine jugendliche Aktivität strahlte aus <strong>de</strong>n Zügen, ließen die gesamte Person<br />

jünger erscheinen.<br />

„Es gibt ein Gedicht“ sagte die Alte mit Bestimmtheit. „Es scheint <strong>de</strong>r Knotenpunkt all <strong>de</strong>r Geschichten und Legen<strong>de</strong>n<br />

zu sein, die wir fan<strong>de</strong>n. In je<strong>de</strong>m dieser Bücher“ mit einer Handbewegung <strong>de</strong>utete sie auf die sie umgeben<strong>de</strong>n<br />

Schriften, „stehen an<strong>de</strong>re Dinge. Manche von bloßer Nebensächlichkeit, manche von Be<strong>de</strong>utung. Bei manchen bin<br />

selbst ich mir nicht sicher, ob sie überhaupt in irgen<strong>de</strong>iner Weise mit <strong>de</strong>n Shat’lan in Zusammenhang stehen... doch<br />

alle haben sie eines gemeinsam: Sie enthalten Teile <strong>de</strong>s Gedichts, in manchen sind die Verse sogar ganz enthalten. Es<br />

sind lange, undurchsichtige Strophen, doch ich habe sie gekürzt, habe die drei Schlüsselverse herausgeschrieben.“<br />

„Bitte erzählt mir davon“ bat Indigo, und die Alte sah sich zu Keldar um. Der Shat’lan nickte, blieb jedoch<br />

schweigsam. Eine Kapuze zog sich über seinen Kopf, so daß nur die Konturen seines Gesichts zu erkennen waren,<br />

seine Augen in <strong>de</strong>r Dunkelheit versanken.<br />

„Die Zeilen lauten folgen<strong>de</strong>rmaßen“ intonierte die Avalare, und ihre welke Stimme hob sich zu einem feinen Gesang:<br />

wenn Plage auf <strong>de</strong>n Lan<strong>de</strong>n liegt<br />

<strong>de</strong>s Blutes heil’ger Zorn dann fliegt<br />

134


wenn <strong>de</strong>r Wäl<strong>de</strong>r stolzes Volk verbannt<br />

ist Rache in <strong>de</strong>s Fürsten Hand<br />

in Frie<strong>de</strong>ns Gärten er geschritten<br />

<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s Weiten er durchritten<br />

<strong>de</strong>r Nächte Lie<strong>de</strong>r er gehört<br />

<strong>de</strong>r Worte lauter Ruf beschwört<br />

dann, in <strong>de</strong>s Nebels wahrstem Zeichen<br />

muß Schatten nicht vor Sonne weichen<br />

und höchste Reihen er durchbricht<br />

in <strong>de</strong>s roten <strong>Mond</strong>es Licht<br />

„Das sind die wichtigsten Strophen, mein Sohn“ sagte die Alte und betrachtete <strong>de</strong>n Jurakai interessiert.<br />

Der rote <strong>Mond</strong>, schoß es Indigo durch <strong>de</strong>n Kopf, doch er wahrte sein Schweigen, bis Keldar das Wort erhob.<br />

„Es sind tausen<strong>de</strong> von Texten, die wir ausgewertet haben, mein Freund. Dies sind nur Teile, <strong>de</strong>swegen offenbaren sie<br />

nicht all die Dinge, die wir herausfan<strong>de</strong>n. Das seltsame ist, daß diese Texte einen Jurakai beschreiben, daran kann<br />

kein Zweifel bestehen.“<br />

„Was hat es mit diesem... roten <strong>Mond</strong> auf sich?“ sagte Indigo langsam. „Was be<strong>de</strong>utet diese Zeile?“<br />

„Du fürchtest dich vor dieser Erscheinung?“ fragte die Avalare ruhig.<br />

„Ich... ich habe von einem roten <strong>Mond</strong> geträumt. Immer und immer wie<strong>de</strong>r. Es waren meist gräßliche Träume...“<br />

„Es waren Visionen, mein Sohn. Nicht alles, was du träumst, wird in Erfüllung gehen, und nicht alles, was geschehen<br />

wird, passiert auch in <strong>de</strong>inen Träumen. Darum gebe nicht zuviel auf diesen Spuk. Verlaß dich auf <strong>de</strong>ine Gefühle. Sie<br />

wer<strong>de</strong>n dich leiten, junger Jurakai.“<br />

„Das wer<strong>de</strong> ich“ sagte Indigo freundlich. „Ich habe nicht vor, an meinen Träumen festzuhalten. Obwohl Saya und ich“<br />

bei diesen Worten wechselten die bei<strong>de</strong>n einen schnellen Blick, „uns begegnet sind, bevor wir hier aufeinan<strong>de</strong>rtrafen.<br />

Es geschah ebenfalls in <strong>de</strong>n Träumen.“<br />

„Saya berichtete mir davon“ brachte Keldar hervor. „Diese Art <strong>de</strong>s Träumens kommt fast <strong>de</strong>n Wirkungen <strong>de</strong>s Geysa<br />

nahe.“<br />

„Vielleicht“ murmelte die Avalare und griff über <strong>de</strong>n Tisch, zog Indigos Hand zu sich heran. „Welche Fragen hast du<br />

an uns, Sohn? Wenn die Zeit <strong>de</strong>s Re<strong>de</strong>ns vorüber ist, wer<strong>de</strong>n Taten folgen müssen. Sprich, solange du die Möglichkeit<br />

dazu hast.“<br />

„Mein Freund Falke erzählte mir einmal, warum die Jurakai sich von <strong>de</strong>n Shat’lan trennten, in grauer Vorzeit. Aber<br />

jetzt erfahre ich, daß ihr die Drachen nicht fürchtet, und daß euch auch <strong>de</strong>r Zorn Himmelfeuers nicht verfolgt. Darum<br />

frage ich mich, was wahr ist an <strong>de</strong>r Geschichte, die mir Falke beigebracht hat.“<br />

Keldar wollte zu einer Antwort ansetzten, doch die Avalare kam ihm zuvor.<br />

„Es ist die bewährteste Geschichte außerhalb <strong>de</strong>s Schattenwal<strong>de</strong>s, mein Sohn. Ich schätze, daß <strong>de</strong>in Freund dir die<br />

Lüge von Ealfar erzählte, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Drachen Scharfmaul besiegte?“<br />

„Das stimmt“ gab Indigo ihr Recht. „Ist sie tatsächlich eine Lüge?“<br />

„Es ist eine frei erfun<strong>de</strong>ne Geschichte. Wie du bemerkt hast, sind wir we<strong>de</strong>r verfein<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>n El’cha<strong>de</strong>rar, noch<br />

haben wir einen unheiligen Zorn auf uns gezogen. Die wahre Geschichte ist viel einfacher und unkomplizierter, als<br />

jenes Märchen, das dort draußen im Lan<strong>de</strong> umgeht. Lei<strong>de</strong>r ist sie nicht so verbreitet wie die Legen<strong>de</strong>, die dir <strong>de</strong>in<br />

Freund beibrachte.<br />

Der tatsächliche Grund für die Trennung unserer Völker war eine reine Glaubensfrage, ein Zwist in <strong>de</strong>r Religion.<br />

Shat’lan und Jurakai wußten, daß Himmelfeuer ein Lebewesen war, das leibhaftig existierte. Unser Volk hat die<br />

Regeln, die uns vorgegeben waren, ebenso befolgt wie <strong>de</strong>ines, Sohn. Doch unsere Ansichten waren zu verschie<strong>de</strong>n.<br />

Die Jurakai hoben Himmelfeuer und seine Söhne in <strong>de</strong>n Himmel, machten sie zu Gottheiten und beteten sie an. Doch<br />

die Shat’lan, die wir <strong>de</strong>n El’cha<strong>de</strong>rar brauchen und das Geysa aus seinem Körper gewinnen, konnten diese Wesen<br />

nicht als göttlich akzeptieren, da sie genauso aus Fleisch und Blut bestehen wie wir auch. Als unsere Vorfahren vor<br />

mehreren tausend Jahren damit begannen, die Droge, das Sekret aus <strong>de</strong>n Drachenschwingen, vom El’cha<strong>de</strong>rar zu<br />

nehmen, verleum<strong>de</strong>te <strong>de</strong>in Volk das unsere, Gotteslästerung zu betreiben. Mit <strong>de</strong>r Zeit fan<strong>de</strong>n wir heraus, welche<br />

Wirkungen das Geysa auf Geist und Körper hatte, welche Anwendungsmöglichkeiten sich aus <strong>de</strong>m wohldosierten Gift<br />

ergaben. Die Jurakai, die damals lebten, schworen Himmelfeuer, daß sie niemals diese ketzerische Tat gutheißen<br />

wür<strong>de</strong>n, und sie wandten sich von uns ab. Zu Anfang blieben manche <strong>de</strong>r Jurakai und Shat’lan noch in Kontakt,<br />

waren vernünftiger als die meisten <strong>de</strong>ines Volkes. Doch mit <strong>de</strong>r Zeit, mit <strong>de</strong>n neuen Generationen, wur<strong>de</strong> die Ban<strong>de</strong><br />

zwischen unseren Welten immer schwächer, und irgendwann brach die Freundschaft völlig.<br />

Verstehst du, mein Sohn? In all <strong>de</strong>n Jahren, die Shat’lan und Jurakai getrennt leben, ging dieser Zwist nur darauf<br />

zurück, daß unser Volk die El’cha<strong>de</strong>rar nicht wie Gottheiten behan<strong>de</strong>lte, son<strong>de</strong>rn mit ihnen Seite an Seite lebte.<br />

135


Deswegen kamen schon bald die Gerüchte in Umlauf, daß die Shat’lan vor Himmelfeuer in Ungna<strong>de</strong> gefallen wären,<br />

und verschie<strong>de</strong>ne Märchen, wie <strong>de</strong>in Freund dir eine erzählte, entstan<strong>de</strong>n.“<br />

„Ich glaube, ich sehe jetzt die Hintergrün<strong>de</strong>“ meinte Indigo nach<strong>de</strong>nklich und fuhr sich über das Kinn. „Ich wußte<br />

nicht, daß die Entwicklung so verlief. Aber ich sehe, was <strong>de</strong>r Fehler <strong>de</strong>r Jurakai gewesen ist.“<br />

„Nun, das je<strong>de</strong>nfalls ist alles, was ich dir auf die schnelle zur Trennung <strong>de</strong>r Familien sagen kann“ meinte die Avalare<br />

nach<strong>de</strong>nklich. „Wenn sonst noch offene Fragen bestehen, dann erkundige dich ruhig, junger Mann.“<br />

„Nein“ gab <strong>de</strong>r Jurakai zurück. „Ich glaube, mein Wissensdurst ist vorerst gesättigt. In meinem Geist schwirren so<br />

viele verschie<strong>de</strong>ne Wörter und Sätze herum, daß ich eine Weile brauchen wer<strong>de</strong>, um sie zu sortieren.“<br />

„Gut“ sagte Keldar. „Dann bitte ich Euch, ihm von <strong>de</strong>r letzten Sache zu erzählen, um die ich Euch bat, Avalare.“<br />

Der starre Blick <strong>de</strong>r Greisin musterte Indigo scharf, dann senkte sie das Haupt.<br />

„Keldar ist <strong>de</strong>r Meinung, daß du <strong>de</strong>n Schriften Genüge zu leisten hast, mein Sohn. Es gibt etwas, das wir bisher vor<br />

dir verschwiegen hielten... selbst Saya wußte nichts davon.“<br />

Bei <strong>de</strong>n Worten fuhr das Mädchen hoch, umklammerte die Armlehne ihres Stuhles mit <strong>de</strong>n Fingernägeln. „Wovon<br />

sprecht Ihr, Avalare?“ verlangte sie zu wissen, doch Indigo drückte ihren Körper wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Sessel.<br />

„Auch ich möchte erfahren, was Ihr zu sagen habt“ sagte <strong>de</strong>r Jurakai unverbindlich. „Ist es ein Geheimnis?“<br />

„Nein, von einem Geheimnis kann keine Re<strong>de</strong> sein. Doch es beunruhigt dich vielleicht, mein Sohn.“<br />

„Bitte teilt es mir mit“ bat Indigo und legte seine Hand auf <strong>de</strong>n Tisch. „Und wenn mir die Frage gestattet ist: Von<br />

wem stammt dieses Buch, das vor Euch liegt?“<br />

„Das Buch „Rendar“? Viele, viele Autoren, junger Jurakai. Viele Shat’lan haben in <strong>de</strong>n letzten Jahrtausen<strong>de</strong>n<br />

nie<strong>de</strong>rgeschrieben, was sie im Rausche <strong>de</strong>s Geysa sahen. Vieles davon sind reine Wahnvorstellungen, doch manchmal<br />

kommt es vor, daß die Trinken<strong>de</strong>n einen Blick in... spätere Zeiten werfen können. Es ist ungewiß, ob sich alles so<br />

zutragen wird, wie die Bil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Rausches es wie<strong>de</strong>rgeben, <strong>de</strong>nn die Zukunft ist in ständiger Bewegung. Auch ich<br />

und Jel’ari haben unseren Beitrag zu <strong>de</strong>m Wissen geleistet, das nun vor uns liegt. Die Schil<strong>de</strong>rungen sind lückenhaft<br />

und ungenau, und alle reichen sie nur bis an eine bestimmte Stelle. Weiter hinaus ist nichts bekannt...“<br />

„Bis wohin sind die Geschehnisse festgelegt?“ wollte er wissen, doch die Alte schüttelte <strong>de</strong>n Kopf.<br />

„Nichts ist festgelegt, nichts ist vorherbestimmt. Doch die möglichen Alternativen, die uns das Geysa bescherte, sind<br />

wahrscheinlicher und offensichtlicher als an<strong>de</strong>re. Das, was geschehen wird, kann verän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n durch das Wissen<br />

über eben diese Dinge. Und um <strong>de</strong>ine Frage zu beantworten: Durch die Träume <strong>de</strong>s Geysa fan<strong>de</strong>n wir heraus, daß du<br />

uns besuchen wür<strong>de</strong>st...“<br />

„Aber in <strong>de</strong>m Gedicht wird doch von Dingen gesprochen, die unweigerlich geschehen wer<strong>de</strong>n, o<strong>de</strong>r nicht?“<br />

„Es ist vorherbestimmt“ antwortete die Avalare knapp.<br />

„Und welche Wahl bleibt mir?“ Indigo sackte auf seinem Sessel zusammen, schloß die Augen.<br />

„Du hast die volle Entscheidungsfreiheit über <strong>de</strong>ine Handlungen“ sagte die Alte trocken. „Allein durch unser<br />

Gespräch kannst du das verän<strong>de</strong>rn, was die Visionen erzählten.“<br />

„Und was genau ist diese Sache, von <strong>de</strong>r Ihr und Keldar vorhin gesprochen habt? Liegt es in meinen Möglichkeit,<br />

mich zu entschei<strong>de</strong>n?“<br />

„Natürlich. Es ist nur die eine Realität, die uns beschrieben wur<strong>de</strong>. Von <strong>de</strong>n Alternativen wissen wir nichts.“<br />

„Dann sagt uns jetzt endlich, was auf ihn zukommt!“ for<strong>de</strong>rte Saya, und ihre Stimme zitterte, als sie die Worte<br />

hervorbrachte.<br />

Keldar legte seiner Tochter eine Hand auf die Schulter, besänftigte das Mädchen.<br />

„Die Avalare <strong>de</strong>nkt, daß Indigo nur dann <strong>de</strong>n Schriften Genüge leisten kann, wenn er mit Leib und Seele Shat’lan ist“<br />

sagte er sanft. „Deswegen ist es wichtig, daß er das Ritual <strong>de</strong>s Sti’luna ablegt.“<br />

„Aber das ist unmöglich!“ schrie Saya entsetzt. Sie stand auf, schlug mit <strong>de</strong>r Faust auf <strong>de</strong>n Tisch, doch Keldar erhob<br />

sich und hielt ihre Hand.<br />

„Es ist ein schwieriges Unterfangen, doch nicht unmöglich“ meinte er, und das Mädchen funkelte ihn zornig an.<br />

„Welche Chancen hat er <strong>de</strong>nn, das Ritual zu bestehen?“ fragte sie ernst. „Je<strong>de</strong>r Shat’lan wird schon einen Sommer vor<br />

<strong>de</strong>r Prüfung trainiert, erfährt, worauf es dabei ankommt! Und Indigo kennt sich nicht mit <strong>de</strong>m El’cha<strong>de</strong>rar aus! Woher<br />

soll er wissen, wie er sich zu verhalten hat?“<br />

„Beruhige dich, mein Kind.“ Die Avalare sprach die Worte leise aus, doch die Wirkung schien sich sofort zu<br />

entfalten. Saya setzte sich wie<strong>de</strong>r, blieb still auf ihrem Sessel.<br />

„Indigos Alter spielt keine Rolle. Wenn er <strong>de</strong>rjenige ist, auf <strong>de</strong>n die Verse zutreffen, wird er das Ritual lebend<br />

überstehen. Es kommt nun auf dich an, mein Sohn. Wirst du dich <strong>de</strong>r Aufgabe stellen?“<br />

„Ich weiß noch nicht einmal, was zu tun ist, Avalare.“<br />

„Die genauen Anweisungen wer<strong>de</strong>n dir von Keldar und an<strong>de</strong>ren Shat’lan übermittelt. Jetzt ist nur von Wichtigkeit, ob<br />

du bereit bist, das Wagnis auf dich zu nehmen.“<br />

„Die Prüfung eines Shat’lan...“ murmelte <strong>de</strong>r Junge leise. „Einen Drachen reiten und das Geysa, die Droge <strong>de</strong>s<br />

El’cha<strong>de</strong>rar, gewinnen. Falls ich nicht <strong>de</strong>r bin, für <strong>de</strong>n Ihr mich haltet – wer<strong>de</strong> ich sterben?“<br />

„Es kann dich das Leben kosten, es aber auch um eine Erfahrung bereichern. Es liegt allein an dir, mein Sohn.“<br />

136


„Ich wer<strong>de</strong> es versuchen“ sagte Indigo bestimmt. „Mit Keldars Hilfe zweifle ich nicht daran, daß ich <strong>de</strong>n El’cha<strong>de</strong>rar<br />

zähmen kann.“<br />

Keldar lachte auf, als er die mutigen Worte zu Ohren bekam. „Einen El’cha<strong>de</strong>rar zähmen? Niemand beherrscht <strong>de</strong>n<br />

Drachen, mein junger Freund. Du kannst ihn wohl dazu überre<strong>de</strong>n, dir zu helfen, doch niemals läßt er sich von uns<br />

leiten, wenn er es selbst nicht will. Doch alles an<strong>de</strong>re, was du noch wissen mußt, wer<strong>de</strong> ich dich lehren“ sagte Keldar<br />

fest. „Du wirst <strong>de</strong>n größten El’cha<strong>de</strong>rar rufen, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n südlichen Gebirgen lebt!“<br />

„Dann bleibt nur noch eine Sache, die du zu erledigen hast, Sohn. Nimm dieses Fläschchen.“ Die Gelehrte kramte in<br />

einer kleinen Tasche, zog dann eine winzige Phiole mit einer son<strong>de</strong>rbar dunklen Flüssigkeit hervor. Die Substanz<br />

bewegte sich eigenständig, schien in <strong>de</strong>m Gefäß zu fließen.<br />

„Dies ist Geysa. Du wirst es benötigen, um <strong>de</strong>n El’cha<strong>de</strong>rar zu rufen, da <strong>de</strong>in Geist nicht geübt ist. Keldar wird dir alle<br />

weiteren Dinge erklären.“<br />

Damit schien die Sitzung in <strong>de</strong>m finsteren Zimmer aufgehoben, die Alte sagte kein Wort mehr. Jel’ari, <strong>de</strong>r das ganze<br />

Gespräch über geschwiegen hatte, verneigte sich wortlos und wartete auf die an<strong>de</strong>ren drei. Als auch die restlichen<br />

Anwesen<strong>de</strong>n sich verabschie<strong>de</strong>t hatten, verließen sie die Avalare, um anschließend die Gemächer Keldars<br />

aufzusuchen. Saya war in ein son<strong>de</strong>rbares Schweigen gefallen, ließ jedoch die ganze Zeit über <strong>de</strong>n Ärmel <strong>de</strong>s Jurakai<br />

nicht mehr los.<br />

Zara geleitete Dynes und Paves, die ihre Pfer<strong>de</strong> hinter sich her führten, tiefer in <strong>de</strong>n Wald, und <strong>de</strong>r Ritter betrachtete<br />

die Frau, die ihnen vorauseilte und die offenen Wege absichtlich umging.<br />

Ihre roten Haare flogen hinter ihr her wie <strong>de</strong>r Feuerschweif eines Kometen, schienen zu brennen und das dunkler<br />

wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Dickicht zu erhellen. Und ebenso energisch wie ein solcher Himmelskörper war sie auch, getrieben von<br />

ruheloser Sorge. <strong>Arathas</strong> kannte sie schon, seit sie noch ein Kind war, ein verspieltes kleines Ding, das immer <strong>de</strong>n<br />

größten Ärger gemacht und sich nie hatte bändigen lassen. Als sie älter wur<strong>de</strong>, reifte sie zwar körperlich heran, blieb<br />

aber geistig wild und rebellisch. Niemals ließ sich diese Frau einen frem<strong>de</strong>n Willen aufzwingen, selbst dann nicht,<br />

wenn man sie fesseln und mit einem Dolch bedrohen wür<strong>de</strong>.<br />

Nun geleitete sie die bei<strong>de</strong>n Reisen<strong>de</strong>n durch die Wäl<strong>de</strong>r und sah kein bißchen weniger entschlossen aus als früher. Es<br />

schien, als wären die jüngsten Ereignisse einfach an ihr vorübergegangen. Wo an<strong>de</strong>re Furcht zeigten, behielt Zara sich<br />

ein skeptisches Gesicht und einen klaren - wenn auch nicht übermäßig schlauen - Geist.<br />

Endlich, Dynes hatte schon befürchtet, daß sie <strong>de</strong>n Wald bald wie<strong>de</strong>r verlassen wür<strong>de</strong>n, eröffnete sich <strong>de</strong>r<br />

Vierergruppe eine Lichtung. Im Schein <strong>de</strong>s aufgehen<strong>de</strong>n, zunehmen<strong>de</strong>n <strong>Mond</strong>es lag sie so still wie ein verzauberter<br />

Platz, an <strong>de</strong>m ewiger Schlaf währt. Doch schon bald wich die Lautlosigkeit einem Ruf, <strong>de</strong>r von vom hochgelegenen<br />

Ast eines Baumes schallte. Dynes blickte nach oben und erkannte eine schattenhafte Gestalt in <strong>de</strong>n Zweigen. In ihren<br />

Armen hielt sie einen Bogen, <strong>de</strong>r sich nun jedoch nicht mehr auf die vier Laufen<strong>de</strong>n richtete.<br />

„Paß auf, wen du erschießen willst“ rief Zara laut, und ein entschuldigen<strong>de</strong>s Murmeln erklang. Sie zuckte die Achseln<br />

und führte Dynes und Paves auf die Lichtung, eskortiert von Mallag, <strong>de</strong>r jetzt, da er <strong>Arathas</strong> bei sich wußte, Sicherheit<br />

ausstrahlte.<br />

„Die alte Holzfällerhütte“ stellte <strong>de</strong>r Ritter sachlich fest. „Ich hatte fast vergessen, daß sie noch steht.“<br />

„Sie stand auch so gut wie nicht mehr“ sagte Zara.<br />

Die Geschichte über die Hütte <strong>de</strong>s Holzfällers war das am weitesten verbreitete Gruselmärchen in Yark. Zu einer Zeit,<br />

zu <strong>de</strong>r <strong>Arathas</strong> noch ein kleines Kind gewesen war, hatte sich einst ein Mann nebst Familie abgeschottet, sich ein<br />

kleines Häuschen mitten im Wald errichtet. Es führten keine Pfa<strong>de</strong> zu diesem Haus, und mit <strong>de</strong>r Zeit geriet die<br />

fünfköpfige Gesellschaft immer mehr in Vergessenheit. Manchmal kam <strong>de</strong>r Holzfäller mit Waren in die Dörfer,<br />

verkaufte Waldfrüchte und Kräuter auf <strong>de</strong>m Markt. Doch seine Besuche waren unregelmäßig und selten, und so<br />

kümmerte sich niemand um diese son<strong>de</strong>rbaren Leute. Das ging einige Jahre so, bis die Besuche <strong>de</strong>s Holzfällers<br />

irgendwann völlig abbrachen. Nach einer angemessenen Zeit entschied <strong>de</strong>r Bürgermeister <strong>de</strong>s nahen Walddorfs, die<br />

Hütte aufzusuchen und dort nach <strong>de</strong>m Rechten zu sehen. Ein Suchtrupp wur<strong>de</strong> entsandt, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Holzverschlag nach<br />

einiger Zeit ausfindig machen konnte.<br />

Was die Dörfler vorfan<strong>de</strong>n, gab viel Stoff für Diskussionen und Geschichten über Geister und Kobol<strong>de</strong>. Der Schuppen<br />

wirkte von Außen schon wie tot, verlassen, und die Wege um die Hütte verwil<strong>de</strong>rt und mit Unkraut übersät.<br />

Mißtrauisch begab <strong>de</strong>r Trupp sich ins Innere, und dort, in <strong>de</strong>n kleinen Räumen <strong>de</strong>s Holzverschlags, fan<strong>de</strong>n sie die<br />

Leichen <strong>de</strong>r Familie. Auf grausame Weise geschän<strong>de</strong>t lagen sie in ihren Betten, fein säuberlich zuge<strong>de</strong>ckt, als hätte<br />

eine liebevolle Mutter die Deckchen zurechtgerückt. Doch die Frau <strong>de</strong>s Holzfällers lag ebenso tot in <strong>de</strong>r Wohnung wie<br />

die Kin<strong>de</strong>r, erschlagen und blutverschmiert. Nur vom Mann fehlte je<strong>de</strong> Spur. Später, Wochen nach <strong>de</strong>m Vorfall,<br />

wur<strong>de</strong> nach <strong>de</strong>m Holzfäller gesucht, doch er tauchte niemals wie<strong>de</strong>r auf.<br />

Die Hütte in<strong>de</strong>s wur<strong>de</strong> als verflucht betrachtet. Der Suchtrupp barg die Leichen <strong>de</strong>r Familie aus <strong>de</strong>m Schuppen,<br />

weigerte sich aber, ihn jemals wie<strong>de</strong>r zu betreten. Man sagte, daß böse Geister sich in <strong>de</strong>n Hölzern eingenistet hätten<br />

wie Borkenkäfer in <strong>de</strong>r Rin<strong>de</strong> eines Baumes. Daß sie je<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sich in das Haus begab, anfallen wür<strong>de</strong>n und verrückt<br />

wer<strong>de</strong>n lassen, sein Gehirn verdrehten, so wie es beim alten Holzfäller <strong>de</strong>r Fall gewesen war. Von <strong>de</strong>m Tage an wur<strong>de</strong><br />

die Hütte in Ruhe gelassen, und bald begann <strong>de</strong>r Wald zurückzuwachsen, sich zu holen, was ihm genommen wur<strong>de</strong>.<br />

137


Dynes, <strong>de</strong>m schon einiges über dieses seltsame Haus erzählt wur<strong>de</strong>, hatte oft in Erwägung gezogen, <strong>de</strong>n alten<br />

Verschlag einfach <strong>de</strong>m Erdbo<strong>de</strong>n gleich machen zu lassen. Doch letztendlich befand er <strong>de</strong>n Aufwand die Mühe nicht<br />

wert und beließ <strong>de</strong>n Schuppen, wie und wo er war. Sollte das Ding doch zerfallen und eingeebnet wer<strong>de</strong>n, wenn die<br />

Zeit gekommen war.<br />

Jetzt allerdings waren die Wege sauber, schien das Dach erneuert wor<strong>de</strong>n zu sein. Das baufällige Gestell war nach<br />

langer Zeit zum Leben erweckt wor<strong>de</strong>n. Und als wür<strong>de</strong> sich <strong>de</strong>r Lauf <strong>de</strong>r Geschichte wie<strong>de</strong>rholen, als wür<strong>de</strong> die<br />

Zukunft von <strong>de</strong>r Vergangenheit eingeholt wer<strong>de</strong>n, hatten sich ein paar Menschen hier verschanzt, um von <strong>de</strong>r<br />

Außenwelt abgeschottet zu sein.<br />

Der Ritter sah, wieviel Arbeit in <strong>de</strong>r Renovierung <strong>de</strong>r Hütte steckte. Zara, die genau wußte, daß Dynes niemand war,<br />

<strong>de</strong>r alten Ammenmärchen Glauben schenkte, verschwen<strong>de</strong>te keine Zeit darauf, ihn o<strong>de</strong>r seinen Begleiter einzuweihen.<br />

Sie lächelte und drückte die Tür auf.<br />

Später, nach einer langen und anstrengen<strong>de</strong>n Sitzung, in <strong>de</strong>r über Indigos weiteres Schicksal beraten wor<strong>de</strong>n war, saß<br />

<strong>de</strong>r Jurakai erschöpft auf einer Matratze, hatte die Hän<strong>de</strong> über <strong>de</strong>m Kopf zusammengeschlagen. Er betete im Stillen,<br />

eine Klage, die an Himmelfeuer gerichtet war, doch dann besann er sich, stoppte abrupt seinen Wortfluß. Die Lehren,<br />

die ihm von Kin<strong>de</strong>sbeinen an eingetrichtert wor<strong>de</strong>n waren, besaßen keine Richtigkeit. Sie waren bloße Hirngespinste<br />

<strong>de</strong>r Jurakai, nur Anekdoten, die <strong>de</strong>n Phantasien irgendwelcher irren<strong>de</strong>r Schriftsteller entsprungen waren. Indigo<br />

schnaubte verächtlich, legte sich auf die Matratze.<br />

„Ich habe Angst um dich, Asan“ flüsterte Saya, die neben ihm lag. „Du hättest nicht zustimmen dürfen, die Prüfung<br />

abzulegen. Es ist zu gefährlich für einen Nicht-Shat’lan. Du hast keinerlei Erfahrungen mit <strong>de</strong>m El’cha<strong>de</strong>rar!“<br />

Indigo streichelte über die Wange <strong>de</strong>r Shat’lan und verzog das Gesicht. Nach einer Weile antwortete er <strong>de</strong>m Mädchen.<br />

„Bitte glaube an mich. Dein Vater tut es, und es wür<strong>de</strong> mir so sehr helfen, wenn ich auch <strong>de</strong>ine Unterstützung haben<br />

wür<strong>de</strong>.“<br />

„Aber es bringt dir nichts! Du trägst keinen Nutzen davon! Für uns Shat’lan ist es wichtig, daß die Jüngsten sich <strong>de</strong>r<br />

Prüfung stellen, <strong>de</strong>nn wir benötigen das Geysa. Aber auch wenn du es schaffst, die Droge von <strong>de</strong>m El’cha<strong>de</strong>rar zu<br />

gewinnen - was wird es dir bringen? Außer <strong>de</strong>r Erfahrung selbst wirst du keinen Nutzen davontragen können! Wieso<br />

tust du es dann?“<br />

„Weil die Avalare sagte, daß ich mich entschei<strong>de</strong>n könnte. Weil diese Entscheidung mein weiteres Leben beeinflussen<br />

wird. Hör mir jetzt gut zu, Saya: Ich habe meine Eltern verloren, meinen besten Freund und mein gesamtes Volk.<br />

Natürlich gibt es noch tausen<strong>de</strong> an<strong>de</strong>rer Jurakai in Ruben, aber... sie gehören nicht zu mir, verstehst du? Sie sind nicht<br />

so, wie das Volk, das ich von Geburt an kenne. Ich bin allein, und von <strong>de</strong>nen, die ich einmal meine Freun<strong>de</strong> nannte<br />

und liebte, ist nichts mehr übrig außer <strong>de</strong>n sterblichen Überresten. Aber hier, bei euch, kann ich ein neues Leben<br />

anfangen. Sieh in meine Augen. Was siehst du, Saya?“<br />

„Sie verän<strong>de</strong>rn sich. Sie wer<strong>de</strong>n schwarz.“<br />

„Sie wer<strong>de</strong>n schwarz, so wie bei <strong>de</strong>n Shat‘lan. Für mich heißt das, daß ich vielleicht einen Platz gefun<strong>de</strong>n habe, an<br />

<strong>de</strong>n ich gehöre. Vielleicht kann ich bei euch aufgenommen wer<strong>de</strong>n, mit euch leben, wenn die Zeit dafür gekommen<br />

ist. Aber wenn ich das wirklich will, so muß ich auch die Pflichten wahrnehmen, die einem Shat’lan aufgelastet<br />

wer<strong>de</strong>n. Ich wer<strong>de</strong> das Geysa gewinnen, koste es, was es wolle. Wenn ich dabei mein Leben verliere, dann wird mich<br />

diese Erfahrung nicht mehr weiter stören. Ohne das Ritual überstan<strong>de</strong>n zu haben bin ich ein niemand, we<strong>de</strong>r ein<br />

Jurakai noch ein Shat’lan. Möglicherweise ist dies <strong>de</strong>r erste Schritt in ein neues Leben für mich. Ich könnte<br />

tatsächlich bei euch aufgenommen wer<strong>de</strong>n, bei euch leben. Und außer<strong>de</strong>m... ich glaube, daß es richtig ist, Saya. Es<br />

fühlt sich richtig an.“<br />

Sanft schmiegte die Frau ihre Wange an Indigos Gesicht, streifte mit ihren Haaren über seinen Körper.<br />

„Ich wünschte, es wäre bereits vorbei. Ich habe lange auf dich gewartet. Ich will nicht, daß du mir wie<strong>de</strong>r entrissen<br />

wirst.“<br />

„Ich will dich genauso wenig wie<strong>de</strong>r verlieren. Es... ist etwas beson<strong>de</strong>res zwischen uns, das uns aneinan<strong>de</strong>r bin<strong>de</strong>t.<br />

Wir wer<strong>de</strong>n niemals auseinan<strong>de</strong>r gehen. Ich spüre es. Ich wer<strong>de</strong> die Prüfung bestehen.“<br />

„Ich vertraue dir, Asan.“ Mit einem Seufzer rollten die Körper sich auf <strong>de</strong>m Bett, und Indigo schlang seinen Arm um<br />

das Mädchen, küßte es zärtlich.<br />

„Ich liebe dich, Saya“ flüsterte er, fing ihren schwarzen Blick.<br />

„Ich weiß“ antwortete sie leise.<br />

Sie lagen noch lang beieinan<strong>de</strong>r und liebkosten sich, doch als die Shat’lan schließlich in <strong>de</strong>n Schlaf sank, perlten<br />

Tränen von ihrer Wange, benetzten ihre ruhen<strong>de</strong> Haut.<br />

Eine schreckreiche Sekun<strong>de</strong> lang dachte Elan<strong>de</strong>r, daß die Zeit zum Arbeiten schon wie<strong>de</strong>r gekommen war, als die Tür<br />

zu ihrem stinken<strong>de</strong>n Gefängnis aufgestoßen wur<strong>de</strong>. Ein fahler Lichtschein fiel in das Gewölbe, und <strong>de</strong>r Zwerg rollte<br />

sich auf die an<strong>de</strong>re Seite, lauschte, was am Eingang vor sich ging. Ein paar Schreie ertönten, dann wur<strong>de</strong>n mehrere<br />

Manur - und vielleicht auch ein vereinzelter Jurakai, Elan<strong>de</strong>r konnte das bei <strong>de</strong>r Dunkelheit nicht so genau sagen -<br />

über die Schwelle gestoßen. Die Tür flog wie<strong>de</strong>r zu, und ein metallenes Knirschen verriet, daß das Vorhängeschloß<br />

138


wie<strong>de</strong>r verriegelt wor<strong>de</strong>n war. Finsternis war alles, was die Gestalten jetzt noch umgab, und die Neulinge krochen auf<br />

<strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, suchten nach Halt in einer Welt, in <strong>de</strong>r ihnen die Geborgenheit und die Sicht geraubt wor<strong>de</strong>n war.<br />

Der Dverjae zuckte zusammen, als Talamà sich neben ihm bewegte, im Schlaf zuckte. Das schwache Licht <strong>de</strong>r Glut<br />

einer Fackel reichte gera<strong>de</strong>, um nachzusehen, wie schlecht es um die Jurakai stand. Der Zwerg preßte seinen Kopf<br />

neben ihren Mund, wartete auf eine Regung <strong>de</strong>r jungen Frau.<br />

„...lan<strong>de</strong>r?“ wisperte sie heiser, und sofort brachte er ihr ein Schälchen mit Wasser, flößte es ihr vorsichtig ein. Sie<br />

nahm das Geschenk an, schluckte die kostbare Gabe freudig hinunter. Anschließend öffneten sich ihre Augen, und sie<br />

versuchte, ihre Umgebung wahrzunehmen. Ein Blutfilm schimmerte auf ihrer Netzhaut, doch Elan<strong>de</strong>r wußte nicht,<br />

wie er ihr helfen konnte.<br />

„Ich bin hier, Talamà“ sagte rasch, und eine ihrer Hän<strong>de</strong> schnellte hoch, faßte ihn am Bart.<br />

„Wo bin ich?“<br />

„Wir sind in unserer Höhle, Kleines. Es ist vorbei. Du hast die Folter hinter dir, die Grark dir angetan hat.“<br />

Bei <strong>de</strong>r Erwähnung <strong>de</strong>s Orks erzitterte ihr Körper, und leise begann sie zu weinen. Als sie sich wie<strong>de</strong>r gefangen hatte,<br />

öffnete sie die Augen, nahm einen tiefen Zug <strong>de</strong>r schlechten Luft.<br />

„Sieh mich an, Elan<strong>de</strong>r“ verlangte sie und umfaßte <strong>de</strong>n Arm ihres Gefährten.<br />

„Ich sehe ein verletztes, aber lebendiges Mädchen“ meinte <strong>de</strong>r Zwerg glücklich.<br />

„Nein. Sieh in meine Augen“ bat sie, und Elan<strong>de</strong>r tat, wie ihm geheißen. Die Pupillen, zucken<strong>de</strong> Kugeln in einem<br />

Meer aus Blut, schienen ziellos durch <strong>de</strong>n Raum zu blicken.<br />

„Verstehst du, was ich meine?“<br />

„Wovon sprichst du, Kleines?“<br />

„Du siehst mich – jedoch ich dich nicht.“<br />

„Du wirst wie<strong>de</strong>r gesund, Talamà. Mit Sicherheit. Ich passe auf dich auf.“<br />

„Erkennst du nicht, was du siehst? Ich bin blind, Elan<strong>de</strong>r. Blind wie ein Grottenolm, <strong>de</strong>r am Grun<strong>de</strong> eines Höhlensees<br />

herumschwimmt.“<br />

Der Dverjae schüttelte <strong>de</strong>n Kopf, faßte die Hand seiner Freundin.<br />

„So etwas darfst du nicht sagen, Talamà! Du bist nicht blind!“<br />

„Ich bin blind, <strong>de</strong>nn Grark hat mein Gesicht zerschnitten. Ich habe es gefühlt, als das Messer meine Augen traf. Ich<br />

wußte es, bevor ich die Li<strong>de</strong>r öffnete. Doch es ist nicht schlimm, mein Freund, es ist nicht schlimm. Hier unten<br />

brauche ich meine Augen sowieso nicht...“<br />

Traurig drückte Elan<strong>de</strong>r das Mädchen an sich, streichelte über ihren Rücken.<br />

„Wie fühlst du dich?“ fragte er mit Anteilnahme in <strong>de</strong>r Stimme.<br />

„Besser. Gestern - es war doch gestern, o<strong>de</strong>r? Aber egal - gestern Abend dachte ich tatsächlich, daß es aus wäre.<br />

Dieser verdammte Ork hat mich mit seinem Messer bearbeitet, als wäre ich ein Fisch, <strong>de</strong>n es aufzuschlitzen gilt! Aber<br />

glücklicherweise hat er nie zugestochen, nur meine Haut zerfetzt. Ich schätze, ich wer<strong>de</strong> es einigermaßen überstehen.<br />

Auch wenn ich wahrscheinlich nicht mehr son<strong>de</strong>rlich ansehnlich bin...“<br />

Der erleichterte Laut von Elan<strong>de</strong>rs Aufatmen hallte durch die gesamte Höhle, und glücklich griff er ans Handgelenk<br />

<strong>de</strong>r jungen Frau.<br />

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr es mich freut, daß du lebst, Talamà. Ich habe gedacht, er hätte dich<br />

umgebracht...“<br />

„Keine Sorge. Nur, wenn du ihn das nächste Mal siehst, dann tu mir einen Gefallen, ja?“<br />

„Welchen“ fragte <strong>de</strong>r Zwerg.<br />

„Töte ihn. Wenn du es nicht tust, dann wer<strong>de</strong> ich es tun. Als er mich mit diesem... diesem Messer bearbeitet hat, habe<br />

ich mir geschworen, daß er bald sterben wird. Und ich wer<strong>de</strong> diesen Schwur halten, verlaß dich darauf.“<br />

„Ich verspreche dir, daß ich kein zweites Mal tatenlos an diesem Ork vorübergehen wer<strong>de</strong>“ sagte Elan<strong>de</strong>r fest. „Aber<br />

da war noch etwas an<strong>de</strong>res, Talamà.“<br />

„Was, mein kleiner Freund?“ Die Gestalt <strong>de</strong>s Mädchens rollte sich auf die Seite, und ihre blin<strong>de</strong>n Augen jagten durch<br />

die Gegend, als suchten sie etws.<br />

„Wer war diese Person, von <strong>de</strong>r ihr gesprochen habt, du und Grark? Die Person, die anscheinend einen von <strong>de</strong>n<br />

verdammten Drachen-Biestern ins Jenseits beför<strong>de</strong>rt hat und noch immer am Leben ist?“<br />

„Oh ja...“ murmelte Talamà verträumt. „Indigo. Sein Name lautet Indigo. Er ist einer <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>, warum ich noch<br />

lebe. Weißt du, er ist die einzige Person auf dieser Welt, die mir - neben dir - noch wichtig ist. Wenn er tot wäre,<br />

dann... weiß ich nicht, ob es mich nicht ebenfalls schon dahingerafft hätte. Aber da ich weiß, daß er die Attacken<br />

dieser elen<strong>de</strong>n Mistkerle überstan<strong>de</strong>n hat, kann ich gut schlafen. Er ist mein Gefährte, Elan<strong>de</strong>r. Nicht nur auf unserer<br />

Reise, son<strong>de</strong>rn auch im normalen Leben. Wenn es etwas <strong>de</strong>rartiges überhaupt je wie<strong>de</strong>r geben wird.“<br />

„Natürlich wird es das. Irgendwann kommen wir hier wie<strong>de</strong>r heraus. Dann magst du vielleicht blind sein, aber du<br />

wirst die frische Luft atmen können und die Vögel singen hören! Aber daß ihr ein Paar seid? Ich wußte nicht, daß es<br />

bereits einen Mann in <strong>de</strong>inem Leben gibt. All das Flirten vergebens...“ murmelte <strong>de</strong>r Zwerg traurig, entlockte Talamà<br />

damit einen kleinen Lacher. Erfreut über seinen Erfolg setzte er sich vor sie, hielt ihre Hän<strong>de</strong>.<br />

„Meinst du, daß ihr euch wie<strong>de</strong>rsehen wer<strong>de</strong>t?“<br />

139


„Ich weiß es, Elan<strong>de</strong>r. Ich weiß es ganz sicher. Tief in meinem Herzen spüre ich, daß ich ihn noch einmal sehen kann.<br />

Natürlich nicht mit meinen eigenen Augen... aber du weißt, was ich meine.“<br />

„Ja, ich verstehe dich. Ich hoffe nur, daß du Recht behältst.“<br />

„Das wer<strong>de</strong> ich. Glaub mir, das wer<strong>de</strong> ich.“<br />

Schatten spielten auf Dynes Haut, als er die alte Hütte <strong>de</strong>s Holzfällers betrat. Zara wartete geduldig hinter ihm. Er<br />

blickte sich um, wur<strong>de</strong> seinerseits von vielen an<strong>de</strong>ren Blicken gemustert.<br />

Lange, lange Zeit herrschte Stille, dann erhob sich einer <strong>de</strong>r Menschen, <strong>de</strong>r an einem Tisch gehockt und gestarrt<br />

hatte, von seinem Stuhl, um <strong>Arathas</strong> zu begrüßen. Er schüttelte <strong>de</strong>n Kopf, als er auf <strong>de</strong>n Ritter zutrat.<br />

„Himmelfeuer soll mich holen!“ rief er aus, während er <strong>de</strong>m lächeln<strong>de</strong>n Dynes in die Seite boxte. „Ich dachte, sie<br />

hätten dich erwischt!“<br />

„Und ich habe geglaubt, daß ein Gespenst vor mir steht“ meinte <strong>Arathas</strong>. Er richtete sich an alle diejenigen, die ihn<br />

nun angafften. „Tom! Ich dachte, daß ihr tot wäret.“<br />

Die Miene <strong>de</strong>s Mannes, <strong>de</strong>r Dynes so freudig begrüßt hatte, verfinsterte sich, verlor ihren Glanz und wur<strong>de</strong> bitter.<br />

Jetzt erklang seine Stimmen nicht mehr ganz so überschwenglich.<br />

„Beinahe“ sagte er und blickte zu <strong>de</strong>r rotschöpfigen Frau hinüber, die die Reisen<strong>de</strong>n hierher geleitet hatte. „Wenn<br />

Zara nicht gewesen wäre, dann hättest du wahrscheinlich unsere Leichen fin<strong>de</strong>n können.“<br />

<strong>Arathas</strong> schüttelte <strong>de</strong>n Kopf und stützte die Hän<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>n Tisch in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>s Zimmers. „Willst du mir nicht<br />

erklären, was hier vor sich geht?“<br />

„Das ist schnell erzählt“ mischte sich Zara nun ein und drückte Dynes auf einen Stuhl hinunter. Sie selbst blieb stehen<br />

und stemmte die Fäuste an die Hüften. „Nach<strong>de</strong>m die ersten Siedlungen und Höfe zerstört waren, haben wir schnell<br />

herausgefun<strong>de</strong>n, daß es keinen Zweck hat, sich zu verschanzen. Je<strong>de</strong>nfalls nicht in unseren Häusern. Ich habe also<br />

diejenigen mitgenommen, die nicht nach Darburg aufgebrochen waren und bin mit ihnen in <strong>de</strong>n Wald geflohen.<br />

Seit<strong>de</strong>m leben wir hier. Hier sind wir sicher. Außer<strong>de</strong>m habe ich Wachposten im gesamten Umkreis verteilt, die uns<br />

rechtzeitig vor Angreifern warnen wür<strong>de</strong>n.“<br />

Sie nahm Platz und verschränkte die Arme.<br />

Dynes hob die Brauen. „Und was habt ihr nun vor?“<br />

„Was wir vorhaben?“ wie<strong>de</strong>rholte Zara höhnisch. „Gar nichts haben wir vor. Wir wer<strong>de</strong>n hier bleiben, bis die Gefahr<br />

vorüber ist.“<br />

Mit verzogenem Mund rieb sich <strong>de</strong>r Ritter das Kinn, an <strong>de</strong>m sich seit kurzem <strong>de</strong>r Ansatz eines Bartes zeigte. Er sah<br />

sich um, sah in all die hoffnungslosen Augen, die aus tiefen Höhlen zu ihm starrten. Männer gleichermaßen wie<br />

Frauen hatten sich hier versammelt, und sogar Kin<strong>de</strong>r lagen in <strong>de</strong>n Ecken und schliefen. Er senkte <strong>de</strong>n Kopf. Diesen<br />

Menschen war alles genommen wor<strong>de</strong>n, was sie hatten. Sogar ihren Lebenswillen hatten sie in <strong>de</strong>n meisten Fällen<br />

zurückgelassen.<br />

„Ihr wollt hier bleiben?“ fragte er.<br />

Die Anführerin nickte. „Uns bleibt keine Wahl.“<br />

Zustimmen<strong>de</strong>s Murmeln bekun<strong>de</strong>te, daß auch die an<strong>de</strong>rn dieser Meinung waren.<br />

Dynes wußte, daß er keinen offenen Einspruch gegen Zaras Worte erheben durfte. Die Menschen waren ihr gefolgt.<br />

Sie hörten auf ihr Wort. Es wür<strong>de</strong> keine leichte Aufgabe wer<strong>de</strong>n, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Innerlich<br />

verfluchte Dynes sich selbst, daß er diesen Leuten keine Ruhe gewähren konnte, doch er wußte, daß ihm nichts<br />

an<strong>de</strong>res übrig blieb.<br />

„Dann wollt ihr also mit ansehen, wie euer Land Stück für Stück <strong>de</strong>m Erdbo<strong>de</strong>n gleich gemacht wird.“ Es war eine<br />

Feststellung, keine Frage. Er zuckte die Schultern. „Auch du, Tom?“<br />

Der Mann, <strong>de</strong>r ihn als erstes begrüßt hatte, nickte zaghaft. „Ich habe Frau und Kin<strong>de</strong>r hier, Aras. Ich muß auf sie<br />

aufpassen.“<br />

„Das verstehe ich“ meinte Dynes. Er sah sich nach Paves um, <strong>de</strong>r sich neben ihm aufgestellt hatte und schweigend<br />

wartete.<br />

„Dann wer<strong>de</strong> ich allein aufbrechen. Wenn du möchtest, dann kannst du hierbleiben, Junge“ sagte er zu seinem<br />

Knappen gewandt. „Ich schätze, hier ist es sicherer für dich.“<br />

Er starrte <strong>de</strong>n Knaben an. Die Augen <strong>de</strong>s Ritters baten darum, nicht im Stich gelassen zu wer<strong>de</strong>n, und Paves verstand.<br />

„Ich will mit Euch kommen, Herr.“<br />

Wahnsinn. Der Junge spielte mit!<br />

„Ich <strong>de</strong>nke, daß du besser bleibst, Paves.“<br />

„Nein. Früher o<strong>de</strong>r später wer<strong>de</strong>n die Orks auch hierher kommen“ sagte Paves ohne jegliche Betonung in seiner<br />

Stimme. Seine Miene war so trüb wie die eines Tieres, das sich in <strong>de</strong>r Falle befand und wußte, daß es bald sterben<br />

wür<strong>de</strong>. „Ich bin nirgendwo sicher, solange die Angreifer noch am Leben sind.“<br />

Dynes hätte <strong>de</strong>n Knaben am liebsten umarmt, jedoch wahrte er sich sein ernstes Gesicht. „Ich kann das nicht<br />

befürworten, aber ich kann auch nicht für dich entschei<strong>de</strong>n. Du allein bist dafür verantwortlich, was du tust.“<br />

Paves nickte.<br />

140


Eine Zeit lang herrschte Stille, dann mel<strong>de</strong>te sich einer <strong>de</strong>r früheren Dorfbewohner zu Wort. „Was habt Ihr vor, Herr?<br />

Wollt Ihr wirklich etwas unternehmen gegen die Orks?“<br />

„Was dachtest du? Glaubst du, daß sie dich in Ruhe lassen wer<strong>de</strong>n, nur weil du jetzt im Wald lebst anstatt auf <strong>de</strong>n<br />

Fel<strong>de</strong>rn? Ich wer<strong>de</strong> versuchen, euer Leben zu retten. Das bin ich euch allen schuldig.“<br />

„Und was habt Ihr vor?“ ließ sich Zara scharf vernehmen. Sie ahnte, daß Dynes es mit seinen Re<strong>de</strong>n tatsächlich<br />

geschafft hatte, wenigstens Interesse zu wecken in <strong>de</strong>n Männern, die hier saßen. Doch dies waren nun ihre Leute, und<br />

sie war ihre Anfüherin. Sie wür<strong>de</strong> nicht zulassen, daß <strong>de</strong>r Ritter sie ihr nahm und in <strong>de</strong>n Tod führte.<br />

„Wollt Ihr zu zweit gegen die Hor<strong>de</strong>n kämpfen, die unser Land überfallen? Es dauert keine Sekun<strong>de</strong>, bis Ihr genauso<br />

tot seid wie die an<strong>de</strong>ren, Herr. Ihr solltet hier bleiben.“<br />

„Dann sterben wir in je<strong>de</strong>m Fall bald. So aber habe ich wenigstens die Gewißheit, für mein Volk zu kämpfen. Und ich<br />

habe nicht vor, es allein mit <strong>de</strong>n Orks aufzunehmen. In <strong>de</strong>n Städten fin<strong>de</strong>n sich noch viele starke Männer, die<br />

bestimmt bereit sind, einem Feind gegenüberzetreten. Ich und mein Begleiter Paves sind nur <strong>de</strong>r Anfang. Wenn wir es<br />

schaffen, wenigstens ein paar Menschen um uns zu scharen, dann wer<strong>de</strong>n sich noch mehr anschließen. Es muß nur<br />

jemand <strong>de</strong>n Anfang machen.“<br />

Die Worte wirkten ein, bevor Zara auch nur Zeit fand, ein Gegenargument zu formulieren.<br />

„Er hat Recht“ meinte <strong>de</strong>r Mann namens Tom fest. „Es muß nur jemand diesen Kreaturen die Stirn bieten. Dann<br />

wer<strong>de</strong>n auch weitere <strong>de</strong>n Mut fin<strong>de</strong>n, gegen sie zu kämpfen.“<br />

Dynes legte seinen Arm um <strong>de</strong>n jungen Paves und erhob sich von seinem Stuhl. „Eben <strong>de</strong>swegen wer<strong>de</strong>n wir bald<br />

wie<strong>de</strong>r aufbrechen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Kann sein, daß es auf Stun<strong>de</strong>n ankommt. Laß uns gehen,<br />

Junge.“<br />

Das Geräusch eines rücken<strong>de</strong>n Stuhls machte erkenntlich, daß auch Zara sich erhoben hatte. Sie hielt <strong>Arathas</strong> am<br />

Arm und schüttelte <strong>de</strong>n Kopf.<br />

„Es ist Nacht, Herr. Ihr seid gera<strong>de</strong> erst gekommen, und ich weiß, daß Ihr wenigstens hier schlafen wer<strong>de</strong>t. Dieses<br />

ganze Gere<strong>de</strong> ist doch nichts weiter als ein Trick, um uns dazu zu bewegen, Euch zu folgen! Wenn Ihr dachtet, daß<br />

dies—„<br />

„Es ist kein Trick“ sagte Dynes ernst, und mit einem Mal wirkte er zornig. „Ich habe nicht vor, irgendjeman<strong>de</strong>n<br />

hereinzulegen. Am wenigsten die Menschen, die mir lieb sind und mit <strong>de</strong>nen ich zusammen lebe. Das einzige, was ich<br />

will, ist, ihnen zu helfen. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn du ein Problem damit hast, Zara, dann ist das allein<br />

<strong>de</strong>ines.“<br />

„Und auch nicht meines“ erklang Toms Stimme hinter ihnen. „Wenn ihr geht, dann wer<strong>de</strong> ich euch bei<strong>de</strong> begleiten,<br />

Aras. Es tut mir leid, daß ich nicht gleich erkannt habe, was richtig und was falsch ist.“<br />

Zara starrte <strong>de</strong>n blondschöpfigen Mann mit <strong>de</strong>n gegerbten Zügen an, und heiße Wut kochte in ihren Augen, als wären<br />

es glühen<strong>de</strong> Kohlebälle. Ihr Haar, das sich wie Flammen um ihre Schultern wand, vollen<strong>de</strong>te diesen Eindruck.<br />

„Du willst uns allein lassen, Tom? Uns und <strong>de</strong>ine Frau?“ Sie verzog die Lippen. „Das hätte ich nicht von dir gedacht.“<br />

„Tom hat Recht“ ließen sich jetzt noch mehr Stimmen im Zimmer vernehmen und wur<strong>de</strong>n lauter. Ein leises<br />

Protestgemurmel hob an, wur<strong>de</strong> jedoch sogleich zurückgeschlagen. Aber nicht Zara war es, die <strong>de</strong>n Leuten <strong>de</strong>n Mund<br />

verbot, son<strong>de</strong>rn Dynes. Auch er schien nun wütend.<br />

„Ich habe mit keinem Wort erwähnt, daß ihr diese Frau nun verurteilen sollt dafür, daß sie euch das Leben gerettet<br />

hat“ sagte er schnaubend. „Ich wollte einzig, daß ihr aufwacht und euch umseht und erkennt, daß bloßes Verstecken<br />

nichts nützt. Was hat Zara mir vorhin erzählt: Ihr hättet herausgefun<strong>de</strong>n, daß es <strong>de</strong>nen, die sich in ihren Häusern<br />

verschanzt haben, nichts gebracht hätte. Und was tut ihr nun? Ihr verbergt euch in <strong>de</strong>r Sicherheit <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s, und<br />

möglicherweise ist das sogar das Beste, was ihr tun könnt. In einen Krieg zu ziehen, <strong>de</strong>n zu gewinnen unter<br />

Umstän<strong>de</strong>n sogar unmöglich ist, das habe ich keinem von euch geraten. Diejenigen, die mich begleiten wollen, sollen<br />

das tun. Ich bin dankbar, aber ich verspreche euch nicht, daß ihr lebend zurückkehrt. Und wenn ihr lebend<br />

zurückkehrt, dann verspreche ich euch nicht, daß ihr diese Menschen hier noch lebendig vorfin<strong>de</strong>t. Aber ich<br />

verspreche euch, daß ihr dann alles getan habt, was in euerer und meiner Macht steht, um wenigstens zu versuchen,<br />

dies alles lebend zu überstehen.“<br />

Der Ritter wandte <strong>de</strong>n Blick ab und zupfte Zaras Hand von seinem Ärmel, die sich noch immer festgeklammert hielt.<br />

Tom stand auf und schritt auf <strong>Arathas</strong> zu, klopfte ihm auf die Schulter. „Egal, was kommt. Ich stehe hinter dir, Aras.“<br />

„Ich auch“ sagte ein zweiter Mann, <strong>de</strong>m bald darauf eine Frau folgte, die das Gespräch mitangehört hatte.<br />

„Ich wer<strong>de</strong> ebenfalls mit Euch kommen, Sir <strong>Arathas</strong>, Herr“ sagte sie und drückte das Kind an sich, das sie in ihren<br />

Armen trug. „Ihr wer<strong>de</strong>t je<strong>de</strong> helfen<strong>de</strong> Hand gebrauchen können.“<br />

Dynes nickte und lächelte ihr zu. „Falls du <strong>de</strong>nkst, daß ich dich davon abhalten wollte, dann hast du dich geirrt. Ich<br />

benötige Frauen ebenso wie Männer, Marissa.“<br />

Als immer mehr Menschen, die sich in <strong>de</strong>r alten Holzfällerhütte aufhielten, sich dazu entschlossen, Dynes zu folgen –<br />

schließlich brachte auch Mallag hervor, daß er <strong>de</strong>m Ritter helfen wolle – verblaßte das Feuer in Zaras Augen<br />

letztendlich, und kühle Leere breitete sich in ihnen aus. Ihre Miene verriet nicht einen Deut, was in ihr vorging, und<br />

das mädchenhafte Antlitz war so steinern und kalt wie das einer Statue.<br />

„Wenn Ihr es so wollt, Herr.“<br />

141


Bevor <strong>Arathas</strong> etwas erwi<strong>de</strong>rn konnte, hatte sie die Augen verdreht und war aus <strong>de</strong>r Hütte gestürmt. Die meisten<br />

Anwesen<strong>de</strong>n nahmen dieses Ereignis gar nicht wahr, so beschäftigt waren sie mit ihren eigenen Gedanken, doch<br />

Dynes wußte, daß er gera<strong>de</strong> eine <strong>de</strong>r fähigsten Frauen verloren hatte, die er sich nur hätte wünschen können. Sie hatte<br />

die Fähigkeit, die Menschen mit ihren Worten in <strong>de</strong>n Bann zu ziehen, und sie wußte sich zu verteidigen und hatte<br />

Mut. Es war ein großer Verlust, sie gehen zu lassen. Nur zu gern hätte er sie an seiner Seite gewußt, wenn es hart auf<br />

hart ging.<br />

Während Gestalten ihn umringten und auf ihn einre<strong>de</strong>ten, schloß er die Augen und hoffte, daß sie zwar gegangen war,<br />

nicht aber als Feindin zurückkehren wür<strong>de</strong>. Denn das kalte Lo<strong>de</strong>rn in ihren Pupillen hatte ihn frösteln und ihn spüren<br />

lassen, daß er <strong>de</strong>rjenige war, <strong>de</strong>r ihr <strong>de</strong>n Platz geraubt hatte.<br />

Er wußte nicht, daß sie seinem größten Wi<strong>de</strong>rsacher schon bald sehr nahe sein wür<strong>de</strong>.<br />

142


VII<br />

Windstimmen<br />

Wenn <strong>de</strong>in Herz und <strong>de</strong>in Geist sich im Zwist befin<strong>de</strong>n<br />

dann tue das, was <strong>de</strong>in Herz zu dir flüstert<br />

Talamà Winterlocke<br />

„Du weißt, was du zu tun hast“ sagte Keldar mit fester Stimme, und Indigo nickte.<br />

„Wir haben es oft genug durchgesprochen. Ich bin mir sicher, daß ich es schaffen wer<strong>de</strong>.“<br />

„Vater“ warf Saya ein. „Ich bitte dich, halte ihn davon ab! Asan! Das Geysa ist Gift für seinen Körper, <strong>de</strong>nn er ist<br />

nicht daran gewöhnt! Es wird ihn umbringen!“<br />

„Laß ihn gehen, Tochter.“<br />

„Es wird mich nicht umbringen“ entgegnete Indigo. „Ich habe bereits Drachenblut geschluckt, und auch das hat mich<br />

nicht getötet. Das Geysa wird meinen Erfahrungshorizont erweitern, mich an eine Schwelle bringen, die mein Leben<br />

verän<strong>de</strong>rn wird.“<br />

„Ich bitte dich“ flehte die Shat’lan und legte <strong>de</strong>m jungen Mann die Arme um <strong>de</strong>n Hals. „Geh nicht.“<br />

„Ich habe <strong>de</strong>n Punkt, an <strong>de</strong>m ich mich entschei<strong>de</strong>n konnte, längst hinter mir. Es gibt kein zurück mehr.“<br />

Er küßte sie, und sie erwi<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>n Kuß lei<strong>de</strong>nschaftlich, wollte sich nicht von ihm lösen, selbst dann nicht, als er sie<br />

sanft von sich schob, ihren Körper wegstieß.<br />

„Geh nicht“ sagte sie noch einmal, leiser. „Das Geysa wird dich töten...“<br />

„Ich bin gespannt, was ich fin<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>...“ rief Indigo, wandte sich von <strong>de</strong>r kleinen Gruppe ab, die ihn umringte.<br />

Keldar verabschie<strong>de</strong>te ihn mit <strong>de</strong>r typischen Shat’lan-Geste: Die rechte, flache Hand in einem Halbkreis vor <strong>de</strong>m Kopf<br />

geschwungen. Auch alle an<strong>de</strong>ren machten das Zeichen, und <strong>de</strong>r Jurakai hob seine Hand.<br />

„Wenn ich auch nicht weiß, wonach ich suche“ sagte er so leise, daß ihn niemand hören konnte. Traurig blickte Saya<br />

ihm hinterher. Als seine Schritte sich im Wald verloren hatten, drehte sie ihm <strong>de</strong>n Rücken zu, wandte sich an ihren<br />

Vater. Ihre Züge verzerrten sich, während sie vor <strong>de</strong>m großen Mann stand, dann brach sich <strong>de</strong>r Zorn endlich seine<br />

Bahn, und das Mädchen begann, mit <strong>de</strong>n Fäusten auf die Brust Keldars einzutrommeln. Der alte Mann faßte sie an<br />

<strong>de</strong>n Armen, hielt ihre Hän<strong>de</strong>, bis sie sich beruhigt hatte, ihr Schluchzen verklungen war.<br />

„Vertraust du ihm nicht?“ fragte er seine Tochter. „Mein ganzes Volk vertraut ihm. Doch du siehst nur <strong>de</strong>n Jungen,<br />

<strong>de</strong>r in seinen Tod gehen wird.“<br />

„Ich vertraue ihm doch“ murmelte die Frau mit wässrigen Augen. „Aber ich liebe ihn.“<br />

„Dann ist es umso wichtiger, daß du ihn gehen läßt, Tochter.“<br />

Mit gesenktem Kopf sah die Shat’lan zum Wald, in <strong>de</strong>ssen Tiefen <strong>de</strong>r Jurakai verschwun<strong>de</strong>n war.<br />

Die kleine Schar aus Vagabun<strong>de</strong>n, die ihre Häuser und Höfe, ihr Land und viele auch ihre Familien verloren hatten,<br />

befand sich auf <strong>de</strong>m Weg in die Stadt.<br />

Sie hatte viel zurückgelassen. Angehörige und Freun<strong>de</strong>, Frauen und Kin<strong>de</strong>r, die nun in <strong>de</strong>r Holzfällerhütte warteten<br />

und darauf harren mußten, daß die Gegangenen vielleicht irgendwann einmal zurückkehren. Vielleicht wür<strong>de</strong>n sie<br />

aber auch von ihrem To<strong>de</strong> erfahren. Vielleicht wür<strong>de</strong>n sie niemals mehr etwas von ihnen sehen, und das war das<br />

Schlimmste daran. Das Zweifeln, ob es Richtig war, aufzubrechen, das Zweifeln, ob es keinen an<strong>de</strong>ren, besseren Weg<br />

gegeben hätte.<br />

Die Gruppe, die nun von Dynes geführt wur<strong>de</strong>, wußte nur zu gut, daß die Nahrungsmittel in <strong>de</strong>r Hütte begrenzt waren.<br />

Daß die Möglichkeiten, sich von <strong>de</strong>n Früchten <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s zu ernähren und Tiere zu erlegen, jetzt, da <strong>de</strong>r Winter<br />

nahte, so gut wie unmöglich waren. Und eben <strong>de</strong>shalb schien es die einzig logische Tat zu sein, <strong>de</strong>m Ritter zu folgen<br />

und <strong>de</strong>m Kampf wenigstens einen Versuch zu geben.<br />

Mit Sorge blickte <strong>Arathas</strong> auf die Waffen, die die Schar in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n hielt. Es waren nichts weiter als einfache<br />

Dinge wie Sensen o<strong>de</strong>r Prügel, die die Männer in weiser Voraussicht von Daheim mitgenommen hatten, die jedoch im<br />

Kampf gegen echte Schwerter reichlich wenig nützen wür<strong>de</strong>n. Die Bögen waren alt und die Sehnen lasch, doch<br />

glücklicherweise gab es einige unter <strong>de</strong>n Bauern, die von <strong>de</strong>n Dorffesten und -turnieren her sehr gut damit umgehen<br />

konnten. Ansonsten trugen sie nichts bei sich als ihre angeborenen Fähigkeiten, ein paar Lumpen auf <strong>de</strong>r Haut und<br />

eine Menge Mut in ihren Herzen.<br />

Und <strong>de</strong>r Mut war es auch, worauf <strong>de</strong>r Ritter am meisten hoffte. Mit dieser winzigen Rotte ließ sich kein Krieg<br />

gewinnen, und war er noch so klein. Er ritt vornan, und wenn er sich umblickte, zählte er dreißig, vielleicht auch<br />

143


vierzig Menschen. Die Hälfte davon waren Frauen und Kin<strong>de</strong>r. Aber möglicherweise reichten diese Leute aus, um<br />

Djenhalm davon zu überzeugen, daß ein Kampf nicht aussichtslos war. Daß es sich lohnte, für eine Sache einzutreten,<br />

auch wenn sie im Blut en<strong>de</strong>te. Denn schließlich und endlich en<strong>de</strong>te alles irgendwann im Blut.<br />

Paves neben sich, die marschieren<strong>de</strong> Menge in seinem Rücken, trabte Sturmauge über einen ausgetrampelten<br />

Waldpfad und führte die Gruppe langsam aber sicher ins Freie hinaus.<br />

Dynes verfluchte sich dafür, daß er unerfahrene Kin<strong>de</strong>r mit in diesen Wahnsinn hineinzog, aber er wußte auch, daß es<br />

keinen an<strong>de</strong>ren Ausweg gab. Entwe<strong>de</strong>r, sie wür<strong>de</strong>n kämpfen... o<strong>de</strong>r sie wür<strong>de</strong>n in je<strong>de</strong>m Falle sterben.<br />

Er wur<strong>de</strong> von Tom, <strong>de</strong>n seine Frau begleitete, aus <strong>de</strong>n düsteren Gedanken gerissen. Ein wenig erleichterter unterhielt<br />

er sich mit seinem Freund, <strong>de</strong>r versuchte, ihm die Sorgen zu vertreiben. Tom hatte ein schlichtes Gemüt, aber er war<br />

gut darin, jeman<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Dingen abzulenken, die ihn beschäftigten. Er bezog <strong>de</strong>n Knaben, <strong>de</strong>r Dynes begleitete, in<br />

seine Gespräche mit ein, erzählte Geschichten und Witze.<br />

<strong>Arathas</strong> argwöhnte, daß <strong>de</strong>r Junge schon zuviel erlebt hatte und sein Geist zu reif war, als daß er sich noch mit<br />

gleichaltrigen hätte abgeben können. Es dauerte nicht lang, bis Tom und Paves dicke Freun<strong>de</strong> waren.<br />

Indigo schlug sich mit behandschuhten Hän<strong>de</strong>n einen Weg durch das Dickicht, fühlte sich an seine ersten Wochen auf<br />

Wan<strong>de</strong>rschaft erinnert, als er mit Nachtfalke zusammen durch <strong>de</strong>n Weilerwald gelaufen war. Der Tau, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n<br />

Blättern klebte, feucht und glänzend, verströmte <strong>de</strong>n gleichen wohligen, angenehmen Duft wie die Gräser in seiner<br />

Heimat, und die Bäume unterschie<strong>de</strong>n sich kaum von <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>s Weilerwalds. Die Stämme <strong>de</strong>r Schattenwäl<strong>de</strong>r<br />

mochten vielleicht größer sein, die Wipfel höher, doch im großen und ganzen bestand kein Unterschied. Nur das<br />

son<strong>de</strong>rbare Gefühl, das sich in Indigos Brust eingenistet hatte, war ein an<strong>de</strong>res. Im Weiler war er noch frohen Mutes<br />

und voller Tatendrang marschiert, doch hier, in diesen düsteren Wäl<strong>de</strong>rn... er wußte nicht, was ihn erwartete, hatte<br />

noch nicht einmal eines <strong>de</strong>r Wesen, <strong>de</strong>m er sich nun stellen sollte, aus <strong>de</strong>r Nähe gesehen...<br />

Mit Aufregung brach er ein paar Zweige auseinan<strong>de</strong>r, suchte nach einer geeigneten Stelle für das Unterfangen. Ein<br />

großer Platz am besten, hatten Keldar und Vinvi<strong>de</strong>nes, <strong>de</strong>r Gelehrte, geraten. Drachen sind riesige Geschöpfe. Sie<br />

wer<strong>de</strong>n nicht auf einer kleinen Lichtung Halt machen können. Suche nach einem Ort, <strong>de</strong>n die Weiten umgeben, an<br />

<strong>de</strong>m du vorrausschauend han<strong>de</strong>ln und planen kannst. Und vergiß niemals: Der El’cha<strong>de</strong>rar ist ein intelligentes<br />

Wesen! Er läßt sich durch die Macht <strong>de</strong>s Geysa vielleicht anlocken, doch wird er es niemals zulassen, ausgenutzt zu<br />

wer<strong>de</strong>n. Und noch eins: Beeile dich, wenn du ihn kommen siehst. Vergeu<strong>de</strong> keine Zeit, <strong>de</strong>nn Zeit ist etwas, das dir<br />

nicht bleiben wird.<br />

Indigo zuckte die Schultern, lief weiter durch das Unterholz. Er mußte erst einmal aus diesem Wald herauskommen,<br />

dann wür<strong>de</strong> er weitersehen. Möglicherweise bot sich irgendwo in <strong>de</strong>r Nähe ein Platz; Keldar hatte ihm geraten, nach<br />

Sü<strong>de</strong>n zu gehen, da er nicht vertraut war mit <strong>de</strong>m Schattenwald. Dort, nur wenige Schritte entfernt, sollte angeblich<br />

eine Landschaft liegen, die sich bestens für das Unterfangen eignete.<br />

Nach mehreren Stun<strong>de</strong>n voll peitschen<strong>de</strong>r Äste und kleiner Tiere, die bei seinem Anblick auf nahe Bäume flüchteten,<br />

durchbrach er endlich das ewige Geäst, fand sich auf einer freien Fläche wie<strong>de</strong>r. Die Sonne, bereits hinter <strong>de</strong>m<br />

Horizont verschwun<strong>de</strong>n, spen<strong>de</strong>te noch ein spärliches Licht, einen dunkelblauen Himmel, <strong>de</strong>r sich an <strong>de</strong>r westlichsten<br />

Linie bereits rötlich verfärbte. Ein paar steinige Hügel lagen vor <strong>de</strong>m Jurakai, wur<strong>de</strong>n umrun<strong>de</strong>t von <strong>de</strong>m dichten,<br />

schwarzen Wald. Die Stadt <strong>de</strong>r Shat’lan mußte weit im Sü<strong>de</strong>n Rubens liegen, <strong>de</strong>nn in <strong>de</strong>r Ferne konnte er die Umrisse<br />

<strong>de</strong>r südlichen Gebirge ausmachen. Ihm fiel ein, daß er gar nicht auf die I<strong>de</strong>e gekommen war, danach zu fragen, wo<br />

Ney’fasa’le überhaupt lag. Doch seine <strong>de</strong>rzeitige Aussicht und sein Orientierungssinn sagten ihm, daß die Stadt <strong>de</strong>r<br />

Shat’lan sich tiefer im Schattenwald verbarg, als er vermutet hätte.<br />

Wieviele dieser unterirdischen Bauten gibt es im Inneren Reich? fragte er sich. Und warum versucht dieses Volk<br />

nicht, seiner Gefangenschaft zu entfliehen, bei seiner Größe. Es sind tausen<strong>de</strong> von ihnen, doch anscheinend <strong>de</strong>nkt<br />

niemand daran, Ruben <strong>de</strong>n Menschen wie<strong>de</strong>r zu entreißen... o<strong>de</strong>r vielleicht wollen sie es auch gar nicht mehr...<br />

Die Schieferplatten, die um ihn herum in die Höhe ragten, in kaltem Grau aus <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n sprossen, schienen <strong>de</strong>r<br />

i<strong>de</strong>ale Ort, um einen <strong>de</strong>r El’cha<strong>de</strong>rar zu rufen. Er dachte noch einmal an die Worte von Keldar, erinnerte sich daran,<br />

was <strong>de</strong>r Mann ihm über das Geysa erzählt hatte. Er durfte sich unter keinen Umstän<strong>de</strong>n einen ungeschützten Platz<br />

aussuchen, wenn er die Droge zu sich nahm. Sie wür<strong>de</strong> ihn in einen Zustand <strong>de</strong>r geistigen Umnachtung beför<strong>de</strong>rn,<br />

wenn nicht sogar in <strong>de</strong>n Schlaf. Die Stelle sollte geschützt sein vor Tieren und allem an<strong>de</strong>rem, hatte <strong>de</strong>r Shat’lan ihm<br />

geraten. Nun, hier schien es genügend Orte zu geben, an <strong>de</strong>nen es kein Problem darstellen sollte, sich zu verstecken.<br />

Behutsam prüfte er die Ausrüstung, die ihm mitgegeben wur<strong>de</strong>, klopfte seine Taschen ab. Die Le<strong>de</strong>rhandschuhe<br />

saßen, alles war bereit.<br />

Es wird dir keine Zeit bleiben, um noch etwas zu ordnen, wenn es soweit ist. Du mußt fertig sein, bevor du das Geysa<br />

zu dir nimmst. Ein zweiter Versuch bleibt dir nicht.<br />

Mit einem Nicken sah <strong>de</strong>r junge Mann zum sich verfinstern<strong>de</strong>n Himmel empor, versuchte sich vorzustellen, wie seine<br />

Begegnung mit <strong>de</strong>m El’cha<strong>de</strong>rar ablaufen wür<strong>de</strong>. Die Tiere hielten sich nur hier auf, in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>r Berge o<strong>de</strong>r in<br />

<strong>de</strong>n Bergen selbst. Ein großer Drachen konnte mitunter eine Länge von drei- o<strong>de</strong>r sogar vierhun<strong>de</strong>rt Fuß erreichen,<br />

hatte Keldar gesagt. Doch nur die ganz großen Exemplare lebten in <strong>de</strong>n Gebirgen und <strong>de</strong>n Wüsten dahinter. In <strong>de</strong>n<br />

Wäl<strong>de</strong>rn konnte man bloß auf die Kleineren stoßen, die es immerhin auf eine Länge von guten hun<strong>de</strong>rt o<strong>de</strong>r sogar<br />

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zweihun<strong>de</strong>rt Fuß brachten. Die Geschöpfe waren alles an<strong>de</strong>re als ungefährlich, doch das nicht etwa, weil sie die<br />

Shat’lan angreifen wür<strong>de</strong>n. Sie waren einfach nur so riesig, daß sie es gar nicht wahrnahmen, wenn sie zufällig ein so<br />

kleines Lebewesen unter sich zerquetschten. Darum stellte es ein erhebliches Risiko dar, einen El’cha<strong>de</strong>rar zu rufen<br />

o<strong>de</strong>r gar zu reiten. Die größten Schwierigkeiten kamen nämlich meist dann auf, wenn es darum ging, <strong>de</strong>n Rücken <strong>de</strong>s<br />

Tieres wie<strong>de</strong>r zu verlassen...<br />

Indigo suchte sich eine Schieferplatte, die höher als die an<strong>de</strong>ren lag, auf <strong>de</strong>m kleinen Gipfel <strong>de</strong>r Anhöhe hervorragte.<br />

Er rollte sich unter <strong>de</strong>n Stein, kauerte seinen Körper zusammen und versuchte, trotz <strong>de</strong>r Lage einen Blick auf <strong>de</strong>n<br />

Himmel zu erhaschen. Nein, es wür<strong>de</strong> nichts helfen. Um die Geschehnisse im Auge behalten zu können, wür<strong>de</strong> er<br />

unter <strong>de</strong>r Platte hervorkriechen müssen. Doch dieses Problem stellte sich noch nicht. Jetzt war es an <strong>de</strong>r Zeit, das<br />

Geysa zu trinken.<br />

Mit gerunzelter Stirn zog <strong>de</strong>r Jurakai das kleine Fläschchen aus seiner Brusttasche hervor, schraubte <strong>de</strong>n Verschluß<br />

ab. Seine Nase rümpfte sich, als sich <strong>de</strong>r stark säuerliche und beißen<strong>de</strong> Geruch in <strong>de</strong>r Luft ausbreitete. Obwohl es<br />

nicht mehr als ein winziger Tropfen war, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r kleinen Phiole darauf wartete, geschluckt zu wer<strong>de</strong>n, so war es<br />

anscheinend doch genug, um einen erwachsenen Mann ums Lebens zu bringen. Vorsichtig hielt er das Gefäß<br />

zwischen Daumen und Zeigefinger, neigte <strong>de</strong>n Kopf ein wenig nach hinten. Mit einem Ruck kippte er <strong>de</strong>n Inhalt <strong>de</strong>s<br />

Fläschchens auf seine Zunge, spürte sofort, wie brennen<strong>de</strong>r Schmerz sich in seinem Mund ausbreitete. Es hatte<br />

Ähnlichkeit mit <strong>de</strong>m Drachenblut, das ihm in die Kehle gelaufen war, doch die Wirkung war hun<strong>de</strong>rtmal schlimmer,<br />

als das Blut je hätte sein können. Indigo schloß die Augen, und die Welt begann, sich zu drehen.<br />

Zu Anfang explodierten die Farben in seinem Kopf, bil<strong>de</strong>ten sich fabelhafte Feuerwerke aus blauen, roten und gelben<br />

Funken. Dann begannen die Farben zu verblassen, hinterließen Schlieren und leuchten<strong>de</strong> Punkte. Die Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />

Jurakai wur<strong>de</strong>n taub, und als er seinen Arm heben wollte, nur um <strong>de</strong>s Versuches Willen, konnte er nicht einmal mehr<br />

seine Schulter spüren, geschweige <strong>de</strong>nn die Körperteile, <strong>de</strong>nen er eine Leistung abverlangen wollte. Plötzlich keimte<br />

Angst in ihm, und er öffnete besorgt die Augen. Doch entgegen aller Erwartung blieb die Welt schwarz, zeigte ihm<br />

nichts als das, was er auch schon vorher gesehen hatte. Der Eingebung Folge leistend, daß sich die Droge schnell auf<br />

das Gehirn auswirken wür<strong>de</strong>, jedoch keinen Scha<strong>de</strong>n anrichtete, wenn er sie tiefer hinab in <strong>de</strong>n Magen beför<strong>de</strong>rte,<br />

schluckte er <strong>de</strong>n Speichel, <strong>de</strong>r sich in seiner Mundhöhle gesammelt hatte. Das Brennen wur<strong>de</strong>, wenn überhaupt<br />

möglich, noch schlimmer, nahm zu, je weiter sich die ätzen<strong>de</strong> Flüssigkeit in seinen Leib fraß. Er wollte sich schütteln,<br />

doch all seine Glie<strong>de</strong>r gehorchten nun nicht mehr seinen Befehlen, waren taub und stumpf.<br />

Mußte es so ablaufen? fragte er sich unwillkürlich. Niemand hatte ihm beschrieben, daß es so schrecklich sein wür<strong>de</strong>,<br />

so... so schmerzhaft. Vielleicht war er nicht bereit, vielleicht hatte er sich getäuscht. Und wenn ein an<strong>de</strong>rer Jurakai<br />

nun <strong>de</strong>rjenige war, <strong>de</strong>n die Worte aus <strong>de</strong>m Buch betrafen? Wenn er es nun gar nicht war, <strong>de</strong>r sich hier befin<strong>de</strong>n sollte,<br />

wenn an seiner Stelle ein weitaus erfahrenerer Jurakai das Geysa hätte trinken sollen? Jemand wie Nachtfalke<br />

vielleicht, o<strong>de</strong>r jemand wie Talamà... immerhin kannten sie bei<strong>de</strong> sich mit <strong>de</strong>n Worten aus, schienen viel mehr Wissen<br />

zu besitzen als er! War das wahrscheinlich? Wür<strong>de</strong> diese verhängnisvolle Tat sein En<strong>de</strong> be<strong>de</strong>uten? Er wußte es nicht,<br />

doch die Taubheit, die ihn umfing, bestärkte ihn nur noch in seinem Glauben. Dies war nicht das, was er hätte tun<br />

sollen. Er hätte auf Saya hören sollen, ihrem Rat Glauben schenken! Wieso hatte er sich auf dies hier eingelassen? Es<br />

war alles so... tot. Ja, sein Körper fühlte sich tot an, so schwer und so ausgehöhlt...<br />

Indigos Gedanken rasten, und in seinem Wahn versuchte er tatsächlich, das eingenommene Geysa wie<strong>de</strong>r<br />

herauszuwürgen, seinen Körper dazu zu überre<strong>de</strong>n, die Flüssigkeit wie<strong>de</strong>r freizugeben. Nach mehreren<br />

fehlgeschlagenen Versuchen mußte er sich eingestehen, daß er keine Kontrolle mehr besaß über seine Gefühle und<br />

Glie<strong>de</strong>r. Selbst seine Sinne schienen hinwegzugleiten, immer weiter auf dieses gähnen<strong>de</strong>, tiefe Loch zu...<br />

Wirbel umfingen <strong>de</strong>n Jurakai, zerrten an ihm, wollten ihn auseinan<strong>de</strong>r reißen. Kälte umspülte ihn. Finsternis.<br />

Endgültige, totale Finsternis. Wo war er nur? Wo war er vorher gewesen? Hatte es ihn überhaupt gegeben? Besaß er<br />

jemals so etwas wie... Leben?<br />

Am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Hörfähigkeit, nur eine Haaresbreite entfernt und doch unerreichbar, erklang plötzlich ein Geräusch.<br />

Indigo konzentrierte sich, und <strong>de</strong>r Klang wur<strong>de</strong> lauter, gewann an Festigkeit. Auch die Schwärze schien sich dazu<br />

entschie<strong>de</strong>n zu haben, sich aufzulösen, in <strong>de</strong>n Hintergrund zu sinken und etwas an<strong>de</strong>rem, lebendigerem Platz zu<br />

machen. Gespannt wartete Indigo, was es wohl sein wür<strong>de</strong>.<br />

Himmelfeuers Auge, ging es ihm durch <strong>de</strong>n Kopf. Himmelfeuers Auge zeichnete sich ab in <strong>de</strong>r Dunkelheit, erstrahlte<br />

am Firmament. Nein!, schalt er sich selbst. Es war eine Lüge! Lüge! Es war die Sonne, ebenso ein Ding wie <strong>de</strong>r<br />

<strong>Mond</strong>, kein Auge, kein Bestandteil <strong>de</strong>s Großen Drachen Jarondai...<br />

Geräusche fingen an, sich im Geist <strong>de</strong>s Jurakai zu manifestieren. Spielen<strong>de</strong>, frohe Geräusche, wie von vielen<br />

Instrumenten, von Flöten und Trommeln, von Geigen und Harfen. Lustig war es mitanzuhören, bereitete <strong>de</strong>m jungen<br />

Mann Freu<strong>de</strong>. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, und er lauschte <strong>de</strong>n Klängen <strong>de</strong>s fröhlichen Spieles,<br />

ließ sich treiben auf <strong>de</strong>n Wogen <strong>de</strong>r Heiterkeit. Wer erzeugte diese muntere Musik, ließ die frohen Töne erschallen?<br />

Der Nebel, <strong>de</strong>r um ihn herum gewogt hatte, lichtete sich, als die Sonne die Schatten verbrannte, Licht auf das vorher<br />

finstre Land warf.<br />

145


Kin<strong>de</strong>r! dachte Indigo verzückt, als er die musizieren<strong>de</strong>n Gestalten sah, die um ihn herum hockten, auf <strong>de</strong>n<br />

Instrumenten spielten. Doch ein genauerer Blick offenbarte seinen Fehlglauben, zeigte ihm das wahre Gesicht: Es<br />

waren Erwachsene, die hier Fröhlichkeit verbreiteten, in <strong>de</strong>n Sommergarten Freu<strong>de</strong> brachten.<br />

Doch dann vernahm <strong>de</strong>r Jurakai einen falschen Ton, eine Note, die das Bild <strong>de</strong>s Glücks verzerrte, die Musik mißraten<br />

ließ. Er blickte sich um, doch noch immer spielten all die Leute weiter, hielten die Augen geschlossen, während sie in<br />

ihre Flöten bliesen, ihre Harfe zupften. Die unpassen<strong>de</strong>n Töne häuften sich, nahmen unaufhörlich zu, solange, bis nur<br />

noch ein verzerrtes Rauschen zu hören war, Indigo sich die Ohren hielt. Wohin war die wun<strong>de</strong>rschöne, fröhliche<br />

Musik gegangen, die er eben noch empfun<strong>de</strong>n hatte?<br />

Und abermals verän<strong>de</strong>rte sich das Stück, wan<strong>de</strong>lte seine Tonlage. Trauriger wur<strong>de</strong> es, immer trauriger, bis Indigo<br />

Tränen aus <strong>de</strong>n Augen strömten, seine Wangen herabliefen und <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n benetzten. Ein fahles Gesicht tauchte vor<br />

ihm auf, betrübt, bekümmert. Es waren die Züge einer Shat’lan, doch ihre Augen waren an<strong>de</strong>rs als alles, was <strong>de</strong>r<br />

Jurakai bis jetzt gesehen hatte. Nicht nur die Iris <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong>n war schwarz, auch ihre Augäpfel trugen kein bißchen<br />

Weiß mehr in sich. Trotz<strong>de</strong>m schienen ihn die gequälten Löcher anzustarren, ihm die Schuld an etwas zu geben, das<br />

er nicht verstand, nicht kannte. Eine Hand hob sich aus <strong>de</strong>m Nichts, <strong>de</strong>utete in eine entfernte Richtung.<br />

Was ist dort? fragte <strong>de</strong>r Mann und wandte <strong>de</strong>n Kopf. Die Bil<strong>de</strong>r verzerrten sich, verschwammen in einem Kreisen aus<br />

Farben. Etwas zerrte ihn nach vorn, stieß ihn mitten in eine an<strong>de</strong>re Welt. Er krachte auf Gras, sein Körper wur<strong>de</strong><br />

gegen die Er<strong>de</strong> gedrückt. Es war düster um ihn herum, <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n schimmerte in schattigem Grün. Wo war er hier? Es<br />

war... eigenartig vertraut.<br />

Er stand auf, erhob sich von <strong>de</strong>n Gräsern. Türme ragten um ihn herum auf, waren hoch wie die Bäume, die abseits<br />

stan<strong>de</strong>n. Der Himmel, in <strong>de</strong>m finstere Wolken sich zusammenbrauten, blickte bedrohlich von oben herab. Ein<br />

schwarzer Sturm war im Anzug. Tosend und vernichtend. Er brachte <strong>de</strong>n Tod.<br />

Und überall diese riesigen Bauten, wun<strong>de</strong>rte sich <strong>de</strong>r Junge. Und Shat’lan, die auf <strong>de</strong>n Bauten stan<strong>de</strong>n, von oben<br />

herabblickten, an ihm vorbeistarrten. Wo sahen sie nur alle hin? Und was taten sie dort? Schrien sie etwas? Ja, das<br />

mußte es sein! Indigo wollte nach vorn laufen, auf die Türme zurennen, um die Schreie besser hören zu können, doch<br />

etwas rammte ihm gegen in die Seite, brachte ihn zu Fall. Auch das Etwas, das ihn getroffen hatte, sackte zusammen,<br />

klatschte auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n. Indigo erinnerte sich, die Gestalt schon einmal gesehen zu haben, in einem Traum, <strong>de</strong>r nun<br />

schon Äonen zurückzuliegen schien. Dann fiel ihm wie<strong>de</strong>r ein, was damals geschehen war, welche Angst er verspürt<br />

hatte. Doch hier und jetzt... erschien alles realer, wirklicher zu ein. Und trotz<strong>de</strong>m hatte er keine Furcht, nicht das<br />

Bedürfnis, davonzulaufen. Er kniete sich neben <strong>de</strong>n Gefallenen, hob sanft die Hand <strong>de</strong>s Mannes. Der Shat’lan, <strong>de</strong>r ihn<br />

mit kohleschwarzen Augen anstarrte, öffnete langsam <strong>de</strong>n Mund, wollte Indigo etwas mitteilen. Doch im Gegensatz<br />

zu seinem letzten Traum konnte er das Wesen diesmal verstehen, ergaben die Worte einen Sinn.<br />

„Der Schatten ist gekommen“ stammelte <strong>de</strong>r Verbluten<strong>de</strong>, drückte Indigos Hand. „Das Siegel wird brechen und das<br />

Herz sterben. Spürst du, wie es aufhört zu schlagen...“<br />

Mit einem Zucken wand sich <strong>de</strong>r Körper auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, riß sich los vom Jurakai. Traurig betrachtete Indigo <strong>de</strong>n<br />

Mann, <strong>de</strong>r sich seinen To<strong>de</strong>squalen ergab, im eigenen Blut dahinsiechte. Erbost stand er auf, wollte nach <strong>de</strong>m<br />

Verursacher dieses Übels suchen. Die Schreie, die von <strong>de</strong>n Türmen gellten, waren nun lauter gewor<strong>de</strong>n, und Finger<br />

zeigten von oben in <strong>de</strong>n Wald, auf eine Stelle, die <strong>de</strong>r Jurakai nicht sehen konnte. Doch auch jetzt schon hörte er,<br />

wovor die Shat’lan Angst hatten: Das aufgebrachte Brüllen einer Menge, die Rufe von hun<strong>de</strong>rten von Menschen.<br />

Dann brachen die ersten von ihnen aus <strong>de</strong>m Dickicht am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s hervor, liefen auf die Lichtung, in ihren<br />

schimmern<strong>de</strong>n weißen Rüstungen. Ihre Schwerter funkelten im kalten Licht <strong>de</strong>r Blitze, die die Szenerie kurzzeitig<br />

erhellten, und ihre wil<strong>de</strong>n Augen funkelten vor Haß und Verachtung. Von versteckten Plätzen her traten ihnen<br />

Shat’lan entgegen, doch die einzelnen Gestalten konnten sich nicht lange wehren. Für je<strong>de</strong>n toten Angreifer strömten<br />

zehn weitere aus <strong>de</strong>m Wald, metzelten die Verteidiger blutrünstig nie<strong>de</strong>r. Weitere Männer stürzten an Indigo vorbei,<br />

taumelten auf <strong>de</strong>m Gras, fielen zu Bo<strong>de</strong>n. Entsetzt wandte <strong>de</strong>r Jurakai <strong>de</strong>n Blick ab, wollte <strong>de</strong>n Kampf nicht länger<br />

beobachten.<br />

Von allen Seiten her tauchten jetzt die Shat’lan auf, wehrten sich verbissen, töteten die Menschen. Der laute Hall <strong>de</strong>r<br />

Worte erklang, und ganze Gruppen <strong>de</strong>r Angreifer wur<strong>de</strong>n hinfortgespült, auseinan<strong>de</strong>rgerissen und verweht. Indigo<br />

versuchte, einen sicheren Platz zu erreichen, doch überall tobte nun die Schlacht, es gab keinen Ausweg. Von Furcht<br />

erfüllt lief er über die Gräser, aber seine Flucht führte ihn direkt vor eine große Masse von Manur, die langsam<br />

zwischen <strong>de</strong>n Türmen dahinschritt. In ihren dicken Panzerungen ähnelten sie seltsamen Schalentieren, unangreifbar<br />

und unbarmherzig. Mit schwerfälligen Schritten bewegte sich die Gruppe vorwärts, immer wie<strong>de</strong>r aufgehalten von<br />

<strong>de</strong>n Attacken <strong>de</strong>r Shat’lan. Doch es waren so viele, die sich hier zusammen rotteten! Die wenigen Verteidiger, die<br />

ihnen entgegentraten, liefen in <strong>de</strong>n sicheren Tod. Und selbst die Macht <strong>de</strong>r Worte konnte nur geringe Teile <strong>de</strong>r<br />

Gruppe zerreißen, die Schar stapfte weiter. Entsetzt taumelte Indigo vor ihnen her, wußte nicht recht, wohin er sich<br />

wen<strong>de</strong>n sollte. Er wandte sich um, lief in die Richtung, in die die Gruppe schritt, direkt auf ein großes, steinernes<br />

Gebäu<strong>de</strong> zu, das einem Tempel ähnelte.<br />

Eine Stadt! kam es <strong>de</strong>m Jurakai in <strong>de</strong>n Sinn. Dies hier war eine Stadt, die Türme, die an <strong>de</strong>n Wald grenzten,<br />

Wachtürme! Jetzt hatte er endlich einen klareren Blick, konnte alles sehen, was hier vor sich ging: Um das Gebäu<strong>de</strong><br />

herum, auf das die Menschenmenge zuging, stan<strong>de</strong>n kleine Häuser, und ein Brunnen zu seiner rechten ver<strong>de</strong>utlichte<br />

146


<strong>de</strong>n Eindruck, daß er sich in einer Siedlung <strong>de</strong>r Shat’lan befin<strong>de</strong>n mußte. Und nicht nur männliche Shat’lan rannten<br />

in <strong>de</strong>m Durcheinan<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Getümmels hin und her, auch Frauen, Kin<strong>de</strong>r und Alte waren darunter. Sie versuchten, aus<br />

<strong>de</strong>n Häusern zu entkommen, doch die meisten von ihnen wur<strong>de</strong>n gedankenlos nie<strong>de</strong>rgestreckt von fliegen<strong>de</strong>n<br />

Schwertern.<br />

Indigo lief schneller, rannte auf das steinerne Gebäu<strong>de</strong> zu. Etwas beson<strong>de</strong>res war an diesem Tempel in <strong>de</strong>r Dorfmitte,<br />

auf <strong>de</strong>n die Menge nun zuhielt. Er spürte, daß sich etwas von großer Be<strong>de</strong>utung abspielen wür<strong>de</strong> in dieser Stätte...<br />

o<strong>de</strong>r sich vielleicht schon abgespielt hatte, vor langer, langer Zeit. Indigo lief die kleine Treppe hinauf, rannte über die<br />

Stufen, die auf das steinerne Portal <strong>de</strong>s Tempels zuführten. Er wollte die mächtige Türe aufstemmen, hineingelangen<br />

in das Gebäu<strong>de</strong>, um <strong>de</strong>n Bewohnern Bescheid zu geben, sie zu warnen, doch seine Hän<strong>de</strong> glitten durch <strong>de</strong>n festen<br />

Stein, und erschreckt taumelte er nach vorn.<br />

Geh weiter, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf, eine weibliche Stimme. Er gehorchte, rappelte sich vom Bo<strong>de</strong>n auf<br />

und blickte zurück. Das steinerne Portal war noch immer geschlossen, er war mitten durch die feste Tür gefallen. Mit<br />

einem ungläubigem Schütteln <strong>de</strong>s Kopfes wandte er sich ab, sah sich in <strong>de</strong>m Tempel um. Nur ein langer Gang führte<br />

fort von <strong>de</strong>r Halle, in <strong>de</strong>r er stand, und aufgeregt lief er die Passage entlang.<br />

Ein großer Raum tat sich vor ihm auf, er stolperte hinein. Gesichter waren um ihn herum, kantige, harte Gesichter<br />

von Shat’lan. Sie saßen um einen halbrun<strong>de</strong>n Tisch, schienen sich zu beraten. Indigo ließ seine Blicke über die<br />

Anwesen<strong>de</strong>n streifen, und mit Erstaunen erkannte er eine <strong>de</strong>r Personen wie<strong>de</strong>r: Es war die Avalare, jünger zwar, als er<br />

sie in Erinnerung hatte, doch kein Zweifel war möglich. Sie stritt sich mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Shat’lan über etwas, so weit er<br />

das beurteilen konnte; ihre Miene drückte wil<strong>de</strong> Entschlossenheit aus. Dreizehn waren es an <strong>de</strong>r Zahl, die sich hier<br />

versammelt hatten, erkannte Indigo, und alle schienen sie einen an<strong>de</strong>ren Standpunkt vertreten zu wollen. Er versuchte<br />

sich mit einem lauten Schrei Gehör zu verschaffen, doch keiner <strong>de</strong>r Anwesen<strong>de</strong>n schenkte ihm Beachtung, niemand<br />

zollte ihm Aufmerksamkeit.<br />

„Die Menschen kommen!“ rief <strong>de</strong>r Jurakai, doch noch immer schienen die Shat’lan unbekümmert zu beratschlagen,<br />

<strong>de</strong>n nächsten Schritt zu planen.<br />

Ein Pochen drang zu ihm heran, und ein rascher Blick zeigte, daß jemand sich von draußen an <strong>de</strong>m Portal zu schaffen<br />

machte. Die schweren Türen erzitterten unter heftigen Schlägen, doch das Tor hielt stand. Die meisten Augenpaare<br />

waren jetzt auf das Portal gerichtet, die Streitgespräche verstummt.<br />

„Sie wer<strong>de</strong>n das Siegel nicht brechen können mit Gewalt“ sagte eine alte, vertrocknete Stimme. Der Greis, von <strong>de</strong>m<br />

diese Worte stammten, ließ sich wie<strong>de</strong>r auf seinem Stuhl nie<strong>de</strong>r. Ein Raunen ging durch die Menge.<br />

„Sie mor<strong>de</strong>n und töten dort draußen, Ehrwürdiger Sa’chi’car! Unser Volk fällt, während wir hier drinnen sitzen und<br />

re<strong>de</strong>n!“<br />

„Dann mögen sie in Frie<strong>de</strong>n ruhen! Doch niemand wird diesen Raum verlassen, bis wir nicht zu einer Einigung<br />

gekommen sind.“ Die Worte waren endgültig, die an<strong>de</strong>ren verstummten wi<strong>de</strong>rstrebend. Der alte Shat’lan blickte sich<br />

in <strong>de</strong>m Kreis um, musterte die Anwesen<strong>de</strong>n.<br />

„Ich wer<strong>de</strong>—„ begann er, doch <strong>de</strong>r Satz wur<strong>de</strong> abrupt unterbrochen, als ein Messer in <strong>de</strong>r Luft blitzte, sich im<br />

nächsten Moment durch <strong>de</strong>n Hals <strong>de</strong>s Alten bohrte. Röchelnd sackte er nach vorn, sank auf die Tischplatte nie<strong>de</strong>r. Das<br />

Geräusch fallen<strong>de</strong>r Stühle wur<strong>de</strong> laut, als die an<strong>de</strong>ren Shat’lan sich entsetzt erhoben. Alle Blicke waren auf einen<br />

Einzelnen gerichtet, und auch Indigo wollte <strong>de</strong>n Verantwortlichen für diese Tat zu Gesicht bekommen.<br />

„In novinas nae“ intonierte ein verhülltes, schwarzes Geschöpf am äußersten Rand <strong>de</strong>s Tisches. Der stämmige Körper<br />

war umgeben von einem Flirren, und nur un<strong>de</strong>utlich waren die Züge <strong>de</strong>s Mannes zu erkennen. Seine Stimme erhob<br />

sich, schwoll innerhalb einer Sekun<strong>de</strong> zu einem ohrenbetäuben<strong>de</strong>n Gebrüll an, dann brach sich das Wort eine<br />

Schneise, krachte durch <strong>de</strong>n großen Saal. Wie ein Hämmern hallte <strong>de</strong>r Zauber durch <strong>de</strong>n schmalen Gang, <strong>de</strong>r Indigo<br />

herein geführt hatte, und als er letztendlich auf das Portal traf, erhellten sich die Umrisse <strong>de</strong>r Steintür, und ein<br />

angsterfülltes Stöhnen ging durch die Reihen <strong>de</strong>r Versammelten.<br />

„Delabos!“ fauchte die Avalare mit jugendlicher Stimme, und <strong>de</strong>r hochgewachsene Shat’lan lächelte boshaft. Mit<br />

langsamen Schritten zog er sich zurück, tänzelte auf das Portal zu.<br />

„Eure veralteten Regeln bedürfen einer kleinen Erneuerung, Sindaria“ verkün<strong>de</strong>te er, und noch während er sprach,<br />

schwang hinter seinem Rücken die Tür auf, offenbarte die brüllen<strong>de</strong> Menschenmenge. „Das Volk wird fallen“ schrie<br />

er, während die bestürzten Shat’lan ihn mit aufgerissenen Augen anstarrten. Dann strömten die Menschen an <strong>de</strong>m<br />

Verräter vorbei, rannten schwerterschwingend durch <strong>de</strong>n Gang und in <strong>de</strong>n dahinterliegen<strong>de</strong>n Saal. Worte wur<strong>de</strong>n<br />

angestimmt, Waffen gezogen, und mit Bedauern mußte Indigo mitansehen, wie einer <strong>de</strong>r Shat’lan von einer<br />

fliegen<strong>de</strong>n Axt getroffen wur<strong>de</strong>. Doch gleich darauf folgte ein Donnerschlag, lauter als tausend Gewitter auf einmal,<br />

und <strong>de</strong>r Tempel begann, in sich zusammenzufallen. Die restlichen Schwarzäugigen kämpften, wehrten sich mit<br />

Leibeskräften gegen die anbran<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Hor<strong>de</strong>, doch ihr Schicksal schien besiegelt zu sein. Als dann die ersten Steine<br />

von <strong>de</strong>r Decke stürzten, Menschen und Shat’lan zugleich unter sich begruben, schloß Indigo die Augen, wandte sich<br />

ab von <strong>de</strong>m Geschehen. Schreie hallten in seinem Kopf wi<strong>de</strong>r, er legte seine Hän<strong>de</strong> auf die Ohren. Flieh, sagte etwas<br />

in ihm, und zitternd kroch er über <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n. Die Stimmen wur<strong>de</strong>n leiser, das Donnern verklang nach und nach, und<br />

als er die Augen wie<strong>de</strong>r öffnete, befand er sich draußen, vor <strong>de</strong>m Eingang <strong>de</strong>s steinernen Tempels. Das Gebäu<strong>de</strong> lag<br />

nun in Schutt und Asche, über <strong>de</strong>n Trümmern schwebte Staub.<br />

147


Was hatte er gera<strong>de</strong> mit angesehen? Wo befand er sich tatsächlich? Indigo raffte sich vom Bo<strong>de</strong>n auf, überprüfte<br />

seinen Körper auf Wun<strong>de</strong>n, Verletzungen, doch all dieses Chaos schien ihn nicht in Meitlei<strong>de</strong>nschaft gezogen zu<br />

haben. Er klopfte sich <strong>de</strong>n Dreck vom braunen Wams, sah sich um. Das Gewitter, das über <strong>de</strong>r Stadt tobte, war genau<br />

über ihnen. Blitze zuckten ununterbrochen aus <strong>de</strong>n schwarzen, grollen<strong>de</strong>n Wolken, die sich wie Kontrahenten um <strong>de</strong>n<br />

besten Platz am Himmel bemühten, darauf bedacht, alle an<strong>de</strong>ren Gegner zu verdrängen. Ein beson<strong>de</strong>rs lautes Donnern<br />

krachte über das Land, und <strong>de</strong>r Jurakai fuhr erschrocken zusammen. Ein Blitz erhellte die Nacht, und vor sich sah er<br />

<strong>de</strong>n verräterischen Shat’lan, <strong>de</strong>ssen Name anscheinend Delabos lautete. Der große Mann kämpfte mit Schwert und<br />

Wort gegen sein eigenes Volk, tötete ohne Unterlaß. Niemand hielt seinen Schlägen lange Stand, und wenn, dann<br />

wur<strong>de</strong> er sofort von ein paar umstehen<strong>de</strong>n Menschen zur Strecke gebracht. Mit halb geschlossenen Augen glitt <strong>de</strong>r<br />

Schwarzgewan<strong>de</strong>te durch die Massen, hackte sich einen Weg durch <strong>de</strong>n Feind. Sein langes Schwert sauste nie<strong>de</strong>r,<br />

durchdrang die Brust eines Shat’lan, <strong>de</strong>r sich ihm in <strong>de</strong>n Weg gestellt hatte. Als er seine Waffe aus <strong>de</strong>m einstigen<br />

Freund gezogen hatte, tauchten an<strong>de</strong>re Gestalten aus <strong>de</strong>m Getümmel auf. Es waren viele, viele Shat’lan, die sich<br />

zusammengerottet hatten, einen Kreis bil<strong>de</strong>ten. Delabos kniff die Brauen zusammen, sein Mund öffnete sich, und ein<br />

Wort entströmte seiner Kehle. Doch anstatt die Gruppe mit voller Wucht zu treffen, verebbte <strong>de</strong>r Laut plötzlich,<br />

hinterließ nur ein leises Echo, <strong>de</strong>n Nachklang eines mächtigen Zaubers. Erstaunt blickte er auf, und sein funkeln<strong>de</strong>s<br />

Augenpaar fiel auf seine Wi<strong>de</strong>rsacher.<br />

Ein erneuter Blitz flackerte auf, erhellte ein Bild voll Zorn und Wut. Die gegnerischen Parteien stan<strong>de</strong>n sich<br />

gegenüber, Delabos auf <strong>de</strong>r einen, die zusammengerotteten Shat’lan auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite. Regen bil<strong>de</strong>te feinste<br />

Schlieren, durchtrennte die saubere, kühle Luft. Das Prasseln wur<strong>de</strong> stärker, während sich die ungleichen Parteien<br />

noch immer musterten. Dann ent<strong>de</strong>ckte <strong>de</strong>r Verräter die Avalare, die so jung und ungewohnt anmutete und doch <strong>de</strong>n<br />

einzigen vertrauten Anblick bot in diesem Chaos aus Blut und Ver<strong>de</strong>rben. Ein Zischen ertönte, als er zurückwich,<br />

doch je<strong>de</strong>r Schritt, <strong>de</strong>n er nach hinten tat, wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Shat’lan aufgeholt. Langsam rückte die Gruppe näher, und<br />

auch ein zweiter Versuch, die Worte zu benutzen, wur<strong>de</strong> durch <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Avalare vereitelt, welche die<br />

einzige noch leben<strong>de</strong> Person war, die ihm die Stirn bieten konnte. Die vereinzelten Menschen, die <strong>de</strong>n Verteidigern in<br />

die Quere gerieten, wur<strong>de</strong>n erbarmungslos nie<strong>de</strong>rgeschlagen, und unaufhaltsam wie eine Flut rollten die Körper <strong>de</strong>m<br />

Verräter entgegen. Der hochgewachsene Mann stieß gegen die Trümmer <strong>de</strong>s Tempels, preßte sich mit <strong>de</strong>m Rücken an<br />

<strong>de</strong>n kalten Stein. Der erste Shat’lan sprang vor, lan<strong>de</strong>te in <strong>de</strong>r Klinge <strong>de</strong>s Schwarzen. Der zweite und <strong>de</strong>r dritte erlitt<br />

ein ähnliches Schicksal, doch <strong>de</strong>r vierte Angreifer durchbrach die Verteidigung und fügte ihm eine Wun<strong>de</strong> am Arm<br />

zu. Dann brach die ganze Gruppe über ihn herein, und mit grimmigem Gesicht wartete die Avalare, bis die Rache<br />

vollzogen war, <strong>de</strong>r Verräter seine Strafe bekommen hatte.<br />

Indigo hatte <strong>de</strong>m Schauspiel gebannt zugesehen, und es schien, als wür<strong>de</strong> ihn niemand hier wahrnehmen können, als<br />

wür<strong>de</strong> er nur ein bloßer Schatten sein in dieser Welt <strong>de</strong>s Mor<strong>de</strong>ns. Er trat zurück, als sich die Shat’lan verteilten,<br />

gegen die anbran<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Hor<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Menschen kämpften. Er hielt Ausschau nach <strong>de</strong>r Avalare, doch sie schien<br />

verschwun<strong>de</strong>n. Trotz <strong>de</strong>r heftigen Gegenwehr, die das dunkle Volk nun leistete, gewannen die Menschen schließlich<br />

doch die Überhand, töteten alle Shat’lan, die es nicht mehr geschafft hatten, in die Wäl<strong>de</strong>r zu entkommen o<strong>de</strong>r die,<br />

die nicht kampflos aufgeben wollten.<br />

Nach einer Zeit, die wie endlose Stun<strong>de</strong>n erschien, lag <strong>de</strong>r durchnäßte, überschwemmte Platz leblos zu Füßen <strong>de</strong>s<br />

Jurakai, <strong>de</strong>r gebannt auf die Überreste <strong>de</strong>r einstmals stolzen Stadt starrte. Hier hat es ein En<strong>de</strong> genommen, teilte eine<br />

innere Stimme ihm mit. Dies ist <strong>de</strong>r Ort, durch <strong>de</strong>ssen Fall <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rgang <strong>de</strong>r Shat’lan eingeleitet wur<strong>de</strong>.<br />

Er wandte <strong>de</strong>n Blick ab, und ein Wirbel erfaßte die Welt, riß alle Farbe fort, spülte <strong>de</strong>n Regen hinweg. Die Düsternis,<br />

die über <strong>de</strong>m Ort lag, wur<strong>de</strong> ebenso weggetragen wie die Leichen <strong>de</strong>r Menschen und Shat’lan, die in qualvoller<br />

Gemeinsamkeit <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n be<strong>de</strong>ckten. Alles drehte sich, fügte sich zu einem Ganzen zusammen, um dann im Schwarz<br />

<strong>de</strong>s Nichts zu verschwin<strong>de</strong>n. Zurück blieb nur Indigo, allein mit seinen Ängsten.<br />

Und...<br />

... noch etwas an<strong>de</strong>res...<br />

Es war hier bei ihm. Er spürte es...<br />

Weit weg - und doch seltsam nahe. Entitäten, Gedanken. Geister, wie er sie noch nie gespürt hatte, die Anwesenheit<br />

von... gargantuesken Wesen. Er lauschte <strong>de</strong>n Geschöpfen, die sich außerhalb seiner Sicht befan<strong>de</strong>n, fühlte ihre<br />

Präsenz. Sie waren groß, sehr, sehr groß. Noch nie hatte er etwas größeres, mächtigeres gefühlt.<br />

Es war <strong>de</strong>r El’cha<strong>de</strong>rar! Er wußte es plötzlich, als hätte die Erkenntnis in einer Nische seiner Gedanken gelauert, nur<br />

darauf gewartet, hervorzustoßen und ihn wie einen Schlag zu erschüttern. Er war hier, direkt bei ihm. Er konnte die<br />

Geister <strong>de</strong>r Wesen fühlen, die Geister aller Wesen, die sich in seiner Nähe - o<strong>de</strong>r waren sie weit entfernt? - aufhielten.<br />

Die Gedankengänge <strong>de</strong>r Geschöpfe waren kompliziert, waren an<strong>de</strong>rs, fremdartig. Doch er konnte ihre Gefühle<br />

erahnen... er konnte sie... rufen...<br />

Allein durch Assoziationen von Bil<strong>de</strong>rn und Taten, von Gerüchen und Düften verständigte er sich mit <strong>de</strong>n Wesen,<br />

fühlte, daß sie ihn bemerkt hatten. Es war eines unter ihnen, das beson<strong>de</strong>rs... stark zu sein schien. Indigo versuchte, in<br />

Kontakt zu treten mit <strong>de</strong>r Entität, wur<strong>de</strong> von einer Welle erfaßt und fortgetragen, schwamm auf <strong>de</strong>m Strom <strong>de</strong>s<br />

Wissens <strong>de</strong>r Kreatur. Worte formten sich in seinem Kopf... nein, es waren keine bloßen Worte.<br />

Bil<strong>de</strong>r. Bil<strong>de</strong>r und... Gefühle. Alt, ging es ihm durch <strong>de</strong>n Sinn. Uralt...<br />

148


Das Geschöpf prüfte ihn, unterzog ihn einer eingehen<strong>de</strong>n Betrachtung. Indigos Geist wur<strong>de</strong> geschüttelt, doch schon<br />

kurz darauf wur<strong>de</strong> er wie<strong>de</strong>r losgelassen, wur<strong>de</strong> freigegeben von <strong>de</strong>m Wesen. Aber wo befand es sich? Es war nicht<br />

mehr da, die Gedanken, die er empfangen hatte, waren fort... genauso fort wie die Wirbel, die nun wie<strong>de</strong>r auftauchten,<br />

sich drehten. Spielten sie mit ihm? Wo befand er sich? Er hatte... Glie<strong>de</strong>r. Ja. Glie<strong>de</strong>r. Und einen Körper. Er konnte<br />

seinen Körper spüren. Seine Zunge. Seinen Mund. Seine Beine bewegten sich wie<strong>de</strong>r. Er öffnete die Augen, und alles<br />

war klar und <strong>de</strong>utlich.<br />

Am Lagerfeuer sitzend starrte Dynes wie<strong>de</strong>r einmal in die zucken<strong>de</strong>n Flammen, während sein Geist Reisen durch<br />

Gefil<strong>de</strong> unternahm, in <strong>de</strong>nen es nur böse Vorahnungen und Depression gab. Das Prasseln hüllte seine Sinne ein,<br />

wirkte einschläfernd, und auch die leisen Stimmen <strong>de</strong>r Menschen, die um ihn herum waren, lullten ihn ein. Er hatte<br />

lang nicht mehr geschlafen, ebenso wie Paves. Der Junge jedoch lag unter einer Decke beim Feuer, schlief schon<br />

längst und träumte vielleicht sogar etwas Schönes.<br />

Es war <strong>de</strong>r erste Abend, <strong>de</strong>n die kleine Schar unter freiem Himmel verbrachte. Aber es herrschten keine<br />

Unstimmigkeiten zwischen <strong>de</strong>n Leuten. Sie alle hatten innerhalb <strong>de</strong>r Tage, die sie gemeinsam in <strong>de</strong>r Holzfällerhütte<br />

verbrachten, gelernt, miteinan<strong>de</strong>r auszukommen. Für die Streitigkeiten und Zwiste <strong>de</strong>s alltäglichen Lebens blieb keine<br />

Zeit, wenn man sich darauf konzentrieren mußte, zu überleben.<br />

Am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Feuers hatte <strong>de</strong>r Ritter Wachen verteilt, die sich abwechselnd darum kümmerten, die Flammen mit<br />

neuer Nahrung zu versorgen und außer<strong>de</strong>m die Umgebung im Auge behielten. Das Wäldchen lag bald hinter ihnen,<br />

und sie konnten es sich nicht erlauben, unachtsam zu sein.<br />

Ein leichter Druck auf seine Schulter verriet einen Neuankömmling, <strong>de</strong>r sich zu Dynes ans Feuer setzte. Es war Tom,<br />

<strong>de</strong>ssen blon<strong>de</strong>r Schopf im Schein <strong>de</strong>r Flammen gol<strong>de</strong>n wirkte. Die Hitze hatte sein Gesicht rot gefärbt, und sein<br />

offenes Lächeln brachte <strong>Arathas</strong> dazu, ebenfalls die Mundwinkel zu verziehen.<br />

„Hallo Aras“ grüßte <strong>de</strong>r breitschultrige Tom erfreut. Sein mächtiger Schatten warf lange Linien bis hinunter zu <strong>de</strong>n<br />

Bäumen am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Lichtung, tauchte sie in Finsternis. Dynes lachte stumm. Er hatte <strong>de</strong>n guten Tom schon oft mit<br />

einem Bullen verglichen, <strong>de</strong>nn genauso stämmig und stark wirkte <strong>de</strong>r Mann. Und jetzt, im Licht <strong>de</strong>s roten Feuers, nur<br />

umso mehr.<br />

„Hallo Tom“ entgegnete <strong>Arathas</strong> und lehnte sich nach vorn. „Willst du dich nicht auch hinlegen und noch ein wenig<br />

Schlaf ergattern, bis es morgen Früh weitergeht? Immerhin habe ich dich zu keiner Wachschicht eingeteilt.“<br />

„Nur, wenn du ebenfalls Schlafen gehst, Aras. Du bist mü<strong>de</strong>. Wenn du dich nicht ausruhst, dann kippst du<br />

irgendwann vom Pferd. Und das meine ich ernst“ fügte er hinzu.<br />

Dynes schüttelte angestrengt <strong>de</strong>n Kopf. „Ich kann nicht, Tom.“ Seine Stimme klang rauh und kehlig, als er sich<br />

räusperte. „Ich bin selbst in <strong>de</strong>r ersten Schicht. Vielleicht wer<strong>de</strong> ich hinterher noch ein Nickerchen halten. Außer<strong>de</strong>m<br />

habe ich gehört, daß es sich auf Pfer<strong>de</strong>rücken sehr gut schlafen lassen soll.“<br />

„Wenn du das tust, dann bist du dümmer, als ich es von dir erwartet hätte. Diese Menschen folgen keinem Schläfer,<br />

<strong>de</strong>r nicht mal in <strong>de</strong>r Lage ist, auf sich selbst Acht zu geben. Sie wollen einen Anführer. Vorher hatten sie Zara, und<br />

sie hat ihre Aufgabe gut gemacht. Jetzt folgen sie dir. Du solltest sie nicht im Stich lassen.“<br />

„Ich weiß“ sagte <strong>Arathas</strong>. „Sie haben Angst. Und <strong>de</strong>swegen muß ich auch die erste Schicht <strong>de</strong>r Nachtwache<br />

übernehmen. Und solange ich hier sitze, kann ich mich ja mit Rauchen wach halten.“<br />

Wie zur Bestätigung zückte <strong>de</strong>r Ritter seinen Tabaksbeutel und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Er bot Tom<br />

auch eine an, doch sein Freund lehnte ab. Er hatte noch nie geraucht, und sogar die widrigsten Umstän<strong>de</strong> hätten ihn<br />

nicht dazu bewegen können.<br />

„Es dauert nicht lange, bis wir Darburg erreichen.“ Eine Rauchwolke breitete sich vor Dynes’ Gesicht aus, zerfaserte<br />

und wur<strong>de</strong> schließlich von einer neuen ersetzt. „Ich spekuliere darauf, daß Djenhalm uns wenigstens ein paar seiner<br />

Männer zur Verfügung stellt, vielleicht mehr. Zu<strong>de</strong>m gibt es noch viele an<strong>de</strong>re Bewohner in <strong>de</strong>r Stadt, die ihr wohl<br />

am liebsten entfliehen wür<strong>de</strong>n. Aber wir müssen auch damit rechnen, ein paar von unseren Leuten zu verlieren. Es<br />

wird Familien geben, die sich in Darburg wie<strong>de</strong>r begegnen. Ich bezweifle, daß sie sofort aufbrechen wer<strong>de</strong>n, um sich<br />

sogleich wie<strong>de</strong>r zu verlieren. Alles in allem dürften wir unsere Anzahl <strong>de</strong>nnoch auf das Doppelte o<strong>de</strong>r Dreifache<br />

steigern können.“<br />

„Wenn alles gut läuft, ja.“ Tom legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. „Aber dazu brauchen wir dich. Du<br />

gibst ihnen <strong>de</strong>n nötigen Mut. Ohne dich wür<strong>de</strong> diese Gruppe zerbröckeln wie Sandstein, <strong>de</strong>n man zwischen <strong>de</strong>n<br />

Fingern reibt. Ruh dich aus, Aras. Ich übernehme die Wache für dich.“<br />

Dynes starrte in die Flammen.<br />

„Bist du sicher?“<br />

Tom zauberte eines <strong>de</strong>r Lachen hervor, bei <strong>de</strong>nen man sich dazu genötigt fühlte, zu tun, was er sagte, nur, um ihn<br />

nicht zu enttäuschen. „Wenn du nicht gleich Schlafen gehst, dann wer<strong>de</strong> ich dir einen Kinnhaken verpassen, <strong>de</strong>r dich<br />

ins Reich <strong>de</strong>r Träume schickt! Du weißt, daß ich stärker bin als du.“<br />

„Ich glaube, ich will es nicht darauf ankommen lassen. Danke, Tom“ flüsterte er.<br />

„Nicht <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong> wert. Und jetzt leg dich schon hin.“<br />

149


Der Ritter tat, wie ihm geheißen, atmete tief durch und warf einen letzten Blick auf <strong>de</strong>n dunklen Wald. Dort, in <strong>de</strong>r<br />

Düsternis <strong>de</strong>r Schatten, meinte er, eine Bewegung zu erkennen und wollte aufstehen, doch Tom drückte ihn wie<strong>de</strong>r zu<br />

Bo<strong>de</strong>n. Erst jetzt, wo seine Sinne schwan<strong>de</strong>n, bemerkte Dynes, wie geschafft er tatsächlich war, und zu mü<strong>de</strong>, um<br />

noch Einspruch zu erheben, sackte er in einen tiefen, erholsamen Schlaf.<br />

Tom, <strong>de</strong>r neben ihm saß und die Umgebung beobachtete, bemerkte das Zucken <strong>de</strong>r Zweige nicht.<br />

Die Wirkung <strong>de</strong>s Geysa war vorüber.<br />

Indigo rollte sich aus <strong>de</strong>m Versteck, kroch an die Oberfläche. Hatte er einen Drachen gerufen? Kam <strong>de</strong>r El’cha<strong>de</strong>rar?<br />

Er kam. Noch war er weit entfernt, ein kleiner Punkt, <strong>de</strong>r sich über <strong>de</strong>m Wald abzeichnete. Indigo rief sich etwas ins<br />

Gedächtnis. Warum war es so ungewöhnlich, daß er <strong>de</strong>n Drachen sehen konnte, <strong>de</strong>r nun auf ihn zuflog? Es hatte<br />

etwas mit Licht zu tun...<br />

Ja! Das war es! Beim Genuß <strong>de</strong>r Droge war es gera<strong>de</strong> erst Abend gewesen, doch Licht umspülte <strong>de</strong>n Jurakai! Es war<br />

hellichter Tag, und das be<strong>de</strong>utete...<br />

Er hatte die ganze Nacht und <strong>de</strong>n Morgen verschlafen! War das Geysa daran Schuld?<br />

Der El’cha<strong>de</strong>rar kam schnell näher, jetzt konnte Indigo auch seine Schwingen erkennen, wie sie sich gegen die Sonne<br />

abzeichneten. Die riesigen Flügel trugen <strong>de</strong>n wurmähnlichen Körper durch die Luft, und in schlängeln<strong>de</strong>m Tanz glitt<br />

<strong>de</strong>r Leib <strong>de</strong>s Drachen dahin, anmutig und wun<strong>de</strong>rschön.<br />

Und tödlich. Er durfte niemals vergessen, daß er auch <strong>de</strong>n Tod bringen konnte!<br />

Mit einem schnellen Griff lockerte <strong>de</strong>r Jurakai <strong>de</strong>n Metallstab, <strong>de</strong>r an seinem Wams angebracht war, zog eine lange<br />

Stange hervor. Das Gerät hatte Wi<strong>de</strong>rhaken an <strong>de</strong>n En<strong>de</strong>n, lange, spitze Stacheln. Er hielt das Werkzeug vor sich,<br />

betrachtete es, und Keldars Worte drängten sich ihm auf.<br />

Der El’cha<strong>de</strong>rar wird sich nicht die Mühe machen, seinen Flug zu bremsen. Er wird zu dir kommen, weil du ihn<br />

gelockt hast mit <strong>de</strong>m Geysa. Seine Aufmerksamkeit gilt nicht dir, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>m Sekret. Duck dich, sobald er nahe ist.<br />

Und dann verlaß dich auf <strong>de</strong>ine Instinkte.<br />

Indigo nickte. Er hielt die Metallstange mit festem Griff umschlossen, bereit, sich nach oben zu stoßen. Das Geschöpf<br />

war näher gekommen, nur noch wenige Meilen entfernt. Es war... gigantisch. Er hatte gedacht, daß die Drachen, die<br />

in Irnstwell aus <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> brachen, groß gewesen waren. Doch allein <strong>de</strong>r Kopf dieses Wesens mußte... größer sein als<br />

alles, was <strong>de</strong>r junge Mann bisher gesehen hatte. Größer als ein Baum, so schien es ihm.<br />

Der Druck <strong>de</strong>r Schwingen wür<strong>de</strong> ihn einfach fortwehen. Er wür<strong>de</strong> nicht einmal die Möglichkeit bekommen, sich zu<br />

beweisen! Warum hatte Keldar ihm dies verschwiegen? Wieso sprach er nicht über <strong>de</strong>n Wind?<br />

Indigo schüttelte <strong>de</strong>n Kopf, und etwas an<strong>de</strong>res fiel ihm auf. Es besaß nicht, wie er es sich vorgestellt hatte, zwei<br />

Flügel, son<strong>de</strong>rn vier! Vier Schwingen, die das Wesen durch die Luft trugen, die Baumwipfel zur Seite preßten durch<br />

<strong>de</strong>n Druck. Immer näher kam das Tier, und bald konnte <strong>de</strong>r Jurakai mit bloßem Auge die Einzelheiten <strong>de</strong>s<br />

El’cha<strong>de</strong>rar erkennen, konnte die Schuppen sehen, die Hautsegmente. Ein dickes Fell zog sich an manchen Stellen<br />

über <strong>de</strong>n Körper, an<strong>de</strong>re wie<strong>de</strong>rum waren gänzlich nackt. Der Drachen war hellbraun, ähnelte Indigos eigener<br />

Hautfarbe. Und jetzt war er ganz nahe, nur noch wenige Fuß entfernt. Im Tiefflug senkte sich das Tier über die<br />

Lichtung, flog nur wenige Fuß über <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n. Es sah hinreißend elegant aus, bewegte sich anmutig trotz seiner<br />

enormen Größe.<br />

Indigo wickelte eine Schlaufe um seine Hand, die <strong>de</strong>n Metallstab mit ihm verband, straffte die Le<strong>de</strong>rhandschuhe und<br />

duckte sich. Dann war das Geschöpf über ihm, und die bloße Anwesenheit <strong>de</strong>s Tieres brachte ihn ins Schwanken. Aus<br />

einem Instinkt heraus tat er, was Keldar ihm geheißen hatte, schleu<strong>de</strong>rte die wi<strong>de</strong>rhakenbesetzte Spitze an genau <strong>de</strong>r<br />

richtigen Stelle nach oben. Der Schwung <strong>de</strong>s Drachen ließ sich die Spitzen in <strong>de</strong>ssen Haut verhaken, und <strong>de</strong>r Jurakai<br />

wur<strong>de</strong> mitgezogen. Zuerst schleifte er ein paar Sekun<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, seine Füße prallten gegen herumliegen<strong>de</strong><br />

Steine. Dann begriff <strong>de</strong>r Drache, daß sein Anflug umsonst gewesen war, erhob sich wie<strong>de</strong>r in die Lüfte. Den Moment<br />

nutzte <strong>de</strong>r junge Mann, <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>s riesigen Geschöpfes baumelte, um weiteres Werkzeug aus <strong>de</strong>n Taschen zu<br />

ziehen.<br />

Zuerst sicherte er sich ab, befestigte <strong>de</strong>n Metallstab so, daß er nicht aus <strong>de</strong>r Haut <strong>de</strong>s Tieres rutschen konnte. Der<br />

El’cha<strong>de</strong>rar wür<strong>de</strong> es gar nicht merken, daß diese winzige Na<strong>de</strong>l in ihm steckte, hatte Keldar gesagt. Indigo hoffte<br />

zutiefst, daß es stimmte, <strong>de</strong>nn er wollte nicht dabei sein, wenn dieses Tier sich vor Schmerzen schüttelte. Wind wehte<br />

ihm durch das Haar, zerzauste es, trieb ihm aber glücklicherweise keine Strähnen in die Augen. Lange wür<strong>de</strong> er hier<br />

nicht ausharren können, er mußte es irgendwie schaffen, auf <strong>de</strong>n Rücken <strong>de</strong>s Drachen zu gelangen. Ruhig, ermahnte<br />

er sich, nur keine Hektik. Das Fell <strong>de</strong>s Tieres bot genügend Möglichkeiten, sich mit festem Griff daran hochzuziehen.<br />

Er packte einige Haarbüschel, hob sich daran nach oben. Jetzt lag er genau an <strong>de</strong>r Seite, spürte die Bewegungen <strong>de</strong>r<br />

Muskeln, die unter <strong>de</strong>r Haut arbeiteten. Zwei weitere Griffe, und wie<strong>de</strong>r befand er sich ein wenig höher. Neben ihm<br />

arbeiteten die mächtigen Schwingen, wur<strong>de</strong>n ununterbrochen nach oben, dann wie<strong>de</strong>r nach unten gepreßt. Erschöpft<br />

wartete <strong>de</strong>r Jurakai, bereitete sich vor, das letzte Stück zu erklimmen.<br />

Ein Aufwind erfaßte das Geschöpf, und für kurze Zeit stellte <strong>de</strong>r Drachen seinen Flug ein, ließ sich treiben, segelte<br />

über <strong>de</strong>n Wald. Indigo wagte es nicht, auch nur einen Blick nach unten zu werfen, klammerte sich lieber fest an <strong>de</strong>n<br />

150


Haaren. Der Moment kam wie gerufen, und solange das Wesen nichts an<strong>de</strong>res tat, als gleichmäßig über <strong>de</strong>m Land zu<br />

schweben, zog er sich rasch am Körper hinauf.<br />

Nun war die Zeit gekommen, sich um das Geysa zu kümmern. Doch zuvor wollte er sich noch an <strong>de</strong>m Ausblick laben,<br />

<strong>de</strong>r sich ihm darbot. Hier oben, auf <strong>de</strong>m langen Rücken <strong>de</strong>s El’cha<strong>de</strong>rar, sah die Welt klein aus, war <strong>de</strong>r Wald nur ein<br />

großer grüner Fleck. Indigo sicherte sich ab, achtete darauf, keinen Fehler zu machen bei <strong>de</strong>r Verknotung <strong>de</strong>r kleinen<br />

Seilchen, die er um die Haarbüschel band, dann richtete er sich zufrie<strong>de</strong>n auf. Weit, weit vor ihm wogte <strong>de</strong>r Kopf <strong>de</strong>s<br />

riesigen Tieres auf und ab, und einige Fuß neben ihm waren die ausgestreckten Schwingen. Der Wind blies ihm ins<br />

Gesicht, und er mußte sich nach vorn lehnen, um nicht umgeworfen zu wer<strong>de</strong>n. Hier stand er, auf <strong>de</strong>m Rücken <strong>de</strong>s<br />

Drachen, hatte ein Wesen bezähmt, von <strong>de</strong>m selbst Nachtfalke nicht viel gewußt hatte! Ja, er wünschte, daß Falke ihn<br />

jetzt sehen könnte, dabei sein wür<strong>de</strong>, wie <strong>de</strong>r Jurakai auf <strong>de</strong>m El’cha<strong>de</strong>rar ritt, das Ritual <strong>de</strong>r Shat’lan bestand. In<br />

seinem Kopf konnte er <strong>de</strong>n Drachen spüren, die Gedanken <strong>de</strong>s Tieres erahnen.<br />

Das mußte die Wirkung <strong>de</strong>s Geysa sein. Es war nicht so stark wie vorhin, als er <strong>de</strong>n Drachen gerufen hatte, aber<br />

trotz<strong>de</strong>m fühlte er, was <strong>de</strong>r El’cha<strong>de</strong>rar fühlte, dachte, was <strong>de</strong>r El’cha<strong>de</strong>rar dachte!<br />

Es war ein Mischmasch aus vielen tausend kleinen Einzelheiten, die sich zu einem Großen zusammenfügten. Die<br />

Gedanken an das Sekret... die Höhe... Indigo wußte, was in <strong>de</strong>m Tier vorging, konnte sich ein Bild davon machen,<br />

was es wollte. Es war ruhig, hatte keine Angst, und zärtlich fuhr <strong>de</strong>r junge Mann über das Fell. Er ahnte, daß die<br />

Berührung so gleichgültig war wie <strong>de</strong>r Haken, <strong>de</strong>r sich in die Haut <strong>de</strong>s Drachen gebohrt hatte, doch mit seinen<br />

Gedanken flößte er <strong>de</strong>m Drachen Wellen <strong>de</strong>r Zuneigung ein.<br />

Dann sah er sich um, versuchte zu fin<strong>de</strong>n, was das Anliegen seiner Anwesenheit hier war. Er legte sich flach auf <strong>de</strong>n<br />

Bauch, so daß <strong>de</strong>r Wind über ihn hinwegpfiff und ein Geräusch verursachte, als bliese man über die Öffnung einer<br />

Flasche. Die Schnüre lockernd kroch er nach hinten, auf einen Flügel <strong>de</strong>s Wesens zu. Die Haut war hier weniger<br />

behaart, wies eine dicke Panzerung auf. Mit Interesse betrachtete er die Schwinge, tastete an <strong>de</strong>m Muskel. Such nach<br />

<strong>de</strong>r A<strong>de</strong>r, erklangen Keldars Worte wie aus einem Traum. Er lehnte sich gefährlich weit nach vorn, wollte unter <strong>de</strong>n<br />

Flügel sehen, doch das Unterfangen erwies sich als unmöglich. Dann endlich bemerkte er es: Eine schwarze, dicke<br />

A<strong>de</strong>r zog sich quer durch das Fleisch, war nur leicht schimmernd zu erkennen unter <strong>de</strong>r bräunlichen Haut. Das mußte<br />

es sein, sagte sich <strong>de</strong>r Junge und för<strong>de</strong>rte einen spitzen Dolch zutage. Er fuhr mit <strong>de</strong>n Fingern über die Haut, spürte<br />

das Pulsieren <strong>de</strong>s Blutes, das Zucken <strong>de</strong>r Muskeln.<br />

Also dann, dachte er sich und setzte <strong>de</strong>n Dolch an. Ich hoffe, ich tue dir nicht weh.<br />

Mit leichtem Druck ließ er die dünne Schnei<strong>de</strong> in die Haut fahren, preßte sie soweit hinunter, bis sie die schwarze<br />

Bahn <strong>de</strong>r A<strong>de</strong>r erreicht hatte. Er richtete seine Gedanken auf <strong>de</strong>n El’cha<strong>de</strong>rar, spürte <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>s Tieres.<br />

Unverän<strong>de</strong>rt. Es hatte nichts von diesem winzigen Einstich bemerkt. Erleichtert zog <strong>de</strong>r Jurakai ein zweites<br />

Werkzeug, setzte es am Griff <strong>de</strong>s Dolches an. Er verstand zwar die Technik nicht völlig, die diesen Geräten zu Grun<strong>de</strong><br />

lag, doch hier und jetzt reichte ihm das Ergebnis vollkommen. Mit einem Ruck drückte er die an<strong>de</strong>re Klinge auch<br />

hinein, und kurz darauf quoll eine schwarze Flüssigkeit zwischen <strong>de</strong>n Schnei<strong>de</strong>n hervor. Schnell zückte Indigo eine<br />

Ampulle, füllte sie mit <strong>de</strong>m Sekret. Es roch streng, selbst hier, wo <strong>de</strong>r Wind <strong>de</strong>n Geruch sofort verwehte. Als die<br />

Ampulle gefüllt war, entfernte er die bei<strong>de</strong>n Klingen aus <strong>de</strong>r Haut <strong>de</strong>s Tieres und verstaute sie säuberlich in seinem<br />

Wams. Die gläserne Ampulle bettete er in ein kleines Kästchen, ließ es anschließend in einen Metallbehälter gleiten.<br />

Jetzt stellte sich eine Frage ganz an<strong>de</strong>rer Art: Wie sollte er vom Rücken <strong>de</strong>s El’cha<strong>de</strong>rar gelangen, und vor allem, wo<br />

war er hier? Die Shat’lan wür<strong>de</strong>n ihn fin<strong>de</strong>n im Wald, <strong>de</strong>ssen war er sich sicher. Wenn nicht Keldar und seine Leute,<br />

dann an<strong>de</strong>re, doch das war nicht die größte Sorge. Hatte Keldar etwas gesagt darüber, wie er <strong>de</strong>n Drachen wie<strong>de</strong>r<br />

verlassen konnte? Er erinnerte sich nicht daran, schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. Vielleicht war dies ebenfalls Bestandteil <strong>de</strong>r<br />

Prüfung, <strong>de</strong>s Ritus, <strong>de</strong>n er nun vollzog.<br />

Nun gut, er wür<strong>de</strong> es herausfin<strong>de</strong>n. Und letzten En<strong>de</strong>s konnte das Tier nicht ewig fliegen, o<strong>de</strong>r?<br />

Langsam kroch er nach vorn, zog sich Haarbüschel für Haarbüschel weiter. Er ließ die bei<strong>de</strong>n Schwingenpaare hinter<br />

sich, kletterte am breiten Leib empor, auf <strong>de</strong>n Kopf zu. Mußte er <strong>de</strong>m Drachen mitteilen, was er wollte? Wür<strong>de</strong> das<br />

Wesen ihn verstehen, ihm gehorchen? Es war einen Versuch wert.<br />

Konzentriert drang er in das Bewußtsein <strong>de</strong>s Drachen ein, die Droge machte es möglich. Er spürte, daß <strong>de</strong>r<br />

El’cha<strong>de</strong>rar enttäuscht war, betrübt. Alles schien darauf hinzu<strong>de</strong>uten, daß er wie<strong>de</strong>r nach Hause flog, wo immer dieses<br />

zu Hause sein mochte.<br />

Am Horizont erkannte Indigo die Berge, die unaufhaltsam näherkamen. Er mußte das Tier dazu bringen,<br />

umzudrehen. Wie sollte er das anstellen? Ihm kam eine I<strong>de</strong>e, verrückt zwar, aber im Bereich <strong>de</strong>s Möglichen. Er<br />

befestigte ein paar Seile an <strong>de</strong>n Haaren, zerrte sie so fest, wie er nur konnte. Dann band er sich selbst daran fest,<br />

knotete <strong>de</strong>n Strick um seine Brust und seine Beine. Die Schnüre mußten sitzen, <strong>de</strong>nn sonst wür<strong>de</strong> er wohl als<br />

ausge<strong>de</strong>hnter Fleck auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n en<strong>de</strong>n, wenn er sein Unterfangen wagte. Als er sich einigermaßen sicher fühlte,<br />

zog er das kleine Kästchen hervor, nahm die Ampulle heraus. Er ließ ein kleines Tröpfchen auf seinen Finger fallen,<br />

zuckte mit <strong>de</strong>r Hand zurück. Es brannte, war heiß und zugleich eiskalt. Das Geysa sah... an<strong>de</strong>rs aus als das, was er auf<br />

<strong>de</strong>r Lichtung zu sich genommen hatte.<br />

Vielleicht ist dieses Gift konzentrierter, und die Shat’lan verän<strong>de</strong>rn es, bevor sie es zu sich nehmen. Nun, mir bleibt<br />

keine Wahl. Ich muß es trotz<strong>de</strong>m versuchen.<br />

151


Er nahm <strong>de</strong>n Tropfen in <strong>de</strong>n Mund, leckte an seinem Finger. Sofort begann das Sekret zu wirken, füllte seinen Kopf<br />

mit brennen<strong>de</strong>n Gedanken. Doch dieses Mal ermahnte er sich, wach zu bleiben, nicht einzuschlafen. Er spürte, wie<br />

sein Bewußtsein sich erweiterte, wie er alles um sich herum klarer, schärfer wahrnahm. Doch nicht die Wirklichkeit<br />

schien an Kontrast zu gewinnen, son<strong>de</strong>rn seine Gefühle, sein Denken. Er konnte hören, wie <strong>de</strong>r El’cha<strong>de</strong>rar atmete,<br />

wie er in seinem unbestimmten Kummer flog. Vorsichtig gab er <strong>de</strong>m Tier einen psychischen Anstoß, beobachtete, wie<br />

das Geschöpf sich leiten ließ. Etwas verband <strong>de</strong>n Jurakai mit <strong>de</strong>m Drachen, etwas Tieferes, das er nicht verstand.<br />

Doch das Tier schien ihm Aufmerksamkeit zu zollen, empfing seine Gedanken. Er konnte nicht mit <strong>de</strong>m Wesen<br />

re<strong>de</strong>n, nicht auf die herkömmliche Weise. Doch mit Hilfe seiner Gefühle konnte er <strong>de</strong>m El’cha<strong>de</strong>rar klarmachen, was<br />

er wollte. In Indigos Geist erschien das psychische Äquivalent einer For<strong>de</strong>rung, einer Frage nach Belohnung. Er<br />

versuchte, <strong>de</strong>m Tier zu zeigen, wie wichtig es für ihn war, wie<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n Platz zu kommen, an <strong>de</strong>m sie aufeinan<strong>de</strong>r<br />

getroffen waren. Ein Zucken durchlief seinen Körper, als <strong>de</strong>r Drache antwortete. Er hatte ihn verstan<strong>de</strong>n. Und er<br />

erfüllte seine Bitte.<br />

Dankbar preßte Indigo sich auf <strong>de</strong>n Rücken, während das riesige Tier eine Schleife flog, sich in die entgegengesetzte<br />

Richtung wandte. Wieso hilft er mir? Was ist geschehen, das ihn zu dieser Tat veranlaßt?<br />

Sie schwebten durch die Luft, und Indigo starrte gebannt auf <strong>de</strong>n Wald, <strong>de</strong>r unter ihnen dahinraste. Bald hatten sie<br />

eine beträchtliche Strecke zurückgelegt, und die Lichtung kam in Sicht. Der Drachen flog über sie hinweg, obwohl <strong>de</strong>r<br />

Junge ihm mitzuteilen versuchte, daß sie <strong>de</strong>n gewünschten Ort erreicht hatten. Der Drache antwortete ihm nicht<br />

sofort, doch nach einiger Zeit spürte er, wie sich das Wesen an ihn wandte. Es beruhigte ihn mit seinen Gedanken,<br />

dann verringerte es seine Höhe, wur<strong>de</strong> langsamer. Die mächtigen Schwingen ließen das Laub <strong>de</strong>r Bäume unter ihnen<br />

erzittern, und langsam senkte <strong>de</strong>r Leib <strong>de</strong>s El’cha<strong>de</strong>rar sich nie<strong>de</strong>r. Ein Stückchen über <strong>de</strong>n Wipfeln flogen sie nun,<br />

bis eine an<strong>de</strong>re Lichtung auftauchte. Das Geschöpf verlangsamte noch stärker, sank schließlich elegant auf das Gras.<br />

Ein Zischen erklang, und Indigo beeilte sich, die Seile von seinem Bauch zu entfernen, befreite sich von seinen<br />

Fesseln. Dann rutschte er am Körper <strong>de</strong>s Tieres hinab, fiel unsanft auf <strong>de</strong>n weichen Bo<strong>de</strong>n. Der Drachen setzte ein<br />

paar Schritte zur Seite, bewegte sich ebenso anmutig und leichtfüßig auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, wie er es auch in <strong>de</strong>r Luft tat.<br />

Mit monströsen Augen musterte er <strong>de</strong>n Jurakai, und sein Kopf senkte sich. Indigo starrte zurück, verneigte sich dann,<br />

weil ihm die Geste angemessen erschien.<br />

Weiße Wolken kon<strong>de</strong>nsieren<strong>de</strong>n Atems bil<strong>de</strong>ten sich vor <strong>de</strong>n Nüstern <strong>de</strong>s Geschöpfes, die allein schon so groß wie ein<br />

ausgewachsener Mann waren. Sie umhüllten Indigo, und für eine Sekun<strong>de</strong> prickelte die Luft um ihn, und er nahm<br />

einen schalen, warmen Geruch wahr. Der Nebel lichtete sich, und halb hatte Indigo erwartet, eine leere Lichtung vor<br />

sich zu sehen, dachte, daß das Wesen sich davon gemacht hätte, als <strong>de</strong>r Atem ihn umfing. Doch die großen Augen<br />

musterten ihn unverwandt, <strong>de</strong>r El’cha<strong>de</strong>rar legte <strong>de</strong>n Kopf schief, als wür<strong>de</strong> er über etwas nach<strong>de</strong>nken. Dann fauchte<br />

er, und <strong>de</strong>r Jurakai trat zurück. Der Laut war nicht bedrohlich gewesen, nur eine Warnung, eine Feststellung. Mit ein<br />

paar mächtigen Flügelschlägen, die <strong>de</strong>n Jungen auf das Gras warfen, erhob sich <strong>de</strong>r Drache, warf einen riesigen<br />

Schatten, wie eine sekun<strong>de</strong>nlange Sonnenfinsternis. Dann verschwand er über <strong>de</strong>n Bäumen, und Indigo blickte ihm<br />

nach.<br />

Als das Wesen sich so weit entfernt hatte, daß es nicht mehr zu sehen war, wandte <strong>de</strong>r Jurakai sich ab, blieb ratlos auf<br />

<strong>de</strong>r Lichtung stehen. Er befand sich mitten im Schattenwald, tief im Sü<strong>de</strong>n, weitab von <strong>de</strong>n ihm bekannten Orten.<br />

Unbeholfen drehte er sich um die eigene Achse, versuchte, sich am Stand <strong>de</strong>r Sonne zu orientieren.<br />

Noch bevor er sich zu einer Entscheidung durchringen konnte, traten zu seiner Überraschung mehrere verhüllte<br />

Gestalten auf die Wiese, kamen direkt aus <strong>de</strong>m dunklen Wald. Eine von ihnen war Keldar, <strong>de</strong>nn Indigo erkannte ihn<br />

an seiner Statur und <strong>de</strong>m ihm anhaften<strong>de</strong>n, unverkennbaren Schritt. Von überall her erschienen nun die Shat’lan,<br />

umkreisten <strong>de</strong>n Jurakai.<br />

Keldar stellte sich vor <strong>de</strong>n Jungen, faßte ihn an <strong>de</strong>r Schulter. Er nickte bestätigend, und Indigo wußte, daß er die<br />

Prüfung erfolgreich bestan<strong>de</strong>n hatte.<br />

„Es war uns allen eine große Ehre, diesem Ereignis beizuwohnen“ sagte <strong>de</strong>r Alte feierlich. „Du hast einen <strong>de</strong>r Großen<br />

gerufen, Indigo. Nicht viele bringen das fertig. Du hast viel Ansehen gewonnen bei meinem Volk. Falls du dich fragst,<br />

warum <strong>de</strong>r El’cha<strong>de</strong>rar dich hierher brachte, dann will ich es dir erklären. Ich selbst bat ihn, dich hier abzusetzen.“<br />

„Ich danke dir, Keldar. Es ist auch mir eine große Ehre. Es war ein unvergeßliches Erlebnis. Hier habe ich das Geysa“<br />

fügte er hinzu und überreichte <strong>de</strong>m stämmigen Shat’lan das Gefäß mit <strong>de</strong>r schwärzlichen Flüssigkeit.<br />

„Du darfst diesen Tag niemals vergessen“ sagte <strong>de</strong>r Bärtige und nahm die Phiole entgegen. „Durch dieses Ritual bist<br />

du in Kreise aufgenommen wor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ren Pflichten und Rechte du noch erlernen mußt. Doch eines ist dir nun sicher,<br />

und ich möchte, daß es alle Anwesen<strong>de</strong>n erfahren: Du bist nun ein Shat’lan, Indigo. Ich bitte dich, <strong>de</strong>inen Jurakai-<br />

Namen abzulegen. Du darfst <strong>de</strong>inen Shat’lan Namen wählen, mein Freund.“<br />

„Ich verstehen nicht ganz“ erwi<strong>de</strong>rte Indigo. „Aus welchem Grund soll ich meine Herkunft verleugnen?“<br />

Keldar schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Niemand verlangt etwas <strong>de</strong>rartiges von dir. Bei meinem Volk ist es Brauch, daß <strong>de</strong>r<br />

Name, <strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Geburt vergeben wird, nicht ewig <strong>de</strong>in bleiben soll. Der Shat’lan soll selbst entschei<strong>de</strong>n, wie er<br />

heißt, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Geburtsname ist nicht sein eigener, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n seine Eltern für ihn aussuchten. Mit bestehen <strong>de</strong>r<br />

Prüfung erwirbt ein Shat’lan sich das Recht, <strong>de</strong>n eigenen Namen auszusuchen. Du hast nun ebenfalls dieses Recht.“<br />

Der Jurakai überlegte kurz, dann blickte er Keldar in die Augen.<br />

152


„Wie nennt ihr das Sternbild <strong>de</strong>s Falken, das am Nachthimmel zu erkennen ist?“<br />

„Es heißt An’chassar.“<br />

„Dann möchte ich, daß dies von nun an mein Shat’lan-Name ist, Keldar.“<br />

„Er ist es, und er war es schon immer. Je<strong>de</strong>r wird dich von nun an unter diesem Namen kennen, An’chassar.“<br />

„Danke“ sagte Indigo und trat unsicher zurück.<br />

„Du suchst Saya, nicht wahr? Ich sehe es an <strong>de</strong>inem unruhigem Blick.“<br />

„Ist sie in <strong>de</strong>r Nähe, Keldar?“<br />

„Sie wartet in <strong>de</strong>r Stadt auf dich. Laß uns gehen.“<br />

Die Morgendämmerung war finster, kalt und unwirklich.<br />

Die Sonne schien sich nicht zu wagen, hinter <strong>de</strong>n dicken Wolkenvorhängen hervorzukriechen, und so zog Dynes’<br />

kleine Schar stumm durch <strong>de</strong>n düsteren Wald. Die betrübte Stimmung, die <strong>de</strong>n meisten <strong>de</strong>r Leute anhaftete, setzte<br />

sich übergangslos fort, und nur Tom und seine Frau Jen schafften es hin und wie<strong>de</strong>r, etwas Fröhlichkeit zu verbreiten.<br />

So ritten <strong>Arathas</strong> und Paves auf ihren Pfer<strong>de</strong>n voran, langsam und geduldig und je<strong>de</strong>r für sich in tiefen Gedanken<br />

versunken, doch oft lief Dynes Freund neben ihnen und unterhielt die bei<strong>de</strong>n mit lustigen Erzählungen o<strong>de</strong>r Witzen.<br />

Die Reise ging, wie <strong>de</strong>r Ritter zugeben mußte, schneller voran, als er gedacht hatte. Trotz <strong>de</strong>s Mangels an Pfer<strong>de</strong>n<br />

marschierten die Menschen durch das Gehölz, niemand murrte, niemand sagte einen Ton. Fast war das dauern<strong>de</strong><br />

Schweigen furchteinflößend, <strong>de</strong>nn man konnte meinen, daß diese Gruppe nie einen Laut von sich gegeben hätte, und<br />

es niemals tun wür<strong>de</strong>. Selbst das Gezwitscher <strong>de</strong>r Vögel erschall in <strong>de</strong>n Ohren <strong>de</strong>s Ritters wie Lärm, und er fragte<br />

sich, ob diese Leute sich nur zusammenrissen o<strong>de</strong>r ihm vielleicht einfach nur stur folgten, sich gar nicht bewußt<br />

waren, was sie taten. Dann jedoch erinnerte er sich an <strong>de</strong>n vorigen Abend, als die Männer und Frauen Wache<br />

gestan<strong>de</strong>n waren, sich <strong>de</strong>n Schlaf verkniffen hatten, um die Umgebung zu beobachten und die Gruppe vor möglichen<br />

Fein<strong>de</strong>n zu warnen. Wenn es darauf ankam, dann waren diese Seelen sehr wohl in <strong>de</strong>r Lage, ihre Stimme zu<br />

erheben...<br />

Am frühen Mittag wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Wald dann endlich rückläufig, die Bäume vereinzelter und weniger dicht, und<br />

manchmal brach sogar ein wenig Sonne hervor, nur, um sogleich wie<strong>de</strong>r hinter Wolkenbänken zu verschwin<strong>de</strong>n wie<br />

ein strahlen<strong>de</strong>s Grinsen, das sofort wie<strong>de</strong>r verblaßt und Trübheit Platz macht. Und so bemerkten die reisen<strong>de</strong>n<br />

Menschen erst spät das Häuslein, das sich am Waldrand befand und verborgen zwischen <strong>de</strong>n Baumstämmen lag.<br />

Paves erblickte es als erster, zeigte mit <strong>de</strong>m Finger auf das Haus.<br />

Dynes befahl <strong>de</strong>n Menschen, auf <strong>de</strong>m Weg zu bleiben, und zusammen mit <strong>de</strong>m Knaben und Tom ging er auf die Hütte<br />

zu, betrachtete sie aus <strong>de</strong>r Nähe.<br />

„Der alte Weglind wohnt hier“ teilte Tom bereitwillig mit und dachte nach. „Dormid Weglind, wenn mich nicht alles<br />

täuscht.“<br />

Dynes nickte. „Richtig. Hab ihm und seiner Familie manchmal unter die Arme gegriffen, als sie das Haus neu gebaut<br />

haben. Wollte es unbedingt in <strong>de</strong>n Wald setzen, <strong>de</strong>r verrückte Kerl.“<br />

„Und ich weiß noch, wie die Leute zu re<strong>de</strong>n begannen, daß er genauso en<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong> wie <strong>de</strong>r Holzfäller.“<br />

„Wie en<strong>de</strong>te <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Holzfäller?“ erkundigte <strong>de</strong>r Ritter sich beiläufig, als wäre ihm die Geschichte nicht bekannt. Er<br />

sah zu Tom auf, <strong>de</strong>ssen Schultern sich ungefähr auf <strong>Arathas</strong> Kopfhöhe befan<strong>de</strong>n. Der Riese verfing sich mit seinem<br />

blon<strong>de</strong>n Schopf nicht selten in <strong>de</strong>n Zweigen, doch er fluchte nicht und bewahrte auch sonst jegliche Form <strong>de</strong>s<br />

Anstands.<br />

„Na, das weißt du doch“ meinte er lediglich.<br />

„Ich dachte, er wäre verschwun<strong>de</strong>n.“<br />

Tom zögerte, antwortete dann jedoch nicht mehr. Er kannte die Stimmung, in <strong>de</strong>r sein Freund sich befand, nur zu gut.<br />

Oft schon hatte er <strong>Arathas</strong> erlebt, wie er sich – in eben dieser Stimmung – in die schlimmsten Situationen<br />

hineinre<strong>de</strong>te. Der Ritter hatte manchmal einfach keine Ahnung, wann es galt, <strong>de</strong>n Mund zu halten, vor allem, wenn er<br />

sich in Gegenwart von Personen befand, die rangmäßig und in <strong>de</strong>r Gunst <strong>de</strong>s Königs weit über ihm stan<strong>de</strong>n. Aber<br />

Tom argwöhnte, daß Dynes sehr wohl wußte, was und zu wem er diese Dinge sagte. Wenn <strong>de</strong>r Ritter schlecht gelaunt<br />

war, dann legte er je<strong>de</strong>s einzelne Wort auf die Goldwaage, verdrehte es <strong>de</strong>m Sprecher im Mun<strong>de</strong> und war überdies so<br />

knurrig wie ein alter Hund, <strong>de</strong>m sein Knochen gestohlen wur<strong>de</strong>.<br />

Es war das Beste, <strong>Arathas</strong> einfach in Ruhe zu lassen und zu hoffen, daß er seine Launen an an<strong>de</strong>ren Personen ausließ.<br />

Im Moment war <strong>de</strong>r Ritter damit beschäftigt, seine Faust wuchtig gegen die Tür zu schlagen und auf eine Regung aus<br />

<strong>de</strong>m Inneren zu hoffen. Denn im Gegensatz zu all <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren verwüsteten Häusern war dieses hier noch ganz, wies,<br />

abgesehen von <strong>de</strong>n normalen witterungsbedingten Schä<strong>de</strong>n, keinerlei Kratzer auf.<br />

Und tatsächlich erschien nach einiger Zeit ein Kopf aus einem <strong>de</strong>r Fenster <strong>de</strong>s zweiten Stockes, und ein hageres<br />

Gesicht lugte hinter einer Armbrust hervor. Die Waffe war nicht gela<strong>de</strong>n, doch <strong>de</strong>r Mann schien dieses Detail gar<br />

nicht zu bemerken.<br />

„Sir... Sir <strong>Arathas</strong>?“ klang die le<strong>de</strong>rne Stimme <strong>de</strong>s Mannes von oben herunter, und Dynes verzog seine Lippen.<br />

„Mach, daß du runterkommst, Dormid“ rief er hinauf und wartete, bis <strong>de</strong>r Mann sich herabgemüht hatte. Allerlei<br />

Geräusche, die vom Schieben von Möbeln zu stammen schienen, wiesen darauf hin, daß die Tür gut gesichert gewesen<br />

153


war. Quietschend öffnete sie sich einen Spaltbreit, wur<strong>de</strong> jedoch sofort von <strong>de</strong>r kräftigen Hand <strong>de</strong>s Ritters nach Innen<br />

gedrückt. Im Zwielicht <strong>de</strong>s Raumes stand <strong>de</strong>n dreien ein Mann gegenüber, <strong>de</strong>r so abgemagert und ausgehungert<br />

aussah, daß Dynes sich fragte, wie um alles in <strong>de</strong>r Welt er es bloß geschafft hatte, die Möbel zu verrücken.<br />

„Verdammt, Dormid!“ brachte er hervor. „Was ist geschehen?“<br />

Große Augen fixierten <strong>de</strong>n Ritter, musterten ihn eingehend und lange. Es schimmerte nur schwaches Verständnis in<br />

ihnen, während <strong>de</strong>r Mund <strong>de</strong>s Mannes ein O formte. Man konnte direkt spüren, wie das Gehirn Dormids die Frage<br />

verdaute und zu interpretieren versuchte.<br />

„Wir haben... wir haben gewartet“ brachte er schließlich hervor. Speichel rann ihm vom Kinn und tropfte auf seine<br />

Kleidung. Dynes fiel erst jetzt auf, daß <strong>de</strong>r Mann im Schlafanzug vor ihnen stand.<br />

„Aus was?“<br />

„Weiß nich’...“ lautete die gestammelte Antwort. Dormid schüttelte <strong>de</strong>n Kopf, als wäre er verwirrt und wolle die<br />

verdrehten Gedanken aus <strong>de</strong>m Kopf werfen. „Haben gewartet...“<br />

Dynes Hand, die <strong>de</strong>n Mann gera<strong>de</strong> am Arm fassen wollte, wur<strong>de</strong> von Tom zurückgehalten.<br />

„Laß mich das erledigen, Aras“ sagte sanft er und blickte seinem Freund in die Augen. Der Ritter überlegte, willigte<br />

dann mit einem Nicken ein. Zärtlich, wie die Berührung eines Vaters, <strong>de</strong>r ein Kind in <strong>de</strong>n Armen wiegt, nahm <strong>de</strong>r<br />

breitschultrige Tom <strong>de</strong>n hageren und verängstigten Dormid an <strong>de</strong>r Hand und ging mit ihm ins Haus. Gerüche von<br />

Erbrochenem und Kot quollen daraus hervor, und mit Ekel wandten <strong>de</strong>r Ritter und Paves sich ab. Dynes warf einen<br />

Blick auf die Schar, die am Wegrand wartete und das Schauspiel gebannt verfolgte.<br />

Niemand sagte einen Ton, auch <strong>de</strong>r Junge schwieg, bis die Schatten von zwei Gestalten nach einiger Zeit am Türstock<br />

auftauchten. Es war <strong>de</strong>r Hausbesitzer zum einen, <strong>de</strong>r, noch immer im Nachthemd, nach draußen stolperte und fast<br />

stürzte. Hinter ihm kam Tom, <strong>de</strong>r einen anscheinend leblosen Körper auf <strong>de</strong>n Armen trug. Behutsam hielt er <strong>de</strong>n Leib<br />

einer Frau in <strong>de</strong>n riesigen Hän<strong>de</strong>n und senkte <strong>de</strong>n Blick.<br />

„Sie lebt, Aras. Aber sieh dir an, wie dünn sie ist.“<br />

Dynes betrachtete die Frau, <strong>de</strong>ren Knochen sich an <strong>de</strong>n Stellen unter <strong>de</strong>r Haut abzeichneten, dort, wo keine Kleidung<br />

sie be<strong>de</strong>ckte.<br />

„Verdammt!“ murmelte er. „Die bei<strong>de</strong>n müssen seit Wochen nichts mehr gegessen haben...“<br />

„Ich habe keine Ahnung, ob sie es übersteht“ sagte Dynes Freund, und in seinen Augen zeigte sich Trauer. „Auch<br />

Dormid geht es schlecht. Die bei<strong>de</strong>n brauchen Pflege, je<strong>de</strong>nfalls ihre Körper. Wie es aber um Dormids Verstand<br />

bestellt ist, kann uns wohl nur Himmelfeuer sagen.“<br />

„Haben sich eingeschlossen, ohne Nahrung, und sich nicht mal getraut, nach draußen zum Abort zu gehen“ murmelte<br />

<strong>de</strong>r Ritter und schüttelte <strong>de</strong>n Kopf, während sie zum Weg zurückkehrten.<br />

„Leg die Frau auf Sturmauge. Er wird sie nicht abwerfen“ empfahl <strong>Arathas</strong> und sah zu, wie sein großer Freund die<br />

leblose Gestalt von Dormids Frau auf das Pferd legte. Anschließend half er <strong>de</strong>m Hausbesitzer, auf Paves’ Roß zu<br />

steigen, und <strong>de</strong>r Junge lächelte <strong>de</strong>m verwirrten, ausgehungerten Mann zu, als dieser sich hilfesuchend umdrehte.<br />

„Was...?“ kam es über Dormids Lippen, als Tom ihm einen Wasserschlauch reichte. Gierig nahm <strong>de</strong>r Hagere ihn<br />

entgegen und schluckte und schluckte und schluckte, bis Dynes ihm <strong>de</strong>n Schlauch entreißen wollte. Doch <strong>de</strong>r dürre<br />

Mann wehrte sich vehement und schüttelte sich, als sich die Pranken Toms näherten. Mit vor Entsetzen geweiteten<br />

Augen rutschte er auf <strong>de</strong>m Rücken <strong>de</strong>s Schimmels, das die Angst <strong>de</strong>s Mannes spüren konnte. Der Gaul trat ein paar<br />

beunruhigte Schritte nach vorn, und wie eine reife Frucht fiel Dormid vom Pfer<strong>de</strong>rücken und klatschte auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n.<br />

Noch im selben Moment war Tom zur Stelle, doch auch er konnte <strong>de</strong>n Sturz <strong>de</strong>s armen, wirren Mannes nicht mehr<br />

verhin<strong>de</strong>rn. Ein Knacksen ertönte, als die zerbrechliche Gestalt auf die Er<strong>de</strong> schlug. Tränen sammelten sich in <strong>de</strong>n<br />

Augen <strong>de</strong>s bemitlei<strong>de</strong>nswerten Kerls, und er strampelte wie ein Kind, als Tom ihn vom Bo<strong>de</strong>n hob und wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n<br />

Schimmel setzte. Das kostbare Wasser in<strong>de</strong>s sickerte aus <strong>de</strong>m Schlauch und tränkte <strong>de</strong>n schmutzigen Waldgrund.<br />

„Hab’ ihn“ ließ sich Dynes vernehmen, und sein fester Griff hielt <strong>de</strong>n Mann aufrecht in <strong>de</strong>s Schimmels Sattel. Tom<br />

nickte erleichtert und war bemüht, die schwächliche Frau festzuhalten.<br />

„Wir müssen sie so schnell wie möglich nach Darburg bringen, Aras. Sonst sterben sie.“<br />

Dynes nickte, und auf seine Handbewegung hin setzten sich auch die an<strong>de</strong>ren Menschen wie<strong>de</strong>r in Bewegung. Alle<br />

waren schockiert und auch bewegt davon, wie sehr sich ein Mensch innerhalb kürzester Zeit verän<strong>de</strong>rn konnte, wenn<br />

er widrigen Umstän<strong>de</strong>n ausgesetzt war. Die kleine Schar zog weiter, wie ein Schwarm Vögel, <strong>de</strong>r nach Nor<strong>de</strong>n<br />

unterwegs ist und stumm <strong>de</strong>m leiten<strong>de</strong>n Wesen folgt.<br />

Das erste Geräusch, das bald wie<strong>de</strong>r laut wur<strong>de</strong>, war ein stetes Pfeifen aus Toms Mun<strong>de</strong>.<br />

Der Tisch, <strong>de</strong>r im Raum <strong>de</strong>r Avalare stand, war vollbesetzt mit Shat’lan, an seinem Kopfen<strong>de</strong> die Weise selbst. Neben<br />

ihr, zu ihrer Rechten, Keldar und Jel’ari, zu ihrer Linken Saya und Indigo. Der Junge hatte die Arme auf <strong>de</strong>n Tisch<br />

gestützt, rieb sich nach<strong>de</strong>nklich das Kinn.<br />

„Ich habe viele Fragen“ sagte er, und auf das Nicken <strong>de</strong>r Alten hin räusperte er sich. „Ich hatte einen son<strong>de</strong>rbaren<br />

Traum, als ich <strong>de</strong>n Wirkungen <strong>de</strong>s Geysa erlag. Ich <strong>de</strong>nke, es könnte möglicherweise eine Vision gewesen sein.“<br />

„Das ist wahrscheinlich“ antwortete die Avalare leise. „Was hast du gesehen, junger Shat’lan.“<br />

154


Indigo stockte kurz, als er die neue Anre<strong>de</strong> verdaute, die er nun aus <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Weisen zu hören bekam, doch er<br />

fing sich sofort.<br />

„Ihr kamt darin vor, Ehrenwerte. Ich glaube, es spielte sich vor langer Zeit ab, <strong>de</strong>nn euer Gesicht war jung. Bitte faßt<br />

das nicht als Beleidigung auf.“<br />

„Das tue ich nicht. Ich bin mir darüber bewußt, daß ich alles an<strong>de</strong>re als jugendhaft wirke, mein Sohn.“<br />

„Nun gut. Nach allem, was ich in <strong>de</strong>m Traum erfuhr... lautet euer Name Sindaria?“<br />

Die Alte schnappte nach Luft.<br />

„Das ist tatsächlich mein Name, aber... es ist lange her, daß mich jemand auf diese Weise angesprochen hat. Sehr,<br />

sehr lange. Woher kennst du ihn, An’chassar?“<br />

„Ein Mann, <strong>de</strong>r in meinem Traum vorkam, nannte ihn. Es war ein Shat’lan, und wenn ich mich recht erinnere, hieß<br />

er Delabos.“ Bei <strong>de</strong>r Erwähnung <strong>de</strong>s Mannes senkte sich <strong>de</strong>r Blick <strong>de</strong>r Avalare kurz, doch Indigo entging die Geste<br />

nicht. „Es war in einem Tempel, in einer Stadt in <strong>de</strong>n Wäl<strong>de</strong>rn.“<br />

„Du hattest Recht mit <strong>de</strong>iner Vermutung. Es war eine Vision, die das Geysa dir geschenkt hat. Es ist sehr<br />

ungewöhnlich, daß auch Laute in <strong>de</strong>n Träumen zu hören sind. Unter normalen Umstän<strong>de</strong>n sind Bil<strong>de</strong>r alles, was bei<br />

einer solchen Reise in an<strong>de</strong>re Zeiten übrigbleiben. Die Dosis muß stark gewesen sein, <strong>de</strong>nn sonst hätte die Droge<br />

niemals diese Wirkung entfaltet.“<br />

„Das ist meine Schuld“ bekannte Keldar. „Ich versäumte, ihn darauf hinzuweisen, nicht <strong>de</strong>n gesamten Inhalt <strong>de</strong>r<br />

Phiole zu leeren.“<br />

„Sein Körper und sein Geist sind nicht an das Geysa gewöhnt, so wie es bei uns <strong>de</strong>r Fall ist. Es war unvorsichtig, ihm<br />

eine so große Menge zu verabreichen.“<br />

„Ich habe noch mehr zu mir genommen, aber die Wirkung war bei weitem nicht so stark“ warf Indigo ein. „Auf <strong>de</strong>m<br />

Rücken <strong>de</strong>s El’cha<strong>de</strong>rar. Ich habe das Geysa getrunken, das ich von <strong>de</strong>r Drüse gewann.“<br />

„Das war sehr unvorsichtig, mein Sohn. Wir <strong>de</strong>stillieren es, und selbst dann ist es noch gefährlich“ erklärte die Alte.<br />

„Doch nun zu <strong>de</strong>inem Traum, junger Mann. Was genau hast du gesehen?“<br />

„Ich glaube, es war... ein Kampf. Es spielte sich auf einer Waldlichtung ab. Eine Stadt, die von Wäl<strong>de</strong>rn umgeben<br />

war. Überall waren schreien<strong>de</strong> Shat’lan, und dann brachen Manur aus <strong>de</strong>m Wald hervor. Einige von ihnen stürmten<br />

einen Tempel, aber sie konnten anscheinend nur durch frem<strong>de</strong> Hilfe in das Gebäu<strong>de</strong> eindringen. Dieser Mann... dieser<br />

Delabos war dafür verantwortlich.“<br />

„Ja“ sagte die Alte leise. „Ich erinnere mich an <strong>de</strong>n Tag, als wäre es gestern. Es ist ein dunkles Kapitel in <strong>de</strong>r<br />

Geschichte <strong>de</strong>r Shat’lan, vielleicht das dunkelste. Das, was du gesehen hast, war nur das En<strong>de</strong> einer langen Reihe von<br />

üblen Vorfällen, die weit, weit vor <strong>de</strong>n Ereignissen <strong>de</strong>ines Traumes begannen. Es spielte sich vor ungefähr sieben<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rten ab, doch die Nachwirkungen halten noch immer an.“<br />

„Diese Informationen dürfen nie nach außerhalb gelangen“ verwies Jel’ari ernst. „Du bist <strong>de</strong>r erste Nicht-Shat’lan, <strong>de</strong>r<br />

von diesen Dingen erfährt.“<br />

„Er ist ebenso Shat’lan, wie du es bist, Jel’ari!“ Keldar fuhr <strong>de</strong>n Heiler mit ungewolltem Zorn an. „Es unterschei<strong>de</strong>t<br />

An’chassar nichts mehr von uns, vergiß das nicht.“<br />

Der Alte lehnte sich zur Seite, ging Sayas Vater aus <strong>de</strong>m Weg. „Natürlich, Keldar. Trotz<strong>de</strong>m ist es wichtig, daß dieses<br />

Wissen niemals an frem<strong>de</strong> Ohren gelangt.“<br />

„Ruhe“ sagte die Avalare, und ihre Stimme brachte <strong>de</strong>n Streit zum Verstummen. „Je<strong>de</strong>r hier hat das gleiche Recht<br />

darauf, von <strong>de</strong>n Geschehnissen zu erfahren, die zum Fall <strong>de</strong>r Shat’lan beitrugen. Ob es nun du bist, Jel’ari, o<strong>de</strong>r<br />

An’chassar.“<br />

„Bitte sprecht weiter, Ehrwürdige. Ich möchte erfahren, was es mit meinem Traum auf sich hat.“<br />

Die Avalare rückte ihren Mantel zurecht und räusperte ihre trockene Kehle. „Es war die Zeit, in <strong>de</strong>r wir Krieg führten<br />

gegen die Menschen. Es waren Jahre voller Grausamkeit, und unser Volk zersprengte die Reihen <strong>de</strong>r Manur ohne<br />

Gna<strong>de</strong>. Der damalige König hätte niemals unserem Ansturm standhalten können, und das wußte er auch. Doch ein<br />

Shat’lan, <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r sich schließlich als Verräter herausstellte, verbün<strong>de</strong>te sich mit ihm, und durch diese unheilige<br />

Tat machte er es <strong>de</strong>n Manur möglich, bis nach Nahairi vorzudringen. Es war die wichtigste Stadt im früheren Reich,<br />

<strong>de</strong>r Ort, an <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Zirkel seinen Sitz hatte.“<br />

„Ich glaube, ich habe diesen Zirkel gesehen. Ihr habt ihm ebenfalls beigewohnt, nicht?“<br />

„Ich war eines <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r. Wir waren dreizehn, eine beson<strong>de</strong>re Zahl in <strong>de</strong>r Geschichte unseres Volkes. Der<br />

dreizehnte, <strong>de</strong>r uns beitrat, war Delabos, ein junger und ehrgeiziger Shat’lan. Wir alle hielten viel von ihm, doch<br />

Sa’chi’car bekun<strong>de</strong>te seine Zweifel. Ich weiß noch, daß er <strong>de</strong>r einzige war, <strong>de</strong>r das Böse in <strong>de</strong>m Mann erkannt hatte.<br />

Wir an<strong>de</strong>ren waren geblen<strong>de</strong>t von <strong>de</strong>r Macht, die er besaß. Seine Worte waren stark, und er führte uns Sieg um Sieg<br />

gegen die Manur. Wie sich herausstellte, waren all diese Nie<strong>de</strong>rlagen <strong>de</strong>r Menschen nur gestellt, ein Trick, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

Verräter zusammen mit ihnen ausgeheckt hatte. Es be<strong>de</strong>utete unser aller Ver<strong>de</strong>rben, als wir diesen Mann in unserer<br />

Mitte aufnahmen.“<br />

„Welche Be<strong>de</strong>utung hatte <strong>de</strong>r Zirkel für die Shat’lan?“ Indigo hatte sich über <strong>de</strong>n Tisch gebeugt, lauschte<br />

aufmerksam. „Wieso seid ihr alle gefallen, nur weil eine Stadt vernichtet wur<strong>de</strong>?“<br />

155


„Es war <strong>de</strong>r Mittelpunkt unseres Wissens, An’chassar. Nahairi, das Herz <strong>de</strong>r Shat’lan. Unser Zirkel hatte die absolute<br />

Macht, über das gesamte Volk zu herrschen. Mit Hilfe <strong>de</strong>s Geysa waren wir dreizehn in <strong>de</strong>r Lage, selbst mit <strong>de</strong>n<br />

entferntesten Shat’lan in Kontakt zu treten, über Distanzen hinweg, für die ein Bote Wochen brauchen wür<strong>de</strong>. Von<br />

Nahairi aus koordinierten wir alle Angriffe gegen die Manur, und auch die Verteidigung hing von dieser einen Stadt<br />

ab. Als Delabos das Siegel brach, das <strong>de</strong>n Templa <strong>de</strong> Sarifu, <strong>de</strong>n Tempel <strong>de</strong>r Witterung, beschützte, konnten die<br />

Manur, die unsere Stadt überfielen, in unseren Ratsraum eindringen. Die Shat’lan, die nicht von Menschenhand<br />

getötet wur<strong>de</strong>n, kamen ums Leben, als <strong>de</strong>r Verräter das Gebäu<strong>de</strong> zum Einsturz brachte. Ich <strong>de</strong>nke, daß nur er und ich<br />

entkamen, und meine Rettung beruhte auf reinem Glück. Ich wußte, daß das Überleben meines Volkes bloß dann noch<br />

zu sichern war, wenn ich Delabos tötete. Also versammelte ich die letzten kämpfen<strong>de</strong>n Shat’lan an meiner Seite, und<br />

gemeinsam gingen wir gegen <strong>de</strong>n Verräter vor. Das war das En<strong>de</strong> von Delabos, und gleichzeitig das En<strong>de</strong> unserer<br />

Vorherrschaft im Inneren Reich. Ich bin zusammen mit ein paar Brü<strong>de</strong>rn und Schwestern entkommen, doch<br />

ansonsten wur<strong>de</strong> Nahairi vollkommen <strong>de</strong>m Erdbo<strong>de</strong>n gleichgemacht.“<br />

„Ihr habt euch in die Wäl<strong>de</strong>r zurückgezogen, habt angefangen, diese unterirdischen Malasae zu bauen“ sagte Indigo<br />

nach<strong>de</strong>nklich. „Ihr seid <strong>de</strong>n Menschen aus <strong>de</strong>m Weg gegangen.“<br />

Keldar schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Das ist nicht ganz richtig. Wir hatten schon vorher unsere Malasae. Wir verließen unsere<br />

Städte an <strong>de</strong>r Oberfläche, als <strong>de</strong>r Zirkel gefallen war, doch ein Teil von uns lebte schon immer hier unten. Aber es<br />

stimmt: Wir gingen <strong>de</strong>n Menschen aus <strong>de</strong>m Weg nach diesem Vorfall.“<br />

„Aber wieso kämpft ihr nicht mehr? Ihr seid so... so viele! Ich habe die Massen von Shat’lan gesehen, die allein in<br />

diesem Malasa, in Ney’fasa’le, leben. Eure Zahl ist so enorm groß, und kein einziger Manur ahnt auch nur von eurer<br />

Existenz. Ihr könntet sie überrennen, so wie sie euch überrannt haben!“ Er stockte, als Saya ihm eine Hand auf <strong>de</strong>n<br />

Arm legte. Sanft rieb sie seine Haut.<br />

„Es ist nicht so einfach, Asan. Wir können nicht so ohne weiteres <strong>de</strong>n Kampf wie<strong>de</strong>r aufnehmen, <strong>de</strong>n wir vor über<br />

sechs Jahrhun<strong>de</strong>rten eingestellt haben.“<br />

„Aber warum nicht?“<br />

„Weil wir nicht das Recht dazu haben, die Manur aus <strong>de</strong>m Land zu verdrängen, in <strong>de</strong>m sie leben“ fiel Jel’ari ein. „Es<br />

ist seit so vielen Menschengenerationen ihr Land, daß sie keine Schuld an unserem Schicksal mehr trifft.“<br />

„Es hat sie nicht gekümmert, was mit euch geschieht. Aber ihr sorgt euch um ihr Wohlergehen?“<br />

„Es hat keinen Sinn, darüber zu diskutieren, An’chassar. Dies ist unsere Schlacht, nicht <strong>de</strong>ine. Wir müssen selbst<br />

entschei<strong>de</strong>n, ob wir kämpfen, o<strong>de</strong>r warum wir es nicht tun. Es liegt nicht in <strong>de</strong>iner Hand. Deine Bestimmung ist eine<br />

an<strong>de</strong>re.“<br />

Indigo kniff die Brauen zusammen. „Welche, Keldar? Welche? Ihr glaubt, daß ich das Übel aufhalten könnte, das<br />

unser Land befällt, doch niemand weiß genau, was es überhaupt ist!“<br />

Nach<strong>de</strong>nklich fuhr Sindaria sich durch die blauen Haare. „Das ist... nicht ganz richtig. Wir haben sehr wohl eine<br />

Vermutung, und mit je<strong>de</strong>m weiteren Tag wer<strong>de</strong>n unsere Ahnungen bestätigt. Doch wenn wir Recht haben sollten,<br />

dann steht die finsterste Stun<strong>de</strong> für das Land noch bevor...“<br />

„Bitte sprecht nicht in Rätseln, Avalare. Was genau haben diese Orks vor? Sagt es mir, wenn ihr es wißt!“<br />

„Wir wissen es nicht“ sagte Keldar. „Wir haben lediglich Rückschlüsse gezogen. Du hast noch an<strong>de</strong>re Wesen außer<br />

<strong>de</strong>n Schwarzorks gesehen, An’chassar.“<br />

„Ja, natürlich“ meinte Indigo. „Zum einen die Drachen, die anscheinend die Tunnel graben, durch die die Orks in die<br />

Städte vorstoßen. Zum an<strong>de</strong>ren waren da noch... diese Weißen. Große, spin<strong>de</strong>ldürre Geschöpfe. Sehen aus, als hätten<br />

sie das Tageslicht niemals zuvor erblickt.“<br />

„Wir nennen diese Wesen Weißmolche. Wir haben es ebenfalls mit ihnen zu tun bekommen, An’chassar. Lei<strong>de</strong>r<br />

konnten wir ihnen ihr Geheimnis nicht mehr entlocken, da ihre Körper bei <strong>de</strong>m Kampf vernichtet wur<strong>de</strong>n. Aber das,<br />

was wir erfuhren, reicht uns vorerst.“<br />

„Was war das?“<br />

„Ich schätze, daß die Schwarzorks und all ihre Verbün<strong>de</strong>ten einer Entität gehorchen, einem großen, über allem<br />

wachen<strong>de</strong>n Etwas. Wenn dieses Wesen zerstört wird, wer<strong>de</strong>n die einfältigen Geschöpfe hilflos sein und durch das<br />

Land irren. Sie wer<strong>de</strong>n keine Gefahr mehr darstellen.“<br />

Indigo zögerte. „Soll ich noch immer an <strong>de</strong>n Hof <strong>de</strong>s Königs gehen? Ich bin mir nicht mehr sicher, zumal die<br />

Menschen eure Fein<strong>de</strong> sind, und nun wohl auch meine. Aber die Ritter könnten vielleicht helfen.“<br />

„Das bezweifle ich, An’chassar.“ Es war die Avalare, die nun wie<strong>de</strong>r das Wort ergriffen hatte. „Der König wür<strong>de</strong><br />

einem Jurakai keinen Glauben schenken. Denkst du tatsächlich, daß die Angehörigen <strong>de</strong>ines Volkes, die am Hofe<br />

leben, dort irgen<strong>de</strong>ine Art von Macht ausüben? Sie sind nichts weiter als bloße Wür<strong>de</strong>nträger, dazu bestimmt, bei<br />

feierlichen Anlässen am Ran<strong>de</strong> zu warten und <strong>de</strong>n Schein zu wahren. Die einzige Möglichkeit, die Manur davon zu<br />

überzeugen, daß ein Eingreifen erfor<strong>de</strong>rlich wäre, ist, ihnen das Übel auf <strong>de</strong>n Hals zu hetzen. Doch wenn das<br />

geschieht, dann ist es bereits zu spät. So o<strong>de</strong>r so, vom König darfst du dir keine Hilfe erwarten.“<br />

„Aber was soll dann geschehen? Ich kann nicht glauben, daß die Kun<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Ereignissen noch nicht bis an <strong>de</strong>n<br />

Königshof vorgedrungen sein soll.“<br />

156


„Oh, das ist sie ganz sicher. Doch ich bin mir keineswegs sicher, daß Westfald, <strong>de</strong>r Hochkönig <strong>de</strong>r Manur, ihr<br />

Glauben schenkt. Er ist ein überheblicher alter Trottel. Von dieser Seite darfst du keine Hilfe erwarten.“<br />

„Wie kann ich dann überhaupt helfen?“<br />

„Alles, was die Legen<strong>de</strong> besagt, ist eingetroffen, An’chassar. Aber unsere Aufzeichnungen verlieren sich bald im<br />

Staub <strong>de</strong>r Geschichte. Alles, was wir noch wissen, ist, daß du uns verlassen wirst.“<br />

Die Alte begann, in einem leisen Singsang die Zeilen aus ihrem Gedächtnis zu zitieren:<br />

dann, in <strong>de</strong>s Nebels wahrstem Zeichen<br />

muß Schatten nicht vor Sonne weichen<br />

und höchste Reihen er durchbricht<br />

in <strong>de</strong>s roten <strong>Mond</strong>es Licht<br />

„Es ist vage, doch die Zeilen beschreiben <strong>de</strong>ine Zukunft, junger Shat’lan. Versuche, <strong>de</strong>ine eigenen Schlüsse zu ziehen.<br />

Du wirst sehen, daß du zum selben Ergebnis wie wir kommst.“<br />

„Diese Worte könnten alles be<strong>de</strong>uten“ empörte sich Indigo. „Ich verstehe ja, daß einiges darauf hin<strong>de</strong>utet, daß ich<br />

<strong>de</strong>rjenige bin, auf <strong>de</strong>n dies alles zutrifft, aber...“<br />

„Kein aber, mein Freund.“ Sanft griff Keldar über <strong>de</strong>n Tisch, umschloß Indigos Hand mit seinen Fingern. Der<br />

Kerzenschein flackerte rot in <strong>de</strong>n schwarzen Augen, und <strong>de</strong>r Blick <strong>de</strong>s bärtigen Mannes war ernst.<br />

„Glaube mir, daß wir uns schon seit Jahren <strong>de</strong>n Kopf zerbrochen haben über dieses Rätsel. Bei einigen Versen <strong>de</strong>s<br />

langen Gedichts - du kennst nur Teile davon - wissen wir nicht einmal, was sie Ansatzweise zu be<strong>de</strong>uten haben. Dann<br />

wie<strong>de</strong>rum gibt es die Zeilen, in <strong>de</strong>nen ein Sinn liegt, auch wenn er verschlüsselt zu sein scheint. Des Nebels wahrstes<br />

Zeichen kann auf ein reales Ereignis bezogen, aber auch eine Verbildlichung sein. Doch <strong>de</strong>r Satz, daß Schatten nicht<br />

vor Sonne weichen muß, ist dafür wie<strong>de</strong>r vollkommen unmißverständlich ausgedrückt.“<br />

„Ihr seid, nein, wir sind die... Schatten, wür<strong>de</strong> ich sagen. Die Shat’lan haben sich seit Jahrhun<strong>de</strong>rten in <strong>de</strong>n Schatten<br />

versteckt, darum leuchtet <strong>de</strong>r Vergleich ein. Doch warum sollten wir nicht vor Sonne weichen müssen?“<br />

„Das gibt uns, ehrlich gesagt, ebenfalls ein wenig zu <strong>de</strong>nken...“<br />

„Aber es könnte auch heißen, daß die Orks nicht mehr unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> leben muß, daß das Etwas es schafft, an die<br />

Oberfläche zu dringen...“<br />

„Nein, das... ist ausgeschlossen. Der gesamte Vers han<strong>de</strong>lt von einer einzigen Person. Die Schwarzorks und ihre Brut<br />

wer<strong>de</strong>n erst in <strong>de</strong>r nächsten Zeile genannt, in <strong>de</strong>r es heißt, daß <strong>de</strong>r Fürst die höchsten Reihen bricht.“<br />

„Aber ich bin kein Fürst, Keldar.“<br />

„Du sagtest mir, daß <strong>de</strong>in Vater einer <strong>de</strong>r größten Männer <strong>de</strong>ines gesamten Volkes war. Ein Fürst unter <strong>de</strong>n Jurakai,<br />

sozusagen. Sein Titel geht nun auf dich über.“<br />

„Trotz<strong>de</strong>m ist mir noch zu vieles unklar. Was genau soll ich jetzt tun? Und wann? Möglicherweise ist es schon zu<br />

spät, um die Prophezeiung noch zu erfüllen, vielleicht hätte ich bereits aufbrechen müssen. O<strong>de</strong>r ich soll noch bei<br />

euch bleiben, bis dieses Zeichen sich mir offenbart?“<br />

„Das liegt allein in <strong>de</strong>iner Hand, An’chassar. Wir wer<strong>de</strong>n dich nicht zurückhalten, wenn du zu gehen verlangst.“<br />

Einen Moment lang schwieg Indigo, dann sah er mit einem Funkeln in <strong>de</strong>n Augen zu Keldar auf.<br />

„Wenn das so ist, dann wer<strong>de</strong> ich so früh wie möglich aufbrechen. Es geht nicht nur um mich, um euch und das Land,<br />

müßt ihr wissen. Ich habe euch von Talamà erzählt, nicht wahr? Sie ist eine <strong>de</strong>r wenigen Jurakai, die mir noch etwas<br />

be<strong>de</strong>uten, und eine geringe Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß sie am Leben ist. Ich kann es zwar nicht genau<br />

sagen, aber eine Hoffnung ist in mir, daß die Orks ihr Leben aus einem Grund verschont haben, <strong>de</strong>r sich mir nicht<br />

erschließt.“<br />

Ein Seitenblick von Saya ließ ihn verstummen, und er musterte seine Gefährtin. „Sie ist eine Freundin von mir“<br />

erklärte er. „Ich muß versuchen, sie zu retten, wenn ich die Möglichkeit dazu habe. Ich bitte dich, mich zu verstehen.“<br />

„Natürlich verstehe ich dich, Asan. Du wirst tun, was in <strong>de</strong>iner Macht steht.“<br />

Alle Anwesen<strong>de</strong>n verstummten, als die Avalare sich erhob.<br />

„Sind <strong>de</strong>ine Fragen beantwortet, mein Sohn?“ Ungeduldig blickte sie in die Run<strong>de</strong>, schien plötzlich genug zu haben<br />

von <strong>de</strong>n Mutmaßungen und Erläuterungen. Sie winkte Keldar, sich ebenfalls zu erheben, und unsicher lehnte Indigo<br />

sich vor.<br />

„Es ist noch nicht alles klar, Ehrwürdige. Doch ich <strong>de</strong>nke, daß ich alles weitere mit Keldar und Jel’ari abklären<br />

kann.“ Er verneigte sich, dann traten die Besucher höflich vom Tisch zurück. Als die Alte wie<strong>de</strong>r allein in ihrem<br />

Raum war, nahm sie ein paar Karten zur Hand, schlug ein Buch auf, das sie zur Seite geschoben hatte.<br />

„Viele neue Gedankenanstöße“ murmelte sie unzufrie<strong>de</strong>n. „Was, wenn er Recht hat, wenn sein Schicksal tatsächlich<br />

nicht das ist, das wir uns erhoffen?“<br />

Traurig strich sie mit <strong>de</strong>n Fingern über das vergilbte Papier, entzifferte die Schrift, in <strong>de</strong>r das Gedicht geschrieben<br />

stand. Hin und wie<strong>de</strong>r schüttelte sie <strong>de</strong>n Kopf, blätterte zweifelnd in <strong>de</strong>n Unterlagen.<br />

Ein Schrei durchdrang die stehen<strong>de</strong> Luft wie eine Hand die seichte Oberfläche eines Sees.<br />

157


Und <strong>de</strong>n Wellen gleich, ausgelöst vom Fremdkörper im Wasser, breitete auch <strong>de</strong>r Schrei sich aus, und bald waren<br />

mehr als die Hälfte <strong>de</strong>r Menschen in ihn eingefallen.<br />

Dynes, <strong>de</strong>r die Spitze <strong>de</strong>r Schar bil<strong>de</strong>te, drehte sich so zeitgleich mit Tom und Paves um, daß ein je<strong>de</strong>r von ihnen sah,<br />

wie Pfeile flogen.<br />

„An die Waffen!“ brüllte Dynes, <strong>de</strong>r noch im selben Moment sein Schwert gezogen hatte und nach vorn stürmte. Die<br />

bei<strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong> einfach zurücklassend tat Tom es ihm nach, obwohl er selbst we<strong>de</strong>r Schwert noch irgen<strong>de</strong>twas zur<br />

Verteidigung besaß, somit im Nachteil zu sein schien. Doch sein enormer Körperumfang und seine bloße Masse<br />

hatten schon oft einen Angreifer verblüfft stehen lassen, bei Toms Anblick mit <strong>de</strong>m Gedanken zur Flucht ringend.<br />

Paves, <strong>de</strong>r so überrascht von <strong>de</strong>n kürzlichen Ereignissen war, versuchte an <strong>de</strong>n Dolch zu gelangen, <strong>de</strong>n er in seinem<br />

Wams untergebracht hatte, rannte gleichzeitig seinem Herrn nach und fügte sich während <strong>de</strong>s Laufens eine tiefe<br />

Schnittwun<strong>de</strong> zu. Fluchend – wie er es von <strong>Arathas</strong> gelernt hatte – folgte er <strong>de</strong>m Ritter.<br />

Weitere, noch lautere Schreie brachen sich Bahn und senkten die Gedanken <strong>de</strong>r Gruppe in schiere Angst. Männer<br />

sowie Frauen suchten nach ihren Waffen, manche fan<strong>de</strong>n sie, an<strong>de</strong>re wußten nicht einmal, wo sie die Suche beginnen<br />

sollten.<br />

Dynes bewegte sich wie im Traum, alles schien unwirklich, langsam. Er umrun<strong>de</strong>te ein paar Menschen, die ihm im<br />

Weg stan<strong>de</strong>n, prallte mit einer Frau zusammen und taumelte weiter, das Schwert wie eine schwere Last hinter sich<br />

herschleifend. Die Klinge schabte im Erdbo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s, er riß sie hoch, würdigte sie keines weiteren Blickes. Ein<br />

Kampf fand statt, direkt vor seinen Augen.<br />

Die Gedanken <strong>de</strong>s Ritters rasten. Nun wür<strong>de</strong>n sich die Orks doch noch zeigen. Nun wür<strong>de</strong>n sie sich einen Kampf auf<br />

Leben und Tod leisten, so viel früher, als Dynes es beabsichtigt hatte. Noch war er nicht dazu gekommen, in Darburg<br />

nach weiteren Gefolgsleuten zu suchen, noch war seine bemitlei<strong>de</strong>nswerte Schar nicht so weit, als daß sie es im<br />

offenen Kampf mit einem Feind hätte aufnehmen können. Trotz<strong>de</strong>m wür<strong>de</strong>n sie jetzt Gelegenheit haben, zu zeigen,<br />

was in ihnen steckte!<br />

Als Dynes das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r menschlichen Kette erreichte, fiel sein Blick auf einen Mann mittleren Alters, in <strong>de</strong>ssen Bein<br />

ein Pfeil steckte. Eine Frau lag verwun<strong>de</strong>t am Bo<strong>de</strong>n, Blut tränkte die Er<strong>de</strong>. Schatten zeigten sich in <strong>de</strong>n Büschen am<br />

Waldrand, ein neuerlicher Pfeil surrte zwischen <strong>de</strong>n Blättern hervor, verfehlte jedoch sein Ziel.<br />

Eine Frau schoß ihrerseits ein Projektil in <strong>de</strong>n dunklen Wald hinein, doch Dynes zögerte nicht, auf die Reaktion <strong>de</strong>r<br />

Monster zu warten. Er warf sich in die Büsche, hielt sein Schwert fest umklammert und riß sich sämtliche freien<br />

Hautpartien auf, als die Dornen ihn zerkratzten. Für einen Moment fehlte ihm alle Sicht, doch er spürte die Nähe von<br />

etwas Frem<strong>de</strong>n und ließ seine Faust einfach nach vorn fliegen. Sie traf etwas hartes, lebendiges. Das Etwas gab nach,<br />

als es von <strong>Arathas</strong>’ Schlag getroffen wur<strong>de</strong>, und dann war Dynes aus <strong>de</strong>n Blättern und Dornen heraus, öffnete die<br />

Augen.<br />

Ein Schrei ertönte, <strong>de</strong>r diesmal jedoch nicht menschlichen Ursprungs war. Der Ritter erblickte eine finstere Gestalt<br />

direkt vor ihm. Sie lag rücklings auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, in Schmerzen gekrümmt. Ein Schnauben entfuhr <strong>Arathas</strong>, und er<br />

hob sein Schwert.<br />

„Bastard“ keuchte er und ließ die Waffe nie<strong>de</strong>rfahren.<br />

Und sie hätte <strong>de</strong>n Liegen<strong>de</strong>n getötet, wäre nicht eine zweite Waffe von <strong>de</strong>r Seite gekommen und hätte Dynes’ Schwert<br />

im Fluge abgelenkt. Mit einem Geräusch wie von einer scheppern<strong>de</strong>n Rüstung trafen die bei<strong>de</strong>n Schwerter<br />

aufeinan<strong>de</strong>r, und die Waffe <strong>de</strong>s Ritters lan<strong>de</strong>te im hohen Waldgras. <strong>Arathas</strong> in<strong>de</strong>s ließ sich keine Zeit, um über die<br />

neue Situation nachzu<strong>de</strong>nken.<br />

Seine linke Faust, gera<strong>de</strong> erst ihrer Waffe beraubt, beschrieb einen Aufwärtshaken und traf die zweite Gestalt mit<br />

voller Wucht am Kinn. Das Geschöpf wur<strong>de</strong> nach hinten geschleu<strong>de</strong>rt, und wie eine Katze, die einem Wollballen<br />

nachspringt, stürzte <strong>de</strong>r Ritter sich hinterher.<br />

Auf <strong>de</strong>m Brustkorb <strong>de</strong>s Angreifers kniend, die eine Hand am feindlichen Schopf, die an<strong>de</strong>re in <strong>de</strong>r Luft, hielt er inne,<br />

als er Worte aus <strong>de</strong>m Mund <strong>de</strong>s Wesens vernahm.<br />

„Was?“ fragte er unter einem Stöhnen. Sein verwirrter Gesichtsausdruck hätte <strong>de</strong>m alten Weglind zur Ehre gereicht.<br />

Dynes blinzelte, fokussierte seinen Blick. Was dort vor ihm lag und <strong>de</strong>n Kopf zur Seite geneigt hatte... war mit<br />

Sicherheit kein Ork. Es war zwar auch kein Mensch, aber doch eine <strong>de</strong>m Ritter bekannte Rasse.<br />

„Jurakai?“ flüsterte Dynes und war sich <strong>de</strong>r Anwesenheit weiterer Personen bewußt, die sich um ihn herum<br />

versammelten.<br />

Die am Bo<strong>de</strong>n liegen<strong>de</strong> Gestalt nickte leicht. <strong>Arathas</strong> sah zur Seite und erkannte noch zwei Angehörige dieser Rasse.<br />

„Verflucht, stellt das Kämpfen ein!“ rief er, doch die Menschen hatten bereits aufgehört. Es war still gewor<strong>de</strong>n im<br />

Wald.<br />

Der Jurakai, <strong>de</strong>r von <strong>Arathas</strong> mit <strong>de</strong>m Haken gefällt wor<strong>de</strong>n war, rappelte sich auf. Er rückte seinen Kragen zurecht<br />

und blickte <strong>de</strong>m Ritter ernst in die Augen.<br />

„Mein Name lautet Yentaro. Dieser Kampf wäre nicht notwendig gewesen.“<br />

„Vielleicht sehe ich das ebenso, wenn Ihr mir <strong>de</strong>n Grund dafür nennt“ knurrte Dynes.<br />

Inzwischen befan<strong>de</strong>n sich auch Tom und Paves und ein paar an<strong>de</strong>re zur Stelle, alle mit gezückten Waffen. Die Spitzen<br />

<strong>de</strong>r Schwerter und Geschosse waren auf Yentaro gerichtet, <strong>de</strong>r im Moment das Hauptaugenmerk zu verdienen schien.<br />

158


„Dieses Fiasko hätte niemals geschehen dürfen“ fuhr <strong>de</strong>r Jurakai fort. Er war jung für das Volk <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s, jedoch<br />

mehr als nur alt für einen Menschen. Seine Augen strahlten Ruhe aus, als er sprach. „Vielmehr hätten wir<br />

miteinan<strong>de</strong>r re<strong>de</strong>n sollen, so wie wir es jetzt tun.“<br />

„Dann hättet ihr besser darauf verzichtet, uns anzugreifen. Wahrscheinlich sind ein paar meiner Leute zu To<strong>de</strong><br />

gekommen.“<br />

„Veloria?“ fragte <strong>de</strong>r Jurakai. Ein Mädchen – dasjenige, das von Dynes nie<strong>de</strong>rgestreckt wor<strong>de</strong>n war, als er gegen <strong>de</strong>n<br />

Schatten in <strong>de</strong>n Büschen kämpfte – hob die Brauen. „Es wäre mir lieb, wenn du es ihnen erklärst.“<br />

Die junge Frau nickte. Kälte haftete an ihr wie Eis an <strong>de</strong>n Rän<strong>de</strong>rn eines tiefen, unergründlichen Sees.<br />

„Ihr begannt mit <strong>de</strong>m Schießen“ sagte sie. Dynes wollte protestieren, doch die Frau hob die Hand. „Fragt diejenigen<br />

von euch, die getroffen wur<strong>de</strong>n. Sie wer<strong>de</strong>n es bestätigen.“<br />

Einer <strong>de</strong>r Männer, <strong>de</strong>r neben Tom stand, bekräftigte die Aussage. „Ich... ich glaube, daß Mallag <strong>de</strong>n ersten Pfeil in<br />

<strong>de</strong>n Wald schoß“ stammelte er. „Da war dieser Schatten hinter <strong>de</strong>n Zweigen...“<br />

<strong>Arathas</strong> schüttelte <strong>de</strong>n Kopf und verlangte von <strong>de</strong>n Jurakai, weiter zu sprechen.<br />

„Wir ent<strong>de</strong>ckten eure Gruppe, als wir durch <strong>de</strong>n Wald marschierten“ ergriff Yentaro jetzt wie<strong>de</strong>r das Wort. „Wir<br />

näherten uns vorsichtig, um uns Gewissheit zu verschaffen, wer ihr seid und was ihr vorhabt. Lei<strong>de</strong>r ent<strong>de</strong>ckte einer<br />

<strong>de</strong>r Manur uns und versuchte, uns mit <strong>de</strong>m Bogen zu treffen. Valken hier, Velorias Bru<strong>de</strong>r, verlor daraufhin die<br />

Nerven und feuerte zurück.“<br />

Der dritte Jurakai, <strong>de</strong>r bis jetzt noch keinen Laut von sich gegeben hatte, entschuldigte sich und verbeugte sich knapp<br />

vor Dynes. Die Geste erschien auf Grund <strong>de</strong>r Situation so unangebracht und grotesk, daß <strong>de</strong>r Ritter sprachlos war.<br />

„Warum seid ihr hier?“ brachte Tom hervor, um seinem Freund unter die Arme zu greifen.<br />

„Ebensogut könnten wir fragen, was ihr hier verloren habt“ konterte Yentaro scharf. „Dieses Land ist frei für je<strong>de</strong>n<br />

von uns, Mensch.“<br />

„Wir befin<strong>de</strong>n uns auf <strong>de</strong>r Flucht“ entgegnete Tom mit entwaffnen<strong>de</strong>r Ehrlichkeit. „Wir versuchen nach Darburg zu<br />

gelangen, um dort nach Kämpfern zu suchen, die uns in <strong>de</strong>r Schlacht gegen die Orks beistehen.“<br />

Einen Moment lang war es nun an <strong>de</strong>n Jurakai, sprachlos zu sein. Dann begann <strong>de</strong>r augenscheinliche Anführer <strong>de</strong>r<br />

drei zu lachen. Es war ein herzliches, gesun<strong>de</strong>s Lachen, das nieman<strong>de</strong>n verspottete.<br />

„Es ist ein wahnsinniges Unterfangen, das ihr da vorhabt, ist euch das klar?“ fragte er.<br />

„Natürlich“ meinte <strong>Arathas</strong>’ Freund lediglich.<br />

„Und wenn ihr scheitert?“<br />

„Dann haben wir es wenigstens versucht.“<br />

Yentaro neigte <strong>de</strong>n Kopf leicht zur Seite und betrachtete Veloria und ihren jüngeren Bru<strong>de</strong>r Valken. Er lächelte. „Ihr<br />

wollt also tatsächlich Kämpfer fin<strong>de</strong>n, die mit euch gemeinsame Sache machen, um die Orks zu besiegen?“<br />

Das Schweigen sowie die entschlossenen Mienen <strong>de</strong>r Menschen be<strong>de</strong>uteten eine unverkennbare Bestätigung.<br />

„Nun, ihr habt ein paar gefun<strong>de</strong>n“ sagte Yentaro mit <strong>de</strong>m breitesten aller Grinsen.<br />

Später, in Sayas Gemächern, lagen Indigo und die junge Shat’lan gemeinsam auf ihrem Bett, und <strong>de</strong>r Jurakai fuhr<br />

seiner Partnerin zärtlich durch das Haar. Sie betrachteten sich, und als sie sich in die Augen starrten, rann eine<br />

einzelne Träne über Sayas Wange. Überrascht strich <strong>de</strong>r Junge sie fort.<br />

„Was bedrückt dich, Saya? Ich habe es schon bei unserem Gespräch mit <strong>de</strong>r Avalare gespürt, daß es etwas gibt, das<br />

dich belastet. Was ist es?“<br />

„Kannst du es dir nicht vorstellen?“ Mit gläsernem Blick sah sie ihn an, und ein unwillkürliches Gefühl <strong>de</strong>r Scham<br />

überkam ihn.<br />

„Ich glaube, du machst dir Sorgen wegen Talamà, habe ich Recht?“ Als die Shat’lan seine Vermutung mit einem<br />

leichten Nicken bestätigte, lächelte er mild. „Das mußt du aber nicht. Ich will nicht bestreiten, daß dieses Mädchen<br />

mir einmal viel be<strong>de</strong>utet hat, aber... ich habe jetzt dich. Tief in mir spüre ich, daß wir füreinan<strong>de</strong>r bestimmt sind,<br />

Saya. Und du fühlst dasselbe. Es ist etwas Beson<strong>de</strong>res, das uns verbin<strong>de</strong>t, und egal, was passiert, es wird uns nichts<br />

mehr trennen. Ich muß aber versuchen, Talamà zu befreien, falls sie tatsächlich noch lebt. Es ist das Min<strong>de</strong>ste, das ich<br />

für sie tun kann. Ich hoffe, daß die Orks sie nicht getötet haben.“<br />

„Das ist nicht alles, Asan. Ich habe mir nur ein wenig Sorgen gemacht wegen dieser Jurakai. Es ist nicht <strong>de</strong>r wahre<br />

Grund meiner Betrübtheit. Sieh bitte her.“<br />

Rasch zog Saya einen Spiegel von einer kleinen Anrichte, reichte ihn Indigo. Der junge Mann nahm ihn entgegen,<br />

und bevor er eine Frage stellen konnte, hatte Saya seine Hand ergriffen, führte ihm <strong>de</strong>n Spiegel vor das Gesicht.<br />

„Es sind <strong>de</strong>ine Augen, Asan. Bemerkst du es? Sie sind fast völlig schwarz. Du bist nun einer von uns, ein Shat’lan. In<br />

<strong>de</strong>inem Herzen warst du immer einer. Ich habe keine großen Be<strong>de</strong>nken, was diese frem<strong>de</strong> Frau angeht.“<br />

Verblüfft starrte Indigo in <strong>de</strong>n Spiegel, rieb mit <strong>de</strong>n Fingern an seinen Brauen, bewegte die Pupillen. Es stimmte,<br />

seine Augen hatten nun fast die Farbe angenommen, die die Iris eines Shat’lan hatte. Das Geysa tat seine Wirkung.<br />

„Es ist die Tatsache, daß du weggehst, Asan. Das ist schlimmer als alles an<strong>de</strong>re. Wir haben uns erst seit so kurzer<br />

Zeit, und nun willst du schon wie<strong>de</strong>r gehen.“<br />

159


„Ich breche zwar auf, aber ich kehre zurück. Ich habe meine Reise begonnen, um <strong>de</strong>m König Nachricht von <strong>de</strong>n üblen<br />

Dingen zu bringen, die in Ruben vorgehen, und dieses Ziel ist noch nicht erreicht. Ich schul<strong>de</strong> es meinem besten<br />

Freund Nachtfalke und allen an<strong>de</strong>ren Jurakai. Ich muß gehen.“<br />

„Ich habe Angst um dich, Asan. Diese Prophezeiung mag für die Avalare und Vater gut genug sein, doch insgeheim<br />

habe ich <strong>de</strong>n Schriften seit jeher mißtraut. Sindaria ist nur eine verbitterte Alte, die <strong>de</strong>n Fall unseres Volkes mit<br />

ansehen mußte, und mein Vater wur<strong>de</strong> von ihr verwirrt! Auf Jel’ari können wir auch nicht zählen, <strong>de</strong>nn trotz seines<br />

Alters ist er schwach und fügt sich <strong>de</strong>r Avalare. Aber ich glaube, daß sie einen riesigen Fehler begeht! Diese Verse<br />

sind zu zwei<strong>de</strong>utig, zu vage. Du darfst dich nicht auf bloße Worte verlassen, bitte.“ Flehend hielt das Mädchen ihren<br />

Partner an <strong>de</strong>n Armen, schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Geh nicht.“<br />

„Hast du <strong>de</strong>inem Vater nie etwas darüber gesagt, daß du Zweifel an <strong>de</strong>n Worten <strong>de</strong>r Avalare hegst, Saya?“<br />

„Er hätte es nicht verstan<strong>de</strong>n, ebenso wie die alte Frau. Sie sind bei<strong>de</strong> darauf fixiert, daß die Ereignisse so eintreten,<br />

wie sie es aus <strong>de</strong>n Schriften erlesen. Aber ich glaube nicht daran. Es ist zu gefährlich, alleine <strong>de</strong>n Versuch zu wagen,<br />

diese Wesen zu vernichten, Asan.“<br />

„Wenn es so ist, wie ihr sagt, dann gibt es nur ein oberstes Geschöpf, ein leiten<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>s Wesen. Von ihm gehen<br />

all die Angriffe aus. Ich wer<strong>de</strong> es fin<strong>de</strong>n und töten, und <strong>de</strong>m Spuk damit ein En<strong>de</strong> bereiten.“<br />

„Denkst du <strong>de</strong>nn, daß kein an<strong>de</strong>rer diese Aufgabe übernehmen könnte? Du bist nicht <strong>de</strong>r einzige, <strong>de</strong>r es schaffen<br />

kann, diesem Etwas Einhalt zu gebieten. Dies ist keine Angelegenheit für unsinnigen Hel<strong>de</strong>nmut, Asan. Es ist reiner<br />

Selbstmord, alleine in diese Ungewißheit vorzudringen.“<br />

„Und was soll ich <strong>de</strong>iner Meinung nach tun, Saya? Es ist einen Versuch wert, fin<strong>de</strong>st du nicht? Falls ich wirklich<br />

scheitern sollte, dann seid ihr gefragt. Dann ist <strong>de</strong>in Volk die letzte Barriere zwischen <strong>de</strong>n Orks und unserem Land.<br />

Aber ich muß es wenigstens versuchen.“<br />

Die Shat’lan starrte Indigo fest in die Augen. „Dann wer<strong>de</strong> ich mit dir gehen.“<br />

„Das kann ich nicht zulassen, Saya. Ich wer<strong>de</strong> we<strong>de</strong>r dich noch sonst jeman<strong>de</strong>n mit in diese Sache hineinziehen.“<br />

„Ich habe lange darüber nachgedacht, und ich bin mir sicher, daß ich dich begleiten möchte. Was soll ich hier, wo ich<br />

nur untätig herumsitzen und schlechten Gedanken nachhängen wür<strong>de</strong>? Besser wäre es, wenn du eine helfen<strong>de</strong> Hand<br />

zu <strong>de</strong>iner Seite hättest, die niemals zögert, dich zu beschützen.“<br />

„Und wenn dir etwas zustößt, meine Liebe? Ich wür<strong>de</strong> es mir nie verzeihen, wenn du verletzt wirst, o<strong>de</strong>r dir gar etwas<br />

Schlimmeres geschieht. Ich wür<strong>de</strong> nicht mehr klar <strong>de</strong>nken können, und mein Unterfangen wäre sofort zum Scheitern<br />

verurteilt. Ich kann und will dich nicht mit dieser Sache belasten. Ich... nein, bitte hör auf damit, Saya. Ich wer<strong>de</strong><br />

gehen. Und ich kehre zurück.“<br />

Doch die junge Shat’lan ließ sich nicht besänftigen, begann, mit geballten Fäusten auf Indigos Brust zu schlagen. Der<br />

Junge faßte sie an <strong>de</strong>n Armen, doch sie riß sich los und rollte sich vom Bett. Schluchzend wollte sie <strong>de</strong>n Vorhang<br />

aufreißen, um aus <strong>de</strong>m Raum zu laufen, doch Indigo versperrte ihr <strong>de</strong>n Weg.<br />

„Du hast mir einmal vertraut, und ich bin wie<strong>de</strong>rgekommen“ sagte er leise, doch bestimmt. „Du mußt auch jetzt an<br />

mich glauben, Saya. Das wird mir mehr helfen als alles an<strong>de</strong>re auf dieser Welt.“<br />

Sie starrte ihn an, dann beugte sie sich vor, küßte ihn sanft auf die Lippen, während Tränen von ihren Wangen<br />

rannen.<br />

„Es ist meine Sache, und ich wer<strong>de</strong> nicht zulassen, daß du lei<strong>de</strong>n mußt. Ich wer<strong>de</strong> allein gehen.“ Er flüsterte nur noch,<br />

wischte sacht mit <strong>de</strong>r Handfläche über ihr Gesicht, trocknete ihre Haut.<br />

„Ich will dich nicht gehen lassen, Asan. Ich weiß, daß du wie<strong>de</strong>rkehrst. Etwas in meinem Inneren teilt es mir mit, und<br />

ich bin dankbar für dieses Gefühl. Trotz<strong>de</strong>m kann ich die Angst nicht überwin<strong>de</strong>n, die du in mir auslösen wirst, wenn<br />

du gehst. Wann hast du vor, mich zu verlassen?“<br />

„Ich wollte es dir bereits sagen, aber das Gespräch mit <strong>de</strong>inem Vater hat mich aufgehalten. Ich wer<strong>de</strong> morgen Abend<br />

aufbrechen, meine Liebe. Ich weiß, das ist früh, sehr früh, aber ich will es so schnell wie möglich hinter mich<br />

bringen.“<br />

Ein langes Schweigen füllte <strong>de</strong>n Raum, doch letztendlich schien das Mädchen sich zu überwin<strong>de</strong>n.<br />

„Ich wer<strong>de</strong> auf dich warten. Nimm das hier an dich, wenn du mir eine Freu<strong>de</strong> machen willst.“<br />

Langsam zog Saya eine Kette von ihrem Hals, achtete darauf, daß sich das Metall nicht in ihren Haaren verfing. Dann<br />

legte sie das Schmuckstück über Indigos Kopf.<br />

„Es ist symbolisch gemeint“ erklärte sie. „Es ist Teil einer langen, langen Zeremonie, die bei unserem Volk üblich ist,<br />

wenn wir mit einem an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>n Bund <strong>de</strong>s Salva eingehen. Später können wir sie nachholen, wenn wir mehr Zeit zur<br />

Verfügung haben.“<br />

„Was ist das Salva? Ich habe noch nie davon gehört.“<br />

„Es ist das Versprechen, <strong>de</strong>n Partner niemals zu verlassen, egal, was kommen mag. Wenn du mein Geschenk<br />

annimmst, dann gibst du mir <strong>de</strong>in Wort, <strong>de</strong>ine Gedanken mit mir zu teilen.“<br />

„Ich nehme die Kette mit Freu<strong>de</strong>n an“ sagte er lächelnd, und sie küßten sich.<br />

„Die Zeremonie dauert unter normalen Umstän<strong>de</strong>n mehrere Stun<strong>de</strong>n, aber ich glaube, diese Worte reichen, um das<br />

Salva zu besiegeln. Wenn wir nur noch eine Nacht für uns haben, dann möchte ich sie an<strong>de</strong>rs nutzen als mit <strong>de</strong>n<br />

Ritualen, die von ein paar uralten Shat’lan ersonnen wur<strong>de</strong>n...“<br />

160


„Ich bin ganz <strong>de</strong>iner Meinung“ lachte Indigo. „Aber laß uns jetzt keine Worte mehr verlieren, Saya.“<br />

Indigo zog die junge Frau zu sich heran, preßte sie an sich und küßte sie.<br />

161


VIII<br />

Tal <strong>de</strong>r Erinnerung<br />

Es kommt nicht darauf an, wie man sich verhält.<br />

Wichtiger ist, wie man han<strong>de</strong>lt.<br />

<strong>Arathas</strong> Dynes<br />

„Die Tore“ sagte Yentaro und <strong>de</strong>utete auf die Silhouette <strong>de</strong>r Stadt Darburg, wie sie sich gegen <strong>de</strong>n rötlichen<br />

Abendhimmel finster abzeichneten.<br />

Dynes hatte keinen Grund gefun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n drei Jurakai nicht zu vertrauen, obwohl er die kühle Veloria mit ihren<br />

berechnen<strong>de</strong>n Augen nicht einschätzen konnte. In ihren Augen leuchtete Intelligenz, ihre Bewegungen verrieten<br />

Anmut und Grazie, aber es gab etwas – <strong>de</strong>r Ritter konnte es nicht genau einordnen – das ihn an <strong>de</strong>r Frau störte.<br />

Trotz<strong>de</strong>m hatte er <strong>de</strong>n dreien alles erzählt, was er erlebt hatte. In diesen Zeiten mußte er froh darüber sein, wenn sich<br />

die kleine Schar auch nur ein wenig Zuwachs erfreuen konnte.<br />

Er hatte befürchtet, daß die Menschen die Jurakai mit Argwohn o<strong>de</strong>r sogar Furcht und Haß betrachten wür<strong>de</strong>n, ihnen<br />

möglicherweise die Schuld an vielem geben wür<strong>de</strong>n, das geschehen war. Doch es stellte sich heraus, daß die bei<strong>de</strong>n<br />

von <strong>de</strong>n Pfeilen Getroffenen nur leichte Verletzungen davontrugen, daß sie sogar fähig waren, zu laufen. Und so<br />

hatten sich die Frem<strong>de</strong>n Dynes’ kleiner Gruppe angeschlossen, wan<strong>de</strong>rten mit ihnen über die Hügel.<br />

Am Nachmittag war dann die Frau Dormid Weglinds von ihnen gegangen. Es war einfach so geschehen, ohne viel<br />

Lärm o<strong>de</strong>r Aufruhr. Im einen Moment lag sie noch atmend auf Sturmauges Rücken, im nächsten war sie tot, von<br />

Durst und Hunger so nah an die Schwelle gebracht, daß sie sie übertreten hatte. Es gab eine kleine Trauerzeremonie,<br />

die jedoch kurz gehalten wur<strong>de</strong>. Ein Grab wur<strong>de</strong> ausgeschaufelt, die Leiche begraben und <strong>de</strong>r Erdhügel mit einem<br />

Steinhäufchen markiert. Niemand sprach irgendwelche Worte über sie, ja, es war nicht einmal ihr Name bekannt. Nur<br />

<strong>de</strong>r alte Dormid hätte ihnen Auskunft darüber geben können, doch <strong>de</strong>r schwelgte in <strong>de</strong>n Phantasien seines verrückten<br />

Verstands, merkte nichts von <strong>de</strong>m, was sich um ihn herum zutrug. Manch einer wünschte sich, daß es ihm selbst<br />

ebenso gehen wür<strong>de</strong>.<br />

Dynes, <strong>de</strong>r mit Tom, Paves und <strong>de</strong>n Neuankömmlingen die Spitze bil<strong>de</strong>te, nickte, als Yentaro <strong>de</strong>n ausgestreckten<br />

Finger gen Horizont richtete.<br />

„Verfluchte Stadt“ teilte er <strong>de</strong>r Welt im allgemeinen und Yentaro im beson<strong>de</strong>ren mit. „Djenhalm besitzt einfach keine<br />

Autorität. Wür<strong>de</strong> mich nicht wun<strong>de</strong>rn, wenn sich die Reihen seiner Untergebenen schon gelichtet hätten, um nach<br />

Mastas zu verschwin<strong>de</strong>n. Ich wür<strong>de</strong> es ihnen nicht verübeln.“<br />

„Auch um <strong>de</strong>n Weilerwald fin<strong>de</strong>n diese Spielchen statt“ erklärte Yentaro. „Die Jurakaistämme verschanzen sich in<br />

<strong>de</strong>n Wäl<strong>de</strong>rn. Alle freien Flächen wer<strong>de</strong>n gemie<strong>de</strong>n. Viele von uns, die nah <strong>de</strong>s Ra’an Gebirges leben, haben sich in<br />

die Berge zurückgezogen. Die Dverjae haben starke Festungen dort.“<br />

„Hoffen wir, daß die Orks die Städte tatsächlich verschonen. Wäre eine nette Überraschung, wenn von Darburg nur<br />

noch die Grundmauern stehen wür<strong>de</strong>n.“<br />

Der Ritter empfing einen abschätzen<strong>de</strong>n Blick von Veloria, <strong>de</strong>r ihn frösteln ließ. In <strong>de</strong>n Augen dieser Frau gab es<br />

nichts, was auf ihre Gedanken schließen ließ. Nicht einmal Gefühle spiegelten sich in ihnen wi<strong>de</strong>r.<br />

„Wir brauchen Nahrung“ sagte sie knapp. Den einen Arm am Bogen, <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren um ihren Bru<strong>de</strong>r gelegt, fuhr sie<br />

fort: „Wenn die Menschensiedlung zerstört sein sollte, fin<strong>de</strong>n wir dort wenigstens Essen und Trinken.“<br />

Als niemand mehr etwas verlauten ließ, schritt die Gruppe stumm weiter, wie eine Konzession von Mönchen, die ein<br />

Schweigegelüb<strong>de</strong> abgelegt hatten.<br />

Auf <strong>de</strong>m Weg zu <strong>de</strong>n Toren, nur noch eine halbe Meile von <strong>de</strong>r Stadt entfernt, machten sie eine grausame<br />

Ent<strong>de</strong>ckung. Und ausgerechnet Veloria war es, die <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren ihren Fund mitteilte. Ihr Gesicht verriet keinen<br />

Schimmer von Anteilnahme o<strong>de</strong>r Entsetzen, als sie auf die dunkle Stelle im Feld zeigte. Der Himmel hatte sich<br />

verfinstert, und von <strong>de</strong>n Rän<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Welt zogen Wolken auf, kesselten die Reisen<strong>de</strong>n ein, als wollten sie ihnen einen<br />

schlechten Empfang bereiten.<br />

„Pfähle“ sagte sie. Sie und ihr Bru<strong>de</strong>r hatten sich ein wenig Abseits vom Rest gehalten, um zu diskutieren, und nur<br />

wenige Fuß vom lehmigen Weg entfernt, mitten in <strong>de</strong>n Ackerlandschaften <strong>de</strong>s Hochlands, waren sie auf die<br />

Holzpfeiler gestoßen.<br />

„Pfähle mit Menschen daran“ erläuterte sie sachlich. Ohne nach <strong>de</strong>m Befin<strong>de</strong>n dieser Menschen zu fragen, war Tom –<br />

allem Anschein nach schockiert – losgerannt. Dynes hob die Brauen und musterte die Jurakai fragend, dann machten<br />

162


auch er und Yentaro sich auf zu <strong>de</strong>n Schatten, die an <strong>de</strong>n Rän<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Pfa<strong>de</strong> warteten. Paves, nun allein zwischen<br />

Valken und Veloria, fühlte sich unwohl und bedrängt, und so zog er <strong>de</strong>n Anblick <strong>de</strong>r Pfähle <strong>de</strong>r Gesellschaft <strong>de</strong>r<br />

bei<strong>de</strong>n vor. Im Nachhinein hätte er an<strong>de</strong>rs gehan<strong>de</strong>lt.<br />

Es waren lange, in <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n gerammte Baumstämme, so hoch wie zwei Mann und ziemlich breit. Ein gutes Dutzend<br />

davon war hier am Feldrand aufgereiht, ein paar weitere Masten zierten <strong>de</strong>n Weg bis hin zu <strong>de</strong>n Toren von Darburg.<br />

An diesen Pfählen, erschlafft und tot, hingen Menschen. Sie waren gefesselt wor<strong>de</strong>n, möglicherweise noch lebendig.<br />

Ihre Augen quollen aus <strong>de</strong>n Höhlen, ihre Gesichter verrieten Furcht. Sie konnten noch nicht lange hier sein, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r<br />

Verwesungsprozeß hatte noch nicht begonnen.<br />

„Es waren keine Orks“ sagte Veloria, die sich kurz nach Paves einfand. Sie schnupperte in <strong>de</strong>r Luft, als wür<strong>de</strong>n die<br />

Win<strong>de</strong> ihr Auskunft erteilen über <strong>de</strong>n Hergang <strong>de</strong>r Tat. „Nur Menschen“ befand sie.<br />

„Wer sollte ihnen so etwas antun wollen?“ fragte Dynes nach<strong>de</strong>nklich. „Djenhalm ist ein unfähiger Bastard, aber er<br />

wür<strong>de</strong> nieman<strong>de</strong>n töten lassen. Vor allem nicht so.“<br />

„Es waren nur Menschen hier“ beteuerte Veloria ausdruckslos.<br />

Yentaro nickte. „Ihr könnt auf ihr Urteil vertrauen, Ritter. Sie irrt sich nie.“<br />

„Aber wenn das stimmt... warum bekämpfen sich die Menschen noch gegenseitig, wenn es auch so schon schlecht um<br />

sie steht?“ <strong>Arathas</strong> konnte sich keinen Reim auf <strong>de</strong>n Fund machen.<br />

„Vielleicht waren es zu viele, die nach Darburg gekommen sind“ spekulierte Paves. Sein Beitrag wur<strong>de</strong> mit einem<br />

Kopfschütteln quittiert.<br />

„Nein“ meinte Dynes. „Wie gesagt, Djenhalm ist kein Unmensch. Es leuchtet mir nicht ein, warum er etwas so<br />

grausames tun sollte.“<br />

„Dann wer<strong>de</strong>t ihr nicht umhin kommen, ihn selbst zu fragen“ sagte Yentaro.<br />

„Ja. Und wenn wir uns <strong>de</strong>r Stadt nähern, wer<strong>de</strong>n wir unsere Waffen bereit halten.“<br />

Dunkelheit.<br />

Alles umfassen<strong>de</strong>, einschließen<strong>de</strong> Dunkelheit. Talamà öffnete die Augen, zwinkerte in <strong>de</strong>r Finsternis. Schon wie<strong>de</strong>r<br />

einer dieser seltsamen Träume...<br />

Indigo war bei ihr gewesen. Er hatte mit ihr gere<strong>de</strong>t, ihr Mut gemacht. Sie wußte nicht mehr genau, worüber er mit<br />

ihr gesprochen hatte, doch es schien... wichtig. Die Träume ließen eines jedoch zur Gewißheit wer<strong>de</strong>n: Der Jurakai<br />

lebte. Talamà erbebte allein beim Gedanken daran, sog erleichtert die Höhlenluft ein. Sie wandte <strong>de</strong>n Kopf, doch die<br />

Dunkelheit um sie herum blieb eisern bestehen. Obwohl sie nicht imstan<strong>de</strong> war, etwas zu erkennen, wußte sie doch,<br />

wo sie sich befand. Sie spürte, wo die Wän<strong>de</strong> waren, wo Elan<strong>de</strong>r neben ihr lag und schlummerte...<br />

Etwas ging mit ihr vor. Die wun<strong>de</strong>rsamen Träume von ihrem einstigen Gefährten waren voll von son<strong>de</strong>rbaren Dingen,<br />

doch sie schienen das Mädchen auf etwas... vorzubereiten. Solange sie nicht wußte, was dies war, wollte sie sich auch<br />

keine weiteren Gedanken darüber machen, vor allem um <strong>de</strong>s Zwerges Willen. Er sollte nicht noch mehr belastet<br />

wer<strong>de</strong>n, nun, da er sich um eine blin<strong>de</strong> Frau zu kümmern hatte.<br />

Aber trotz ihrer Blindheit konnte Talamà <strong>de</strong>m Zwerg wenigstens ein bißchen zur Hand gehen, wenn sie in <strong>de</strong>n Stollen<br />

gruben. Von Tag zu Tag schärften sich ihre Sinne, und auch wenn ihre Augen sie im Stich gelassen hatten – sie fand<br />

sich zurecht in <strong>de</strong>n unterirdischen Höhlen und Gängen. Die dunklen Tunnel hatten einen Großteil ihrer<br />

Unheimlichkeit eingebüßt, seit sie ihre Sehfähigkeit verloren hatte, und zum Teil war sie dankbar dafür. Es gingen<br />

verschie<strong>de</strong>ne Dinge mit ihr vor, und das verstärkte Empfin<strong>de</strong>n war nur eines davon. Sie konnte sich neuerdings besser<br />

orientieren, kannte sich auf ihren langen Wan<strong>de</strong>rungen durch die Gänge und Schächte immer besser aus. Vor einigen<br />

Tagen war sie in ein neues Arbeitslager eingeteilt wor<strong>de</strong>n, mehrere Stollen entfernt. Zum Glück hatten die Orks auch<br />

Elan<strong>de</strong>r nicht verschont vor <strong>de</strong>m Umzug, so daß ihr wenigstens ein Freund geblieben war. Der Dverjae behauptete,<br />

daß die Tunnel hier, wo sie sich jetzt befan<strong>de</strong>n, an<strong>de</strong>rs seien als die vorherigen. Er berichtete ihr, daß die Wän<strong>de</strong><br />

fluoreszierten, ein schwaches, fast unmerkliches Glühen von ihnen ausging. Er meinte auch, daß er dieses Phänomen<br />

kenne, <strong>de</strong>nn in Fuburburg hatten sie viele <strong>de</strong>rartige Gänge gehabt. Es waren feine, an <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n wachsen<strong>de</strong><br />

Teppiche aus Pilzen, von <strong>de</strong>nen das Leuchten ausging, die ein bißchen Licht in die ewige Dunkelheit brachten. Sie<br />

mußten sich tief, tief unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> befin<strong>de</strong>n, wo die son<strong>de</strong>rbarsten Gewächse und Geschöpfe entstan<strong>de</strong>n...<br />

Ansonsten erhellten nur die gelegentlichen Fackeln die Wege, die <strong>de</strong>m Mädchen nun gleichgültig gewor<strong>de</strong>n waren.<br />

Sie gewöhnte sich daran, sich die Anzahl <strong>de</strong>r Schritte zu merken, die sie von einem markanten Punkt zum nächsten<br />

brauchte. Sie kannte sich in <strong>de</strong>n hiesigen Tunnels schon fast aus, <strong>de</strong>nn so wie Elan<strong>de</strong>r die Gänge an <strong>de</strong>n<br />

verschie<strong>de</strong>nen Ablagerungen und Erdschichten wie<strong>de</strong>rerkennen konnte, so nahm sie Gerüche wahr, o<strong>de</strong>r sie fühlte<br />

eine beson<strong>de</strong>re Kennung <strong>de</strong>s Untergrunds, so wie Kiesel o<strong>de</strong>r Kalk.<br />

Das Leben war zwar nicht angenehm, doch im Gegensatz zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Gefangenen hatten sie und <strong>de</strong>r Zwerg es fast<br />

schon leicht. Die Taktik <strong>de</strong>s Dverjae, um sich mehr Nahrung zu verschaffen, funktionierte auch hier vorzüglich, und<br />

gemeinsam aßen und tranken sie Abend für Abend die ergaunerten Speisen, freuten sich über das schlechte Brot und<br />

das brackige, stinken<strong>de</strong> Wasser.<br />

Trotz<strong>de</strong>m wirkte all diese Er<strong>de</strong>, die über <strong>de</strong>m Kopf zu hängen schien, auf <strong>de</strong>n Schultern lastete, bedrückend und<br />

einschüchternd. Talamà hatte eine schwere Zeit gehabt, als Elan<strong>de</strong>r ihr mitteilte, daß Beltiar gestorben sei, und zuerst<br />

163


hatte sie es nicht glauben wollen. Nicht genug, daß sie blind war, hatte sie in aufwallen<strong>de</strong>m Zorn gedacht, auch <strong>de</strong>r<br />

einzige Jurakai, <strong>de</strong>n sie hier unten kannte, sollte nicht mehr am Leben sein? Sie war in heller Aufregung, <strong>de</strong>n Tränen<br />

nahe, über <strong>de</strong>n lehmigen Bo<strong>de</strong>n gekrochen, hatte sich auf Knie und Hän<strong>de</strong> gestützt, als sie nach ihrem alten Freund<br />

suchte. Schließlich nahm Elan<strong>de</strong>r sie bei <strong>de</strong>r Hand, führte sie zur reglosen Gestalt Beltiars, und als sie <strong>de</strong>n Körper<br />

noch gar nicht ganz erreicht hatten, wußte Talamà schon, daß <strong>de</strong>r Zwerg die Wahrheit gesprochen hatte. Ein fauliger<br />

Geruch strömte in ihre Nase, und mit ihren geschärften Sinnen nahm sie <strong>de</strong>n Gestank <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s wahr. Fast spürbar<br />

lag die Schwärze, die Kälte über <strong>de</strong>m Ort, an <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Jurakai dahingeschie<strong>de</strong>n war, und schnell hatte die junge Frau<br />

sich abgewandt. Elan<strong>de</strong>r hatte sich während <strong>de</strong>r ganzen Zeit, in <strong>de</strong>r Talamàs Wun<strong>de</strong>n noch schlimm waren,<br />

fürsorglich um sie gekümmert, hatte ihr wahrscheinlich alles Wasser überlassen, das er bekommen konnte, selbst sein<br />

eigenes. Den armen Dverjae plagten noch immer tiefe Schuldgefühle, doch Talamà hatte ihm längst verziehen. Es war<br />

sein Verdienst, daß sie noch lebte, und hätte er sich eingemischt, dann wären sie nun bei<strong>de</strong> tot. Auch ihre Blindheit<br />

stellte sich auf <strong>de</strong>n weiten Reisen durch die Stollen immer mehr als Hilfe statt Behin<strong>de</strong>rung heraus.<br />

Sie rollte sich auf die an<strong>de</strong>re Seite, hörte, wie <strong>de</strong>r Zwerg neben ihr gleichmäßig atmete. Lächelnd hing sie ihren<br />

Gedanken nach, bis das Geräusch von leisen Schritten im Gang draußen zu hören war, die Tür unsanft geöffnet<br />

wur<strong>de</strong>. Stöhnen<strong>de</strong> Wesen rafften sich um sie herum auf, und auch Elan<strong>de</strong>r und Talamà kamen langsam auf die Beine.<br />

Der Zwerg trank einen Schluck Wasser, bot auch seiner Gefährtin etwas an, doch sie verneinte. Er hob fragend die<br />

Brauen, erinnerte sich dann an Talamàs Blindheit und fragte sie, warum sie die Flüssigkeit ablehnte.<br />

„Ich fühle mich gut“ lautete ihre seltsame Antwort. „Trink nur, <strong>de</strong>nn du hast es nötiger als ich.“<br />

Schulterzuckend ließ <strong>de</strong>r Zwerg das Wasser in seine Kehle fließen, labte sich am kühlen Naß. Die letzten Tropfen<br />

zergingen auf seiner Zunge, dann war das Schälchen leer. Doch in versteckten Nischen warteten weitere Notrationen,<br />

und <strong>de</strong>r Dverjae brauchte all seine Beherrschung, um sich nicht an <strong>de</strong>n Nahrungsmitteln zu vergehen. Immerhin<br />

waren es ihre Einzigen, ihre Hoffnung, jemals wie<strong>de</strong>r lebend an die Oberfläche zurückzukehren. Sie mußten sich die<br />

Speisen vernünftig einteilen, <strong>de</strong>nn sonst wür<strong>de</strong>n sie niemals ausreichen.<br />

Ein Ork stapfte durch die Tür, begann mit <strong>de</strong>r allmorgendlichen Zeremonie <strong>de</strong>s Tretens und Schlagens. Bevor er die<br />

Jurakai und ihren Begleiter erreicht hatte, waren die zwei aus <strong>de</strong>r Höhle geschlichen und reihten sich unter die<br />

an<strong>de</strong>ren Arbeiter. Mit leeren Blicken und tiefen Augenhöhlen drängten sich die Personen zusammen, einige weinten.<br />

Es waren Laute <strong>de</strong>r schieren Verzweiflung, die in Talamàs Ohren drangen, doch im Laufe <strong>de</strong>r Tage hatte sie gelernt,<br />

daß sie nichts für diese armen Seelen tun konnte. Je<strong>de</strong> Wohltat erwies sich als Rückschlag, wenn ein Ork <strong>de</strong>r<br />

betroffenen Person auf die Schliche kam, das Brot ent<strong>de</strong>ckte, das die Jurakai <strong>de</strong>m Armen zugesteckt hatte. Wenn dann<br />

die Schmerzensschreie durch die gesamten Tunnel gellten, warf Talamà sich vor, Schuld zu sein am harten Schicksal<br />

<strong>de</strong>r Gefangenen.<br />

Der Orkwärter schlug die Tür hinter sich zu, prügelte wahllos auf ein paar Menschen ein, die in seiner Nähe stan<strong>de</strong>n.<br />

Er beherrschte Rubisch zwar recht gut, sprach es jedoch so gut wie nie. Meist machte er <strong>de</strong>n Leuten mit Brutalitäten<br />

klar, was sie zu tun hatten, <strong>de</strong>nn diese Sprache verstand selbst <strong>de</strong>r Dümmste.<br />

Auch waren die Sicherheitsvorkehrungen in diesem Abschnitt größer, dachte Talamà bei sich, als sie durch die<br />

Tunnels marschierten. In ihrem ersten Arbeitslager war es nur <strong>de</strong>r eine Schwarzork gewesen, <strong>de</strong>r die Gruppe<br />

beaufsichtigt hatte, und manchmal hatte eines <strong>de</strong>r Glühwürmchen ihm Gesellschaft geleistet. Die Jurakai war froh<br />

darüber, daß sie <strong>de</strong>n schrecklichen Anblick <strong>de</strong>r glitschigen, dürren Weißen nun nicht mehr ertragen mußte.<br />

Hier jedoch folgten ihnen min<strong>de</strong>stens zwei Orks, und zwei liefen ihnen voran. Möglicherweise befan<strong>de</strong>n sie sich nun<br />

näher an <strong>de</strong>r Wurzel <strong>de</strong>s Übels... vielleicht waren sie <strong>de</strong>m Herzen <strong>de</strong>s unterirdischen Reiches näher gekommen...<br />

Talamà lauschte <strong>de</strong>m Geräusch <strong>de</strong>r knirschen<strong>de</strong>n Er<strong>de</strong> unter ihren Füßen, achtete auf die Gerüche, die von <strong>de</strong>n<br />

Wän<strong>de</strong>n drangen. Er<strong>de</strong> hatte nicht immer <strong>de</strong>n gleichen Geruch, hatte sie herausgefun<strong>de</strong>n. Es gab winzige, feine<br />

Unterschie<strong>de</strong>, und wenn man sie nicht weiter beachtete, dann fielen sie einem auch gar nicht auf. Doch wenn <strong>de</strong>r<br />

Geruchssinn plötzlich unglaublich wichtig wur<strong>de</strong>, dann offenbarten sich völlig neue, komplexe Muster im Duft <strong>de</strong>r<br />

Steine und <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>. Hier zum Beispiel roch sie alt, modrig und ein auch ein wenig... grün. Sie verglich die Düfte und<br />

Geschmäcker gern mit Farben, <strong>de</strong>nn sie waren nicht viel an<strong>de</strong>rs. Ja, die bei<strong>de</strong>n Empfindungen hatten eine Menge<br />

gemein. Während sie durch <strong>de</strong>n Tunnel gedrängt wur<strong>de</strong>n, prägte Talamà sich die Abbiegungen ein, zählte im Geiste<br />

die Schritte, die sie zur nächsten Abzweigung führten, hinein in <strong>de</strong>n nächsten Abschnitt voll von Gerüchen, die so<br />

abstoßend o<strong>de</strong>r monoton, so unterschiedlich wie auch gleichbleibend waren.<br />

Die Pfähle hatten sich nicht gelichtet.<br />

Zu bei<strong>de</strong>n Seiten säumten sie <strong>de</strong>n Weg, waren wie ein Geleit in <strong>de</strong>n Rachen <strong>de</strong>r Unterwelt, führten Dynes’ kleine<br />

Schar vorbei an <strong>de</strong>n gefesselten Leibern <strong>de</strong>r Toten. Die Gemüter <strong>de</strong>r Menschen waren bedrückt, während sie an <strong>de</strong>n<br />

Pfeilern vorbeigingen, hier und da einen Blick riskierten. Die ganze Angelegenheit wirkte so ausla<strong>de</strong>nd und<br />

furchterregend, daß einige von ihnen am liebsten wie<strong>de</strong>r kehrt gemacht hätten. Doch <strong>Arathas</strong> schritt mit Bestimmtheit<br />

voran, ließ sich nichts von <strong>de</strong>n Schrecken anmerken, und die Jurakai schienen sowieso unberührt von <strong>de</strong>rlei Dingen.<br />

„Die Brücke ist hochgezogen“ sagte Yentaro, als sie vor <strong>de</strong>m Burggraben stan<strong>de</strong>n. Schwarzes Wasser strömte träge<br />

durch die Grube. „Wer<strong>de</strong>n sie uns Einlaß gewähren zu so später Stun<strong>de</strong>?“<br />

164


„Dieser Hurensohn von Djenhalm wird alles an<strong>de</strong>re tun, als uns hier draußen stehen zu lassen wie Vieh auf <strong>de</strong>r<br />

Wei<strong>de</strong>“ knurrte Dynes. Er blickte nach oben und wollte zu einem Schrei ansetzen, um sich bemerkbar zu machen.<br />

Doch etwas, das dort oben bei <strong>de</strong>n Zinnen hing, ließ ihm <strong>de</strong>n Atem im Hals gefrieren.<br />

Die Jurakai taten es ihm gleich und folgten seinem erstarrten Blick.<br />

„Was... was ist das?“ fragte Tom. Er war sich seiner Ent<strong>de</strong>ckung vollkommen bewußt.<br />

Ein Kopf war auf einen Pfahl gespießt wor<strong>de</strong>n, zierte nun die Burgmauer von Darburg. Der Wind spielte mit <strong>de</strong>m<br />

verklebten Haar.<br />

„Djenhalm“ flüsterte Dynes düster.<br />

„Zumin<strong>de</strong>st sein Kopf“ ließ sich Veloria vernehmen. Sie erntete einen vernichten<strong>de</strong>n Blick seitens <strong>de</strong>r Menschen.<br />

„Verdammte Bastar<strong>de</strong>!“ Gera<strong>de</strong> wollte <strong>de</strong>r Ritter sich umdrehen und <strong>de</strong>n Befehl für <strong>de</strong>n Rückzug rufen, da erschien<br />

ein zweiter Kopf an <strong>de</strong>n Zinnen. Er war nicht vom Körper getrennt, obwohl <strong>de</strong>r Leib nicht zu sehen war, sich hinter<br />

<strong>de</strong>n Steinen verbarg. Unsicher spähte das Gesicht hinab.<br />

„Öffnet. Wir sind Freun<strong>de</strong>“ sagte Yentaro mit befehlsgewohnter Stimme, und fast augenblicklich begannen<br />

Scharniere, sich zu bewegen, und die Zugbrücke senkte sich.<br />

Als die Brücke <strong>de</strong>r Gruppe zu Füßen lag, trat <strong>Arathas</strong> langsam darüber. Zwei Wachen empfingen ihn an ihrem En<strong>de</strong>,<br />

bei<strong>de</strong> hielten ihre Schwerter auf <strong>de</strong>n Ritter gerichtet. Wenigstens einer von ihnen strahlte ein gewisses Maß an<br />

Intelligenz aus, als er die Waffe angesichts <strong>de</strong>r Größe <strong>de</strong>r Schar ein wenig senkte.<br />

„Ihr seid Sir <strong>Arathas</strong>, nicht wahr? Eure Lehen liegen weiter südlich, in Yark.“ Die Wache hob die Brauen.<br />

Dynes nickte. Hinter ihm fan<strong>de</strong>n sich Paves und Tom ein, die Jurakai verweilten im Hintergrund.<br />

„Was ist hier geschehen?“ verlangte <strong>de</strong>r Ritter zu wissen. „Was hat... das dort zu be<strong>de</strong>uten?“ Er zeigte nach oben, auf<br />

<strong>de</strong>n abgeschnittenen Kopf Djenhalms.<br />

Jetzt senkten die Wachen endgültig ihre Schwerter. Hoffnungslosigkeit schimmerte in ihren Augen, als sie <strong>Arathas</strong>’<br />

Finger folgten.<br />

„Die Stadt wur<strong>de</strong> übernommen“ sagte <strong>de</strong>r Wächter kleinlaut. „Alles hier hat sich geän<strong>de</strong>rt. Der Frem<strong>de</strong> hat Djenhalm<br />

getötet und seinen Kopf aufgespießt an die Mauer gehängt. Er sagte, es wäre eine Warnung. Wir – Djenhalms<br />

Soldaten – konnten es uns aussuchen, entwe<strong>de</strong>r ihm zu dienen o<strong>de</strong>r zu sterben. Ein paar wählten das Letztere. Sie<br />

hängen nun da draußen an <strong>de</strong>n Pfählen, zusammen mit <strong>de</strong>n Bürgern, die <strong>de</strong>m neuen Stadtherrn nicht paßten.“<br />

Dynes brauchte ein paar Sekun<strong>de</strong>n, um die Neuigkeiten zu verdauen. „Von was für einem Frem<strong>de</strong>n sprichst du? Wie<br />

lautet sein Name?“<br />

„Ich weiß es nicht, Herr“ sagte <strong>de</strong>r Wächter zaghaft. Seine Augen baten um Vergebung. „Er hat ihn mir gegenüber<br />

nicht genannt. Fast keiner von uns kennt ihn. Der Frem<strong>de</strong> kam vor zwei Tagen mit seinen Leuten hier an. Seit<strong>de</strong>m ist<br />

Angst die herrschen<strong>de</strong> Gewalt. Ich weiß nur, wie <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong> aussieht. Er trug weinroten Samt, als er kam. Ich glaube,<br />

er sagte, daß es die Farbe <strong>de</strong>s Blutes wäre, die ihn zierte. Daß sie für all die Menschenleben stehen wür<strong>de</strong>, die er schon<br />

genommen hat.“<br />

Dynes verzog keine Miene. Er hatte genug gehört.<br />

„Ich wer<strong>de</strong> mir diesen Fremdling ansehen“ teilte er <strong>de</strong>n Wachen mit. Es war unverkennbar, daß sie <strong>de</strong>m neuen<br />

Stadtherrn nicht loyal gegenüberstan<strong>de</strong>n. „Außer<strong>de</strong>m suche ich nach Kämpfern. Wenn ihr zwei von hier<br />

verschwin<strong>de</strong>n wollt, dann kommt mit mir. Ich wer<strong>de</strong> mit meiner Gruppe gegen die Orks ziehen.“<br />

„Ich weiß nicht, Herr.“ Angst zitterte in <strong>de</strong>r Stimme <strong>de</strong>s Wächters.<br />

„Denkt darüber nach“ sagte Dynes. „Und nun laßt uns passieren.“<br />

„Geht hinein. Allerdings sind wir gezwungen, Eure Ankunft zu mel<strong>de</strong>n, Herr.“<br />

<strong>Arathas</strong> zögerte, nickte dann jedoch. Vielleicht war diese Entwicklung die Beste. Er führte seine Schar durch <strong>de</strong>n<br />

Torbogen, und nicht wenige Blicke hafteten in<strong>de</strong>s am Kopf <strong>de</strong>s einstigen Stadtherren, <strong>de</strong>r unheilverkün<strong>de</strong>nd über<br />

ihnen baumelte. Auch wenn viele <strong>de</strong>r Bauern Djenhalm nicht unbedingt gemocht hatten, so war es doch ein seltsames<br />

Gefühl, seinen Kopf nun dort hängen zu sehen, hin und her geschaukelt vom Wind.<br />

„Du kennst <strong>de</strong>n Mann, <strong>de</strong>r Djenhalm getötet hat, nicht wahr, Aras? Ich habe es an <strong>de</strong>iner Mimik gesehen“ meinte<br />

Tom, als sie die Tore passiert hatten.<br />

„Verflucht, ja! Verdammter Hurensohn!“ knurrte Dynes. „Ich hätte es mir <strong>de</strong>nken können.“<br />

„Wer ist es?“<br />

„Der Kerl nennt sich Reeves. Ontarias Reeves. Ist ein Emporkömmling <strong>de</strong>r übelsten Sorte. Der Bastard hat ganz<br />

Henshire in Brand gesteckt, um die Pest zu vernichten.“<br />

„Diese Metho<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>m Schwarzen Tod umzugehen, war mir... noch nicht geläufig“ sagte Yentaro neben ihm.<br />

„Obwohl sie sicherlich erfolgreich ist.“<br />

„Ein wenig zu erfolgreich, für meinen Geschmack. Reeves hat einfach alles nie<strong>de</strong>rgebrannt. Ich bezweifle, daß von<br />

Henshire noch mehr übrig ist als ein Aschehäufchen.“<br />

„Nun“ meinte Yentaro nach<strong>de</strong>nklich. „Möglicherweise wird es doch nicht so einfach, hier Verbün<strong>de</strong>te zu fin<strong>de</strong>n.“<br />

Ein leises Rascheln ging durch die Höhle, als zwei Gestalten über die strohbe<strong>de</strong>ckte Er<strong>de</strong> liefen. Schnauben drang an<br />

ihre Ohren, von allen Seiten erklangen die Geräusche luftausstoßen<strong>de</strong>r Nüstern, und kon<strong>de</strong>nsieren<strong>de</strong> Wölkchen<br />

165


il<strong>de</strong>ten sich in <strong>de</strong>r Luft. Eine <strong>de</strong>r Gestalten ging voran, führte die zweite an <strong>de</strong>n Gattern vorbei, bis sie eine<br />

Einbuchtung in <strong>de</strong>r Höhlenwand erreicht hatten.<br />

„Es ist eine Überraschung, An’chassar. Wir hoffen, daß sie dich beglücken wird.“ Mit ausgestreckter Hand <strong>de</strong>utete die<br />

Gestalt auf das düstere Gehege, und langsam schob sich ein neugieriger Kopf nach vorn, betastete sie vorsichtig mit<br />

<strong>de</strong>r Schnauze.<br />

„Windmähne!“ stieß Indigo hervor und lachte erfreut auf. „Ich hatte dich fast vergessen, alter Junge. Ja, mein Guter,<br />

ich bin es.“ Liebevoll widmete er sich <strong>de</strong>m Pferd, während Keldar schweigend neben ihm stand und ihn beobachtete.<br />

„Ist dies ein Versteck für eure Tiere?“ fragte <strong>de</strong>r junge Mann, und Keldar nickte.<br />

„Eines von vielen, die wir an <strong>de</strong>r Oberfläche haben. Aber es sind nicht nur Pfer<strong>de</strong>, die wir besitzen. Die Shat’lan<br />

halten sich ebenso Nutztiere, wie die Manur o<strong>de</strong>r die Jurakai es tun.“<br />

„Windmähne ist gut gepflegt wor<strong>de</strong>n, nicht wahr? Sein Fell glänzt, und er sieht stark und ausgeruht aus.“<br />

„Es sind immer einige meines Volkes hier, die sich um die Tiere kümmern, An’chassar. Diese Höhlen sind zwar gut<br />

geschützt, aber ein findiger Griznu kann es <strong>de</strong>nnoch schaffen, einen Weg in unsere Ställe zu fin<strong>de</strong>n. Sie sind niemals<br />

unbewacht.“<br />

„Nun, dann laß uns <strong>de</strong>n alten Jungen mal nach draußen führen, Keldar.“ Er öffnete die Tore <strong>de</strong>s Geheges und<br />

streichelte <strong>de</strong>m Pferd über die Mähne. Die Augen <strong>de</strong>s Tieres funkelten im Dunkel, und mit intelligentem Blick<br />

betrachtete es seinen Herrn. Keldar warf Indigo Zaumzeug zu, und nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r junge Mann es <strong>de</strong>m Hengst angelegt<br />

hatte, führte er ihn aus <strong>de</strong>m Stall. Als sie die Höhle verließen, entfuhr <strong>de</strong>m prächtigen Tier ein aufgeregtes Schnauben,<br />

doch <strong>de</strong>r Jurakai flüsterte ihm beruhigen<strong>de</strong> Worte ins Ohr.<br />

„Es hat dich nicht vergessen, An’chassar. Du warst schwer verwun<strong>de</strong>t, als wir dich vor <strong>de</strong>n Wäl<strong>de</strong>rn fan<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>in<br />

Pferd hat sich gesträubt, dich gehen zu lassen. Es ist ein einzigartiges Tier, das kann ich dir versichern. Anfangs, in<br />

<strong>de</strong>n ersten Tagen, die es hier verbracht hat, war ich oft bei ihm. Es war verängstigt, doch seine Furcht verflog rasch,<br />

als sich die liebevollen Hän<strong>de</strong> eines Shat’lan seiner annahmen.“<br />

„Ich bin euch zu Dank verpflichtet, Keldar. Du und <strong>de</strong>in Volk, ihr habt so vieles für mich getan...“<br />

„Auch du wirst <strong>de</strong>inen Teil beitragen, An’chassar.“<br />

„Ich hoffe, daß ihr Recht behalten wer<strong>de</strong>t. Es kommt mir vor, als wür<strong>de</strong> ich gera<strong>de</strong>wegs in mein Ver<strong>de</strong>rben reiten, als<br />

wür<strong>de</strong> ich mich an einem Schei<strong>de</strong>weg befin<strong>de</strong>n und die falsche Wahl treffen...“<br />

„Ich vertraue dir, An’chassar.“ Der ernste Blick in Keldars Augen durchdrang <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>s Jungen, und er<br />

verspürte eine tiefe Zuneigung zu <strong>de</strong>m Shat’lan. In gewisser Weise war <strong>de</strong>r alte Mann wie Nachtfalke, obwohl er ihn<br />

nie ersetzen können wür<strong>de</strong>. „Wir alle vertrauen dir. Am meisten aber meine Tochter Saya. Ich weiß, welche Gefühle<br />

ihr füreinan<strong>de</strong>r hegt, und ich glaube vor allem ihretwegen daran, daß dies nicht das letzte Mal ist, daß wir uns sehen.<br />

Du wirst zurückkehren, An’chassar. Und wenn es nur wegen Saya ist.“<br />

„Sie ist eine starke Shat’lan, Keldar. Deine Tochter weiß sehr wohl, wie gefährlich mein weiterer Weg ist, und sie<br />

fürchtet ebenso um mein Leben, wie ich es tue. Aber in ihrer Angst liegt auch eine Stärke, ein Hoffnungsschimmer,<br />

<strong>de</strong>r mir Mut schenkt. Ich wer<strong>de</strong> zurückkehren.“<br />

Keldar legte ihm <strong>de</strong>n Arm um die Schulter, zog ihn näher zu sich heran.<br />

„Ich weiß“ flüsterte er. „Ich weiß es, wenn ich in <strong>de</strong>ine Augen sehe, <strong>de</strong>nn ihre Farbe ist beinahe so schwarz wie die<br />

eines echten Shat’lan. Das Geysa verän<strong>de</strong>rt dich, An’chassar. Deinen Körper und... <strong>de</strong>inen Geist. Wenn du dich<br />

bemühst, wer<strong>de</strong>n wir auch über große Entfernungen in Kontakt bleiben können. Das Geysa ist ein starker<br />

Verbün<strong>de</strong>ter.“<br />

„Damit habe ich noch Schwierigkeiten“ gestand sich Indigo ein. „Als ich das Sekret durch meine A<strong>de</strong>rn fließen<br />

spürte, konnte ich ebenfalls die Gedanken von an<strong>de</strong>ren Lebewesen wahrnehmen, so wie du es mir beschrieben hast.<br />

Aber sobald die Droge ihre Wirkung verliert...“<br />

Keldar lachte auf, und <strong>de</strong>r Jurakai stolperte verwirrt nach vorn, als ihn <strong>de</strong>r muskulöse Arm <strong>de</strong>s Shat’lan von sich<br />

stieß.<br />

„Die Droge ihre Wirkung verliert, An’chassar? Das Geysa verliert niemals an Kraft, du junger Narr. Wenn <strong>de</strong>in<br />

Körper das erste Mal in Berührung gerät mit <strong>de</strong>m Sekret, wird er nie wie<strong>de</strong>r so sein wie vorher. Die Wirkung verliert<br />

sich nicht, mein Freund. Es ist nicht wie mit Wein, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>ine Sinne betrübt und dich in an<strong>de</strong>re Welten versetzt, dich<br />

aber am nächsten Morgen zurück in die Wirklichkeit führt. Das Geysa ist... an<strong>de</strong>rs. Du merkst es nur noch nicht, o<strong>de</strong>r<br />

möglicherweise willst du es nicht wahrhaben, doch es ist noch immer in dir, fließt in <strong>de</strong>inem Blut, rinnt durch <strong>de</strong>ine<br />

A<strong>de</strong>rn...“<br />

„Ich wer<strong>de</strong> versuchen, mich daran zu erinnern, Keldar. Aber im Moment fühle ich nichts außer <strong>de</strong>m lebendigen Wald<br />

um mich herum, die Präsenz <strong>de</strong>r Bäume und Tiere.“<br />

„Das ist ein Anfang, o<strong>de</strong>r nicht?“ Ein breites Lächeln zog sich über die Lippen <strong>de</strong>s Mannes, als er in die Wäl<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>utete. „Irgendwo dort liegt <strong>de</strong>ine Bestimmung, ebenso wie die unsere. Fin<strong>de</strong> sie für uns, <strong>de</strong>nn mein Volk ist bereits<br />

zu sehr in seinen Traditionen und Gewohnheiten verstrickt, als daß wir selbst ausziehen könnten. Es ist nun <strong>de</strong>ine<br />

Aufgabe.“<br />

„Dann will ich keine Zeit mehr verlieren, Keldar. Solange die letzten Strahlen <strong>de</strong>r Sonne mir <strong>de</strong>n Weg weisen, will<br />

ich versuchen, das Beste aus ihnen zu machen.“<br />

166


„Nicht ganz so schnell, An’chassar. Es ist noch eine Sache offen, über die wir sprechen müssen. Niemand weiß<br />

wirklich, wohin du reiten wirst. Niemand hat dich gefragt, <strong>de</strong>nn es ist allein <strong>de</strong>ine Entscheidung, wann und wohin du<br />

aufbrichst. Aber es interessiert mich ungemein, und wenn du mir das Ziel <strong>de</strong>iner Reise erläutern wür<strong>de</strong>st...“<br />

„Der Königshof“ sagte Indigo. „Ich wer<strong>de</strong> Hochkönig Westfald aufsuchen. Ich weiß, ihr habt mir davon abgeraten,<br />

aber eure Beziehungen zu <strong>de</strong>n Manur sind mehr als spärlich. Auch wenn das Innere Reich keine Ritter entsen<strong>de</strong>n<br />

wird, um die Plage zu bekämpfen, ist es doch <strong>de</strong>n Versuch wert, fin<strong>de</strong> ich.“<br />

„Es liegt in <strong>de</strong>iner Hand, An’chassar. Allein in <strong>de</strong>iner Hand.“<br />

Erleichtert nahm Indigo <strong>de</strong>n Shat’lan in seine Arme, drückte ihn fest an seine Brust.<br />

„Ich bin dir sehr dankbar, Keldar. Ich habe viel gelernt in <strong>de</strong>r kurzen Zeit, die ich bei euch verbrachte, und ich danke<br />

dir dafür, daß ich <strong>de</strong>ine Tochter kennenlernen durfte. Sie ist eine wun<strong>de</strong>rvolle Frau, und ich schwöre, daß ich<br />

zurückkehren wer<strong>de</strong>, um bei ihr zu bleiben.“<br />

Sie lösten sich voneinan<strong>de</strong>r, und Indigo stieg auf <strong>de</strong>n Rücken von Windmähne, warf mit <strong>de</strong>r Hand einen Gruß.<br />

„Viel Glück, An’chassar. Und viel Erfolg am Königshof.“ Keldar wartete am Eingang zur Höhle, bis die Umrisse<br />

Indigos sich nicht mehr gegen die Blätter abzeichneten, bis <strong>de</strong>r Schatten <strong>de</strong>s Jurakai im dichten Wald verschwun<strong>de</strong>n<br />

war. Er senkte <strong>de</strong>n Kopf, atmete tief ein und sah traurig auf <strong>de</strong>n kühlen Bo<strong>de</strong>n. Wenn das Wetter weiterhin so kalt<br />

blieb, wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Schnee nicht mehr lange auf sich warten lassen.<br />

An’chassar mußte sich beeilen.<br />

Im trüben Licht <strong>de</strong>r Kerzen, die die rauchgeschwängerte Luft <strong>de</strong>s Wirtshauses erhellten, saßen die Männer und<br />

Frauen, die Dynes folgten, beieinan<strong>de</strong>r.<br />

Der Ritter hatte mit seinen letzten paar Silberlingen Essen und Wein für die Gruppe gekauft, die sich nun heißhungrig<br />

über die Speisen hermachte. Nur Yentaro, Valken und Veloria blieben still an ihren Plätzen, rührten nichts an außer<br />

ihren eigens mitgebrachten Nahrungsmitteln. Der Wirt, ein schlaksiger, weißhaariger alter Kerl, hieß das Verhalten<br />

<strong>de</strong>r Jurakai zwar nicht gut, erhob aber keinen Einspruch dagegen. Er war froh, daß seine Gaststube überhaupt noch<br />

Besuch bekam in diesen harten Zeiten.<br />

Und hier, im düsteren Zwielicht <strong>de</strong>r Kneipe, fiel <strong>Arathas</strong> zum ersten Mal, seit die neuen Begleiter zu ihnen gestoßen<br />

waren, die Seltsamkeit dieser Geschöpfe auf. Nicht durch ihr Verhalten hoben sie sich ab vom Rest, son<strong>de</strong>rn allein<br />

vom Aussehen. Veloria, diese kühle, gefühlskarge Frau, trug einen silbernen Haarschopf auf <strong>de</strong>n Kopf, und ebenso<br />

war es um ihren Bru<strong>de</strong>r bestellt. Die weißen Mähnen glänzten im Dunkel, die Gesichter waren ausdruckslos. Yentaro<br />

war <strong>de</strong>r Einzige von <strong>de</strong>n dreien, <strong>de</strong>r sich in die menschliche Gesellschaft einzufügen schien. Seine Gefährten dagegen<br />

waren so verschie<strong>de</strong>n wie <strong>de</strong>r <strong>Mond</strong> von <strong>de</strong>r Sonne.<br />

„Und was habt Ihr nun vor?“ erkundigte sich <strong>de</strong>r Jurakai ernsthaft. „Ich spüre die Unruhe unter Eurer Gefolgschaft.<br />

Viele von ihnen wollen nach <strong>de</strong>n Verwandten suchen, die sich hierher geflüchtet haben. Manch an<strong>de</strong>rer möchte<br />

einfach nur hier bleiben, <strong>de</strong>nn trotz allem gewährt die Stadt eine gewisse Sicherheit.“<br />

Dynes blickte mit roten, verquollenen Augen auf. Er wußte, daß er nicht hätte Trinken dürfen. Es hätte nur ein Glas<br />

sein sollen. Doch aus Erfahrung hatte er gelernt, daß aus einem Becher zwei wur<strong>de</strong>n, aus zwei drei und so weiter.<br />

Rauch umspielte seine Züge, eine Zigarette in seiner Hand neigte sich ihrem En<strong>de</strong> zu.<br />

„Morgen wer<strong>de</strong> ich mir diesen Reeves vornehmen“ sagte er langsam. „Und ich wer<strong>de</strong> ihm keine an<strong>de</strong>re Wahl lassen,<br />

als—„<br />

„Ihr glaubt wirklich, daß Ihr ihn besiegen könnt, wenn er so ohne weiteres <strong>de</strong>n vorherigen Stadtherren tötete?“<br />

<strong>Arathas</strong> hielt inne, als er <strong>de</strong>n Gedanken zu fassen bekam und ihm im Geiste von einer Seite auf die an<strong>de</strong>re wälzte.<br />

Schließlich gab er es auf; die Argumentation <strong>de</strong>s Jurakai schien schlüssig.<br />

„Vielleicht können wir die Bewohner aufrütteln, uns zu helfen“ meinte er lasch und ohne rechte Begeisterung. Er<br />

blickte sich hilfesuchend nach Tom um, doch <strong>de</strong>r saß zusammen mit Paves an einem an<strong>de</strong>ren Tisch und spielte<br />

Karten. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen war er am Gewinnen.<br />

„Und wenn nicht...“ Der Alkohol berauschte Dynes Sinne, und im Nebel <strong>de</strong>s Dunstes war er nicht mehr in <strong>de</strong>r Lage,<br />

einen klaren Gedanken zu fassen. Er schob seinen Stuhl zurück, taumelte nach hinten und zuckte die Achseln.<br />

„Wenn nicht, dann wer<strong>de</strong> ich schon einen Weg fin<strong>de</strong>n!“ Seine Stimme klang lauter als beabsichtigt, und verschie<strong>de</strong>ne<br />

Köpfe drehten sich neugierig in seine Richtung.<br />

„Brauch’ ein wenig Luft“ erklärte er und begann einen verwirren<strong>de</strong>n Tanz um Tische und Stühle, <strong>de</strong>r ihn am En<strong>de</strong><br />

zum Ausgang <strong>de</strong>s Wirtshauses führte. Aufatmend trat er hinaus in die kühle Nacht, und als die unverbrauchte, reine<br />

Luft ihm in die Lungen strömte, fühlte er sich besser und stärker.<br />

Yentaro sah ihm nach, wie er aus <strong>de</strong>r Tür verschwand, doch er folgte ihm nicht. Der Mann wußte selbst, was gut für<br />

ihn war und was nicht. Er wür<strong>de</strong> keine Dummheiten begehen.<br />

Und wenn doch, ging es ihm durch <strong>de</strong>n Kopf, dann saßen sie alle hier drin ganz schön in <strong>de</strong>r Falle. Im Geiste<br />

ebenfalls die Schultern zuckend, begab sich <strong>de</strong>r Jurakai zum Wirt und zählte mehrere Goldstücke auf <strong>de</strong>n Tresen. Die<br />

Schar brauchte eine Unterkunft für die Nacht, und <strong>de</strong>r Ritter hatte sein gesamtes Hab und Gut bereits veräußert.<br />

167


Der Weg war zwar klein und gewun<strong>de</strong>n, jedoch breit genug für ein Pferd, um mühelos durch die Wäl<strong>de</strong>r zu traben.<br />

Manchmal war Windmähne sogar imstan<strong>de</strong>, in einen Galopp zu fallen, wenn die Zweige an <strong>de</strong>n Rän<strong>de</strong>rn und die<br />

überhängen<strong>de</strong>n Äste es zuließen. Indigo wußte nicht genau, wohin er reiten mußte, aber Keldar hatte ihm <strong>de</strong>n Weg<br />

zum einen sehr gut beschrieben, zum an<strong>de</strong>ren hatte die Avalare ihm eine Karte gegeben, auf <strong>de</strong>r die Schättenwäl<strong>de</strong>r<br />

samt umliegen<strong>de</strong>n Gebieten in vollen<strong>de</strong>ter Zeichenkunst dargestellt waren. Wenn er sich tatsächlich verirren sollte,<br />

brauchte er sich bloß an einem markanten Punkt zu orientieren, um wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n rechten Weg zu fin<strong>de</strong>n.<br />

Während seines Rittes fand Indigo endlich die Zeit, die ihm in Anwesenheit all dieser Shat’lan gefehlt hatte. Er wollte<br />

sich klarwer<strong>de</strong>n über seine Empfindungen, vor allem über seine Beziehung zu Saya. Sie war eine einzigartige Frau,<br />

und er wußte, daß er ihresgleichen nicht noch einmal auf dieser Welt fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Es lag etwas mysteriöses in ihrer<br />

Beziehung, etwas, das Indigo nicht in Worte fassen konnte. Die junge Shat’lan fesselte ihn, sobald er in ihrer Nähe<br />

war, und umgekehrt verhielt es sich ähnlich. Er konnte sich bereits nach so kurzer Zeit nicht mehr vorstellen, daß er<br />

einst gelebt hatte, ohne sie zu kennen. Nein, wahrscheinlicher war, daß er sie schon vorher gekannt hatte, <strong>de</strong>nn die<br />

Träume und Visionen sprachen dafür. Doch aus welchem Grund hatten die Träume sie zusammengeführt? Seltsam.<br />

Indigo schüttelte <strong>de</strong>n Kopf, befreite seine Gedanken von überflüssigem Ballast. Hatte die Avalare die völlige Wahrheit<br />

gesprochen? Diese ganze Prophezeiungsgeschichte bereitete ihm Kopfzerbrechen; Saya hatte sich so abwertend über<br />

die Legen<strong>de</strong> ausgelassen, und auch Keldar schien nicht völlig überzeugt von <strong>de</strong>n nie<strong>de</strong>rgeschriebenen Worten. Und<br />

überhaupt sah es einem Volk wie <strong>de</strong>n Shat’lan so wenig ähnlich, daß sie sich auf einen Einzelnen verlassen wür<strong>de</strong>n,<br />

vor allem Einen, <strong>de</strong>r nicht aus ihren eigenen Reihen kam. Immerhin hatten sie schon herbe Rückschläge einstecken<br />

müssen, als Delabos, <strong>de</strong>r Verräter, zusammen mit <strong>de</strong>n Manur <strong>de</strong>n Zirkel <strong>de</strong>r Shat’lan vernichtete...<br />

Aber egal, darüber lohnte es nicht, sich Gedanken zu machen. Er schenkte <strong>de</strong>r Avalare schließlich nicht sein ganzes<br />

Vertrauen und reiste nun zum Hof <strong>de</strong>s Königs. Er schritt in Falkes Fußstapfen, dachte er stolz, und er konnte und<br />

wollte nicht daran glauben, daß <strong>de</strong>r alte Jurakai so falsch gelegen haben sollte in Hinsicht auf die Hilfe <strong>de</strong>s<br />

Monarchen. Ruben hatte seit mehreren hun<strong>de</strong>rt Jahren eine Ära <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns erlebt, nur gelegentlich unterbrochen<br />

vom Zwist zwischen Manur und Dverjae, und auch unter <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>s jetzigen Königs hatte sich daran nichts<br />

geän<strong>de</strong>rt. Nein, er mußte es wenigstens versuchen.<br />

„Nicht wahr, Windmähne?“ rief er <strong>de</strong>m Pferd zu, das <strong>de</strong>n Kopf schief legte und zu lauschen schien. „Wir wer<strong>de</strong>n es<br />

zumin<strong>de</strong>st versuchen, Hilfe von <strong>de</strong>n Menschen zu bekommen.“<br />

Aber sie haben die Shat’lan hinterrücks geschlagen, wisperte eine Stimme im Kopf <strong>de</strong>s Jungen, und er fragte sich, ob<br />

es seine eigene war. Sie haben kein Vertrauen verdient.<br />

Es steckte Wahrheit in diesen Worten, von wem sie auch stammen mochten. Der Jurakai war sich nicht sicher, ob es<br />

seine eigenen Gedanken waren, die dort durch seinen Kopf spukten, doch er verspürte plötzlich <strong>de</strong>n dringen<strong>de</strong>n<br />

Wunsch, sein Ziel zu än<strong>de</strong>rn, seine Reise in eine an<strong>de</strong>re Richtung fortzusetzen.<br />

Sie wer<strong>de</strong>n dich töten, ohne dir auch nur zuzuhören, flüsterte die Stimme weiter. Du bist jetzt ein Shat’lan, Indigo<br />

Jael’vre... o<strong>de</strong>r besser: Asan An’chassar? Schwarze Augen, schwarze Seele ...<br />

Das mußte er ebenfalls zugeben. Seine Augenfarbe unterschied sich fast nicht mehr von <strong>de</strong>r eines echten Shat’lan.<br />

Wer wür<strong>de</strong> ihm noch Glauben schenken am Hof? Die Manur, die die Shat’lan noch immer verabscheuten? O<strong>de</strong>r ein<br />

paar Diplomaten <strong>de</strong>r Jurakai, die Indigo Jael’vre niemals kennengelernt hatten, wahrscheinlich nicht einmal seinen<br />

Vater kannten? Wie sollte er ihnen erzählen, daß er Jurakai war? Aus welchem Grund sollten sie ihm Vertrauen? Er<br />

war sich ja noch nicht einmal selbst sicher, wer o<strong>de</strong>r was er war. Einerseits fühlte er, daß ihn etwas zu diesem Volk<br />

zog, ihn etwas mit <strong>de</strong>n Dunklen verband, die sich ein neues zu Hause unter <strong>de</strong>m Erdbo<strong>de</strong>n errichtet hatten, in<br />

Abgeschie<strong>de</strong>nheit von allen an<strong>de</strong>ren Völkern Rubens lebten. An<strong>de</strong>rerseits sagte ihm das Ehrgefühl, sowie seine<br />

Achtung und Wertschätzung von seinem Freund Nachtfalke, daß er Jurakai war, kein Recht hatte, sein eigenes Volk<br />

zu verleugnen.<br />

„Tue ich das tatsächlich?“ fragte er leise, und das laute Wiehern Windmähnes brachte ihn zurück in die Wirklichkeit.<br />

Es war schneller dunkel gewor<strong>de</strong>n, als er vermutet hatte, und während seine Sinne um die Rassen und Geschichten<br />

geschweift waren, hatte sich eine kühle, ruhige Finsternis über die Welt gelegt. Er sah zum Himmel empor, und durch<br />

die Zweige und Äste konnte er die Sterne erkennen, die am hellen Firmament leuchteten. Irgendwo hinter <strong>de</strong>n<br />

Baumkronen, seinen Blicken entschwun<strong>de</strong>n, befand sich das Sternbild <strong>de</strong>s Falken, eine Ansammlung von fünf hellen<br />

weißen Punkten, die ein leicht verschobenes „M“ formten.<br />

„Kannst du mich hören, Falke?“ schrie er gen Himmel und suchte am Firmament eine Antwort. Seine Stimme war<br />

dünn, und er merkte, daß seine Augen wäßrig wur<strong>de</strong>n. „Hörst du mich? Ich bin jetzt ein Shat’lan, und... und<br />

außer<strong>de</strong>m trage ich nun <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>s Sternbil<strong>de</strong>s <strong>de</strong>s An’chassar, <strong>de</strong>s Falken, zu <strong>de</strong>inen Ehren. Wer bin ich, Falke?<br />

Gehöre ich noch zu <strong>de</strong>n Jurakai, auch wenn unser Volk für mich nichts mehr als eine schreckliche Erinnerung ist?<br />

O<strong>de</strong>r bin ich bereits ein Shat’lan und habe es bloß noch nicht bemerkt? Weißt du es?“<br />

Stille.<br />

Der Himmel hatte ihm nichts mitzuteilen.<br />

Die Sterne leuchteten weiterhin, und die Laute <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s versanken dumpf im Hintergrund. Nachtfalke antwortete<br />

ihm nicht mehr, und Indigo wur<strong>de</strong> klar, daß er seinen Lehrer viel, viel zu wenig gefragt hatte, als er noch am Leben<br />

gewesen war. Der alte Jurakai war zwar selbst bei <strong>de</strong>n wenigen Fragen, die <strong>de</strong>r Junge ihm gestellt hatte, schon oft<br />

168


genervt gewesen, doch Indigo dämmerte, daß er niemals genug in Erfahrung gebracht hatte vom Wissen, das <strong>de</strong>r Alte<br />

mit sich herumtrug. Es hatte so viel in ihm geschlafen, und nur ein so winziger Bruchteil davon war Indigo jetzt<br />

bekannt. Aber es war zu spät, um darüber zu trauern, und so rieb <strong>de</strong>r Reiter <strong>de</strong>n Hals <strong>de</strong>s Pfer<strong>de</strong>s, teilte ihm sanft mit,<br />

daß es fürs erste genug war mit <strong>de</strong>m Laufen.<br />

Die bei<strong>de</strong>n suchten sich einen gemütlichen Platz, <strong>de</strong>r Indigo ausreichend geschützt erschien, und sorgfältig breitete er<br />

eine Decke auf <strong>de</strong>m Waldbo<strong>de</strong>n aus, rollte sich im Stoff ein. Wärme umfing ihn, und bald war nur noch das leise<br />

Schnaufen <strong>de</strong>s Pfer<strong>de</strong>s zu hören, das ruhige Atmen, das aus Windmähnes Nüstern drang.<br />

Möglicherweise bin ich ein wenig von bei<strong>de</strong>m, Jurakai... und Shat’lan, dachte Indigo, bevor er einschlief.<br />

<strong>Arathas</strong> zitterte, als er die Gasse hinunterschritt, in <strong>de</strong>r das Wirtshaus lag. Das Kopfsteinpflaster unter seinen Füßen<br />

war eiskalt, und das Geräusch eines Baches, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Nähe durch die Stadt verlief, vertiefte das Gefühl <strong>de</strong>r Kälte<br />

noch.<br />

Verdammt! Er hatte viel zuviel getrunken! Selbst hier spürte er die berauschen<strong>de</strong> Wirkung <strong>de</strong>s Weines, <strong>de</strong>r durch<br />

seine A<strong>de</strong>rn floß, spürte er das Verlangen nach mehr. Und dieses Verlangen war auch <strong>de</strong>r Hauptgrund gewesen,<br />

warum er das Wirtshaus „Der alte Brunnen“, wie es sich nannte, verlassen hatte. Wäre er dort geblieben, wäre es<br />

früher o<strong>de</strong>r später auf einen weiteren Becher Rotwein hinausgelaufen, und dann auf noch einen. Diese Aufzählung<br />

ließe sich beliebig lang fortsetzen, bis zu <strong>de</strong>m Punkt, an <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Ritter irgendwann bewußtlos zu Bo<strong>de</strong>n fallen wür<strong>de</strong>.<br />

Er hatte es schon oft genug erlebt. Egal, wie er es auch anstellte, er war einfach nicht imstan<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>m Trinken<br />

aufzuhören, wenn er einmal <strong>de</strong>n ersten Schluck genommen hatte. Dann gab es nur noch zwei Möglichkeiten:<br />

Entwe<strong>de</strong>r, er trank bis zur Besinnungslosigkeit, o<strong>de</strong>r aber er brachte sich fort vom Alkohol, wie heute Abend.<br />

Er konnte es sich nicht leisten, Betrunken zu sein. Nicht vor all <strong>de</strong>n Menschen, die ihm folgten, nicht in dieser Stadt.<br />

in <strong>de</strong>r Reeves sich eingenistet haben konnte. Was er brauchte war Wachsamkeit und eine flinke Reaktion, bei<strong>de</strong>s<br />

Dinge, die lei<strong>de</strong>r im völligen Gegensatz zur Trunkenheit stan<strong>de</strong>n.<br />

Der Ritter hielt inne, sah zum plätschern<strong>de</strong>n Flüßchen hinunter, welches in einer Rinne durch die Stadt geleitet<br />

wur<strong>de</strong>. Er lehnte sich gegen die Brüstung, kramte in <strong>de</strong>n Taschen nach seinem Tabaksbeutel, bis er ihn endlich<br />

gefun<strong>de</strong>n hatte. Mit <strong>de</strong>r einen Hand <strong>de</strong>n Tabak drehend, mit <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren das Blättchen rollend, in das er <strong>de</strong>n<br />

wohlschmecken<strong>de</strong>n Stoff einwickeln wür<strong>de</strong>, sah er zum Nachthimmel. Der <strong>Mond</strong> nahm zu. Bald, in ein paar Tagen<br />

vielleicht, wür<strong>de</strong> er voll sein. Das weiße, uralte Gesicht sah herab zu ihm, ebenso, wie Dynes zu ihm hinaufsah.<br />

Es wür<strong>de</strong> bald etwas geschehen. Es mußte bald etwas geschehen, sagte sich <strong>Arathas</strong>, als er die Zigarette entzün<strong>de</strong>te<br />

und wie<strong>de</strong>r losging. Die labyrinthartigen Straßen wan<strong>de</strong>n sich zwischen <strong>de</strong>n Häusern hindurch, aber <strong>de</strong>r Ritter besaß<br />

einen guten Orientierungssinn.<br />

Seltsam, fand er, daß zu dieser Stun<strong>de</strong> niemand mehr wach zu sein schien. In keinem Fenster brannte mehr Licht, und<br />

in <strong>de</strong>n Gassen zeigten sich we<strong>de</strong>r normale Bürger noch irgendwelche käuflichen Damen. Alles schien ausgestorben<br />

und tot zu sein, wie in einer Geisterstadt. Dynes dachte unwillkürlich an die Toten, die draußen vor <strong>de</strong>n Toren an<br />

ihren Pfählen hingen.<br />

Vielleicht war es das, was Reeves hier zustan<strong>de</strong> brachte. Er hatte eine ge<strong>de</strong>ihen<strong>de</strong>, wenn auch nicht unbedingt<br />

prächtige Stadt <strong>de</strong>m Untergang geweiht. Alles ging zu Grun<strong>de</strong>, nicht nur Darburg. Die Welt, wie die Menschen sie<br />

kannten, schien aus <strong>de</strong>n Angeln zu reißen und in einen tiefen, unendlich tiefen und dunklen Abrund zu rutschen. Der<br />

Verfall hatte eingesetzt, unaufhaltsam...<br />

Dynes Hand, diejenige, in <strong>de</strong>r er die Zigarette hielt, krachte gegen die nächste Steinmauer. Er rief sich selbst zur<br />

Ordnung, wie er es immer tat, wenn seine Gedanken außer Kontrolle gerieten und ein ihnen unbestimmtes Eigenleben<br />

entwickelten. Der Schmerz beför<strong>de</strong>rte ihn zurück in die wache Welt, in <strong>de</strong>r es nicht um Geisterstädte o<strong>de</strong>r<br />

aufreiberische Stadtherren ging, son<strong>de</strong>rn um Blut, das von <strong>de</strong>n Knöcheln rann.<br />

Dynes fluchte und drückte die Hand gegen <strong>de</strong>n Magen, sah auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, zum jämmerlichen Rest seiner Zigarette,<br />

die in <strong>de</strong>n Rillen <strong>de</strong>s Kopfsteinpflasters liegen geblieben war und nun langsam zu erlöschen begann. Er betrachtete sie<br />

schweigend, als ein an<strong>de</strong>res Geräusch durch die Gassen hallte. Es waren Schritte.<br />

Der Ritter hatte nicht vor, sich jeman<strong>de</strong>m in dieser verkrümmten Haltung zu präsentieren, und so raffte er sich auf<br />

und zog die Schultern nach hinten. Die verletzte rechte Hand an seinen Körper gepreßt lief er <strong>de</strong>m Menschen<br />

entgegen, <strong>de</strong>r sich näherte. Dynes fragte sich, welche Art von Stadtbewohner sich nun doch noch nach Draußen<br />

traute, und welchen Grund es dafür gab.<br />

Während er neben <strong>de</strong>n Häuserwän<strong>de</strong>n schritt, erkannte er, daß es sich bei <strong>de</strong>m Geräusch nicht nur um ein Paar Füße<br />

han<strong>de</strong>lte, son<strong>de</strong>rn um mehrere. Jetzt verdichteten sich einige <strong>de</strong>r Schatten auch, und eine Gestalt wur<strong>de</strong> sichtbar. Sie<br />

trug einen wallen<strong>de</strong>n Umhang, und im trüben Licht einer entfernten Lampe ließ sich langes, gelocktes Haar vermuten.<br />

Dynes fand sich unversehens in einem Alptraum wie<strong>de</strong>r, als sein Geist ihm mitteilte, wer <strong>de</strong>r Mann war, <strong>de</strong>r dort auf<br />

ihn zuschritt. Der Ankömmling hatte ihn auf je<strong>de</strong>n Fall bemerkt, und es war zu spät, um sich ungesehen aus <strong>de</strong>m<br />

Staub zu machen. Nun, was immer jetzt auch folgen mochte, er wür<strong>de</strong> sich stellen.<br />

„Was für eine Freu<strong>de</strong>“ sagte Dynes laut, noch bevor <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong> ihn erreicht hatte. Seine Stimme hallte durch die<br />

Gasse. Blutrot schimmerte die Farbe <strong>de</strong>s Samtes, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r vermeintlich Frem<strong>de</strong> trug, im Sternenlicht.<br />

„Sir <strong>Arathas</strong>, mein Freund“ erklang Reeves’ Stimme und tat überrascht. „Welch Überraschung.“<br />

169


„Ich bezweifle, daß es eine Überraschung ist“ meinte Dynes knapp.<br />

„Und in <strong>de</strong>r Tat war ich gera<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>m Weg zu Euch und Eurem schmutzigen Anhang“ wi<strong>de</strong>rlegte <strong>de</strong>r E<strong>de</strong>lmann<br />

seine eigene Aussage. „Aber Ihr könnt mir glauben, daß es mich aus tiefstem Herzen glücklich machte, als ich von<br />

Eurer Ankunft erfuhr.“<br />

„Das glaube ich gern.“ Dynes blickte zu <strong>de</strong>n Soldaten, die hinter Reeves Stellung bezogen hatten und auf ein Zeichen<br />

warteten. Der Ritter wußte nur zu gut, daß er die nächsten Minuten nicht lebend überstehen wür<strong>de</strong>. Deswegen<br />

bereitete er sich darauf vor, seinem Kontrahenten einen möglichst großen Scha<strong>de</strong>n zuzufügen. Er konnte sich keinen<br />

ehrenvollen Tod erlauben. Niemand wür<strong>de</strong> es zu schätzen wissen, wenn <strong>Arathas</strong> hier ehrenvoll verreckte, jedoch<br />

wür<strong>de</strong> er Tom und Paves eine große Hilfe sein, wenn er diesem Bastard wenigstens irgendwelchen Scha<strong>de</strong>n zufügen<br />

könnte.<br />

Er griff nach seinem Schwert.<br />

Es fehlte.<br />

In Gedanken die lautesten Flüche ausstoßend, ließ <strong>de</strong>r Ritter sich doch nichts anmerken von seiner Misere. Wie hatte<br />

er auch nur so töricht sein können, übereilt aus <strong>de</strong>m Wirtshaus zu verschwin<strong>de</strong>n. Nun besann er sich, daß er selbst<br />

seinen kleinen Dolch abgelegt hatte. Den an<strong>de</strong>ren, <strong>de</strong>n er im Stiefel zu tragen pflegte, trug nun Paves. Verdammt!<br />

„Habt Ihr wirklich gedacht, daß Ihr hier Verbün<strong>de</strong>te fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>t?“ verlangte Reeves höhnisch zu wissen.<br />

„Wie kommt Ihr auf diesen Gedanken?“ schnaubte Dynes verächtlich. „Wir haben lediglich—„<br />

„Spart Euch die Lüge, Sir <strong>Arathas</strong>. Der Wächter, <strong>de</strong>r Euch empfing, hat mir bereits alles mitgeteilt. Wenn auch nicht<br />

völlig freiwillig“ fügte <strong>de</strong>r Graf lächelnd hinzu.<br />

Dynes ballte die Faust zusammen. Den Schmerz spürte er nicht mehr.<br />

„Was habt Ihr mit ihm gemacht?“<br />

„Die bei<strong>de</strong>n Männer wollten nicht sofort mit <strong>de</strong>m herausrücken, was sie wußten. Also mußte ich ein wenig<br />

nachhelfen. Es ist ihnen ebenso ergangen, wie es Euch bald ergeht, Sir <strong>Arathas</strong>. Euch und Eurer Ban<strong>de</strong> voller<br />

Taugenichtse.“<br />

„Ihr habt sie umgebracht? Ihr habt sie umgebracht, weil sie ihre Pflicht erfüllten?“ sagte Dynes fassungslos.<br />

„Wenigstens Eure Auffassungsgabe hat nicht gelitten während <strong>de</strong>s Umgangs mit diesen wi<strong>de</strong>rwärtigen Kreaturen“<br />

ließ sich <strong>de</strong>r E<strong>de</strong>lmann vernehmen. Erst ein paar Sekun<strong>de</strong>n später begriff <strong>de</strong>r Ritter, daß Reeves damit auf die Bauern<br />

anspielte, die ihm folgten.<br />

Er schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. Sein Blick fiel auf das Schwert, das <strong>de</strong>r Rotgewan<strong>de</strong>te an seiner Seite trug. Reeves verzog<br />

seine Lippen zu einem Grinsen.<br />

„Mir ist nicht entgangen, daß Ihr keine Waffe bei Euch tragt, Sir <strong>Arathas</strong>. Wirklich eine Schan<strong>de</strong>.“<br />

„Was ist nun?“ spottete Dynes. „Wollt Ihr nicht endlich einen Unbewaffneten nie<strong>de</strong>rstrecken. Hier, vor allen Euren<br />

Leuten?“<br />

„Falls Ihr glaubt, daß ich Euch ein Schwert zur Verteidigung geben wer<strong>de</strong>, dann täuscht Ihr Euch. So, wie Ihr jetzt<br />

vor mir steht, seid Ihr mir lieber.“<br />

„Dann bringt es zu En<strong>de</strong>, Mann.“<br />

Reeves lachte leise. „Oh. Ich wußte nicht, daß Ihr darauf brennt, so früh zu sterben. Sprecht Euer letztes Gebet.“<br />

„Hurensohn“ flüsterte Dynes die Litanei, die ihm seinen Lebtag lang am besten gedient hatte, und er schloß seine<br />

Faust um ein paar Metallmünzen, die er noch in <strong>de</strong>r Tasche trug. Sie waren nicht genug wert, um <strong>de</strong>n Durst eines<br />

Mannes zu stillen, doch vielleicht konnte er sich etwas mit ihnen erkaufen, das im Moment kostbarer war als alles<br />

Gold <strong>de</strong>r Welt: Zeit.<br />

Seine Finger legten sich um die Münzen, bil<strong>de</strong>ten so eine nicht unbeträchtliche Alternative zu einem Schlagring. Er<br />

wür<strong>de</strong> diesem verdammten Emporkömmling die Nase in <strong>de</strong>n Schä<strong>de</strong>l treiben, bis sie bei <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite wie<strong>de</strong>r<br />

austrat.<br />

Reeves zog seine Klinge.<br />

Dynes umklammerte die Münzen.<br />

Die Blicke trafen sich wie Blitze in einem Gewitter aus Hass.<br />

„Sterbt“ sagte Reeves.<br />

„Gern“ sagte Dynes.<br />

Und dann durchschnitt ein Pfeifen die Luft, als wür<strong>de</strong> man Papier zerreißen, als <strong>de</strong>r Graf sein Schwert in die Luft<br />

schwang. Ein zweiter Pfiff, <strong>de</strong>r Ritter blickte auf und erwartete eine nie<strong>de</strong>rsausen<strong>de</strong> Klinge. Seine Augen weiteten<br />

sich, <strong>de</strong>nn die Schnei<strong>de</strong> hatte sich nicht bewegt. Das Pfeifen hielt noch immer an, en<strong>de</strong>te in einem abrupten<br />

Klatschen, das vielleicht von einem Aufprall stammte, und in seinem Rücken fühlte <strong>de</strong>r Ritter die Gegenwart eines<br />

weiteren Wesens. Verwirrung zeigte sich in <strong>de</strong>n Zügen <strong>de</strong>s Grafen.<br />

Dynes drehte Reeves <strong>de</strong>n Rücken zu und erblickte hinter sich ein Geschöpf, das am Bo<strong>de</strong>n kniete. Es war von einem<br />

<strong>de</strong>r Dächer gesprungen. Feurige Haare flossen über seine Schultern und seinen Rücken, und langsam erhob sich die<br />

frem<strong>de</strong> Kreatur.<br />

Es war niemand an<strong>de</strong>res als Zara. Sie hielt ein dünnes, feingearbeitetes Schwert in <strong>de</strong>r Hand.<br />

„Überlaßt mir die Ehre“ sagte sie. Und stieß die lange Klinge nach vorn.<br />

170


Als sich die letzten Strahlen <strong>de</strong>r untergehen<strong>de</strong>n Sonne in <strong>de</strong>n Baumwipfeln fingen und Jurakai samt Pferd erschöpft<br />

am Rand <strong>de</strong>s Schattenwal<strong>de</strong>s ankamen, hatte sich Himmelfeuers Auge dreimal geöffnet und wie<strong>de</strong>r geschlossen. Die<br />

Tage waren noch kürzer gewor<strong>de</strong>n, die Nächte länger und kälter. Noch gab es zwar keinen Schnee, doch Indigo<br />

schätzte, daß die weiße Pracht nicht mehr lange auf sich warten lassen wür<strong>de</strong>. Wenn die Temperaturen weiterhin so<br />

rapi<strong>de</strong> fielen, wür<strong>de</strong>n Pferd und Reiter bald schon erfroren im Graben <strong>de</strong>r Ackerstraße liegen, anstatt sich am Hofe <strong>de</strong>s<br />

Königs die Hän<strong>de</strong> und Hufe an einem warmen Lagerfeuer zu wärmen. Der Jurakai hatte sich entschlossen, wenigstens<br />

<strong>de</strong>n Versuch zu wagen, zur Hochburg zu gelangen. Es mochte sein, daß man ihn für einen Shat’lan hielt und sofort<br />

zum Angriff blies, doch das Risiko mußte er eingehen. Vielleicht waren sogar Beltiar und Kemlian dort, zwei <strong>de</strong>r<br />

Botschafter, die im Sommer aufgebrochen waren, um <strong>de</strong>n König zu warnen.<br />

Ja, wenn diese bei<strong>de</strong>n ihn erblicken wür<strong>de</strong>n, dann wür<strong>de</strong>n sie ihn schon von Ferne erkennen, wür<strong>de</strong>n seine Augen gar<br />

nicht erst betrachten. Natürlich setzte dies alles eine Menge Glück voraus, doch welche an<strong>de</strong>ren Möglichkeiten boten<br />

sich ihm schon? Sollte er tatsächlich direkt in die Arme <strong>de</strong>s Fein<strong>de</strong>s laufen, sich <strong>de</strong>n Kreaturen ausliefern, ohne einen<br />

Schutz zu haben. Ja, Talamà brauchte seine Hilfe, wenn sie noch lebte, aber etwas in ihm drängte ihn dazu,<br />

Nachtfalkes Pfad zu beschreiten. Er wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Mädchen nicht nützen, wenn er von ein paar Orks getötet wür<strong>de</strong>, aber<br />

wenn <strong>de</strong>r König seine Ritter entsandte, um das Übel abzuwehren, könnte das ihre Rettung sein.<br />

Windmähne trabte jetzt gemächlich auf <strong>de</strong>m festen, staubigen Weg. Die Kälte ließ sie bei<strong>de</strong> erstarren, doch das Pferd<br />

schlug sich tapfer, ließ sich kein Anzeichen von Schmerz o<strong>de</strong>r Müdigkeit anerkennen. Auch Indigo biß die Zähne<br />

zusammen, als er an die nächste Nacht <strong>de</strong>nken mußte, die bald folgen wür<strong>de</strong>. Sie waren für heute weit genug geritten,<br />

und Windmähne hatte sich eine Rast redlich verdient. Sobald sie in <strong>de</strong>r Nähe eines Baches waren, wür<strong>de</strong>n sie Halt<br />

machen und ihr Lager aufschlagen. Indigo konnte nichts mehr von <strong>de</strong>r wenigen Flüssigkeit entbehren, die er noch in<br />

<strong>de</strong>n Schläuchen hatte. Wenn sie nicht bald auf ein fließen<strong>de</strong>s Gewässer stießen, dann war es schlecht bestellt um ihre<br />

Vorräte. Der Hengst wieherte, und <strong>de</strong>r Jurakai klopfte ihm auf die Flanke.<br />

„Wir wer<strong>de</strong>n bald rasten, Windmähne. Nur noch ein kleines Stück, dann hast du es geschafft. Die Kälte macht dir zu<br />

schaffen, was, alter Junge? Aber mach dir nichts daraus, es geht mir ebenso. Falls wir erfrieren, dann gemeinsam.“<br />

Das Pferd antwortete mit einem Schnauben, das Indigo ein Lächeln entlockte. Immer, wenn er zu Windmähne sprach,<br />

hatte es <strong>de</strong>n Anschein, als wür<strong>de</strong> das Tier alles genau verstehen, was er sagte. Er wußte, daß <strong>de</strong>r Hengst die Laute nur<br />

ausstieß, weil <strong>de</strong>r Jurakai mit ihm re<strong>de</strong>te, aber allein <strong>de</strong>r Gedanke daran, daß das Pferd ihm zustimmte, flößte ihm<br />

Mut ein.<br />

Die dunkle Landschaft glitt an ihnen vorüber, als wären es Bil<strong>de</strong>r aus einem Traum, aus einem kalten,<br />

mitternächtlichen Alptraum, <strong>de</strong>m Indigo nur zu gern entflohen wäre. Zu ihrer Linken die rauschen<strong>de</strong>n Na<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r<br />

Bäume im eisigen Wind, rechts von ihnen kahle Ö<strong>de</strong>n, so weit das Auge reichte. Die Straße war leer, leerer noch als<br />

die Bettelschalen eines Penners in Irnstwell. Kleine Pfützen auf <strong>de</strong>m lehmigen Bo<strong>de</strong>n waren zugefroren, und dünne<br />

Knackser ertönte, wenn Windmähne mit <strong>de</strong>n Hufen das Eis zertrümmerte. Doch <strong>de</strong>r Hengst machte nie Halt, um von<br />

<strong>de</strong>m Wasser zu trinken, das in <strong>de</strong>n Pfützen ruhte. Möglicherweise wußte das Pferd, daß die Flüssigkeit abgestan<strong>de</strong>n,<br />

dreckig und ungenießbar war.<br />

Hier waren sie nun, zwei verlorene Gestalten auf <strong>de</strong>m Weg zur Hölle, wie es <strong>de</strong>m Jurakai vorkam. Keine<br />

Menschenseele weit und breit, nicht einmal kleine Siedlungen o<strong>de</strong>r Bauernhäuser in <strong>de</strong>r Nähe, nur <strong>de</strong>r schier endlose<br />

Weg, <strong>de</strong>r vor ihnen lag. Ackerstraße hieß <strong>de</strong>r Pfad, doch Indigo fand kein Merkmal, das diesen Namen rechtfertigte.<br />

Statt fruchtbarem Ackerland gab es bloß Ginsterbüsche, Unkraut und an<strong>de</strong>re kleine grüne Pflänzchen, die am<br />

Straßenrand und auf <strong>de</strong>n Fel<strong>de</strong>rn wuchsen. Auch ein Blick nach hinten ließ nichts erkennen, was Anlaß zur Freu<strong>de</strong><br />

gegeben hätte. Nach je<strong>de</strong>r Biegung, die um eine undurchsichtige Ecke <strong>de</strong>s Schattenwalds führte, hielt Indigo<br />

Ausschau nach kleinen Punkten von Licht, die Zuflucht verheißen wür<strong>de</strong>n. Vielleicht ein kleines Bauernhaus, eine<br />

Insel <strong>de</strong>r Wärme im endlosen Ozean <strong>de</strong>r Kälte. Doch die Ebenen erstreckten sich nur weiter zum Osten hin, schienen<br />

kein En<strong>de</strong> zu fin<strong>de</strong>n.<br />

Als <strong>de</strong>r Jurakai es schon nicht mehr für möglich gehalten hätte, drang ihm das leise und vertraute Plätschern von<br />

Wasser an die Ohren, und sofort ritt er über die Gräser, ent<strong>de</strong>ckte tatsächlich ein kleines Bächlein im vernarbten<br />

Bo<strong>de</strong>n, das munter entlang <strong>de</strong>r Straße verlief. Erfreut sprang er von Windmähne, zerrte seine geleerten Schläuche aus<br />

<strong>de</strong>n Satteltaschen <strong>de</strong>s Tieres und füllte sie. Auch <strong>de</strong>r Hengst labte sich an <strong>de</strong>m kühlen Naß, doch Indigo konnte nicht<br />

viel von <strong>de</strong>r Flüssigkeit zu sich nehmen. Das Wasser war eiskalt, jagte ihm Schauer über <strong>de</strong>n Rücken. Er beschloß, in<br />

dieser Nacht nicht mehr weiter zu reiten, irgendwo ein kleines Stückchen in <strong>de</strong>n Wald hinein zu laufen und dort zu<br />

rasten.<br />

Windmähne brauchte noch um etliches länger, bis er bereit war, Indigo zu folgen, dann trabte er hinter <strong>de</strong>m jungen<br />

Mann drein, schnaubte erfreut. Bald hatte <strong>de</strong>r Jurakai auf ein paar kleinen Steinen ein Feuerchen entzün<strong>de</strong>t, und<br />

gierig erhitzte er das Wasser, gab verschie<strong>de</strong>ne Kräuter hinzu, die er von <strong>de</strong>n Shat’lan bekommen hatte. Als das<br />

Gebräu fertig war, trank er selbst einen Großteil davon, bot dann Windmähne <strong>de</strong>n Rest an, doch das Pferd lehnte ab.<br />

Es stakste zwei Schritte rückwärts, als wolle es seiner Abneigung kundtun, und Indigo zuckte gleichgültig die<br />

Achseln. Mit ein paar Schlücken trank er die Schale aus, verstaute sie dann sorgsam wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Taschen.<br />

171


„Zeit, um sich auszuruhen, mein Junge“ sagte er zu Windmähne und streichelte über das Fell <strong>de</strong>s Tieres. „Wir wer<strong>de</strong>n<br />

uns morgen weiter am Bach halten, wenn er sich nicht allzu weit von <strong>de</strong>n Wäl<strong>de</strong>rn entfernt. Wenn meine<br />

Berechnungen aufgehen, dann müssen wir <strong>de</strong>r Ackerstraße noch zwei o<strong>de</strong>r drei Tage lang folgen, anschließend führt<br />

unser Weg uns dann an Mynster vorbei. Dort sollten wir vorsichtig sein, <strong>de</strong>nn die Gegend wird schon bevölkerter um<br />

dieses Fleckchen Land herum. Und dann dauert es noch ungefähr fünf bis sieben Tage, bis wir über die Grandstraße<br />

zur Hochburg gelangen. Wir haben es bald geschafft, mein Guter.“<br />

Der Jurakai bettete sich in zwei Decken, die ihn einigermaßen warm halten sollten, und betrachtete <strong>de</strong>n<br />

wolkenverhangenen Himmel durch das Blätterdach <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s. Er hing seinen Gedanken nach, und lange, nach<strong>de</strong>m<br />

er eingeschlafen war, blickte Windmähne skeptisch zum Firmament empor, als ein nasses Etwas auf <strong>de</strong>r Schnauze <strong>de</strong>s<br />

Pfer<strong>de</strong>s lan<strong>de</strong>te.<br />

Kleine weiße Flöckchen rieselten von oben herab, suchten sich ihren Weg durch das labyrinthartige Gewirr von Ästen<br />

und Zweigen, be<strong>de</strong>ckten <strong>de</strong>n Waldbo<strong>de</strong>n. Der schwarze Hengst schüttelte sich, als <strong>de</strong>r Fall <strong>de</strong>r weißen Pünktchen<br />

heftiger wur<strong>de</strong>, doch das Prickeln vom schmelzen<strong>de</strong>n Wasser auf seinem Fell war son<strong>de</strong>rbar angenehm. Es schien ein<br />

wenig wärmer gewor<strong>de</strong>n zu sein, und schnaubend schenkte <strong>de</strong>r Gaul <strong>de</strong>m Himmel noch einmal seine<br />

Aufmerksamkeit, dann sackte er ebenfalls in <strong>de</strong>n Schlaf.<br />

Der Schnee fiel weiter, und während die Nacht älter wur<strong>de</strong>, häufte er sich auf <strong>de</strong>n Blättern und Stämmen, be<strong>de</strong>ckte<br />

<strong>de</strong>n braunen Waldbo<strong>de</strong>n. Außerhalb <strong>de</strong>r Wäl<strong>de</strong>r ließ er sich auf die Ö<strong>de</strong>n nie<strong>de</strong>r, klei<strong>de</strong>te sie in ein weißes Laken und<br />

verbarg die Gräser und Sträucher, die in <strong>de</strong>r rissigen Er<strong>de</strong> gediehen. Wolken zogen über die Ebenen, und schon bald<br />

hatte sich die düstere Nacht in ein stummes, weiß leuchten<strong>de</strong>s Wesen verwan<strong>de</strong>lt.<br />

Von Blut besu<strong>de</strong>lt stand Dynes da, erstarrt wie eine Statue aus Eis.<br />

Nach Augenblicken, die wie die Ewigkeit anmuteten, verstand er endlich, daß es nicht sein Blut war, das da <strong>de</strong>n<br />

Bo<strong>de</strong>n tränkte und durch die kleinen Rinnen floß. Er sah Zara in die Augen, die ihre Klinge aus Reeves’ Brust zog.<br />

Die Soldaten in<strong>de</strong>s verfolgten das Geschehen, als wäre es ein bizarres Schauspiel, das sich direkt vor ihnen ereignete,<br />

in das sie jedoch nicht eingreifen konnten.<br />

„Überrascht?“ fragte Zara und fasste Dynes am Arm. Gemeinsam begannen die bei<strong>de</strong>n zu rennen, und endlich brach<br />

<strong>de</strong>r Bann, <strong>de</strong>r die Soldaten zurückgehalten hatte, und über die Leiche ihres toten Herrn hinweg setzten sie <strong>de</strong>n<br />

Flüchten<strong>de</strong>n nach.<br />

„Zara, verdammt!“ keuchte Dynes unter seinem Atem, als sie durch die Gassen hetzten. Ihre Verfolger blieben immer<br />

weiter zurück, da sie die weitaus unangebrachtere Kleidung für schnelles Rennen trugen. Ein paar von ihnen bewiesen<br />

so viel Verstand, daß sie ihre Waffen und Kettenhem<strong>de</strong>n wegwarfen, doch trotz<strong>de</strong>m hatten sie keine Möglichkeit<br />

mehr, aufzuholen.<br />

„Verdammt, Zara“ schnaufte <strong>Arathas</strong>, als sie die schützen<strong>de</strong> Sicherheit mehrerer Straßen zwischen sich und Reeves’<br />

Leibgar<strong>de</strong> wußten.<br />

„Viel mehr Kombinationen dieses Satzes bieten sich nicht mehr“ lächelte die Frau <strong>de</strong>n Ritter an.<br />

Dynes schüttelte verwun<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>n Kopf.<br />

„Dachtet Ihr, daß ich Euch im Stich lassen wür<strong>de</strong>?“ fragte die Rotschöpfige. „Ich bin Euch stets gefolgt. Euch und<br />

meinen Leuten.“<br />

„Und du kannst dir keine Vorstellung davon machen, wie dankbar ich dir dafür bin“ ließ sich <strong>Arathas</strong> vernehmen und<br />

packte die Frau am Ärmel ihres Gewan<strong>de</strong>s. „Aber trotz<strong>de</strong>m müssen wir hier so schnell wie möglich verschwin<strong>de</strong>n.<br />

Früher o<strong>de</strong>r später wer<strong>de</strong>n die Bastar<strong>de</strong> hier vorbeikommen, und zu diesem Zeitpunkt habe ich nicht vor, noch hier zu<br />

sein.“<br />

Sie rannten durch ein paar weitere Gassen, und Dynes argwöhnte bereits, sich verlaufen zu haben, als sie unvermittelt<br />

vor <strong>de</strong>r Tür <strong>de</strong>s „Alten Brunnens“ stan<strong>de</strong>n. Erleichtert stieß er die Türe nach Innen und ließ seiner Begleiterin <strong>de</strong>n<br />

Vortritt. Dann trat auch er in das Wirtshaus.<br />

Zuerst wandten sich nur wenige Augenpaare in ihre Richtung, doch diejenigen, die es taten, blieben an ihnen haften.<br />

Nach und nach mehrten sie sich, und bald wur<strong>de</strong> Dynes und Zara die ungeteilte Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Gruppe zuteil.<br />

„Zara ist zurück“ sagte <strong>de</strong>r Ritter zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Und überdies stellt sich uns ein etwas<br />

größeres Problem.“<br />

Tom, <strong>de</strong>r Abstinenz vom Alkohol bewahrt hatte, stand auf. „Reeves?“ fragte er.<br />

„Dieser verfluchte Hurensohn weilt glücklicherweise nicht mehr unter uns“ meinte Dynes mit einem leichten Anflug<br />

von einem Lächeln. „Und das ist allein Zaras Verdienst. Aber die Leibwächter sind hinter uns her. Wir sollten Ihnen<br />

einen gebühren<strong>de</strong>n Empfang bereiten, wenn sie hier eintreffen.“<br />

Finstere Mienen zeigten, daß <strong>Arathas</strong>’ Worte <strong>de</strong>n Nagel auf <strong>de</strong>n Kopf getroffen hatten, und ohne weitere Fragen zu<br />

stellen klaubte die Schar ihre Waffen zusammen.<br />

„Ich habe das Gefühl, daß es mit Euch nie langweilig wird“ sagte Yentaro, als <strong>de</strong>r Ritter sein Schwert aufhob und es<br />

betrachtete. Zara weilte an einem an<strong>de</strong>ren Tisch und flößte <strong>de</strong>n Menschen Mut ein.<br />

„Das befürchte ich ebenfalls“ stimmte Dynes zu.<br />

172


Am nächsten Morgen erwachte Indigo aus einem entsetzlichen Traum, <strong>de</strong>r ihm vorgekaukelt hatte, daß er sich wie<strong>de</strong>r<br />

im Fluß <strong>de</strong>s Weilerwalds befand, <strong>de</strong>r ihn in seine wüten<strong>de</strong>n Fluten ziehen wollte, ihn ertränkte. Da er nach <strong>de</strong>m<br />

Erwachen noch immer Wasser auf seiner Haut spürte, begrüßte er <strong>de</strong>n neuen Tag mit einem lauten Aufschrei. Er riß<br />

die Augen auf, und <strong>de</strong>r schneebe<strong>de</strong>ckte Waldbo<strong>de</strong>n offenbarte sich seinen Blicken. Glücklicherweise war die Schicht<br />

am Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Schattenwal<strong>de</strong>s lange nicht so hoch, wie es auf offenem Feld <strong>de</strong>r Fall gewesen wäre, doch ein leichter<br />

Wind hatte ihm die Gabe <strong>de</strong>s Himmels direkt ins Gesicht geweht, wo die kleinen Kristalle nun schmolzen.<br />

„Verdammt“ murmelte er und befreite sich von <strong>de</strong>n Resten <strong>de</strong>s Schnees, die auf seiner Kleidung und seiner Haut<br />

lagen. Eine rasche Betrachtung <strong>de</strong>r Umstän<strong>de</strong> ergab, daß Windmähne geduldig am Fuße eines Baumes graste, die<br />

Flocken mit <strong>de</strong>r Schnauze beiseite schob. Indigo faltete die Decken, verstaute sie in <strong>de</strong>n Satteltaschen <strong>de</strong>s Pfer<strong>de</strong>s und<br />

rieb kameradschaftlich das Fell <strong>de</strong>s Tieres.<br />

„Nun, um Wasser brauchen wir uns nun wohl keine Sorgen mehr zu machen, Windmähne. Ich schätze, daß dies nur<br />

die Vorhut für weitere Schneefälle sein wird, nach <strong>de</strong>n dicken Wolken zu urteilen. Ein Grund mehr, uns zu beeilen,<br />

mein Junge. Komm, laß uns aufbrechen!“<br />

Er führte das Pferd aus <strong>de</strong>m Wald, achtete darauf, einen ebenen Weg zu wählen, damit <strong>de</strong>r Hengst sich nicht<br />

womöglich auch noch etwas brach, während sie durch das Unterholz stapften. Als sie auf die Ackerstraße traten, lag<br />

das Land in weißer Vollendung vor ihnen, glänzte silbrig und glitzerte. Der Jurakai schüttelte sich, doch die Kälte <strong>de</strong>r<br />

letzten Tage hatte nachgelassen. Die Temperatur war bis knapp unter <strong>de</strong>n Gefrierpunkt gestiegen, und während die<br />

bei<strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>rer die ersten Schritte durch <strong>de</strong>n Neuschnee wagten, empfand Indigo das Knirschen unter seinen Füßen<br />

sogar als angenehm. Wenigstens blieb ihm so <strong>de</strong>r Anblick <strong>de</strong>r kahlen Ö<strong>de</strong>n erspart, auf <strong>de</strong>nen nun eine<br />

wun<strong>de</strong>rschöne, glitzernd weiße Decke lag. Er stieg auf Windmähnes Rücken, re<strong>de</strong>te seinem Pferd gut zu, und bald<br />

schon staubte <strong>de</strong>r Schnee hinter ihnen auf, von <strong>de</strong>n Hufen <strong>de</strong>s Pferds in die Luft geschleu<strong>de</strong>rt. Zurück blieb eine lange<br />

Spur, <strong>de</strong>r eine wirbeln<strong>de</strong> weiße Wolke voranging.<br />

Stun<strong>de</strong>n später, die Sonne war gera<strong>de</strong> dabei, sich hinter weiteren schweren Wolken zu verstecken und <strong>de</strong>m Tag das<br />

Licht zu rauben, kam endlich etwas an<strong>de</strong>res als endlose weiße Dünen in Sicht. Zuerst dachte Indigo schon an Mynster,<br />

doch es war noch zu früh, sie waren noch nicht weit genug gereist, um so weit ins Lan<strong>de</strong>sinnere vorzudringen. Er<br />

spornte Windmähne an, schneller zu reiten, und die große Fläche voller Bauten kam schnell näher. Mit <strong>de</strong>r Zeit<br />

erkannte <strong>de</strong>r Jurakai, daß es eine kleine Ansammlung von Bauernhöfen sein mußte, <strong>de</strong>nn die Strohdächer und hohen<br />

Mauern konnten nichts an<strong>de</strong>res be<strong>de</strong>uten. Je näher sie kamen, <strong>de</strong>sto mulmiger wur<strong>de</strong> Indigo zumute, und eine üble<br />

Vorahnung beschlich ihn.<br />

Noch vor <strong>de</strong>n Mauern, die die Siedlung umgaben, sträubte Windmähne sich, weiter auf das kleine, kreisförmig<br />

angeordnete Dorf zuzureiten, doch <strong>de</strong>r Jurakai wußte bereits, daß etwas nicht in Ordnung war mit <strong>de</strong>n Höfen. Große<br />

schwarze Gebil<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n wiesen darauf hin, daß die Tore offenstan<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r aufgerissen waren, an an<strong>de</strong>ren<br />

Stellen klafften sichtbare Löcher im Mauerwerk.<br />

„Du bleibst hier, Junge“ sagte <strong>de</strong>r Reiter zu seinem Tier, und Windmähne blieb in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>r Siedlung stehen.<br />

Indigo stieg von seinem Rücken und watete durch <strong>de</strong>n knöchelhohen, haften<strong>de</strong>n Schnee. Die knarzen<strong>de</strong>n Laute, die<br />

seine Stiefel erzeugten, ließen sich nicht unterbin<strong>de</strong>n, doch lei<strong>de</strong>r machten sie ihn so offensichtlich erkennbar,<br />

kündigten seine Ankunft an. Die letzten Schritte rannte er bloß noch, aber er hatte längst mitbekommen, was hier<br />

vorgefallen war.<br />

Die Häuser waren verlassen, die meisten von ihnen teilweise zerstört. Der Brunnen, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>r Höfe stand,<br />

war eingefallen, bot ein kaltes und tiefes Loch. Vorsichtig spähte <strong>de</strong>r Jurakai hinein, erkannte jedoch nichts als völlige<br />

Finsternis. Der Schauplatz bot einen weit weniger grausamen Anblick als die zerstörte Wei<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Irnstwell, doch<br />

Indigo argwöhnte, daß dies nur am Schnee lag, <strong>de</strong>r die Schä<strong>de</strong>n be<strong>de</strong>ckte.<br />

Bedächtig ging er durch die Siedlung, hielt auf ein paar kleine Hügel unter <strong>de</strong>r weißen Decke zu. Er stieß mit <strong>de</strong>m<br />

Fuß dagegen, und als <strong>de</strong>r Schnee abbröckelte, entblößte er ein menschliches Skelett, bis auf die Knochen abgenagt.<br />

Reste von Kleidung hingen am Gerippe, und hier und da zeigten sich noch fleischige Teile, die angefroren waren.<br />

Raben und an<strong>de</strong>re Tiere hatten sich an diesen Opfern zu schaffen gemacht, wie es aussah. Indigo zweifelte keine<br />

Sekun<strong>de</strong> daran, daß auch die an<strong>de</strong>ren Bewohner <strong>de</strong>s Dörfchens hier irgendwo lagen, abgenagt und zerfressen. Der<br />

Angriff <strong>de</strong>r Orks mußte schon Tage, wenn nicht sogar länger her sein. Wie lange genau, das konnte er nicht sagen,<br />

dazu waren die Beweise schon zu verstümmelt und eingefroren. Ein warten<strong>de</strong>s Krächzen ließ ihn auffahren aus seinen<br />

Gedanken, und auf einem nahen Baum erblickte er eine ganze Familie von Vögeln, die ihn hungrig anstarrten. Als<br />

sich die Schnäbel erneut öffneten und ihre For<strong>de</strong>rung an <strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>rer ein zweites Mal ausstießen, auf daß er sich<br />

endlich fügen und sterben möge, formte er einen Schneeball und warf ihn gegen <strong>de</strong>n Baumstamm. Die<br />

schneebe<strong>de</strong>ckten Zweige zitterten leicht, und die erschreckten Raben sprangen von ihren Ästen, flatterten aufgeregt<br />

durcheinan<strong>de</strong>r.<br />

„Macht, daß ihr wegkommt!“ Indigos Schrei hallte in <strong>de</strong>n Höhlen <strong>de</strong>r einstigen Ställe wie<strong>de</strong>r, die nun offen dalagen.<br />

„Hier gibt es nichts mehr zu holen, ihr Biester!“<br />

Er wollte sich abwen<strong>de</strong>n, sich zu Windmähne zurückbegeben, als ihn ein Knurren mitten im Gehen verharren ließ.<br />

Der Laut war grollend und zornig, und langsam drehte er sich um, konfrontierte <strong>de</strong>n Verursacher dieses Geräusches.<br />

Es war ein Wolf, <strong>de</strong>r geknurrt hatte, ein Wolf, <strong>de</strong>r sich ebenfalls über das Mahl hergemacht hatte, daß die Scharen <strong>de</strong>r<br />

173


Orks hier zurückgelassen hatten. Mit tollwütigem Blick kam das graue Tier auf Indigo zu, schnupperte immer wie<strong>de</strong>r<br />

in <strong>de</strong>r Luft.<br />

Seltsam, dachte Indigo. Wölfe jagten normalerweise, sie vergingen sich nicht an herumliegen<strong>de</strong>m Aas.<br />

Das Tier heulte einen jammern<strong>de</strong>n, klagen<strong>de</strong>n Laut. Dann lief es auf <strong>de</strong>n jungen Mann zu, doch <strong>de</strong>r Jurakai erkannte<br />

gleich, daß diese Kreatur ihm nichts mehr anhaben konnte. Mit kurzen, hinken<strong>de</strong>n Sätzen setzte <strong>de</strong>r Wolf zum<br />

Sprung an, schlug verzweifelt mit einer Klaue nach ihm. Indigo wich zurück, und <strong>de</strong>r Schlag ging ins Leere.<br />

Vorsichtig humpelte das graue Tier nach hinten, schnupperte die frische Winterluft. Es war verwun<strong>de</strong>t und<br />

geschwächt, und sein Fell war unrein und zerfetzt. An manchen Stellen war schon die weiße Haut zu sehen, und tiefe<br />

Bißspuren und ein abgerissenes Ohr zeugten von einem Kampf. Indigos Blick fiel auf die Augen, die blutunterlaufen<br />

hin und her zuckten, sich nicht für eine bestimmte Richtung entschei<strong>de</strong>n zu wollen schienen.<br />

Dieser Wolf war blind. Er konnte <strong>de</strong>n Jurakai nur noch riechen, nicht aber sehen. Die Vögel mußten ihm das angetan<br />

haben, als er sich verwun<strong>de</strong>t hierher geschleppt hatte, um das Aas zu erbeuten, das überall herumlag.<br />

Zitternd schnüffelte das Tier, setzte zu einem weiteren Sprung an. Indigo wich vorsorglich zur Seite aus, umrun<strong>de</strong>te<br />

das verängstigte Wesen und musterte es mitfühlend. Es mußte ein Bär o<strong>de</strong>r ein an<strong>de</strong>rer Wolf gewesen sein, <strong>de</strong>r ihm<br />

diese tiefen Risse in <strong>de</strong>r Flanke und am Bauch zugefügt hatte. Es war ein Wun<strong>de</strong>r, daß die Kreatur noch lebte, noch<br />

nicht verblutet o<strong>de</strong>r erfroren war.<br />

„Sei still“ for<strong>de</strong>rte Indigo ruhig auf, und <strong>de</strong>r Wolf brach irr umherschauend auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n zusammen. Der Brustkorb<br />

hob und senkte sich schnell und unregelmäßig, und vorsichtig schritt <strong>de</strong>r Jurakai auf das liegen<strong>de</strong> Tier zu. Blut<br />

befleckte <strong>de</strong>n weißen Schnee, und hechelnd lag das mitlei<strong>de</strong>rwecken<strong>de</strong> Geschöpf auf <strong>de</strong>m kalten Weiß, die Zunge<br />

schlaff aus <strong>de</strong>m Maul hängend. Indigo setzte sich neben das Tier, streichelte über sein Fell.<br />

Der Wolf jaulte, zuckte zusammen, brachte jedoch die Kraft nicht mehr auf, um sich zu wehren. Er rutschte auf <strong>de</strong>m<br />

Bo<strong>de</strong>n herum, wollte <strong>de</strong>m frem<strong>de</strong>n Wesen entkommen, das sich ihm genähert hatte. Mit seinen blin<strong>de</strong>n Augen konnte<br />

er nichts mehr wahrnehmen, roch nur noch <strong>de</strong>n Duft, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong> verströmte. Er erkannte <strong>de</strong>n Geruch wie<strong>de</strong>r,<br />

erinnerte sich daran, ihn schon oft im Wald gerochen zu haben, in <strong>de</strong>n Eingängen zu Höhlen und auch an an<strong>de</strong>ren<br />

Stellen. Doch die Verursacher dieses Duftes hatten ihm nie etwas zu Lei<strong>de</strong> getan, und er hatte ihnen niemals<br />

nachgestellt. Etwas weniger verängstigt nun, bewegte er sich auf <strong>de</strong>m eisigen Bo<strong>de</strong>n, spürte das Pochen <strong>de</strong>r<br />

zahlreichen Wun<strong>de</strong>n um Bauch und Rücken. Die Laute <strong>de</strong>s frem<strong>de</strong>n Wesens waren son<strong>de</strong>rbar und klackend, doch <strong>de</strong>r<br />

Wolf hörte sie kaum noch, roch nur das Aroma <strong>de</strong>r Ruhe, das <strong>de</strong>r Kreatur entströmte. Er hechelte langsamer, als er<br />

<strong>de</strong>n festen Griff <strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>n an seinem Fell fühlte, die Wärme an seinen Wun<strong>de</strong>n. Er drehte <strong>de</strong>n Kopf nach hinten,<br />

versuchte, einen besseren Eindruck <strong>de</strong>s Geschöpfes zu bekommen. Dann spürte er einen kalten, kurzen Schmerz in<br />

<strong>de</strong>r Brust, danach nichts mehr, nur gna<strong>de</strong>nvolles Vergessen.<br />

„Ich hoffe, <strong>de</strong>in Leid hat ein En<strong>de</strong> gefun<strong>de</strong>n.“ Indigo zog die Klinge seines kleinen Messers aus <strong>de</strong>m Herz <strong>de</strong>s Tieres,<br />

befreite sie mit Hilfe <strong>de</strong>s Schnees von Blut. Deswegen waren die Raben also noch an diesem Ort. Sie hatten auf <strong>de</strong>n<br />

Tod <strong>de</strong>s Wolfes gewartet, um <strong>de</strong>n Kadaver dann abnagen zu können. Nun, dieses Vergnügen mußte ihnen <strong>de</strong>r Jurakai<br />

nehmen. Der Wolf wür<strong>de</strong> eine gute Mahlzeit abgeben, eine bessere, als er die letzten paar Tage bekommen hatte.<br />

Verfolgt von <strong>de</strong>n lauten Protestschreien <strong>de</strong>r Vögel, die sich in unmittelbarer Nähe auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n hockten und<br />

aufgeregt umherhüpften, schleifte Indigo <strong>de</strong>n Leib <strong>de</strong>s Tieres durch <strong>de</strong>n Schnee, brachte ihn zu Windmähne. Er lud<br />

<strong>de</strong>n toten Wolf auf <strong>de</strong>n Rücken <strong>de</strong>s Pfer<strong>de</strong>s, nahm ebenfalls auf <strong>de</strong>m Hengst Platz und umritt die Siedlung, so schnell<br />

es ging. Ein Schweif von übelgelaunten Krähen und Raben blieb hinter ihnen zurück, doch die Vögel machten sich<br />

nicht die Mühe, ihnen zu folgen. Vielleicht gab es noch weitere potentielle Opfer in <strong>de</strong>n Ruinen <strong>de</strong>r Höfe, vielleicht<br />

waren sie auch nur zu faul und hatten die Mahlzeit bereits von ihrer Speisekarte gestrichen.<br />

Dynes stand vor einer Schar von Menschen, die nun weit mehr als vierzig Köpfe zählte. Alle waren sie kampfbereit.<br />

Alle hatten sie ein Ziel vor Augen. Und das, obwohl <strong>de</strong>r Ritter vor weniger als nur zwei Stun<strong>de</strong>n mit seinem Leben<br />

schon abgeschlossen hatte.<br />

Die Schlacht, wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen durfte, war kurz und unblutig verlaufen. Die Handvoll<br />

von Wächtern, die in das Wirtshaus „Zum alten Brunnen“ gestürmt waren, hatten sich plötzlich mit einer Überzahl<br />

von waffenschwingen<strong>de</strong>n Menschen konfrontiert gesehen. Da keiner von ihnen zur loyalen Leibgar<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Grafen<br />

gehört hatte, verspürte auch niemand von ihnen <strong>de</strong>n Drang, sein Leben zu geben, um <strong>de</strong>n E<strong>de</strong>lmann zu rächen. Statt<br />

<strong>de</strong>ssen klirrten die Schwerter <strong>de</strong>r Wachen auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n und ihre Hän<strong>de</strong> hoben sich über ihre Köpfe. Als zwei <strong>de</strong>r<br />

Wachen dann Dynes und seinen Knappen Paves wie<strong>de</strong>rerkannten, gegen die sie vor wenigen Tagen beim<br />

Kartenspielen verloren hatten, wen<strong>de</strong>te sich das Blatt gänzlich. Die bei<strong>de</strong>n Männer zögerten nicht lange und boten<br />

Dynes ihre Hilfe an, schworen ihm Treue. Der Rest <strong>de</strong>r Wächter folgte ihrem Beispiel.<br />

Die Soldaten hatten ihren Lebtag lang gelernt, zu dienen. Sie waren eine strenge Befehlsgewalt gewohnt und fühlten<br />

sich sicher, sobald ihnen kurze und präzise Anweisungen erteilt wur<strong>de</strong>n. Mit Reeves Tod war ihnen aller Halt<br />

genommen wor<strong>de</strong>n, und so waren sie froh, sich Dynes anschließen zu dürfen.<br />

Als die Gruppe dann nach Draußen aufgebrochen war, <strong>de</strong>nn schließlich konnten sie sich schlecht im Wirtshaus<br />

verstecken, gesellten sich immer mehr Soldaten auf diese Weise zu ihnen. Bevor es überhaupt zu einem Kampf<br />

174


kommen konnte, hatten die Soldaten, die auf Dynes’ Seite stan<strong>de</strong>n, schon die Lage geklärt. Die Wächter konvertierten<br />

ausnahmslos. Sie waren froh, wie<strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>m Befehl eines Hauptmannes zu stehen.<br />

Der Ritter hingegen war froh, ein paar erfahrene Kämpfer in seinen Reihen zu wissen. Und erst, als sie tatsächlich auf<br />

die kleine Gruppe trafen, die die Leibgar<strong>de</strong> <strong>de</strong>s verstorbenen E<strong>de</strong>lmanns darstellte, begannen die Dinge kompliziert zu<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Doch Reeves’ Soldaten waren keine Narren, und so kapitulierten sie, noch bevor jeman<strong>de</strong>m ernsthafte Verletzungen<br />

zugefügt wur<strong>de</strong>n. Die zehn Männer wur<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Kerker von Darburg gebracht, wo sich Dynes weitere Wächter<br />

anschlossen. Innerhalb einer Stun<strong>de</strong> befand sich Djenhalms gesamte einstige Wache unter <strong>de</strong>m Befehl <strong>de</strong>s Ritters, so<br />

unglaublich es für ihn selbst auch anmuten mochte.<br />

Und jetzt stand er hier, mitten in <strong>de</strong>r Nacht, umringt von einer Schar von Soldaten und Bauern, und er hatte nicht <strong>de</strong>n<br />

blassesten Schimmer einer Ahnung, was er ihnen sagen sollte. Sie folgten ihm. Reichte das nicht? Was wollten sie von<br />

ihm hören?<br />

Er schüttelte <strong>de</strong>n Kopf und suchte nach Worten.<br />

„Hört mir zu“ verlangte er, sprach zu <strong>de</strong>n Menschen, die sich in disziplinierten Reihen aufgestellt hatten. Sie<br />

schwiegen aufmerksam, und sie hatten vorher schon gelauscht. Aber <strong>de</strong>r Ritter konnte einfach nicht umhin, etwas<br />

Einleiten<strong>de</strong>s zu sagen.<br />

„Wir sind nun größer und stärker gewor<strong>de</strong>n, als ich es mir hätte träumen lassen. Je<strong>de</strong> Minute kommen weitere<br />

Menschen, die sich uns anschließen wollen. Normale Bürger, <strong>de</strong>nen das Recht auf Freiheit genommen wur<strong>de</strong>. Sie<br />

scheuen nicht davor, für dieses Recht einzutreten und mit mir in die Schlacht gegen die Orks zu ziehen.“<br />

Dynes zögerte und trat einen Schritt zurück. Leiser fuhr er fort: „Ich allerdings wer<strong>de</strong> nun von <strong>de</strong>m einzigen Recht<br />

Gebrauch machen, das mir noch geblieben ist.“<br />

Gespannte Blicke hingen an seinen Lippen, als wür<strong>de</strong> er die Weisheit selbst verkün<strong>de</strong>n. Am liebsten hätte er sich<br />

einfach nur umgedreht und wäre davongelaufen.<br />

„Dem Recht auf Nachtruhe.“ Er schloß die Augen und sah sich um, konnte jedoch die Person nicht fin<strong>de</strong>n, nach <strong>de</strong>r er<br />

Ausschau hielt. „Yentaro“ wandte er sich an <strong>de</strong>n Jurakai, <strong>de</strong>r neben ihm stand. „Ihr wer<strong>de</strong>t diesen Menschen erklären,<br />

was sie wissen müssen. Sie wer<strong>de</strong>n Euch zuhören.“<br />

Dynes atmete aus und wandte <strong>de</strong>r Menge <strong>de</strong>n Rücken zu. Mit einem mehr als leichten Anflug von Müdigkeit legte er<br />

seinem Freund Tom die Hand auf die Schulter und zog ihn nah zu sich heran.<br />

„Und du wirst aufpassen, daß er keinen Mist erzählt“ befahl er <strong>de</strong>m blondschöpfigen Mann. „Immerhin ist er ein<br />

Jurakai.“<br />

Ohne auf die Antwort seines Freun<strong>de</strong>s zu warten, begab er sich in die Gaststätte, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Abend so gemütlich<br />

begonnen hatte, bevor Dynes’ ungewollte Begegnung mit Reeves zu schwerwiegen<strong>de</strong>n Verän<strong>de</strong>rungen geführt hatte.<br />

Der Wirt, <strong>de</strong>r zum ersten Mal seit Jahren wie<strong>de</strong>r alle Zimmer vermietet hatte, öffnete <strong>de</strong>n Mund, um zu einer<br />

Bemerkung anzusetzen, als die gebeugte Gestalt von <strong>Arathas</strong> an ihm vorüberlief, doch die ausgestreckte flache Hand<br />

<strong>de</strong>s Ritters gemahnte ihn, es besser zu lassen. Statt <strong>de</strong>ssen drückte er seinem Gast einfach nur wortlos die Schlüssel in<br />

die Hand und verschwand mucksmäuschenstill hinter seinem Tresen.<br />

Schleppen<strong>de</strong>n Schrittes quälte Dynes sich die Treppe zum ersten Stock hinauf, warf einen angestrengten Blick auf<br />

seine Schlüsselnummer und fand das entsprechen<strong>de</strong> Zimmer nach einer enervieren<strong>de</strong>n Suche.<br />

„Verdammte Welt“ murmelte er so leise, daß er selbst es kaum noch verstand und mühte sich damit ab, die Tür<br />

aufzuschließen. Nach einem kurzen Erfolgserlebnis trat er in das kleine Zimmerchen und streckte sich. Die Tür<br />

schickte sich an, wie<strong>de</strong>r ins Schloß zu fallen, doch das zu erwarten<strong>de</strong> Pochen von Holz auf Holz blieb aus.<br />

Dynes drehte sich, um nach <strong>de</strong>r Ursache Ausschau zu halten. Ein Fuß hatte sich zwischen Tür und Türstock gestellt.<br />

Der Ritter blickte auf, und als er die Konturen <strong>de</strong>s Eindringlings sah, das lockige Haar, das diesem über die Schultern<br />

fiel, dachte er für <strong>de</strong>n Bruchteil einer Sekun<strong>de</strong> an Reeves und versuchte sich zu erinnern, ob <strong>de</strong>r Mann wirklich tot<br />

war. Aber ja, sie hatten die Leiche weggeräumt. Reeves lebte nicht mehr.<br />

Dynes blinzelte. „Zara!“<br />

Mit einem Lächeln schob die Frau die Tür zur Seite und betrat <strong>de</strong>n Raum.<br />

„Darf ich eintreten?“ fragte sie.<br />

Dynes hob eine Braue, sagte jedoch nichts. Für einen Moment musterten sich die zwei Gestalten nur, dann zog <strong>de</strong>r<br />

Ritter die Frau zu sich heran und küßte sie. Zara erwie<strong>de</strong>rte seinen Kuß lei<strong>de</strong>nschaftlich.<br />

Hinter ihnen fiel endlich die Tür ins Schloß.<br />

Obwohl die Nacht schon längst hereingebrochen war, ein neuerlicher Schneesturm die Sicht auf wenige Fuß<br />

beschränkte und zu<strong>de</strong>m das Gewicht <strong>de</strong>s Wolfes das Vorankommen erschwerte, ritt Windmähne tapfer weiter. Flocken<br />

umstoben die bei<strong>de</strong>n einsamen Gestalten auf ihrem Weg zur Hochburg, schmolzen auf Indigos Gesicht und brannten<br />

in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s Hengstes. Die Zeit verflog, und <strong>de</strong>r Jurakai war sich nicht mehr sicher, wo genau sie sich befan<strong>de</strong>n.<br />

Die Bauernhöfe waren noch auf <strong>de</strong>r Karte eingezeichnet gewesen, doch das Schneetreiben ließ alle markanten Punkte<br />

an ihrem Wegrand hinter einem dichten Schleier verschwin<strong>de</strong>n. Mit um <strong>de</strong>n Kopf gebun<strong>de</strong>nen Schal, um sich vor<br />

<strong>de</strong>m Eisregen zu schützen, hielt <strong>de</strong>r Reiter sich im Sattel <strong>de</strong>s Pfer<strong>de</strong>s, fluchte gelegentlich, wenn <strong>de</strong>r stechen<strong>de</strong><br />

175


Schmerz <strong>de</strong>r Kristalle auf seinem Gesicht prickelte. Sie konnten noch nicht allzu weit gekommen sein, als schwarze<br />

Schatten sich vor ihnen aus <strong>de</strong>m Gestöber hervorhoben, Schatten, die nicht ins allgemeine Landschaftsbild<br />

hineinpassten. Vorsichtig ritt <strong>de</strong>r Jurakai langsamer, streichelte das Tier und flüsterte ihm zu, keinen Laut von sich zu<br />

geben.<br />

Es waren möglicherweise nur ein paar Wan<strong>de</strong>rer, die sich verirrt hatten und nun auf <strong>de</strong>r Suche nach <strong>de</strong>m richtigen<br />

Weg waren, o<strong>de</strong>r irgendwelche an<strong>de</strong>ren umherziehen<strong>de</strong>n Gestalten. Indigo stieg ab, befahl Windmähne, sich nicht<br />

von <strong>de</strong>r Stelle zu rühren, und das Pferd tat, wie ihm geheißen. Es blieb unruhig auf einem Fleck stehen, schob mit <strong>de</strong>r<br />

Schnauze <strong>de</strong>n Schnee beiseite, um an das darunterliegen<strong>de</strong> Gras zu gelangen.<br />

„Warte hier auf mich, mein Guter“ sagte <strong>de</strong>r Jurakai, doch sogleich trug <strong>de</strong>r Wind seine Worte fort vom Hengst,<br />

wirbelte sie durch die Luft und zerriß ihren Klang, bis sie sich in <strong>de</strong>n fallen<strong>de</strong>n Kristallen verloren. Kopfschüttelnd<br />

ging Indigo los, schlich auf die Schatten zu, die nicht weit entfernt zu sehen waren. Während er näherkam, erkannte<br />

er, daß es eine ganze Kolonne sein mußte, die dort vorüberzog, <strong>de</strong>nn die Wesen stan<strong>de</strong>n nicht still, bewegten sich mit<br />

knirschen<strong>de</strong>n Schritten über die weiße Pracht. Skeptisch hielt <strong>de</strong>r Jurakai Ausschau nach einer Gelegenheit, die Lage<br />

zu überblicken, und kurz darauf fand er einen kleinen Baum, <strong>de</strong>r ganz allein in <strong>de</strong>r Schneewüste stand und <strong>de</strong>m<br />

Wetter trotzte. Robbend rutschte <strong>de</strong>r junge Mann vor, kam <strong>de</strong>m Bäumchen immer näher. Er stellte sich hinter <strong>de</strong>n<br />

Stamm und spähte vorsichtig um die Ecke, lauschte hinein in <strong>de</strong>n heulen<strong>de</strong>n Sturm.<br />

Die Laute waren zu weit entfernt, o<strong>de</strong>r aber sie waren nicht hörbar im pfeifen<strong>de</strong>n Wind. Die Schatten befan<strong>de</strong>n sich<br />

noch immer mehrere Fuß vor ihm, zu weit, um sich ein klares Bild von ihnen zu schaffen. Er wagte es, <strong>de</strong>n Schutz <strong>de</strong>s<br />

Baumes zu verlassen um einen Versuch zu riskieren, über <strong>de</strong>n Schnee zu sprinten. Die klopfen<strong>de</strong>n, knatschen<strong>de</strong>n<br />

Geräusche seiner Stiefel waren unüberhörbar laut, und erschrocken zuckte er zusammen. Doch es war zu spät, um<br />

wie<strong>de</strong>r umzukehren. Furchtsam verlangsamte er seinen Schritt, konnte die verräterischen Laute jedoch nicht<br />

unterbin<strong>de</strong>n.<br />

Stumm zog die Kolonne weiter, schien <strong>de</strong>n Jurakai nicht gehört zu haben. Vielleicht hielten sie ihn auch für einen<br />

Hasen o<strong>de</strong>r einen Fuchs, <strong>de</strong>r sich zu weit vom Wald entfernt hatte. Mißtrauisch ließ sich <strong>de</strong>r Junge in <strong>de</strong>n Neuschnee<br />

fallen, und im ersten Moment war die staubige Schicht weitaus weniger kalt als erwartet. Er robbte abermals, doch<br />

schon nach kurzer Zeit machte sich die Kälte bemerkbar, sog an seinen Fingern, stach an seinen Armen, die voll von<br />

kleben<strong>de</strong>m weißen Matsch waren. Die Gestalten waren nun nah, und jetzt war Indigo endlich imstan<strong>de</strong>, das volle<br />

Ausmaß seiner Ent<strong>de</strong>ckung wahrzunehmen.<br />

Es waren Orks, die durch <strong>de</strong>n Schnee stapften, mit grimmigen Mienen nach <strong>de</strong>n Flocken schnappten. Doch sie waren<br />

still, schrien nicht noch grunzten sie, bewegten sich wie lautlose Gespenster über <strong>de</strong>n verschneiten Bo<strong>de</strong>n. Die meisten<br />

von ihnen hatten ein Bün<strong>de</strong>l über die Schulter gelegt o<strong>de</strong>r schleiften etwas sackartiges hinter sich her. Bei näherer<br />

Betrachtung <strong>de</strong>r Lasten keimte Übelkeit in Indigo, <strong>de</strong>nn die Säcke waren nichts an<strong>de</strong>res als Menschen, die dort durch<br />

<strong>de</strong>n Schnee gezogen wur<strong>de</strong>n. Sie lagen auf einer Matte, waren <strong>de</strong>r Kälte <strong>de</strong>s Bo<strong>de</strong>ns nicht direkt ausgesetzt, doch<br />

Indigo zweifelte keine Sekun<strong>de</strong> daran, daß sie ein viel schlimmeres Schicksal erwartete als <strong>de</strong>r Tod durch Erfrieren.<br />

Noch immer schien keiner <strong>de</strong>r Orks Verdacht geschöpft zu haben, was das Auftauchen <strong>de</strong>s Jurakai anging. Seine<br />

Kleidung war weiß von Schnee, und nieman<strong>de</strong>m fiel <strong>de</strong>r kauern<strong>de</strong> Hügel auf, <strong>de</strong>r sie beobachtete.<br />

Rasch krabbelte <strong>de</strong>r Schneehaufen zurück, rollte sich hinter <strong>de</strong>n Stamm <strong>de</strong>s Baumes, richtete sich auf und lief seine<br />

eigenen Spuren entlang. Windmähne wartete geduldig auf die Rückkehr <strong>de</strong>s Reiters, stieß aber <strong>de</strong>nnoch keinen Laut<br />

aus, als Indigo wie<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>m Pferd war, die Schnauze <strong>de</strong>s Tieres zwischen seine Hän<strong>de</strong> nahm.<br />

„Es sind Orks, Windmähne. Böse, böse Wesen, die meine Freundin verschleppt haben und meinen besten Freund<br />

töteten. Ich glaube, wir wer<strong>de</strong>n unseren ursprünglichen Plan umwerfen und <strong>de</strong>r Kolonne folgen, <strong>de</strong>nn ich will wissen,<br />

wohin diese Leute gebracht wer<strong>de</strong>n, die da gefesselt von <strong>de</strong>n Schwarzorks mitgenommen wer<strong>de</strong>n. Es könnte<br />

gefährlich sein, aber ich muß das Risiko auf mich nehmen. Falls ich wichtige Neuigkeiten über diese Höllenbrut<br />

erfahre, wer<strong>de</strong> ich <strong>de</strong>m König viel Wertvolles berichten können. Es steht dir frei, mich zu verlassen und <strong>de</strong>inen<br />

eigenen Weg zu gehen. Vielleicht fin<strong>de</strong>st zu zurück in <strong>de</strong>n Wald, zu <strong>de</strong>n Ställen <strong>de</strong>r Shat’lan, und dort wird man dich<br />

sicherlich warmherzig empfangen. Ich aber muß auf je<strong>de</strong>n Fall hinter dieser Truppe her, mein Junge. Willst du mit<br />

mir kommen?“<br />

Er wartete, und Windmähne musterte ihn einige Sekun<strong>de</strong>n lang, schien zu überlegen. Indigo ging nicht davon aus,<br />

daß das Pferd seine Worte verstehen konnte, doch er meinte, daß sein Tonfall und seine Augen <strong>de</strong>m Pferd<br />

klargemacht hatten, worum es hier ging. Sekun<strong>de</strong>n verstrichen, dann senkte <strong>de</strong>r Hengst <strong>de</strong>n Kopf, stieß seine<br />

Schnauze sanft in <strong>de</strong>n Bauch <strong>de</strong>s Jurakai und fuhr an <strong>de</strong>ssen Körper hoch.<br />

„Ich <strong>de</strong>ute das als „ja“, <strong>de</strong>nn an<strong>de</strong>rnfalls könntest du jetzt umkehren und fortlaufen. Ich danke dir für <strong>de</strong>inen Beistand.<br />

Wir folgen <strong>de</strong>n Orks, mein Junge. Laß mich aufsitzen.“<br />

Vielleicht hatte er ihn tatsächlich verstan<strong>de</strong>n, dachte Indigo bei sich. O<strong>de</strong>r wenigstens das Gefühl, das er ihm<br />

übermittelt hatte... das Gefühl... hatte die Avalare nicht gesagt, daß er durch das Geysa fähig sein wür<strong>de</strong>, an<strong>de</strong>rer<br />

Wesen Gedanken und Gefühle zu empfin<strong>de</strong>n, sie sogar mit ihnen austauschen zu können? Wenn er das unterbewußt<br />

die ganze Zeit über getan hatte, dann wur<strong>de</strong> ihm langsam klar, warum es immer <strong>de</strong>n Anschein machte, als wür<strong>de</strong><br />

Windmähne ihn verstehen!<br />

176


Der Jurakai konzentrierte sich, versuchte noch einmal die Schwingungen eines frem<strong>de</strong>n Geistes zu empfangen, so wie<br />

er es bei <strong>de</strong>m El’cha<strong>de</strong>rar getan hatte. Doch alles, was er spürte, waren kalte kleine Schneeflocken, die sich auf seinem<br />

verbissenen Gesicht nie<strong>de</strong>rließen, in seinen Kragen rieselten und ihn frösteln ließen. Vergeblich. Die Wirkung <strong>de</strong>s<br />

Geysa war vorbei, egal, was die Shat’lan ihm auch immer erzählen wollten. Nein, diese Gefühle kehrten nicht wie<strong>de</strong>r.<br />

Er mußte sich auf seine an<strong>de</strong>ren Sinne verlassen, was ihm weitaus sicherer erschien.<br />

Mit einem Schulterzucken spornte er das Tier an, auf die Stelle zuzulaufen, an <strong>de</strong>r die Schatten noch gera<strong>de</strong> eben<br />

vorübergezogen waren. Die Gestalten hatten sich im dichten Treiben verloren, doch die Fußabdrücke im Schnee<br />

erinnerten an ihre Anwesenheit. Schon in kürzester Zeit wür<strong>de</strong>n die Spuren verweht sein, begraben unter Tausen<strong>de</strong>n<br />

und Abertausen<strong>de</strong>n von feinsten Flöckchen und Kristallen, die sich stumm auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> nie<strong>de</strong>rließen. Sie mußten<br />

sich beeilen, die Abdrücke nicht zu verlieren, doch an<strong>de</strong>rerseits durften sie <strong>de</strong>r Kolonne nicht zu nahe kommen. Nach<br />

Indigos Schätzung liefen die Orks hun<strong>de</strong>rt bis hun<strong>de</strong>rtfünzig Fuß vor ihnen, in einer durchaus angemessenen<br />

Entfernung...<br />

Ein unwillkürlicher Schauer lief Indigo über <strong>de</strong>n Rücken, als ihn plötzlich das Gefühl befiel, beobachtet zu wer<strong>de</strong>n. Er<br />

sah sich um, doch Schneeflocken waren alles, was sich ihm darbot.<br />

„Snai!“<br />

Ein eiskalter, das Mark durchdringen<strong>de</strong>r Schrei fuhr durch die Kälte. Indigo zuckte zusammen und sah sich um,<br />

konnte jedoch die Ursache <strong>de</strong>s Geräusches nicht ausmachen. Ein weiterer Pfiff hallte über die schneebe<strong>de</strong>ckte Ebene,<br />

zischte härter und beißen<strong>de</strong>r als <strong>de</strong>r Wind. Ein hoher Sington erhob sich von irgendwo aus <strong>de</strong>n Tiefen <strong>de</strong>r Fläche, und<br />

panisch zog <strong>de</strong>r Jurakai seine Klinge. Die schrillen Stimmen, die die seltsamen Laute ausstießen, gehörten <strong>de</strong>n<br />

weißen, hochgewachsenen Wesen, <strong>de</strong>nen er schon einmal begegnet war, <strong>de</strong>ssen war er sich sicher. Diesen<br />

schau<strong>de</strong>rhaften, wi<strong>de</strong>rlichen Ton vergaß man nicht mehr, sobald man ihn einmal gehört hatte. Windmähne trabte<br />

unruhig durch die fallen<strong>de</strong>n Flocken, während sein angsterfüllter Reiter ihm <strong>de</strong>n Hals streichelte, sich aufmerksam<br />

umblickte.<br />

Und dann sah er sie: Zwei Weiße, die sich kaum von <strong>de</strong>r übrigen Landschaft abhoben, perfekt getarnt durch ihre<br />

milchige Hautfarbe. Je eine Gestalt rechts und eine links vom Pferd, bewegten sich die Wesen langsam auf das Tier<br />

zu. Selbst jetzt, wo Indigo sie bereits erkannt hatte, verschwammen ihre Konturen noch, mußte er blinzeln, um sie<br />

nicht wie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>n Augen zu verlieren. Der Jurakai wußte, daß er sich in <strong>de</strong>r Falle befand, daß er gegen die<br />

hellhäutigen Kreaturen hier und jetzt nicht das Geringste ausrichten konnte. Als die zwei näher kamen, klammerte er<br />

sich an Windmähnes Hals, flüsterte <strong>de</strong>m Pferd beruhigen<strong>de</strong> Worte ins Ohr und rieb seine Flanke. Der Hengst<br />

schnaubte aufgebracht, <strong>de</strong>nn auch er hatte die weißen Gestalten längst bemerkt, die sich ihnen langsam näherten.<br />

„Sie sind nicht wegen dir hier, mein Junge.“ Indigo flüsterte leise, doch im Schneegestöber wäre auch ein Schrei<br />

sofort verklungen. „Ich wer<strong>de</strong> nicht zulassen, daß sie dir etwas antun.“<br />

Dann schloß <strong>de</strong>r Jurakai die Augen, und mit einer verzweifelten Anstrengung versuchte er, geistigen Kontakt zu <strong>de</strong>m<br />

Pferd zu knüpfen. Er nahm die Gedanken <strong>de</strong>s Tieres wahr, die an <strong>de</strong>r Oberfläche seines Seins schwammen, und<br />

unterschwellig flößte er Windmähne die einzige Botschaft ein, die ihm noch einfiel.<br />

„Bring dich in Sicherheit!“ lautete sie, und nach<strong>de</strong>m die Worte verklungen waren, war Indigo sich nicht sicher, ob er<br />

sie laut ausgesprochen o<strong>de</strong>r nur gedacht hatte. Auf je<strong>de</strong>n Fall spürte er, daß Windmähne ihn verstan<strong>de</strong>n hatte, und so<br />

sprang er vom Rücken <strong>de</strong>s Tieres und stellte sich seinen Angreifern. Die bei<strong>de</strong>n Weißen hatten nur Augen für <strong>de</strong>n<br />

Jurakai, beachteten das Pferd überhaupt nicht.<br />

Hoffentlich sind es nur diese zwei, schoß es Indigo durch <strong>de</strong>n Kopf. Wenn im Schnee noch mehr von ihnen lauern,<br />

sind wir bei<strong>de</strong> verloren.<br />

Windmähne trabte los, ohne Reiter und anscheinend ohne Orientierung, doch schnell fiel er in einen Galopp und ließ<br />

die drei Wesen hinter sich. Einer <strong>de</strong>r Weißen wandte kurz <strong>de</strong>n Kopf und sah <strong>de</strong>m sich entfernen<strong>de</strong>n Pferd nach, doch<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re sang eine Warnung, und sofort war die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Kreaturen wie<strong>de</strong>r auf Indigo gerichtet.<br />

Dieser ging in Kampfhaltung und verzog schmerzlich das Gesicht. „Ihr wollt mich haben? Nun, ihr sollt mich<br />

bekommen! Allerdings wer<strong>de</strong> ich euch mein Leben nicht kampflos überlassen. Na, nur gna<strong>de</strong>nver Umriß eines<br />

Weißen verschwamm für <strong>de</strong>n Bruchteil einer Sekun<strong>de</strong> hinter einer Schneewehe, dann tauchte die schlaksige Gestalt<br />

wie<strong>de</strong>r auf, näher diesmal. Auch <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re hatte sich herangepirscht und musterte <strong>de</strong>n Jurakai böse. Sein Mund<br />

öffnete sich, und ein nervenzerfetzen<strong>de</strong>r, schriller Schrei ertönte.<br />

Indigo ließ sein Schwert fallen und preßte sich die Hän<strong>de</strong> auf die Ohren, versuchte, <strong>de</strong>n Ton wenigstens etwas zu<br />

mil<strong>de</strong>rn. Sein Kopf schien zu bersten, als er sich auf <strong>de</strong>m Schnee wand, und dann waren die bei<strong>de</strong>n Gestalten auch<br />

schon über ihm. Der Sington verebbte, doch die Schmerzen in <strong>de</strong>n Ohren blieben. Schwach und eiskalt robbte <strong>de</strong>r<br />

Jurakai zur Seite, wollte sich von <strong>de</strong>n unheimlichen Kreaturen entfernen. Ein Arm zuckte herunter und fesselte sein<br />

Bein mit hartem Griff, so fest, daß je<strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand zwecklos erschien. Mit letzter Kraft wollte Indigo an sein an<strong>de</strong>res<br />

Bein herunterfassen, <strong>de</strong>n Dolch ziehen, <strong>de</strong>n er dort versteckte, doch noch in <strong>de</strong>r selben Sekun<strong>de</strong> wur<strong>de</strong>n seine<br />

restlichen Gliedmaßen gefaßt und ebenso unbarmherzig und gna<strong>de</strong>nlos festgehalten. Die Gesichter <strong>de</strong>r Weißen waren<br />

jetzt ganz nahe, und er konnte das Leuchten in ihren Augen erkennen, als sie ihn forttrugen. Einer <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r<br />

hintere, <strong>de</strong>r ihn an <strong>de</strong>n Armen trug, fing an, einen son<strong>de</strong>rbaren und einschüchtern<strong>de</strong>n Gesang zu summen, und Indigo<br />

177


hatte das Gefühl, daß es ein Lachen war, das ihn verhöhnen sollte, ihm aufzeigte, daß er, dieser kleine und winzige<br />

Wurm, verloren hatte.<br />

Das Geräusch von Schritten riß Dynes aus seinem wohlverdienten Schlummer. Sie ertönten Draußen auf <strong>de</strong>m Gang,<br />

waren jedoch laut genug, um einen unruhigen Schläfer zu wecken.<br />

Er wälzte sich auf <strong>de</strong>m Bett, stieß gegen ein Hin<strong>de</strong>rnis und hielt inne. Ein Körper lag dort neben ihm, nur spärlich<br />

be<strong>de</strong>ckt von einer Decke. Freie Haut lag bloß vor ihm, und langsam kam die Erinnerung an die vergangene Nacht<br />

zurück, wie eine spät einlaufen<strong>de</strong> Flut.<br />

Er betrachtete Zara für eine lange Zeit, in <strong>de</strong>r ihm diese und jene Gedanken durch <strong>de</strong>n Kopf schwirrten. Wie hatte er<br />

es gestern überhaupt geschafft, noch wach zu bleiben? Und wenn er sich recht erinnerte, dann waren sie bei<strong>de</strong> nicht<br />

nur wach gewesen, son<strong>de</strong>rn überaus aktiv...<br />

Die schlafen<strong>de</strong> Gestalt <strong>de</strong>r Frau erzitterte, und sanft zog er die Decke über ihren Körper und fühlte die Kälte, als er<br />

sich dabei selbst entblößte. Es war einfach zuviel auf einmal gewesen, für ihn und gleichsam für alle Beteiligten. Zara<br />

hatte ihm das Leben gerettet. Dann waren sie vor <strong>de</strong>n Wachen geflohen. Und dann hatten sich die Ereignisse<br />

überschlagen.<br />

Mit einem Frösteln stieg er aus <strong>de</strong>m Bett, spritzte sich kaltes Wasser aus einem Waschzuber über <strong>de</strong>n Leib und<br />

schlüpfte hastig in seine Kleidung. Er wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Frau noch ein wenig Ruhe gönnen. Immerhin hatte er vor, Darburg<br />

heute zu verlassen und nach Südwesten aufzubrechen. Von dort aus hatten sich die Überfälle auf die Siedlungen nach<br />

Nordosten hin ausgebreitet, also erschien es mehr als wahrscheinlich, daß irgendwo im südlichen Hochland die<br />

Wurzeln <strong>de</strong>s Übels verankert waren.<br />

Während er noch damit beschäftigt war, sein Hemd zuzuknöpfen, umfaßten zwei kalte Hän<strong>de</strong> ihn von hinten und<br />

zogen ihn zurück aufs Bett. Zaras Kinn preßte sich an seine Wange, und es war warm und zärtlich. So völlig an<strong>de</strong>rs<br />

als die kühle Bitterkeit, die sich wie ein Schatten auf sein Herz gelegt hatte, seit nunmehr schon mehreren Monaten.<br />

Der Ritter drehte <strong>de</strong>n Kopf und blickte ihr in die Augen. Das alte Feuer lo<strong>de</strong>rte wie<strong>de</strong>r darin, vereinte sich mit ihrem<br />

flammen<strong>de</strong>n Haar.<br />

„Noch nicht“ flüsterte sie, und <strong>Arathas</strong> schloß die Augen, als ihre Lippen sich auf seine preßten. Der Gedanke schlich<br />

sich in seinen Geist, daß nicht nur ihre Augen und Haare feurig waren. Nach<strong>de</strong>m die Klei<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Ritters auf <strong>de</strong>m<br />

Bo<strong>de</strong>n lagen, gaben sich die zwei ein weiteres Mal <strong>de</strong>n Freu<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Liebe hin. Bei<strong>de</strong> beherbergten viele, viele Monate<br />

aufgestauter Lei<strong>de</strong>nschaft in sich.<br />

Hinterher beeilten sie sich, ihre Kleidung anzulegen, und keiner <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n sprach ein Wort. Doch bei<strong>de</strong> lächelten auf<br />

seltsame Art und Weise. Es herrschte ein stilles Übereinkommen zwischen ihnen, eine stumme Absprache, für <strong>de</strong>ren<br />

Klärung sie sich keines einzigen Wortes bedient hatten. Ihre Blicke reichten vollkommen.<br />

Sie verließen das Zimmer, und schon als sie die Treppen ins Wirtshaus hinabstiegen, liefen allerhand Menschen an<br />

ihnen vorbei, waren in Geschäftigkeiten verfallen, von <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Ritter nicht wußte, welchem Zweck sie dienten. Zara<br />

trennte sich bereits nach kurzem von ihm, um sich mit ein paar Männern zu unterhalten, die am Tresen <strong>de</strong>r Bar<br />

stan<strong>de</strong>n und sich ein morgendliches Bier genehmigten. Dynes hingegen drängte nach Draußen, wo er durch die<br />

verschmutzten Fenster <strong>de</strong>s Gasthauses Tom erkennen konnte, <strong>de</strong>r damit beschäftigt war, ein Pferd zu bela<strong>de</strong>n.<br />

Die Morgensonne strahlte grell auf eine Schicht weißen Schnees, <strong>de</strong>r die Straßen be<strong>de</strong>ckte und irgendwann gefallen<br />

sein mußte, als Dynes und Zara noch friedlich schliefen. Doch das Gässchen, das sich vor <strong>de</strong>m Ritter auftat und so<br />

ganz an<strong>de</strong>rs anmutete als noch in <strong>de</strong>r Nacht – freundlicher und wärmer irgendwie -, war gefüllt mit laufen<strong>de</strong>n und<br />

arbeiten<strong>de</strong>n Menschen.<br />

„Guten Morgen“ grüßte Tom erfreut und bedachte <strong>de</strong>n Ritter mit einem Lachen. „Du hast dir Zeit gelassen mit <strong>de</strong>m<br />

Schlafen, Aras.“<br />

Dynes wollte zu einer Erwi<strong>de</strong>rung ansetzen, doch sein Freund kam ihm zuvor.<br />

„War nur ein Scherz. Du hast dir ein paar Stun<strong>de</strong>n Ruhe schon redlich verdient gehabt nach allem, was gestern los<br />

war.“<br />

„Was ist das für ein Pferd?“ erkundigte sich <strong>de</strong>r Ritter neugierig.<br />

„Es ist meines, Aras. Um <strong>de</strong>inen Sturmauge hat sich Paves kümmern wollen. Er wartet irgendwo bei <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren,<br />

glaube ich. Ich bin gera<strong>de</strong> bloß dabei, meinen Gaul zu bepacken, dann wer<strong>de</strong> ich nach ihm sehen.“<br />

<strong>Arathas</strong> starrte <strong>de</strong>n großen Mann an, und ein Ausdruck <strong>de</strong>r Verwirrung legte sich auf seine Miene. „Ich hoffe, du bist<br />

so freundlich, mir zu verraten, bei welchen an<strong>de</strong>ren Paves wartet, Tom. Und woher stammt dieses Pferd?“<br />

Tom lachte auf. „Ja, ich glaube, das wird dich interessieren. Es wird dir gefallen!“<br />

„Was wird mir gefallen?“<br />

„Unsere Pfer<strong>de</strong>, Aras!“ platzte <strong>de</strong>r einstige Farmer heraus. „Wir haben fast hun<strong>de</strong>rt! Ein paar von <strong>de</strong>n Bürgern hier,<br />

die sich uns gestern Abend angeschlossen haben, besitzen ein eigenes Pferd, und manche sogar gleich mehrere.“<br />

„Und sie wollen alle mit uns kommen?“<br />

„Noch besser! Noch viel besser: Die Einwohner haben sich zusammengeschlossen und sich bereit erklärt, uns all ihre<br />

Gäule zu überlassen. Wir besitzen jetzt genug, um gemeinsam mit <strong>de</strong>n Wächtern zu reiten, Aras.“<br />

178


Dynes, <strong>de</strong>r angenehm überrascht von <strong>de</strong>r neuen Situation war, schüttelte <strong>de</strong>n Kopf und verabschie<strong>de</strong>te sich von Tom,<br />

um selbst nach <strong>de</strong>m Rechten zu sehen. Er rannte beinahe, als er die Straße hinablief.<br />

Als er auf <strong>de</strong>m Marktplatz von Darburg ankam, war dieser zu einem einzigen großen Stall umfunktioniert wor<strong>de</strong>n, auf<br />

<strong>de</strong>m hier Zaumzeug angelegt, dort ein Pferd gesattelt und weiter hinten ein paar <strong>de</strong>r Tiere beschlagen wur<strong>de</strong>n. Überall<br />

strömten Menschen an ihm vorbei, die so beschäftigt waren mit sich selbst, daß sie <strong>de</strong>m Ritter keine Aufmerksamkeit<br />

zollen konnten. Der Schnee war hier nicht mehr als brauner Matsch am Straßenrand.<br />

Irgendwo in <strong>de</strong>m Gedränge konnte er die schlohweißen Haare Velorias ausmachen, und als er sie gefun<strong>de</strong>n hatte,<br />

waren auch die bei<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Jurakai nicht weit entfernt. Die drei hatten es geschafft, die mit Abstand prächtigsten<br />

und stärksten Rösser für sich in Anspruch zu nehmen. Gera<strong>de</strong> waren sie dabei, <strong>de</strong>n Gäulern das Fell zu striegeln, als<br />

Dynes Yentaro erreichte.<br />

„Gute Neuigkeiten“ sagte <strong>de</strong>r Jurakai und ließ die Bürste über die Flanken seines Pfer<strong>de</strong>s fahren.<br />

„Habe ich bereits gehört“ sagte Dynes. „Viele Neuigkeiten zu<strong>de</strong>m. Schnee, mehr als eine Hun<strong>de</strong>rtschaft an<br />

kampfbereiten Menschen und sogar Pfer<strong>de</strong>.“<br />

„Die Tiere reichen zwar nicht aus, daß alle mit uns kommen können, doch sie sollten genügen.“<br />

„Verdammt“ fluchte <strong>Arathas</strong> und blickte über <strong>de</strong>n Platz. „Wie haben wir es bloß geschafft, so verflucht viele Leute für<br />

uns zu gewinnen?“<br />

Yentaro zuckte auf eine Weise die Schultern, die er <strong>de</strong>m Ritter abgeschaut hatte. Sie brachte gleichzeitig<br />

Verwun<strong>de</strong>rung, Verzweiflung und allgemeine Bestürztheit zum Ausdruck.<br />

„Verflucht“ flüsterte Dynes noch einmal.<br />

Dicke Schneeflocken be<strong>de</strong>ckten die abgemagerten Züge von Indigo, nach<strong>de</strong>m er eine nicht en<strong>de</strong>n wollen<strong>de</strong> Zeit lang<br />

von <strong>de</strong>n Weißen getragen wor<strong>de</strong>n war. So oft er nach oben blickte, konnte er nichts weiter erkennen als<br />

grauschwarzen, wolkenverhangenen Himmel und Myria<strong>de</strong>n von Eiskristallen, die ihm in die Augen gerieten o<strong>de</strong>r in<br />

die Nase. Er schnaufte mehrmals, um wenigstens seine Atemwege freizubekommen, doch die immerwähren<strong>de</strong>n<br />

Flocken füllten sogleich wie<strong>de</strong>r seinen Mund und erstickten die Hoffnung auf schmerzfreies Atmen. Hustend und<br />

keuchend wand er sich unter <strong>de</strong>m Klauengriff <strong>de</strong>r Wesen, die ihn durch <strong>de</strong>n Schnee schleppten, wissend, daß dies nur<br />

<strong>de</strong>n Anfang seiner Qualen darstellte. Um die Weißen herum konnte er ab und zu weitere, dunklere Gestalten<br />

ausmachen, die im Gleichmarsch über die Ebene marschierten. Stöhnen<strong>de</strong> Laute erklangen von überall her, klagen<strong>de</strong><br />

Rufe nach Hilfe, die sofort mit Schlägen bestraft wur<strong>de</strong>n.<br />

Sie mußten jetzt mitten in <strong>de</strong>r Kolonne <strong>de</strong>r Schwarzorks sein, unter all <strong>de</strong>n Gefangenen, die von <strong>de</strong>r üblen Brut<br />

gemacht wor<strong>de</strong>n waren! Doch schon <strong>de</strong>r allerkleinste Blick zur Seite ließ Schmerz durch die Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Jurakai<br />

fahren, die so erfroren waren, daß es das Klügste schien, sich einfach <strong>de</strong>m Schicksal zu ergeben und die Kälte<br />

kommen zu lassen. Irgendwann mußten selbst die Orks und <strong>de</strong>ren Gefangene einen Unterschlupf aufsuchen,<br />

schließlich konnten sie nicht Tag und Nacht marschieren...<br />

Auf und ab wur<strong>de</strong> Indigos Körper geschleu<strong>de</strong>rt und geschwenkt, und die heftigen Bewegungen veranlaßten ihn dazu,<br />

die Zähne zusammenzubeißen und all seinen Mut zusammenzunehmen, um nicht zu schreien. Er wollte <strong>de</strong>n armen<br />

Kreaturen, die hier gefangen genommen wor<strong>de</strong>n waren, nicht noch mehr Angst einjagen, als sie sowieso schon hatten.<br />

Es bedurfte nicht auch noch seiner Schreie, damit sie vor Furcht beinahe starben.<br />

Wenigstens hatte <strong>de</strong>r Weiße aufgehört, sein höhnisches Lied zu summen, und so ging die Reise zwar beschwerlich,<br />

jedoch erträglich voran. Die Wesen schienen nicht zu ermü<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r sonst irgendwie rasten zu müssen, und allein<br />

dieser Umstand ließ Indigo rätseln, was das für Kreaturen sein mußten, die in dieser Eiseskälte durch <strong>de</strong>n Schnee<br />

stapften und dazu noch eine Last tragen konnten. Er öffnete vorsichtig ein Auge und schob damit die Flocken beiseite,<br />

die sich auf seinen Li<strong>de</strong>rn gesammelt hatten. Der Schnee, <strong>de</strong>r auf seiner Haut lan<strong>de</strong>te, schmolz schon lange nicht<br />

mehr. Seine Haut fühlte sich an wie reinstes Eis.<br />

Mit hoffnungslosem Blick sah Indigo direkt in die Augen <strong>de</strong>s Weißen, <strong>de</strong>r seinerseits auf ihn herabblickte. Die<br />

Dunkelheit <strong>de</strong>r Nacht war bereits gewichen und hatte <strong>de</strong>m trüben Schimmer eines neuen Tages Platz gemacht. Doch<br />

Himmelfeuers Auge schenkte keine Wärme, keine Geborgenheit, wie es eigentlich <strong>de</strong>r Fall sein sollte. Im<br />

Schneegestöber war nicht zu erkennen, wo die Sonne überhaupt stand, und so herrschte kein großer Unterschied<br />

zwischen <strong>de</strong>r kalten Nacht und <strong>de</strong>m Tag. Es waren also min<strong>de</strong>stens schon mehrere Stun<strong>de</strong>n, schloß Indigo, als er die<br />

heranbrechen<strong>de</strong> Helligkeit bemerkte. Mehrere Stun<strong>de</strong>n, die er und seine Lei<strong>de</strong>nsgenossen schon durch <strong>de</strong>n Schnee<br />

geschleift wur<strong>de</strong>n. Obwohl es ihm noch verhältnismäßig gut erging, wie er zugeben mußte. Er bekam we<strong>de</strong>r Schläge,<br />

noch wur<strong>de</strong> er roh über <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n gezogen. Noch immer hing er zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Weißen, und <strong>de</strong>r einzige<br />

Schnee, mit <strong>de</strong>m er in Berührung kam, war <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r von oben herabrieselte.<br />

Auch die Klagerufe waren inzwischen verstummt. Vielleicht hatten sich die bemitlei<strong>de</strong>nswerten Opfer damit<br />

abgefun<strong>de</strong>n, daß sie verschleppt wur<strong>de</strong>n, vielleicht waren sie auch ohnmächtig gewor<strong>de</strong>n. Und möglicherweise sind<br />

sie tot, dachte Indigo betrübt. Die Kälte war so hart und bitter, daß die schwachen Manur ihr wohl schon nach<br />

kürzester Zeit erliegen wür<strong>de</strong>n. Es war ein schlimmer Gedanke, aber auch einer, an <strong>de</strong>m viel Wahrheit haftete. Die<br />

Frage, wohin man sie alle brachte, blieb allerdings offen. Dorthin, wo auch Talamà wartete? An einen Platz, an <strong>de</strong>m<br />

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sie sich wie<strong>de</strong>rsehen wür<strong>de</strong>n, Indigo und das Mädchen? Das wäre wahrscheinlich zu viel verlangt gewesen. Wenn <strong>de</strong>r<br />

Jurakai überhaupt an einen einigermaßen sicheren Ort gebracht wür<strong>de</strong>, wäre es eine angenehme Überraschung.<br />

Die Weißen sangen etwas in ihrer hohen, schrecklichen Sprache, und Indigo wünschte sich, die Hän<strong>de</strong> auf die Ohren<br />

pressen zu können. Er schüttelte <strong>de</strong>n Kopf, und nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r gröbste Schnee heruntergefallen war, riskierte er einen<br />

Blick in die Run<strong>de</strong>. Der stechen<strong>de</strong> Schmerz, als er seinen Hals bewegte, war kaum auszuhalten, doch er bezwang seine<br />

innere Schwäche und blickte sich um. Die Orks hatten angehalten und sahen in seine Richtung - in die Richtung <strong>de</strong>r<br />

Weißen, verbesserte er sich. Ein paar von ihnen grunzten laut, dann begannen sie, einer nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren im Bo<strong>de</strong>n<br />

zu verschwin<strong>de</strong>n. Zuerst glaubte <strong>de</strong>r Jurakai seinen Augen nicht zu trauen, dann erkannte er, daß dort ein Loch im<br />

Bo<strong>de</strong>n klaffte, in das die Schwarzorks hinabstiegen. Ihre Gefangenen hinter sich herschleifend schoben sie sich ins<br />

Dunkel, und nach kurzer Zeit war die gesamte Kolonne von <strong>de</strong>m düsteren Gang verschluckt wor<strong>de</strong>n. Einer <strong>de</strong>r<br />

Weißen schrillte einen kurzen Ton, zerrte dann an Indigos Glie<strong>de</strong>rn. Er wur<strong>de</strong> unsanft weitergetragen, während die<br />

Hochgewachsenen eine Unterhaltung zu führen schienen. Die Laute waren so gräßlich und mißtönend, daß <strong>de</strong>r junge<br />

Mann die Zähne zusammenbiß und die Augen schloß, bis das Kreischen verstummt war.<br />

Als er seine schmerzen<strong>de</strong>n Li<strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>r hob, befan<strong>de</strong>n sie sich bereits in <strong>de</strong>m Loch. Es war ein Tunnel, <strong>de</strong>r hinab ins<br />

Erdreich führte. Die Schwärze war hier allgegenwärtig, und nur das phosphoreszieren<strong>de</strong> Leuchten <strong>de</strong>r Weißen brachte<br />

ein wenig Licht. Weiter vorn waren vereinzelte helle Flecken zu erkennen, Fackeln, wie Indigo richtig vermutete. Er<br />

hatte noch immer keinen Kontakt mit <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n, und darüber durfte er glücklich sein. Die<br />

lehmigen, verkrusteten Gänge waren alt und bröckelig, o<strong>de</strong>r vielleicht rührte das auch nur von <strong>de</strong>r Kälte her. Selbst<br />

hier unten, unter <strong>de</strong>r Oberfläche, herrschte eine gefrieren<strong>de</strong> Kühle. Indigo hätte mit <strong>de</strong>n Zähnen geklappert, wenn er<br />

dazu nicht zu schwach gewesen wäre. So ergab er sich seinem Schicksal und hoffte darauf, daß er eines fernen Tages<br />

wie<strong>de</strong>r herabgelassen wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Sein Rückgrat schickte sich an, zu brechen, o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>nfalls beschlich <strong>de</strong>n Jurakai<br />

dieses Gefühl.<br />

Der Schnee war doch nicht gänzlich schlecht gewesen, dachte Indigo bei sich, als er tiefer in die Er<strong>de</strong> getragen wur<strong>de</strong>.<br />

Die Schicht, die dort draußen seine Haut und seinen Wams be<strong>de</strong>ckte, hatte ihn nicht nur frieren lassen, son<strong>de</strong>rn in<br />

gewisser Weise auch gewärmt und geschützt. Der eisige Wind hatte ihm nicht in die Klei<strong>de</strong>r fahren können, und auch<br />

sonst hatte die flockige Decke ihm eher wohl getan. Doch hier unten gab es keinen Schneefall mehr, keine<br />

Eiskristalle, die auf ihn herabfielen und einlullten. Das Wasser, das an seiner Kehle herabrann und sein Wams<br />

durchtränkte, war bitterkalt und gefror schnell in <strong>de</strong>r kühlen Luft, und seine Haare fühlten sich an wie ein Busch aus<br />

Eisstacheln. Zitternd ließ er sich weitertragen, unfähig, etwas zu unternehmen.<br />

Wie im Rausch glitten die stummen Höhlenwän<strong>de</strong> an ihm vorüber, stellenweise erleuchtet vom Geisterlicht <strong>de</strong>r<br />

Weißen. Trüb und tot sah das Erdreich aus, unnachgiebig und kalt. Wie tief trugen sie ihn eigentlich hinab? Und<br />

wohin führte sie ihr Weg? Die Weißen mußten irgen<strong>de</strong>twas beson<strong>de</strong>res mit ihm vorhaben, <strong>de</strong>nn sonst wür<strong>de</strong>n sie<br />

kaum selbst die Bür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Tragens auf sich nehmen und ihn abseits von <strong>de</strong>r Gruppe halten. So blieben <strong>de</strong>m Jurakai<br />

zwar die Schläge erspart, die <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Gefangenen ab und zu angediehen, doch es war fragwürdig, ob diese<br />

Son<strong>de</strong>rbehandlung etwas Gutes verhieß.<br />

Als sie eine geraume Zeit durch die eisigen Tunnels gewan<strong>de</strong>rt waren und Indigo vollends die Orientierung verloren<br />

hatte, trennten sich die Weißen von <strong>de</strong>r fackeltragen<strong>de</strong>n Orkgruppe. Es wur<strong>de</strong>n ein paar Laute gegrunzt; die Antwort<br />

darauf war ein wi<strong>de</strong>rliches Pfeifen, dann ging es durch verschie<strong>de</strong>ne Gänge weiter. Erst nach einer weiteren Ewigkeit<br />

<strong>de</strong>s Fröstelns schienen sie an <strong>de</strong>n erwünschten Platz gelangt zu sein. Unsanft wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Körper <strong>de</strong>s Jurakai<br />

nie<strong>de</strong>rgelegt, doch Indigo war froh über die kurze Entspannung, die das einfache Liegen auf <strong>de</strong>m harten Bo<strong>de</strong>n<br />

darstellte. Endlich wur<strong>de</strong> sein Kreuz nicht mehr überbeansprucht, endlich konnte er wie<strong>de</strong>r atmen, ohne diesen<br />

beklemmen<strong>de</strong>n Druck auf <strong>de</strong>r Brust zu spüren.<br />

Einer <strong>de</strong>r Weißen blieb bei ihm, während <strong>de</strong>r Zweite einen Schwarzork herbeiholte und ihm Anweisungen ins Ohr<br />

sang. Das schweinsähnliche Wesen lauschte aufmerksam, dann teilte er <strong>de</strong>m auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n liegen<strong>de</strong>n mit, was die<br />

Kreatur befohlen hatte:<br />

„Du bleiben in Höhle, Abschaum!“ Der grunzen<strong>de</strong> Ork <strong>de</strong>utete auf eine kleine Tür, die in die felsige Wand<br />

eingelassen war. „Kein Versuch zu fliehen. Essen kommt. Wenn Zeit da, man dich holt.“<br />

„Sssh....“ brachte Indigo hervor, dann stockte ihm <strong>de</strong>r Atem, und ein Hustenanfall überkam ihn. Die Worte, die er<br />

hatte aussprechen wollen, blieben für immer ungesagt. Seine Kehle brannte vor Schmerzen, und er nickte schwach.<br />

Die Klauen <strong>de</strong>r Weißen umschlossen ihn erneut, dann wur<strong>de</strong> die kleine Tür, die so fehl am Platze in <strong>de</strong>r düsteren<br />

Höhle wirkte, aufgestoßen. Dahinter lag nur Dunkelheit und modrige Luft, die <strong>de</strong>m Jurakai ins Gesicht wehte. Er<br />

wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n düsteren Raum geworfen, und noch während er über <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n rollte, fiel hinter ihm ein Riegel ins<br />

Schloß. Vorsichtig öffnete er seine Augen.<br />

Er war gefangen in <strong>de</strong>r Unterwelt, gefangen in einer Hölle <strong>de</strong>s Eises und <strong>de</strong>r Kälte, in <strong>de</strong>r es nichts gab außer kalten<br />

Wän<strong>de</strong>n, kaltem Bo<strong>de</strong>n und kalten Gedanken...<br />

Indigo keuchte schwer, doch er merkte, daß mehr Luft durch seine Lungen drang, ihm das Atmen leichter fiel. Es war<br />

wärmer in dieser Höhle, ohne Zweifel! Ermutigt rieb er seine Gliedmaßen aneinan<strong>de</strong>r, umklammerte sich selbst, um<br />

möglichst wenig Eigenwärme zu verlieren. Mit schnellen, zucken<strong>de</strong>n Bewegungen wand er sich auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, und<br />

als er seine Augen anstrengte, konnte er sogar etwas erkennen. Der Höhlenbo<strong>de</strong>n vor ihm war übersät mit kleinen<br />

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Häufchen, allesamt nicht größer als ein zusammengekauerter Jurakai o<strong>de</strong>r Manur. Irgendwo weit abseits gab es sogar<br />

eine Fackel, die ein trübes Licht spen<strong>de</strong>te. Ein Gedanke schoß <strong>de</strong>m Jurakai durch <strong>de</strong>n Kopf: Er mußte zur Fackel<br />

gelangen! Hielt er sie erst in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n, konnte er seinen unterkühlten Körper endlich aufwärmen, mußte er nicht<br />

mehr in <strong>de</strong>r Kälte leben, die nun an seinem Leib haftete...<br />

Nein, das war natürlich Unsinn! Er wür<strong>de</strong> sich höchstens selbst in Brand stecken, wenn er sich mit <strong>de</strong>r Fackel<br />

aufzuwärmen versuchen wür<strong>de</strong>. Es mußte einen an<strong>de</strong>ren Weg geben, sich warm zu halten. Ein neuer Gedanke stieg in<br />

seinem Geiste auf wie ein Funke, und verzweifelt griff er danach. Die Häufchen, die <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n be<strong>de</strong>ckten... es sah so<br />

aus, als wären es Decken o<strong>de</strong>r ähnliches. Vielleicht wür<strong>de</strong>n sie ihn wärmen können. Vorsichtig robbte Indigo nach<br />

vorn, darauf bedacht, <strong>de</strong>n verdammten, kalten Bo<strong>de</strong>n so wenig wie möglich zu berühren. Lei<strong>de</strong>r en<strong>de</strong>te das<br />

Unterfangen darin, daß er zitternd auf <strong>de</strong>m felsigen Untergrund lag und seine Knie und Hän<strong>de</strong> aufschürfte, jedoch<br />

nicht vorankam. Er nahm alle Kraft zusammen, erhob sich zitternd auf die Beine und torkelte mühselig auf das<br />

Häuflein zu, das ihm am nächsten war. Als er es erreicht hatte, ließ er sich glücklich darauf fallen, doch zu seiner<br />

Verwun<strong>de</strong>rung gab <strong>de</strong>r Hügel nach und rollte zur Seite. Ein lautes Stöhnen erklang, und da erkannte er endlich seine<br />

Fehl<strong>de</strong>utung.<br />

Es waren Menschen o<strong>de</strong>r Jurakai, die sich hier unten vermummt hatten unter diesen Anhäufungen von Decken o<strong>de</strong>r<br />

Mänteln. Sie froren min<strong>de</strong>stens ebenso wie er, und wahrscheinlich waren sie schon viel länger hier!<br />

„...tschul’gung“ murmelte er gequält und rutschte weg von <strong>de</strong>m murren<strong>de</strong>n Mann. Böse Augen funkelten ihn von<br />

unter <strong>de</strong>r Decke an, und unter weiterem Beteuern seiner Unschuld rollte er zur Seite und blieb schließlich in einer<br />

kleinen Mul<strong>de</strong> liegen. Langsam taute die Wärme, die in diesem Raum herrschte, ihn auf, und zitternd blieb er auf <strong>de</strong>m<br />

Bo<strong>de</strong>n liegen und wartete darauf, daß sich die letzten Eiszapfen aus seinen Haaren lösten, daß sein Wams aufhörte zu<br />

Knirschen, sobald er sich bewegte. Indigo spürte, wie das Eis zerrann, zu kühlem Wasser wur<strong>de</strong>, das er dankbar aus<br />

seinen Klei<strong>de</strong>rn wrang und gierig schluckte. Die kalte Flüssigkeit ließ ihm zwar die Kehle einfrieren, doch sein Durst<br />

war gestillt, und darauf kam es jetzt an.<br />

Fröstelnd kuschelte er sich in seiner nassen Kleidung auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n zusammen, verschwen<strong>de</strong>te keinen Gedanken<br />

mehr an irgendwelche Weißen, an Talamà o<strong>de</strong>r an Windmähne. Seine Sinne trieben nur noch für Sekun<strong>de</strong>n umher,<br />

dann schwan<strong>de</strong>n sie und machten <strong>de</strong>r gnädigen Stille <strong>de</strong>s Schlafes Platz. Laut atmend schlummerte <strong>de</strong>r Jurakai ein,<br />

während um ihn herum die ersten Gefangenen erwachten und sich auf einen neuen Arbeitstag vorzubereiten<br />

begannen.<br />

Veloria, die Jurakai, schritt durch <strong>de</strong>n Schnee, <strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>n Toren <strong>de</strong>r Stadt noch knöchelhoch und frisch war. Ein<br />

kleines Heer hatte sich vor Darburg versammelt, bereit zum Abmarsch und freudig auf <strong>de</strong>n Kampf. Zu lange schon<br />

hatten die Bürger nichts gegen die feindliche Orkschar unternehmen können. Nun brannten sie gera<strong>de</strong>zu darauf, sich<br />

in die Schlacht zu stürzen. Nur ein paar <strong>de</strong>r Menschen, diejenigen nämlich, die sich in <strong>de</strong>r Holzfällerhütte verschanzt<br />

hatten und mit Dynes nach Darburg gezogen waren, beschlich ein leises Gefühl <strong>de</strong>r Angst. Tief in ihren Herzen<br />

wußten sie, daß eine so winzige Streitmacht niemals einen wirklichen Scha<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong> anrichten können. Doch sie<br />

schwiegen, weil sie Sir <strong>Arathas</strong> vertrauten.<br />

Die Jurakai blickte über die Menge und anschließend zu Dynes, <strong>de</strong>r auf Sturmauge saß und vor <strong>de</strong>n Leuten auf und ab<br />

schritt. Zum ersten Mal seit er sie kannte, zeigte sich eine Gefühlsregung in ihrer Miene und in ihren Augen. Der<br />

Ritter wußte sie nicht genau einzuordnen, doch sie brachte auf je<strong>de</strong>n Fall Anerkennung zum Ausdruck.<br />

„Ihr habt gute Arbeit geleistet“ sagte sie.<br />

„Wollen wir hoffen, daß sie sich auch gelohnt hat“ meinte Dynes. Er sah zu Paves, <strong>de</strong>r in einem kleinen Kettenhemd<br />

auf seinem Schimmel hockte. Die gesamte Heerschar war noch am Morgen eingeklei<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n, doch für <strong>de</strong>n Jungen<br />

hatte sich nichts Passen<strong>de</strong>s fin<strong>de</strong>n lassen. Alles, was er versuchte, war so groß, daß es ihn bei einem Kampf nur<br />

behin<strong>de</strong>rt hätte. Daraufhin war <strong>de</strong>r Ritter zu einem <strong>de</strong>r Schmie<strong>de</strong> Darburgs geeilt und hatte auf die Schnelle eines <strong>de</strong>r<br />

normalen Kettenhem<strong>de</strong>n umarbeiten lassen. Paves war über die Maßen überrascht und erfreut gewesen, als er die<br />

Gabe <strong>de</strong>s Ritters annahm.<br />

Jetzt saß er aufrecht im Sattel, einen grauen Mantel übergeworfen.<br />

„Bist du soweit, Junge?“ verlangte Dynes zu wissen.<br />

Paves nickte. „Wür<strong>de</strong>t Ihr mir etwas gestatten, Herr?“<br />

Ein mißtrauischer Blick musterte <strong>de</strong>n Knaben, und Dynes hob die Brauen.<br />

„Erlaubt mir bitte, Euer Knappe zu sein, Herr. Offiziell.“<br />

Der Ritter schnitt eine finstere Miene und schien zu überlegen. „Ist dir das wichtig?“ fragte er schließlich.<br />

„Es... es wür<strong>de</strong> mich freuen, Herr. Einen richtigen Platz zu haben, meine ich.“<br />

Dynes zögerte und zuckte die Achseln. Tom, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Nähe wartete und das Gespräch belauscht hatte, trabte heran<br />

und stellte sich längs von Sturmauge, direkt zwischen <strong>de</strong>n Ritter und <strong>de</strong>n Knaben.<br />

„Er verehrt dich, Aras“ zischte <strong>de</strong>r breitschultrige Mann und wackelte mit <strong>de</strong>m Kopf in Richtung <strong>de</strong>s Jungen. „Tu es<br />

doch einfach, nur um <strong>de</strong>s Gefallen Willen.“<br />

<strong>Arathas</strong> nickte und wandte sich an Paves, <strong>de</strong>r ihn mit hoffnungsvollem Blick anstarrte.<br />

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„Dann soll es so sein. Du bist ab jetzt mein Knappe, Paves.“ Er biß sich auf die Lippen und lachte grimmig. „Der<br />

Knappe eines Ritters ohne Lehen und Leute.“<br />

Jetzt schüttelte Paves <strong>de</strong>n Kopf. „Das stimmt nicht, Herr. Diese ganzen Menschen hier folgen Euch!“ Der Knabe<br />

zeigte auf die Hun<strong>de</strong>rtschaft von Kämpfern, die sich zum Ritt bereitmachten.<br />

Tom lächelte, als er Dynes beobachtete, <strong>de</strong>r zum ersten Mal auf diese Weise über die gegenwärtige Lage nachdachte.<br />

Bis jetzt hatte <strong>de</strong>r Ritter dieses kleine Heer als... nun, einfach nur als Heer gesehen. Ein paar Bauern und Soldaten, die<br />

sich gegen etwas auflehnten, das sie bedrohte. Doch nun...<br />

„Du hast Recht, Junge. Diese Menschen vertrauen uns. Wir wer<strong>de</strong>n sie nicht enttäuschen.“<br />

„Dann können wir also?“ Zara, die bis vor kurzem irgendwo zwischen <strong>de</strong>n Leuten verschwun<strong>de</strong>n gewesen war,<br />

tauchte nun auf. Yentaro, <strong>de</strong>r auf seinem Roß saß und einen entschlossenen Ausdruck zur Schau trug, kam ihr nach.<br />

„Wir sind alle bereit“ meinte die Frau und hob eine Hand. Ungefähr fünfzig Menschen, die bereits auf ihren Rössern<br />

warteten, hoben ebenfalls ihre Hand. Die Soldaten, etwa ebenso groß an <strong>de</strong>r Zahl, hatten sich ein wenig abgeson<strong>de</strong>rt<br />

und blieben still am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Geschehens. Sie erwarteten Dynes’ Befehle.<br />

„Dann also los. Zeigen wir’s diesen verdammten Bastar<strong>de</strong>n.“ <strong>Arathas</strong> zog die Zügel, und mit in <strong>de</strong>n Schnee<br />

schlagen<strong>de</strong>n Hufen begann Sturmauge zu laufen.<br />

„Hey!“ schrie Zara so laut sie konnte, und ihre Stimme, getragen vom Wind, hallte über die gesamte Ebene. Mit<br />

einem lauten Schrei setzten auch die an<strong>de</strong>ren ihre Pfer<strong>de</strong> in Bewegung und folgten <strong>de</strong>m Gespann an <strong>de</strong>r Spitze.<br />

Dynes, <strong>de</strong>r bereits in vollem Galopp voranritt, blickte zu einer sich nähern<strong>de</strong>n Gestalt, die von <strong>de</strong>r Linken her<br />

aufholte. Es war die rotschöpfige Frau, die mit Sturmauge gleichzog. Sie zwinkerte <strong>de</strong>m Ritter zu und richtete sich auf<br />

<strong>de</strong>m Rücken ihres Rosses auf.<br />

„Verdammte Welt“ rief sie lachend, während hinter ihr die Geräusche von hun<strong>de</strong>rt trampeln<strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>n erklangen. In<br />

ihren Augen leuchtete das Feuer <strong>de</strong>s Lebens.<br />

Die Tage vergingen für Indigo wie ein Wachtraum, zogen vor seinem geistigen Auge herauf, verharrten kurz in <strong>de</strong>r<br />

Gegenwart, um anschließend wie<strong>de</strong>r im <strong>de</strong>m Nichts zu verschwin<strong>de</strong>n, aus <strong>de</strong>m sie gekommen waren. Die Stun<strong>de</strong>n, in<br />

<strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Jurakai wach war, füllte er mit Trinken und Essen, <strong>de</strong>nn gelegentlich schaute ein stämmiger Ork in das<br />

Verlies und verteilte Nahrung und Wasser. Was <strong>de</strong>m Jurakai aber am seltsamsten vorkam während seiner Zeit in <strong>de</strong>m<br />

Gewölbe, war, daß er nicht wie all die an<strong>de</strong>ren hinausgetrieben wur<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n ganzen Tag schlafend verbringen<br />

durfte. Die Manur wur<strong>de</strong>n zur Arbeit gebracht, soviel hatte er herausfin<strong>de</strong>n können. Doch niemand schien sich daran<br />

zu stören, daß er unbehelligt in seiner Mul<strong>de</strong> lag, und auch die Wärter achteten nicht auf die zerlumpte Gestalt, die<br />

einst ein stolzer Jurakai, vielleicht sogar ein Shat’lan gewesen war.<br />

Nach mehreren Wachphasen gab Indigo es auf, die Stun<strong>de</strong>n zu zählen. Wen kümmerte es hier unten schon, ob es Tag<br />

o<strong>de</strong>r Nacht war? Hell o<strong>de</strong>r dunkel, was spielte das in <strong>de</strong>m düsteren Gewölbe für eine Rolle? Das einzige, was hier<br />

noch zählte, waren die unregelmäßigen Mahlzeiten, die <strong>de</strong>m jungen Mann gebracht wur<strong>de</strong>n, die ihn stärkten. Er hatte<br />

sich seiner nassen Klei<strong>de</strong>r entledigt und war in das trockene Gewand einer Gestalt geschlüpft, die augenscheinlich<br />

keine Verwendung mehr dafür hatte, je<strong>de</strong>nfalls nicht in dieser Welt. Er verschwen<strong>de</strong>te keinen Gedanken daran, daß er<br />

einem Toten die Kleidung gestohlen hatte, <strong>de</strong>nn sein zittern<strong>de</strong>r Leib ließ <strong>de</strong>rartig törichtes Denken nicht zu.<br />

Als ein Geräusch ertönte und Ketten rasselten, dachte Indigo zuerst, daß die Manur zurückkämen, die vor vielen,<br />

vielen Stun<strong>de</strong>n aufgebrochen waren, um ihre unmenschliche Arbeit in <strong>de</strong>n Stollen zu verrichten. Doch anstatt Arbeiter<br />

hereinzulassen wur<strong>de</strong> ein mattes Schimmern am Türstock sichtbar, und <strong>de</strong>r Jurakai zuckte innerlich zusammen. Ein<br />

Weißer stakste durch die Höhle und kam direkt auf ihn zu. Er wußte nicht, ob es einer von <strong>de</strong>nen war, mit <strong>de</strong>nen er es<br />

schon vorher zu tun gehabt hatte, <strong>de</strong>nn die wi<strong>de</strong>rlichen Wesen sahen alle gleich aus. Ihre milchigen Augen<br />

schimmerten allesamt im selben toten Ton, in diesem farblosen Weiß, das noch heller war als die leuchten<strong>de</strong> Haut <strong>de</strong>r<br />

Kreaturen.<br />

Der Hochgewachsene be<strong>de</strong>utete ihm, sich zu erheben. Indigo beeilte sich, <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung nachzukommen, <strong>de</strong>nn er<br />

wollte dieses unbarmherzige Wesen auf keinen Fall erzürnen. Schnell rappelte er sich auf und folgte <strong>de</strong>m Weißen, <strong>de</strong>r<br />

bereits durch die Tür geschritten war und auf ihn wartete. Im Tunnel stand ein weiterer Hochgewachsener, <strong>de</strong>r ihn mit<br />

seinen milchigen Augen fixierte. Angeekelt wandte <strong>de</strong>r Jurakai <strong>de</strong>n Blick ab von <strong>de</strong>n Geschöpfen <strong>de</strong>s Untergrunds.<br />

Sätze wur<strong>de</strong>n gesungen, dann packte einer <strong>de</strong>r Weißen Indigo am Arm und zerrte ihn vorwärts.<br />

Gut! dachte dieser grimmig. Wenigstens trugen sie ihn nicht mehr. Und er war glücklicherweise wie<strong>de</strong>r stark genug,<br />

um ihrem schnellen Schritt zu folgen.<br />

Ohne Unterlaß lief das kleine Grüppchen durch die Höhle, und <strong>de</strong>r Jurakai mußte beinahe rennen, um das Tempo <strong>de</strong>r<br />

Geschöpfe einzuhalten. Je tiefer sie vordrangen in das Erdreich, <strong>de</strong>sto mehr verän<strong>de</strong>rte sich die Umgebung. Vorher<br />

mußten sie noch sehr nah an <strong>de</strong>r Oberfläche gewesen sein, <strong>de</strong>nn hier unten, viele, viele Fuß tiefer, war es wärmer und<br />

die Er<strong>de</strong> lockerer. Vereinzelte Fackeln erhellten Passagen <strong>de</strong>r Tunnel, die sich kreuz und quer durch das Erdreich<br />

zogen und ein enormes Labyrinth zu bil<strong>de</strong>n schienen.<br />

Die Er<strong>de</strong> schien zu atmen, zu pulsieren, und die gelegentlichen Stellen, an <strong>de</strong>nen Fels aus <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n hervortrat,<br />

faszinierten Indigo beson<strong>de</strong>rs. Das bereits chien rötlich zu sein, schien in einem pochen<strong>de</strong>n Rhythmus zu schlagen,<br />

fast wie ein Herz, das in diesen ganzen Gängen das Leben erhielt. Einerseits war die Vorstellung von einem riesigen<br />

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Organismus, <strong>de</strong>r die unterirdischen Tunnel bil<strong>de</strong>te, verzaubernd und unvorstellbar, an<strong>de</strong>rerseits aber abstoßend und<br />

grausam. Denn welches Wesen wür<strong>de</strong> solch eine Vielfalt von üblen Kreaturen in seinem Inneren erschaffen o<strong>de</strong>r<br />

Leben lassen, wenn es nicht das Böse selbst wäre, das reine, letzte Übel. War das <strong>de</strong>nn überhaupt möglich? Konnte ein<br />

einzelnes Wesen so gigantisch sein, daß es ganze Heerscharen von wi<strong>de</strong>rlichen Geschöpfen beherbergte? Nein, so sehr<br />

die rötlichen Felsen auch einem riesenhaften Organ ähnelten, und so gut die Täuschung auch sein mochte, die diese<br />

Gänge pulsieren zu lassen schien, so war Indigos Vorstellung doch ein Ding <strong>de</strong>r Unmöglichkeit. Wie, um sich<br />

Bestätigung zu verschaffen, trat <strong>de</strong>r Jurakai fest in <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, und was sich dort löste und in die Luft staubte, war<br />

keine organische Masse, son<strong>de</strong>rn einfache Er<strong>de</strong>, aufgewühlt von Indigos Stiefel. Seufzend hastete <strong>de</strong>r junge Mann<br />

<strong>de</strong>m Weißen hinterher, <strong>de</strong>r noch immer eine seiner Klauen um seinen Arm geschlungen hielt und ihn hinter sich her<br />

zerrte.<br />

Saya verdrehte die Augen und ging unruhig im Zimmer auf und ab. Die Beleuchtung war spärlich, die Möblierung<br />

fehlte - abgesehen von zwei kleinen Fackeln und einem großen Schreibtisch - gänzlich. Manchmal wandte sie sich um<br />

und konfrontierte eine Gestalt, die im Schatten <strong>de</strong>r Ecke lehnte, drehte dann jedoch gleich wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Kopf und stieß<br />

einen tiefen Seufzer aus.<br />

„Es ist Windmähne, Vater! Das heißt, daß Asan in Gefahr schwebt!“<br />

„O<strong>de</strong>r, daß er tot ist.“ Die kühlen Worte ließen die junge Shat’lan erbost stehenbleiben.<br />

„Nein. Du weißt, daß das nicht wahr ist!“<br />

Keldar nickte an<strong>de</strong>utungsweise. „Ich hoffe ebenso wie du, daß An’chassar noch am Leben ist. Nein, das ist falsch“<br />

verbesserte er sich sogleich. „Ich weiß, daß er noch lebt. Ich spüre es. Und du spürst es auch, Saya.“<br />

„Und <strong>de</strong>swegen richte ich diese Bitte an dich, Vater: Unser Volk hört auf <strong>de</strong>ine Stimme. Was die Avalare sagt, wiegt<br />

nichts im Gegensatz zu <strong>de</strong>inem Wort. Der alte Rat ist aufgelöst, und das letzte Überbleibsel hat keine Macht mehr<br />

über die Shat’lan. So sehr Sindaria sich auch wünschen mag, daß dies nicht so wäre - die Tage ihrer Herrschaft sind<br />

gezählt. Aber dir wird unser Volk folgen, Vater. Auf <strong>de</strong>in Geheiß hin wür<strong>de</strong>n sie kämpfen, und das weißt du! Wenn<br />

du dich entschließt, Asan zu Hilfe zu kommen, wer<strong>de</strong>n die Shat’lan sich erheben und endlich wie<strong>de</strong>r an die<br />

Oberfläche Rubens hervorbrechen!“<br />

„Zu welchem Preis, Saya?“ Keldar trat aus <strong>de</strong>n Schatten und faßte seine Tochter an <strong>de</strong>r Schulter. „Wir wür<strong>de</strong>n die<br />

Autorität <strong>de</strong>r Avalare untergraben, und das direkt vor ihren Augen. Ich müßte mich offen gegen sie stellen. Und ich<br />

weiß nicht, was diese Tat letzten En<strong>de</strong>s bewirken wür<strong>de</strong>.“<br />

„Ist das noch wichtig?“ Saya blickte ihrem Vater verzweifelt in die Augen. „Sieh uns an! Lange vor meiner Geburt hat<br />

unser Volk über die Weiten dieses Lan<strong>de</strong>s geherrscht, das nun von <strong>de</strong>n Manur bevölkert wird. Wir verstecken uns<br />

unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und fristen unser Dasein in diesen Malasae. Sieh uns an, Vater! Ist das das Shat’lan-Volk, das du<br />

kennengelernt hast, als du jung warst?“<br />

„Ich kann dir nicht wi<strong>de</strong>rsprechen, Saya.“ Keldar versuchte, beschwichtigen<strong>de</strong> Worte zu fin<strong>de</strong>n. „Als <strong>de</strong>ine Mutter—“<br />

Der aufgebrachte Schrei seiner Tochter ließ <strong>de</strong>n alten Mann verstummen. „Bitte bring Mutter nicht ins Spiel. Es geht<br />

jetzt nur noch um uns und Asan! Wenn du dich nicht endlich dazu durchringst, <strong>de</strong>ine eigenen Entscheidungen zu<br />

fällen und <strong>de</strong>n Rat <strong>de</strong>r Avalare zu mißachten, wird er sterben! Du glaubst doch selber nicht an diese Prophezeiung, die<br />

Sindaria so beschäftigt!“<br />

„Auch damit hast du Recht, Saya. Doch es ist bei weitem nicht so einfach, wie du es dir vorstellst.“<br />

„Wie stelle ich es mir <strong>de</strong>nn vor? Ich hoffe doch nur, daß wir gemeinsam einen Weg fin<strong>de</strong>n, Asan zu helfen. Wenn du<br />

es nicht tust, wer<strong>de</strong> ich alleine aufbrechen. Ich wer<strong>de</strong> nicht tatenlos mit ansehen, wie er stirbt, Vater. Es ist mehrere<br />

Stun<strong>de</strong>n her, seit Windmähne im Wald gefun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>. Je<strong>de</strong> weitere Minute kann Asan näher an die Schwelle <strong>de</strong>s<br />

To<strong>de</strong>s bringen.“<br />

Keldars Stimme war leise und ruhig. „Es ist keine leichte Entscheidung, Tochter.“<br />

„Aber es ist <strong>de</strong>ine Aufgabe, und das weißt du! Löse dich endlich von diesen verrückten I<strong>de</strong>en, die <strong>de</strong>m Geist einer<br />

alten Shat’lan entsprungen sind.“ Saya sackte in sich zusammen und fiel auf die Knie. Tränen rollten über ihre<br />

Wangen, als sie Keldars Hand ergriff. „Bitte, Vater. Es ist die einzige Möglichkeit, Asan und das Land zu retten.“<br />

Der bärtige Shat’lan wußte nicht, wie er sich verhalten sollte, und so nahm er die junge Frau in <strong>de</strong>n Arm und drückte<br />

sie an seine Brust. Langsam verebbten die Tränen, und das Mädchen blickte ihm in die Augen. Er lächelte sanft und<br />

strich zärtlich über ihr Haar.<br />

„Es gab tatsächlich Zeiten, in <strong>de</strong>nen die Shat’lan kämpften, Saya. Doch das ist schon sehr lange her. Vielleicht zu<br />

lange...“<br />

183


VIII<br />

Vergängliche Reiche<br />

Die beste Gelegenheit ist die, die man nutzt.<br />

Talamà Winterlocke<br />

Die letzten Worte verklangen, und die son<strong>de</strong>rbare Shat’lan, <strong>de</strong>ren Augen in völligem Schwarz leuchteten, senkte das<br />

Haupt. Dann verschwamm ihre Gestalt, und auch die übrige Umgebung löste sich auf. Talamà erwachte.<br />

Die Träume...<br />

Nun wußte sie, was sie zu be<strong>de</strong>uten hatten. Die Jurakai schlug ihre Augen auf, doch bittere Schwärze war alles, was<br />

sie empfing. Kein Licht, keine fröhlichen Farben, die sie aufmunterten...<br />

Wahrscheinlich wür<strong>de</strong> es bis an ihr Lebensen<strong>de</strong> so sein; sie wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Gedanken an Farbe und Licht niemals<br />

vollkommen verdrängen können. Unterschwellig blieb das Verlangen, die Augen zu öffnen, um <strong>de</strong>n neuen Tag zu<br />

begrüßen. Sie schüttelte <strong>de</strong>n Kopf.<br />

Elan<strong>de</strong>r lag dicht neben ihr, auf ein wenig Stroh gebettet und an sie gekuschelt. Sie konnte <strong>de</strong>n Zwerg nicht nur<br />

spüren, son<strong>de</strong>rn auch riechen. Es war, als hätte sie eine ganz neue Seite an sich ent<strong>de</strong>ckt, einen neuen Sinn. In <strong>de</strong>n<br />

letzten Tagen - o<strong>de</strong>r waren es bereits Wochen? Sie wußte es nicht - hatten sich all ihre restlichen Sinne verbessert,<br />

doch am hervorstechendsten war ihr Geruchsinn. Er hatte sich zu einer echten Orientierungshilfe entwickelt, und sie<br />

wußte nicht, wie sie ohne ihn noch klarkommen sollte. Düfte, die ihre Nase vorher nur gestreift hatten, hielten nun ein<br />

jeweils völlig eigenes und unverwechselbares Aroma bereit. Es war leicht, sie voneinan<strong>de</strong>r zu unterschei<strong>de</strong>n, und<br />

sobald Talamà ein neuer Geruch begegnete, dauerte es nicht lang, bis sie ihn sich eingeprägt hatte, so daß sie ihn ein<br />

zweites Mal sofort wie<strong>de</strong>rerkennen wür<strong>de</strong>. Auch Elan<strong>de</strong>r verströmte einen eigenen, sehr intensiven Duft. Er war nicht<br />

unangenehm, aber sehr intensiv und stark. Wann immer <strong>de</strong>r Dverjae auch nur in ihre Nähe kam, war sie sofort in <strong>de</strong>r<br />

Lage, ihn zu i<strong>de</strong>ntifizieren. Und jetzt war er wach, auch das spürte sie. Seine Atmung hatte sich verän<strong>de</strong>rt, nicht<br />

wesentlich, aber für ein geübtes Ohr doch bemerkbar. Offensichtlich wollte <strong>de</strong>r Zwerg sich nichts anmerken lassen,<br />

doch Talamà hätte ihn sowieso wecken müssen. Sie hob ihren Arm und streichelte <strong>de</strong>m kleinen Wesen über die<br />

Schulter, bis Elan<strong>de</strong>r vorgab, aufzuwachen. Er brummte etwas Unverständliches und rieb sich die Augen.<br />

„Was gibt es?“ fragte er mü<strong>de</strong> und rollte sich auf die an<strong>de</strong>re Seite. „Ich hoffe, es ist wichtig.“<br />

„Ich <strong>de</strong>nke, das ist es“ flüsterte die Jurakai, und mit starren Pupillen blickte sie <strong>de</strong>m Zwerg direkt in die Augen.<br />

Erschrocken fuhr <strong>de</strong>r Kleine zurück und schluckte unangenehm. Es war erstaunlich, wie das Mädchen es trotz seiner<br />

Blindheit zustan<strong>de</strong> brachte, einem genau ins Gesicht zu sehen.<br />

„Ich habe ein... Gefühl. Ich kann dir lei<strong>de</strong>r noch nicht mehr verraten, mein kleiner Freund, <strong>de</strong>nn ich weiß selbst nicht,<br />

wie ich es zu <strong>de</strong>uten habe. In letzter Zeit wur<strong>de</strong> ich von verschie<strong>de</strong>nen Träumen geplagt...“<br />

„Was für Träume?“ verlangte Elan<strong>de</strong>r zu erfahren, doch die Jurakai biß sich auf die Lippen.<br />

„Nicht so wichtig.“ Sie stand auf, schien nach etwas zu suchen. „Wo sind die Vorräte, die du gehortet hast?“<br />

Der Zwerg erhob sich ebenfalls, blickte seine Gefährtin skeptisch an. „Wieso?“<br />

„Wir sollten sie aufbrauchen. Ich schätze, daß wir nicht zurückkehren wer<strong>de</strong>n in diese Höhle. Die Orks sind bald hier<br />

und führen uns in die Stollen. Sie wer<strong>de</strong>n uns nicht zurückbringen.“<br />

„Woher weißt du das?“<br />

„Ich weiß es einfach. Vertrau mir.“<br />

„Ich... in Ordnung.“ Mit einer flinken Bewegung löste <strong>de</strong>r Dverjae einen Felsbrocken von <strong>de</strong>r Wand, för<strong>de</strong>rte mehrere<br />

Wasserschälchen und Brotstücke zutage. Hastig leerten die bei<strong>de</strong>n die Schalen, stopften sich die dicken Brotstücke in<br />

ihre Taschen. Dann faßte Talamà ihren Freund an <strong>de</strong>r Schulter, und ihr fester Griff erstaunte <strong>de</strong>n Kleinen.<br />

„Ich habe dir von Indigo erzählt, nicht wahr?“<br />

„Dem Jurakai. Ja, das hast du.“<br />

„Er ist hier.“<br />

„Hier?“ Ein Ausdruck <strong>de</strong>s Erstaunens huschte über Elan<strong>de</strong>rs kleines Gesicht. „Was meinst du mit hier?“<br />

„Ich bin... mir nicht sicher. Aber ich habe dieses seltsame Gefühl. Er ist hier. Irgendwo in diesen Tunnels. Und noch<br />

etwas an<strong>de</strong>res befin<strong>de</strong>t sich hier unten. Es bringt... Verän<strong>de</strong>rung.“<br />

„Du sprichst in Rätseln, Talamà. Ich habe keine Ahnung, wovon du re<strong>de</strong>st.“<br />

„Du wirst es begreifen, mein Freund.“<br />

„Aber ich—“<br />

184


„Still! Sie kommen.“<br />

„Die Wächter? Ist es schon Zeit, wie<strong>de</strong>r zu arbeiten?“ Wie zur Antwort rasselten Ketten, und die Tür wur<strong>de</strong> knarrend<br />

aufgestoßen.<br />

„Ja“ sagte Talamà knapp und richtete sich auf. Die Prozedur, die <strong>de</strong>n Gefangenen im Laufe <strong>de</strong>r Zeit eingeprägt hatte,<br />

wie<strong>de</strong>rholte sich ein weiteres Mal. Zwei Wärter kamen in das Gewölbe, überprüften die am Bo<strong>de</strong>n Liegen<strong>de</strong>n und<br />

sparten nicht mit Schlägen und Tritten. Nach wenigen Minuten war die Höhle bis auf wenige jämmerliche Gestalten<br />

geräumt, und die kleine Menge aus Manur und Jurakai stand vor <strong>de</strong>r dicken Holztür, die einer <strong>de</strong>r Schwarzorks hinter<br />

sich zuzog.<br />

„Ich kann nichts ungewöhnliches am Verhalten <strong>de</strong>r Mistkerle erkennen“ sagte Elan<strong>de</strong>r nach<strong>de</strong>nklich, doch Talamà<br />

gab keine Antwort auf seine Feststellung. Schweigend stolperte sie <strong>de</strong>n Gang hinunter, roch die Verän<strong>de</strong>rungen, die<br />

die Luft mit sich trug, wenn sie in einen weiteren Seitenarm wechselten, und prägte sich <strong>de</strong>n Weg ein, <strong>de</strong>n sie<br />

entlanggescheucht wur<strong>de</strong>n.<br />

„Hab Geduld, mein Freund. Es dauert nicht mehr lang. Ich spüre es.“<br />

Dunkelheit umspülte <strong>de</strong>n jungen Jurakai, als er sich durch <strong>de</strong>n Tunnel tastete. Er war allein, allein in einer frem<strong>de</strong>n,<br />

verwirren<strong>de</strong>n Welt. Tiefe, durchdringen<strong>de</strong> Schwärze umgab Indigo, während er sich an eine Wand lehnte, Halt suchte<br />

in dieser düsteren Umgebung. Wo war er? Und wohin sollte er gehen? Vor wenigen Minuten hatten zwei Weiße, die<br />

ihn aus seinem Gefängnis holten, ihn durch die Tür geworfen. Nun befand er sich in diesem... diesem engen Gang,<br />

<strong>de</strong>r vollkommen dunkel war. Hier gab es keine fluoreszieren<strong>de</strong>n kleinen Wurzeln o<strong>de</strong>r Pilze, die die Er<strong>de</strong> erleuchteten,<br />

kein Licht, das Trost spen<strong>de</strong>n konnte. Nur ekelerregen<strong>de</strong>, allgegenwärtige Finsternis, und dazu das unangenehme<br />

Pochen, welches <strong>de</strong>r Jurakai jedoch mehr fühlen als tatsächlich wahrnehmen konnte, wie ein weit entferntes Herz.<br />

Entschlossen, seinen Weg durch die Dunkelheit fortzusetzen, bewegte er sich vorsichtig über <strong>de</strong>n unebenen Bo<strong>de</strong>n.<br />

Mehrere Tage lang war er von einer Höhle in die nächste gescheucht wor<strong>de</strong>n, immer wie<strong>de</strong>r durch die Gänge, hin und<br />

her. Langsam war es ihm erschienen, als sei er eine Marionette, an <strong>de</strong>ren Fä<strong>de</strong>n alle möglichen Personen<br />

herumzupften und sich nicht einigen konnten, in welche Richtung sie ihn dirigieren wollten. Einmal wur<strong>de</strong> er in<br />

diesem Gefängnis untergebracht, und nur wenige Stun<strong>de</strong>n darauf schon wie<strong>de</strong>r im nächsten. Wenigstens hatte er<br />

Glück gehabt und ein paar Mal die Zeiten erwischt, zu <strong>de</strong>nen Nahrung und Wasser verteilt wur<strong>de</strong>n. So war er nicht<br />

vollkommen geschwächt, hatte sich noch einen Teil seiner Stärke bewahrt. Wie lange befand er sich jetzt schon hier<br />

unten, unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>? Wie lange hatten diese Weißen und die Orks ihn schon in ihrer Gewalt? Zehn Tage? Fünfzehn?<br />

O<strong>de</strong>r waren es bereits mehr? Es war so schwer zu sagen, wenn es keinen Anhaltspunkt wie die Sonne o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n <strong>Mond</strong><br />

gab. Alles war stets gleich, blieb ewig dunkel und finster, nur gelegentlich erhellt von Fackelschein o<strong>de</strong>r<br />

schimmern<strong>de</strong>n Gewächsen im Erdreich...<br />

Unerwartet und heftig prallte Indigo plötzlich gegen ein festes Hin<strong>de</strong>rnis, und vor Schreck fiel er nach hinten, lan<strong>de</strong>te<br />

unsanft auf <strong>de</strong>m harten Bo<strong>de</strong>n. Langsam stand er auf und befühlte das Ding, das sich in seinem Weg befand. Es war<br />

eine Tür, und das Holz war verdorben und durchnäßt. Er kratzte mit <strong>de</strong>n Fingern an <strong>de</strong>r rauhen Schicht, und sofort<br />

bohrten sich dicke Splitter unter seine Nägel. Schmerzerfüllt zog er die Hand zurück, verfluchte sein unüberlegtes<br />

Han<strong>de</strong>ln. Die Weißen, die ihn durch diesen Gang geschickt hatten, wußten natürlich, daß sich an <strong>de</strong>ssen En<strong>de</strong> eine<br />

Tür befand. Und sie wollten, daß er sie öffnete, <strong>de</strong>nn sonst hätten sie ihn wohl kaum allein in dieses Gewölbe<br />

geschickt.<br />

Nun gut. Er rappelte sich auf, suchte nach einem Knauf. Als er ihn fand, drehte er das eiserne Ding vorsichtig, doch<br />

die schwere Tür wollte sich nicht so leicht bewegen lassen. Mit großem Kraftaufwand lehnte er sich gegen sie, preßte<br />

sich mit <strong>de</strong>m ganzen Körpergewicht dagegen. Endlich gab sie nach, und <strong>de</strong>r Jurakai fiel Hals über Kopf in <strong>de</strong>n<br />

dahinterliegen<strong>de</strong>n Raum.<br />

Das erste, das ihm auffiel, war das Licht, das die Höhle erhellte. Das zweite die Herkunft <strong>de</strong>s Lichtes. Er hatte in <strong>de</strong>n<br />

letzten Tagen genügend Zeit gehabt, um Erfahrung mit <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Sorten von Helligkeit zu sammeln, die es<br />

unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> gab. Zucken<strong>de</strong> und flackern<strong>de</strong> stammte von Fackeln, und trübe, wässrige Helligkeit war die Gabe <strong>de</strong>r<br />

Gewächse, die aus <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> hervorbrachen und fluoreszierten. Doch das schimmern<strong>de</strong> Licht, das diesen Raum<br />

erhellte, hatte nur einen Ursprung, eine verhaßte Quelle: Ein Weißmolch! Die Hochgewachsenen Wesen leuchteten in<br />

einer ganz beson<strong>de</strong>ren Art <strong>de</strong>s Lichtes, böse und kühl. Indigo hob seinen Kopf, und seinen Blicken bot sich ein langes,<br />

dürres Wesen dar, das ihn mit milchigen Augen musterte.<br />

Der Jurakai stemmte sich auf die Beine, wollte auf die Kreatur zugehen, die ihn beobachtete. Anscheinend amüsiert<br />

stand <strong>de</strong>r Lange in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>s Raumes, und sein schmaler Kopf wippte stetig auf und ab, während Indigo auf ihn<br />

zuschwankte.<br />

„Ich habe dich erwartet“ zischte <strong>de</strong>r Hohe plötzlich, und wie gebannt blieb <strong>de</strong>r junge Mann stehen, verharrte mitten<br />

im Schritt. Es war zwar nicht das erste Mal, daß er einen <strong>de</strong>r Weißen sprechen hörte, doch <strong>de</strong>r Tonfall dieses<br />

speziellen Geschöpfes war durchdringend und entmutigend. Mit schwachem und doch festem Blick konfrontierte<br />

Indigo <strong>de</strong>n Hochgewachsenen.<br />

„Deine Anwesenheit ist mir persönlich nicht angenehm, doch diese Entscheidung liegt lei<strong>de</strong>r nicht in meiner Hand.“<br />

185


„Auch mir ist meine Anwesenheit hier nicht angenehm“ brachte Indigo hervor und spuckte auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n. „Wieso<br />

bin ich hier?“<br />

„Ich glaube nicht, daß irgendjemand verpflichtet ist, <strong>de</strong>ine Fragen zu beantworten.“ Verächtlich trat <strong>de</strong>r Weiße auf<br />

<strong>de</strong>n Jurakai zu und versetzte ihm einen Schlag gegen die Schläfe. Stöhnend sackte Indigo auf die Knie. Seine Li<strong>de</strong>r<br />

flatterten, während er die zornigen Augen auf sein Gegenüber richtete.<br />

„Und doch sprichst du mit mir.“<br />

Ein weiteres Mal fuhr die lange Hand durch die Luft, krachte mit zerschmettern<strong>de</strong>r Härte gegen Indigos Brustkorb.<br />

Dem Jurakai war, als höre er ein Knacken, und nach Luft ringend krümmte er sich auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n. Dieses Wesen<br />

hatte ihn in seiner Gewalt, aber trotz<strong>de</strong>m war es nur ein Lakai, ein Untergebener einer Kreatur, die noch viel<br />

grausamer und furchtbarer sein mußte.<br />

„Schon sehr bald wirst du tot sein“ begann <strong>de</strong>r Weiße unvermittelt zu erzählen, und Indigo lauschte aufmerksam,<br />

während er sich <strong>de</strong>n Magen hielt. „Du bist ein Dorn im Fleisch meines Herren, und in Kürze wird er <strong>de</strong>in<br />

jämmerliches Leben auslöschen, so wie du eine Wanze zertreten wür<strong>de</strong>st.“<br />

„Was habe ich getan, um euch solche Angst einzujagen?“<br />

„Angst? Du jagst nieman<strong>de</strong>m Angst ein, du kleiner Wurm. We<strong>de</strong>r mir noch sonst jeman<strong>de</strong>m.“<br />

„Und doch legt ihr so großen Wert auf mich. Ihr behan<strong>de</strong>lt mich an<strong>de</strong>rs als die an<strong>de</strong>ren Gefangenen, das ist mir nicht<br />

entgangen.“<br />

„Der Herr wird seine Pläne nicht in Gefahr geraten lassen durch einen nichtsnutzigen Menschen wie dich“ antwortete<br />

<strong>de</strong>r Weiße.<br />

„Ich bin kein Mensch“ zischte Indigo erzürnt.<br />

„Wen interessiert das schon? Dein Leben ist nicht mehr wert als das eines Käfers, <strong>de</strong>r durch die Er<strong>de</strong> kriecht.“<br />

„Ich habe von <strong>de</strong>iner angeblichen Macht gehört, Chataih“ flüsterte <strong>de</strong>r Jurakai leise, jedoch eindringlich. Erstaunt<br />

fuhr <strong>de</strong>r Weiße auf und funkelte das zerbrechliche Wesen, das auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n lag, düster an.<br />

„Du kennst meinen Namen?“<br />

„Ich habe die Gespräche <strong>de</strong>iner Artgenossen belauscht. Es war nicht weiter schwer, die naheliegen<strong>de</strong>n Schlüsse aus<br />

ihnen zu ziehen. Ich weiß, daß Furcht <strong>de</strong>in Zepter ist, Chataih. Dein Name wird nur unter vorgehaltener Hand<br />

ausgesprochen, und doch glaube ich, daß du nichts weiter als ein Sklave bist.“<br />

Einen Augenblick lang schien es, als wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Weiße auf Indigo losgehen wollen, doch dann fing sich die Kreatur<br />

wie<strong>de</strong>r und bückte sich langsam vor Indigo auf die Er<strong>de</strong>. Mit seinen langen, knochigen Fingern hob er das Kinn <strong>de</strong>s<br />

Jurakai, so daß sie sich in die Augen blicken konnten.<br />

„Du bist nicht dumm, mein kleiner nichtsnutziger Wurm. Fast hätte ich mich dazu hinreißen lassen, dir meine<br />

tatsächliche Macht zu <strong>de</strong>monstrieren. Doch du weißt nichts - gar nichts - über das, was bald über euer Land<br />

hereinbrechen wird. Wenn du auch nur <strong>de</strong>n Hauch einer Ahnung hättest, wür<strong>de</strong>st du vor Angst nicht mehr aufhören<br />

zu zittern, und du wüßtest, daß nichts euch noch retten kann.“<br />

„Was wird <strong>de</strong>nn über Ruben hereinbrechen?“ erkundigte sich Indigo und wandte die Augen von <strong>de</strong>m weißen Wesen<br />

ab.<br />

„Deine Augen sind son<strong>de</strong>rbar“ murmelte <strong>de</strong>r Weiße nach<strong>de</strong>nklich, ohne Antwort auf die ihm gestellte Frage zu geben.<br />

„Ich habe noch nie eine solche Farbe gesehen... fast schwarz. Ich glaube langsam, daß die Gerüchte stimmen...“<br />

Chataihs Stimme wur<strong>de</strong> leiser, und er schien über etwas zu grübeln. Nickend fuhr er fort: „Du möchtest erfahren, was<br />

mit eurem - unserem - Land geschehen wird? Nun, wie dir vielleicht bereits aufgefallen ist, lassen wir euch Sklaven<br />

das Erdreich durchlöchern.“<br />

Indigo nickte schwach.<br />

„Ich weiß nicht, inwiefern du informiert bist, Menschlein, doch wie dir möglicherweise aufgefallen ist, greifen unsere<br />

Orks niemals die Städte an, son<strong>de</strong>rn nur die Dörfer und Siedlungen—„<br />

„Aber ich selbst war dabei, als Irnstwell vernichtet wur<strong>de</strong>“ keuchte Indigo geschwächt.<br />

„Irnstwell, ja“ sagte Chataih erklärend. „Wir haben gehofft, dich schon damals fangen zu können. Lei<strong>de</strong>r bist du<br />

entkommen, was du <strong>de</strong>r Unfähigkeit von einem unserer Diener zu verdanken hast.“<br />

„Also seid ihr tatsächlich unfehlbar“ sagte Indigo sarkastisch und kassierte einen Schlag in <strong>de</strong>n Magen, <strong>de</strong>r ihm die<br />

Luft raubte. Unbekümmert fuhr <strong>de</strong>r Weiße mit <strong>de</strong>r Erzählung fort.<br />

„Zu diesem Zeitpunkt sind schon fast alle eure Städte mit riesigen Tunnelsystemen untergraben. Und wenn <strong>de</strong>r<br />

richtige Zeitpunkt gekommen ist – und es wird bald so weit sein – dann wer<strong>de</strong>n die letzten stützen<strong>de</strong>n Pfeiler fallen,<br />

und eure Häuser und Burgen wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> versinken und uns ein Zuhause sein, ein Heim in ewiger Nacht. Wir<br />

wer<strong>de</strong>n eure Städte an uns reißen und die Flüsse unterirdisch umleiten. Wir wer<strong>de</strong>n euch alles nehmen, und sobald wir<br />

eure Arbeitskraft nicht mehr verwen<strong>de</strong>n können, wer<strong>de</strong>n wir euch abschlachten wie das Vieh, das ihr seid. Es wird<br />

nicht mehr lange dauern, bis <strong>de</strong>r Plan <strong>de</strong>s Herren Wirklichkeit wird, mein kleines schwaches Würmchen. Es kann sich<br />

nur noch um Tage han<strong>de</strong>ln, bis es so weit ist, daß wir zum endgültigen Schlag ausholen.“<br />

„Wer ist <strong>de</strong>r Herr?“ verlangte Indigo zu wissen, doch Chataih winkte ab.<br />

186


„Du solltest dir keine Gedanken über ihn machen. Schon bald wirst du ihn persönlich kennenlernen, <strong>de</strong>nn nur auf sein<br />

Geheiß befin<strong>de</strong>st du dich hier. Und wenn du vor ihm stehst, wirst du dir wünschen, niemals das Licht <strong>de</strong>iner Welt<br />

erblickt zu haben...“<br />

„Du mußt ja wirklich mächtig Angst vor ihm haben“ schmunzelte Indigo, wartete auf die Strafe für dieses Vergehen.<br />

Doch <strong>de</strong>r erwartete Schlag blieb aus, <strong>de</strong>r Hochgewachsene musterte ihn bloß verächtlich.<br />

„Du hast keine Ahnung“ meinte er lediglich und faßte <strong>de</strong>n Jurakai an <strong>de</strong>n Armen. „Ich wer<strong>de</strong> dich jetzt zu ihm<br />

bringen. Die Schmerzen, die er dir zufügen wird, wer<strong>de</strong>n so unermeßlich sein, daß ich sie dir nicht annähernd<br />

beschreiben kann. Es wird mir eine Freu<strong>de</strong> sein, <strong>de</strong>inem Tod beizuwohnen, Menschlein.“<br />

Mit einem Ruck zog Chataih Indigo nach oben, und <strong>de</strong>r klammern<strong>de</strong> Griff quetschte <strong>de</strong>m jungen Mann die Luft aus<br />

<strong>de</strong>n Lungen. Röchelnd ließ er sich von <strong>de</strong>m Weißen tragen, quer durch <strong>de</strong>n Raum und in einen engen Gang auf <strong>de</strong>r<br />

gegenüberliegen<strong>de</strong>n Seite.<br />

Steine bröckelten von <strong>de</strong>r Wand, als Elan<strong>de</strong>r mit einer Hacke gegen sie schlug.<br />

Neben ihm arbeitete Talamà, doch das Mädchen war seltsam ruhig heute. Sobald er versuchte, sie in ein Gespräch zu<br />

verwickeln, blockte sie ab und hackte stumm auf die Er<strong>de</strong> ein. Kopfschüttelnd wandte <strong>de</strong>r Dverjae sich ab und<br />

versuchte, seine eigene Arbeit zu erledigen.<br />

Die Jurakai stieß ihren Spaten tief ins Erdreich, blieb dann schweigend stehen und schien auf etwas zu warten. Sie<br />

schloß die Augen und lauschte, doch so sehr Elan<strong>de</strong>r sich auch anstrengte, er selbst konnte nichts vernehmen, was<br />

sich von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Geräuschen abgezeichnet hätte. Alles war so wie immer: Das ständige Klopfen und Ächzen <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren Gefangenen, das gelegentliche Grunzen eines Orks. Der Zwerg wun<strong>de</strong>rte sich, was mit seiner Gefährtin<br />

vorgehen mochte.<br />

Ein Lächeln erschien auf Talamàs Gesicht und breitete sich langsam aus. Sie öffnete die Li<strong>de</strong>r, und ihre blin<strong>de</strong>n<br />

Augen blickten starr nach vorn. Sie sah nicht ängstlich aus, fand Elan<strong>de</strong>r. Eher... zufrie<strong>de</strong>n. Zufrie<strong>de</strong>n mit sich selbst<br />

o<strong>de</strong>r zufrie<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Welt, das konnte er nicht sagen, doch ihre Züge verrieten eine tiefe, innere Ruhe. Langsam und<br />

gleichmäßig ging <strong>de</strong>r Atem <strong>de</strong>r Jurakai, während sie aufrecht dastand und sich nicht rührte.<br />

„Es ist soweit“ flüsterte sie leise, und Elan<strong>de</strong>r zuckte zusammen beim Klang ihrer Worte. Ihr Tonfall war zischend,<br />

und <strong>de</strong>r Zwerg hatte das Gefühl, als wür<strong>de</strong>n die Worte von weither kommen, als wäre das Mädchen in einer Art<br />

Trance und wür<strong>de</strong> nur wie<strong>de</strong>rgeben, was jemand an<strong>de</strong>rs ihr vorsprach. Zu<strong>de</strong>m war die Gelassenheit seiner Gefährtin<br />

gefährlich, <strong>de</strong>nn wenn einer <strong>de</strong>r Orks erkennen wür<strong>de</strong>, daß sie aufgehört hatte zu Arbeiten, wür<strong>de</strong> es mit Sicherheit<br />

eine harte Strafe geben. Doch bevor er noch einen Ton sagen konnte, schüttelte Talamà ihren Kopf, und <strong>de</strong>r<br />

abwesen<strong>de</strong> Blick fiel von ihrem Gesicht. Das hintergründige Lächeln, das ihren Mund umspielte, blieb jedoch<br />

erhalten. Sie faßte ihren Spaten, zog ihn aus <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und begann wie<strong>de</strong>r zu graben.<br />

Der Tunnel verbreiterte sich, und es wur<strong>de</strong> wärmer. Das Licht, das von Chataih ausging, reichte bald nicht mehr, um<br />

bis zu <strong>de</strong>n entfernten Wän<strong>de</strong>n zu gelangen, doch überall wan<strong>de</strong>n sich schimmern<strong>de</strong> Wurzeln aus <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>,<br />

fluoreszieren<strong>de</strong> Gewächse <strong>de</strong>r Nacht, die <strong>de</strong>n Stollen in ein geisterhaftes Licht tauchten. Der Weiße ließ Indigo auf<br />

<strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n gleiten und versetzte ihm einen heftigen Schlag gegen <strong>de</strong>n Rücken. Benommen taumelte <strong>de</strong>r Jurakai<br />

vorwärts, stolperte unversehens in eine große Halle, in die <strong>de</strong>r Gang mün<strong>de</strong>te. Mißtrauisch blickte er sich um.<br />

Es war heiß hier, viel heißer als in <strong>de</strong>m Tunnel, <strong>de</strong>r hierher führte. Die Hitze war erdrückend, eine brüten<strong>de</strong> Wärme,<br />

die sich auf die Lunge legte und die Atmung schwerer machte. Und es stank. Der beißen<strong>de</strong> Geruch war bestialisch und<br />

kaum auszuhalten, doch Indigo hatte in <strong>de</strong>n letzten Tagen genug Erfahrung mit schlechten Gerüchen sammeln<br />

dürfen. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und tat, als bemerke er die Begebenheiten in diesem Gewölbe nicht.<br />

Die hohe Luftfeuchtigkeit ließ ihn schwitzen, und kleine, salzige Perlen rannen ihm über die Brauen und das Gesicht<br />

herab.<br />

Nebelschwa<strong>de</strong>n wogten überall, versperrten die Sicht schon nach wenigen Fuß. Der Dunst waberte durch die Halle<br />

und floß in dicken, tentakelartigen Armen über <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n. Als Indigo <strong>de</strong>n Blick senkte, merkte er, daß auch die Er<strong>de</strong><br />

hier fremdartig war. Dick und schlammig, eine zähe Masse, die bei je<strong>de</strong>m Schritt an <strong>de</strong>n Stiefeln saugte und mit<br />

schmatzen<strong>de</strong>m Geräusch nach ihnen lechzte. Angewi<strong>de</strong>rt versuchte <strong>de</strong>r Jurakai, sich so leicht wie möglich zu machen,<br />

um <strong>de</strong>m abstoßen<strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n keine Angriffsfläche zu bieten. Irgendwo hinter ihm scharrten die Füße Chataihs über<br />

<strong>de</strong>n Schlamm und erzeugten ein schlurfen<strong>de</strong>s, saugen<strong>de</strong>s Geräusch.<br />

Die Halle war zwar breit, doch <strong>de</strong>r Gang führte nur in eine bestimmte Richtung. Unsicher, was ihn hier unten<br />

erwarten wür<strong>de</strong>, stapfte Indigo entschlossen nach vorne, mitten durch übelriechen<strong>de</strong>, schwefelhaltige Schwa<strong>de</strong>n. Am<br />

Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Hörfähigkeit meinte er, Schreie o<strong>de</strong>r Rufe vernehmen zu können, doch die Geräusche erklangen gedämpft<br />

und zu leise, um ihre Herkunft bestimmen zu können. Alles hier mutete wie ein Sumpf an, ähnelte <strong>de</strong>n morastigen<br />

Schatten <strong>de</strong>s Mangobu, nur tausendfach unfreundlicher und feindlicher. Wohin führte dieser Weg? Chataih blieb zwar<br />

dicht hinter ihm, doch <strong>de</strong>r Abstand zu <strong>de</strong>m Weißen war größer, als er hätte sein dürfen. Wenn er ein paar große Sätze<br />

machte, wür<strong>de</strong> Indigo sicherlich in <strong>de</strong>n Nebel entkommen können. Er wür<strong>de</strong> vom Dunst verschluckte wer<strong>de</strong>n wie von<br />

einem gigantischen Fisch, <strong>de</strong>r sein Maul öffnete und es um ihn herum schloß...<br />

187


Chataih schien Indigos Gedanken erraten zu haben, <strong>de</strong>nn schnell war die staksen<strong>de</strong> Gestalt neben <strong>de</strong>m Jurakai und<br />

fuhr mit <strong>de</strong>r Hand durch die dicke Luft.<br />

„Du solltest nicht an Flucht <strong>de</strong>nken“ sagte <strong>de</strong>r Hochgewachsene und hieß <strong>de</strong>m jungen Mann, stehen zu bleiben. Er<br />

schritt über <strong>de</strong>n Weg und vor die Nebelschwa<strong>de</strong>n, die über <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n wogten. Ein rasches Wort aus seiner Kehle<br />

brachte einen leichten Windstoß in das unterirdische Gewölbe, und die fließen<strong>de</strong> Luft zerstieß <strong>de</strong>n Dunst, zerfaserte<br />

die Schwa<strong>de</strong>n und legte frei, was sich unter ihnen befand.<br />

Keine feste Er<strong>de</strong>, wie <strong>de</strong>r Jurakai sie vermutet hatte. Statt <strong>de</strong>ssen bot sich ihm ein Anblick von solcher<br />

Schauerlichkeit, daß er am liebsten die Augen abgewandt hätte. Doch das, was dort lag und Brechreiz in <strong>de</strong>m Jungen<br />

aufstiegen ließ, war viel zu faszinierend, um es nicht eingehend betrachten zu wollen:<br />

Riesige wurmartige Dinge, eingelullt in eine schleimige Schicht, lagen dort auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und schienen zu schlafen.<br />

Die Körper waren schwarz und pulsierten langsam in einem unsteten Rhythmus. Sie waren von unterschiedlicher<br />

Größe und Länge, und bei <strong>de</strong>n kleineren Exemplaren war <strong>de</strong>r Kopf noch nicht vom Schwanz zu unterschei<strong>de</strong>n. Doch<br />

unter <strong>de</strong>r Zellschicht <strong>de</strong>r Größeren, unter einer dickflüssigen, wabern<strong>de</strong>n Masse, betrachteten Augen <strong>de</strong>n Jurakai,<br />

Mäuler wur<strong>de</strong>n geöffnet. Manche <strong>de</strong>r Würmer schienen sich bewegen zu wollen, doch <strong>de</strong>r Schleim hielt sie fest, wo<br />

sie waren, fesselte sie an Er<strong>de</strong>, Wand und Decke. Kein einziger Laut entwich <strong>de</strong>n Wesen, die sich in ihren Kokons aus<br />

Zellstoff wan<strong>de</strong>n und zuckten. Nur die stummen Augen betrachteten Indigo und teilten ihm ihren Haß, ihren<br />

gna<strong>de</strong>nlosen Zorn mit. Mit offenem Mund und sichtlich geschockt vom Anblick, taumelte <strong>de</strong>r Jurakai nach hinten und<br />

ermahnte sich, sein Essen im Magen zu behalten.<br />

Er wußte genau, was diese Biester waren, die dort in ihrem Schleimkokons ruhten und heranwuchsen. Er hatte sie nun<br />

bereits viele Male gesehen, oft auch hier unten, in <strong>de</strong>n Gängen <strong>de</strong>r Orks. Doch diejenigen, die er zu Gesicht<br />

bekommen hatte, waren ausgewachsene Exemplare gewesen, nicht diese kleinen Würmer, die noch heranreifen<br />

mußten. Einmal hatte er sogar einen von ihnen getötet, damals, als Talamà verschleppt wur<strong>de</strong>. Ja, er kannte sie gut.<br />

Es war die Abart von Drachen, die auf <strong>de</strong>r Oberwelt die Rassen das Fürchten lehrte mit ihren Angriffen. Es waren die<br />

Lindwürmer, die keinerlei Ähnlichkeit mehr besaßen mit <strong>de</strong>m mächtigen El’cha<strong>de</strong>rar, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Bergen lebte.<br />

Als <strong>de</strong>r Nebel sich wie<strong>de</strong>r über die Kokons legte, wandte auch Chataih endlich seinen verzückten Blick ab von <strong>de</strong>n<br />

wi<strong>de</strong>rwärtigen Kreaturen <strong>de</strong>r Nacht. Er musterte <strong>de</strong>n Jurakai, <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>n Bauch hielt und nach Luft rang. Der<br />

übelkeiterregen<strong>de</strong> Gestank stieg Indigo in die Nase, und als er sich <strong>de</strong>n Anblick <strong>de</strong>r Drachenlarven wie<strong>de</strong>r vor Augen<br />

führte, konnte er sich nicht mehr beherrschen. Mit stoßen<strong>de</strong>n Würgelauten erbrach er sich auf <strong>de</strong>n sumpfigen Bo<strong>de</strong>n,<br />

stützte sich an einer Wand, um nicht auf die glitschige Erdmasse zu fallen.<br />

„Sie sind noch klein, aber <strong>de</strong>nnoch können ihre Kiefer einen Winzling wie dich zerfetzen“ sagte Chataih kühl und<br />

rieb sich die Hän<strong>de</strong>. „Steh auf“ sagte er mit Vorfreu<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Stimme, und Indigo stellte sich auf seine wackeligen<br />

Knie und stolperte weiter. Die zähe Luft ließ ihn nicht mehr Recht zu Atem kommen, und so keuchte er angestrengt,<br />

während er darauf achtete, nicht <strong>de</strong>r Länge nach auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n zu klatschen.<br />

Der breite Gang erweiterte sich noch einmal, und dieses Mal führte er in eine mächtige Halle. Selbst die Decke war<br />

hier höher, was sonst nirgendwo im unterirdischen Reich <strong>de</strong>r Fall war. Sie erstreckte sich min<strong>de</strong>stens zwanzig Fuß<br />

über <strong>de</strong>n Köpfen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Eindringlinge, und eine schleimige Schicht klebte daran. Der Nebel hatte sich gelichtet,<br />

ließ endlich wie<strong>de</strong>r freie Sicht zu. Indigo trat vorsichtig in das Gewölbe, und als er seinen Blick durch die Halle<br />

streifen ließ, entfuhr ihm ein überraschter Ausruf <strong>de</strong>s Schreckens. Vielleicht wären die gnädigen Nebelschwa<strong>de</strong>n doch<br />

besser gewesen, besser als <strong>de</strong>r Anblick, <strong>de</strong>r sich nun bot...<br />

Menschen lagen in <strong>de</strong>r Ecke <strong>de</strong>s Gewölbes, leben<strong>de</strong> sowie tote, bil<strong>de</strong>ten einen kleinen Berg aus Leibern. Auch Jurakai<br />

und sogar ein paar Zwerge mischten sich zwischen die Körper, doch <strong>de</strong>r Großteil <strong>de</strong>s Haufens bestand aus Manur. Sie<br />

lagen übereinan<strong>de</strong>r, nebeneinan<strong>de</strong>r und ineinan<strong>de</strong>r verschlungen, manche atmend, manche bereits halb verwest. Leere<br />

Augen blickten wirr durch <strong>de</strong>n Raum, manchmal erklang ein flehen<strong>de</strong>s Stöhnen. Doch ob tot o<strong>de</strong>r lebendig, eines<br />

hatten sie alle gemeinsam: Sie waren ausgemergelt und bestan<strong>de</strong>n beinahe nur noch aus Haut und Knochen. Bluten<strong>de</strong><br />

Wun<strong>de</strong>n zogen sich quer über das Fleisch <strong>de</strong>r armen Kreaturen, die A<strong>de</strong>rn traten schwärzlich hervor. Es mußten<br />

hun<strong>de</strong>rte sein, die dort lagen und sich verzweifelt am Leben festklammerten wie an einem dünnen Halm, <strong>de</strong>r hier in<br />

dieser Hölle keinen Halt fin<strong>de</strong>n konnte. Diejenigen, die irgendwo weit unten im Haufen begraben lagen, hatten das<br />

Schlimmste bereits hinter sich. Doch die meisten wimmerten in leidvoller Pein, verstan<strong>de</strong>n nicht, was mit ihnen<br />

geschah. Traurige Blicke trafen Indigos Augen, und schmerzerfüllt wandte er sich ab von <strong>de</strong>n Geschöpfen.<br />

„Es ist nur Futter“ teilte Chataih <strong>de</strong>m Jurakai mit. „ Sein Futter.“<br />

Indigo bemerkte ein paar Orks, die in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Haufens stan<strong>de</strong>n und sich die Zeit mit Dösen vertrieben. Als ein<br />

unterschwelliges Grollen durch das Gewölbe bebte, waren die Wesen sofort hellwach und zitterten vor Anspannung.<br />

Zwei von ihnen zogen einen <strong>de</strong>r Manur aus <strong>de</strong>r Menge und trugen ihn durch <strong>de</strong>n Raum. Augen, in <strong>de</strong>nen sich <strong>de</strong>r<br />

Glanz <strong>de</strong>s Wahnsinns spiegelte, zuckten wild in <strong>de</strong>n Höhlen <strong>de</strong>s Menschen. Die Schwarzorks traten vor ein riesiges,<br />

unförmiges Gebil<strong>de</strong> und ließen <strong>de</strong>n Körper fallen. Die schwache Kreatur hatte nicht die Kraft, sich zu bewegen, aber<br />

trotz<strong>de</strong>m brachte sie es fertig, <strong>de</strong>n Kopf weit genug zu wen<strong>de</strong>n, um ihrem Tod ins Auge sehen zu können.<br />

Das riesige, mißgestaltete Etwas, das auf <strong>de</strong>m Höhlenbo<strong>de</strong>n lag, begann sich zu bewegen. Mit Entsetzen beobachtete<br />

Indigo, wie sich enorme Augen öffneten, ein Kiefer sich verschob, <strong>de</strong>r so riesig war wie zehn ganze Jurakai. Eine<br />

Wolke heißen Atems fuhr aus <strong>de</strong>m Rachen <strong>de</strong>s Ungetüms, und in sekun<strong>de</strong>nschnelle hob sich <strong>de</strong>r gigantische Kopf,<br />

188


musterte die Nahrung und beugte sich vor, um sie zu verschlucken. Gebannt beobachtete Indigo, wie <strong>de</strong>r zucken<strong>de</strong><br />

Leib <strong>de</strong>s Manur in <strong>de</strong>n Schlund <strong>de</strong>s Monsters geriet und sofort darin verschwand. Erst, als <strong>de</strong>r Jurakai <strong>de</strong>n Schrecken<br />

verdaut hatte, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r enorme Kopf ihm eingejagt hatte, erkannte er endlich das wahre Ausmaß <strong>de</strong>s Dinges. Was er<br />

für Höhlenwand gehalten hatte, war in Wirklichkeit gewun<strong>de</strong>ner Leib, gerillt und geschuppt und in <strong>de</strong>rartigem<br />

Ausmaß, daß es die Vorstellungskraft sprengte. Alles, was hier um ihn herum war, die gesamten Wän<strong>de</strong>, alles war<br />

Teil von <strong>de</strong>m riesigen Etwas, das sich ihm nun zuwandte.<br />

Der Kopf, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m eines Pfer<strong>de</strong>s entfernt ähnelte, schien Indigo zu betrachten. Weitere heiße Wolken <strong>de</strong>s Atems<br />

stießen aus <strong>de</strong>n Nüstern <strong>de</strong>s Wesens und hüllten <strong>de</strong>n Jurakai in Feuchtigkeit. Chataih hatte Abstand genommen von<br />

seinem Gefangenen, stand nun Abseits <strong>de</strong>s Geschehens.<br />

„Er ist <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>n Ihr wolltet, Herr“ sagte <strong>de</strong>r Weiße kleinlaut und wandte die Augen ab. Der gigantische<br />

Lindwurm nahm keine Notiz von Chataihs Worten, musterte Indigo weiterhin. Dann legte sich <strong>de</strong>r Kopf plötzlich ein<br />

wenig zur Seite, und noch im selben Moment wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Jurakai nach hinten geschleu<strong>de</strong>rt und gegen <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n<br />

gepreßt allein von <strong>de</strong>r geistigen Macht dieser Kreatur. Indigo spürte, wie sich eiskalte Finger in seinen Geist bohrten,<br />

darin wühlten und seine Gedanken durcheinan<strong>de</strong>rwirbelten. Er wand sich auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, versuchte panisch, sich<br />

loszureißen von <strong>de</strong>m Geist dieses Geschöpfes, doch es war tausendfach stärker als er. Während Wellen <strong>de</strong>s Schmerzes<br />

ihn durchzuckten und sein Wissen ihm geraubt wur<strong>de</strong>, durchströmten ihn frem<strong>de</strong> Gedanken. Der Schmerz ließ nach,<br />

und eine Stimme erklang, die nicht <strong>de</strong>n Umweg über <strong>de</strong>n Körper nahm. Er vernahm sie direkt in sich, und ihr Klang<br />

war uralt und hart wie Stein.<br />

Du bist ein Dorn in unserem Fleisch, Jurakai.<br />

Indigo sammelte sich. Das Wesen sprach zu ihm. Es sprach tatsächlich zu ihm. Was sollte er antworten?<br />

„Wer bist du?“<br />

Ich habe keinen Namen. Zu früheren Zeiten einmal besaß ich etwas, das man einen Namen nennen konnte.<br />

Worte bil<strong>de</strong>ten sich in Indigos Geist. Verschwommene Konturen und Bil<strong>de</strong>r, die so alt, so uralt waren, daß er sie nicht<br />

erfassen konnte. Grauseele, rief eine leise Stimme in seinem Kopf. Indigo wußte nicht, was er <strong>de</strong>nken sollte.<br />

„Grauseele?“ fragte er. Aber nein, das konnte nicht sein! Grauseele war nur eine Erfindung, ein Hirngespinst seiner<br />

Religion. Und doch schien es wahr zu sein...<br />

„Bist du einer <strong>de</strong>r Nachkommen von Himmelfeuer?“ fragte er.<br />

Ein Brüllen donnerte durch das Gewölbe, und weitere heiße Wolken von stinken<strong>de</strong>m Atem hüllten <strong>de</strong>n Jurakai ein.<br />

Niemand nennt diesen Namen in meiner Anwesenheit, erklang die Stimme <strong>de</strong>r Kreatur in Indigos Geist.<br />

„Also habe ich Recht? Du sagtest, ich wäre ein Dorn in <strong>de</strong>inem Fleisch?“<br />

Du bist nicht mehr als ein geringes Ärgernis, das es aus <strong>de</strong>m Weg zu schaffen gilt. Und doch wollte ich sehen, was das<br />

für ein Wesen ist, das meinen Plänen gefährlich wer<strong>de</strong>n könnte.<br />

„Was habe ich dir <strong>de</strong>nn getan?“<br />

Du wirst gar nichts mehr tun, Sterblicher. Ich wer<strong>de</strong> dich einen langsamen und qualvollen Tod erlei<strong>de</strong>n lassen, wie es<br />

dir gebührt. Du hast einen meiner Söhne getötet. Allein dafür verdienst du die größte Strafe, die es gibt.<br />

„Wie kann ich dir gefährlich wer<strong>de</strong>n?“ wollte Indigo wissen. Er verzog das Gesicht, als ihn die riesigen Augen <strong>de</strong>r<br />

Bestie musterten.<br />

Du hättest mir wohl niemals gefährlich wer<strong>de</strong>n können, Sterblicher. Aber es gibt Anzeichen, die darauf hin<strong>de</strong>uten,<br />

daß du es sein wür<strong>de</strong>st, <strong>de</strong>r meinen Plänen im Wege steht.<br />

„Warum bin ich dann noch am Leben? Warum habt ihr mich nicht gleich getötet?“<br />

Der Tod wäre zu gnädig für dich. Ich...<br />

Die Stimme verklang, und Indigo spürte, wie sich die geistigen Finger aus seinem Kopf zurückzogen. Erleichtert<br />

atmete er auf und versuchte, wie<strong>de</strong>r klar zu <strong>de</strong>nken. Er sah zu Chataih, <strong>de</strong>r seine schlanke Gestalt schüttelte.<br />

„Ich weiß es nicht, Herr“ antwortete er auf eine Frage, die Indigo nicht hatte hören können. Es vergingen ein paar<br />

Sekun<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Hochgewachsene zu zittern schien. Dann verbeugte er sich. „Ich wer<strong>de</strong> nachsehen, Herr.“ Mit<br />

einem unterwürfigen Nicken drehte er sich um und verschwand in <strong>de</strong>n nebligen Gang. Schon bald war er verschluckt<br />

vom feuchten Dunst, und nur ein paar Schlieren, die durch die Luft zogen und drehen<strong>de</strong> Kringel bil<strong>de</strong>ten, erinnerten<br />

an seine Anwesenheit.<br />

Nun zu dir, sagte Grauseele und hob seinen mächtigen Kopf. Wie<strong>de</strong>r bohrten sich die Klauen <strong>de</strong>r Kreatur in Indigos<br />

Geist, und mit schmerzverzerrtem Gesicht sank <strong>de</strong>r Jurakai zu Bo<strong>de</strong>n. Seine Schreie wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n wogen<strong>de</strong>n<br />

Nebelschwa<strong>de</strong>n gedämpft.<br />

Ein Geräusch raunte durch die Tunnel. Es klang, als wür<strong>de</strong> eine Welle von tosen<strong>de</strong>m Klirren durch die Gänge jagen<br />

und sich rasch ausbreiten. Elan<strong>de</strong>r fuhr herum und suchte nach <strong>de</strong>m Ursprung <strong>de</strong>r Klänge, doch die Schächte lagen<br />

genauso ruhig da wie zuvor. Auch die an<strong>de</strong>ren Gefangenen hatten gemerkt, daß etwas nicht stimmte, und ihre<br />

Arbeitswerkzeuge beiseite gelegt. Einer <strong>de</strong>r Orks zückte empört seinen Knüppel und schlug wahllos auf die Menschen<br />

ein, die sich in seiner Nähe befan<strong>de</strong>n.<br />

Ein Brüllen ertönte, und um die Ecke <strong>de</strong>s nächsten Ganges rannten mehrere Schwarzorks, hatten ihre Äxte und<br />

Schwerter gezückt. Elan<strong>de</strong>r drückte sich flach an die Wand, als ein tiefes Röhren ertönte und durch die Er<strong>de</strong> lief.<br />

189


Erschrocken trat <strong>de</strong>r Zwerg beiseite, und noch im gleichen Moment wur<strong>de</strong> sein Arm von Talamà ergriffen, die ihn zu<br />

sich zog. Entschlossen zerrte sie ihn an eine sichere Stelle, obwohl <strong>de</strong>r Kleine sich nicht vorstellen konnte, wie die<br />

Blin<strong>de</strong> sich überhaupt zurechtfand. Die Hor<strong>de</strong> Schwarzorks eilte an ihnen vorbei, schenkte ihnen nicht einmal einen<br />

Hauch von Aufmerksamkeit. Und dann wur<strong>de</strong> das Klirren, das schon seit einiger Zeit durch die Gänge hallte,<br />

plötzlich lauter, und in <strong>de</strong>n Stollen, in <strong>de</strong>m die Gefangenen arbeiteten, fielen mehrere schwarze Schatten ein, die sich<br />

huschend durch <strong>de</strong>n Raum bewegten. Klingen blitzten, Schwerter prallten aufeinan<strong>de</strong>r, und in sekun<strong>de</strong>nschnelle war<br />

ein Kampf zwischen <strong>de</strong>n verhüllten Gestalten und <strong>de</strong>n Orks entbrannt.<br />

Es dauerte nicht lange, bis die schwarzen Schatten all ihre Wi<strong>de</strong>rsacher vernichtet hatten. In stummer Achtung lehnte<br />

Elan<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Wand und betrachtete die Wesen, die sich <strong>de</strong>n Orks entgegenstellten. Sie waren groß und schlank, und<br />

ihre Kampftechnik war so ausgereift und geschickt, daß keiner <strong>de</strong>r drei Frem<strong>de</strong>n auch nur verletzt wor<strong>de</strong>n war, jedoch<br />

alle sechs Angreifer blutüberströmt auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n lagen. Die bei<strong>de</strong>n Wärter, die die Gefangenen bewacht hatten,<br />

zogen ebenfalls ihre Waffen, aber noch bevor sie sich zur Wehr setzten konnten, waren sie von <strong>de</strong>n Klingen <strong>de</strong>r<br />

Verhüllten aufgespießt wor<strong>de</strong>n. Einer <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong>n blickte sich um, und in Rubisch rief er <strong>de</strong>n Verbliebenen Manur,<br />

die ängstlich am Bo<strong>de</strong>n kauerten, etwas zu.<br />

„Verschwin<strong>de</strong>t von hier!“ Er wandte sich an die Jurakai und ihren kleinen Begleiter. „Auch ihr zwei! Verschwin<strong>de</strong>t!“<br />

Weitere schwarze Schatten huschten in <strong>de</strong>n Gang und stellten sich einer neuen Woge gegen sie bran<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Orks. Das<br />

Dröhnen, das durch die Er<strong>de</strong> gelaufen war, hatte sich nun in ein Zittern verwan<strong>de</strong>lt, und als Elan<strong>de</strong>r sich zur Flucht<br />

wen<strong>de</strong>n wollte, barst direkt vor ihm die Wand, und ein Lindwurm grub sich durch die Er<strong>de</strong>. Gesteinsbrocken und<br />

Klumpen flogen durch die Luft, als das Monstrum sich in <strong>de</strong>n Gang rollte und seinen geringelten Körper durch <strong>de</strong>n<br />

Tunnel schob. Seine Klauen sausten durch die Luft und zerfetzten zwei <strong>de</strong>r Robentragen<strong>de</strong>n, dann ließ es ein<br />

entsetzliches Brüllen ertönen, das <strong>de</strong>m Zwerg das Mark gefrieren ließ.<br />

„Folge mir“ sagte Talamà, und ihre Stimme war trotz <strong>de</strong>s Lärms gut zu verstehen. Sie hatte ihre Augen geschlossen,<br />

und in ihren Zügen lag ein wahnsinniger Ausdruck von Hochstimmung. Das Mädchen lief los, mitten durch das<br />

Kampfgetümmel, das sich nun auf <strong>de</strong>n gesamten Tunnel ausgeweitet hatte, und entgegen aller Vernunft lief Elan<strong>de</strong>r<br />

ihr nach. Ein schwarzer Schatten, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Pranke <strong>de</strong>s Drachen getroffen wor<strong>de</strong>n war, prallte gegen ihn,<br />

schmetterte ihn gegen die Höhlenwand. Benommen rappelte er sich auf, suchte nach <strong>de</strong>r Gestalt seiner Freundin.<br />

Überall rannten jetzt auch noch die panikerfüllten Manur, schrien und kreischten und machten es fast unmöglich,<br />

überhaupt noch etwas zu erkennen.<br />

Etwas faßte ihn am Handgelenk, zog ihn nach vorn. Als er aufsah, erkannte er, daß es Talamà war, die ihn führte.<br />

Gemeinsam stolperten sie durch das entstehen<strong>de</strong> Chaos, als ein riesiger Teil Er<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>r naheliegen<strong>de</strong>n Wand brach<br />

und damit alle Fackeln unter sich begrub. Mit einem Mal herrschte Dunkelheit, und diese unerwartete Wendung<br />

machte die Sache nur noch schlimmer. Aber die Jurakai ließ nicht los, führte <strong>de</strong>n Zwerg durch <strong>de</strong>n Schacht, bog in<br />

einen an<strong>de</strong>ren Gang, in <strong>de</strong>m sich ein ähnliches Bild <strong>de</strong>s Schreckens bot. Worte wur<strong>de</strong>n gesprochen, und irgendwo<br />

konnte Elan<strong>de</strong>r ein paar Weiße sehen, die hinter flirren<strong>de</strong>r Luft stan<strong>de</strong>n, sich vehement gegen die Eindringlinge in<br />

<strong>de</strong>n schwarzen Kutten wehrten. Schlag auf Schlag hallte <strong>de</strong>r Zauber durch die Luft, und in <strong>de</strong>n Ohren <strong>de</strong>s Zwerges<br />

dröhnte es. Das Krachen wur<strong>de</strong> lauter, gewann tausend Echos, verebbte dann abrupt und zerfetzte einen <strong>de</strong>r<br />

Schwarzen. Der kleine Kreis <strong>de</strong>r Glühwürmchen zog sich tiefer in <strong>de</strong>n Tunnel zurück, labte sich an ihrem<br />

kurzweiligen Sieg. Doch gleich darauf erfolgte <strong>de</strong>r Gegenangriff <strong>de</strong>r Verhüllten, und bald schon zerrten die Worte <strong>de</strong>r<br />

Schatten an <strong>de</strong>r Verteidigung <strong>de</strong>r Weißen, durchbrachen eines ihrer Schil<strong>de</strong> und vernichteten einen Teil <strong>de</strong>s Zirkels.<br />

Ein weiterer Schwall Robentragen<strong>de</strong>r ergoß sich in <strong>de</strong>n Tunnel, und einige von ihnen fochten ebenfalls einen Kampf<br />

<strong>de</strong>s Zaubers, wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re huschten weiter in <strong>de</strong>n nächsten Gang, aus <strong>de</strong>m Talamà und Elan<strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> gekommen<br />

waren. Die wenigen Menschen und Jurakai, die sich noch zwischen <strong>de</strong>n verfein<strong>de</strong>ten Seiten befan<strong>de</strong>n, wur<strong>de</strong>n<br />

entwe<strong>de</strong>r zufällig von <strong>de</strong>n Worten o<strong>de</strong>r Waffen getroffen, o<strong>de</strong>r aber sie entkamen <strong>de</strong>m Spektakel mit etwas Glück.<br />

Niemand kümmerte sich um die herumlaufen<strong>de</strong>n, verwirrten Gestalten, und auch Talamà und ihrem Gefährten zollte<br />

niemand Achtung. Elan<strong>de</strong>rs Augen hingen an <strong>de</strong>n blutigen Kämpfen, während er sich an die Jurakai klammerte und<br />

ihrem Schritt folgte. Seine Ohren waren beinahe taub, das ständige Krachen hatte ihm die Hörfähigkeit genommen.<br />

Immerzu schlugen neuerliche Beschwörungen und Worte gegen die Wän<strong>de</strong>, gegen die Weißen und gegen<br />

Unbeteiligte, und kopfschüttelnd rannte er einfach durch das Getümmel. Seine Führerin bog in einen weiteren<br />

Schacht, er hastete hintendrein, und als sie durch die feuchte Höhle liefen, bemerkte er, daß sich etwas verän<strong>de</strong>rt<br />

hatte.<br />

Elan<strong>de</strong>r sah sich um.<br />

Nirgends konnte er die Angreifer erkennen, noch die Verteidiger <strong>de</strong>r Gänge. Keine Orks waren hier, keine Weißen,<br />

und vor allem keine Drachen. Der Kampflärm drang fast unvermin<strong>de</strong>rt kräftig zu ihnen herüber, doch es waren nur<br />

Geräusche, die wirkliche Schlacht spielte sich an<strong>de</strong>rswo ab. Talamà blickte sich kurz um, sah ihm ins Gesicht und ließ<br />

anschließend seinen Arm los. Sie beschleunigte ihren Schritt, begann zu rennen, und mühsam versuchte er, seine<br />

kurzen Beine zur Hochleistung antreiben, um ihr zu folgen. Der Tunnel erweiterte sich, mün<strong>de</strong>te in einen an<strong>de</strong>ren<br />

Gang, <strong>de</strong>r ebenfalls leer stand. Seine Gefährtin beugte sich gegen eine Wand, in die eine Tür eingelassen war, und<br />

tastete sie mit <strong>de</strong>n Fingern ab. Als sie nach wenigen Sekun<strong>de</strong>n die hölzerne Pforte ent<strong>de</strong>ckt hatte, stieß sie einen<br />

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erleichterten Seufzer aus und zog so heftig am Knauf, daß die Tür fast aus <strong>de</strong>n Angeln riß. Ohne Worte zu verlieren<br />

trat sie durch die Öffnung und rannte in die dahinterliegen<strong>de</strong> Dunkelheit.<br />

Elan<strong>de</strong>r rief nach ihr, schrie, daß sie warten solle, und aus <strong>de</strong>r Finsternis faßte ihn eine Hand am Arm. Gemeinsam<br />

eilten sie durch die Schwärze, die sich hier noch zu verdichten schien. Ein mulmiges Gefühl erfaßte <strong>de</strong>n Zwerg, als sie<br />

um eine Ecke liefen, die er in <strong>de</strong>r Dunkelheit gar nicht hätte wahrnehmen können. Talamà schien trotz - o<strong>de</strong>r<br />

vielleicht gera<strong>de</strong> wegen - ihrer Blindheit ihren Weg zu fin<strong>de</strong>n, lief ohne Umwege durch <strong>de</strong>n Gang. In Elan<strong>de</strong>rs Kopf<br />

überschlug sich alles. Er überflog die Ereignisse <strong>de</strong>r letzten Sekun<strong>de</strong>n, und eine schreckliche Gewissheit breitete sich<br />

in seinen Gedanken aus: Er war Talamà gefolgt, weil er dachte, daß sie einen Fluchtweg kenne. Doch die Tunnel, die<br />

sie entlanggerannt waren, waren allesamt abfallend, führten nur noch tiefer ins Innere <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>. Er biß sich auf die<br />

Lippen und wollte einen Protest hervorbringen, als er spürte, daß seine Gefährtin langsamer wur<strong>de</strong>. Er hörte das<br />

neuerliche Geräusch einer sich öffnen<strong>de</strong>n Tür, dann zerrte die junge Frau wie<strong>de</strong>r an seiner Kleidung, drängte ihn<br />

durch die Pforte.<br />

Sie waren nun in einem größeren Raum. Trotz <strong>de</strong>r völligen Finsternis spürte Elan<strong>de</strong>r, daß die Wän<strong>de</strong> sich nicht mehr<br />

in ihrer Nähe befan<strong>de</strong>n, die Decke ein wenig höher war als normal. Ein Gefühl <strong>de</strong>r Leere überkam ihn, doch dann<br />

hatten sie das Gewölbe auch schon durchquert, liefen wie<strong>de</strong>r durch einen engeren Tunnel. Er fragte sich, wohin diese<br />

Reise sie bei<strong>de</strong> führen wür<strong>de</strong>, doch angesichts <strong>de</strong>r Situation schien eine Frage nicht berechtigt. Er ließ sich einfach<br />

weiterleiten von seiner Gefährtin, hatte sich entschie<strong>de</strong>n, ihr vollkommen zu vertrauen. Jetzt blieb ihm auch nicht<br />

an<strong>de</strong>res mehr übrig, <strong>de</strong>nn durch die Dunkelheit wür<strong>de</strong> er niemals einen Weg zurück fin<strong>de</strong>n.<br />

Doch das Dunkel lichtete sich. Weit vor ihnen zeichnete sich schwächliche Helligkeit ab, ein leichtes Schimmern nur,<br />

aber immerhin Licht! Er konnte auch wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Umriß Talamàs sehen, ihr langes Haar, das beim Rennen hinter ihr<br />

herwehte. Das Mädchen wur<strong>de</strong> langsamer, und auch Elan<strong>de</strong>r bremste seinen Schritt. Erst jetzt, als sie ihre wil<strong>de</strong><br />

Lauferei aufgegeben hatten, fühlte er, wie warm es hier eigentlich war. Eine schwüle, drücken<strong>de</strong> Hitze, die sich auf<br />

die Lunge legte und <strong>de</strong>n Atem rasseln ließ.<br />

„Vorsichtig“ mahnte die Jurakai, während sie durch <strong>de</strong>n Gang schlichen. Das Licht war näher gekommen, und nicht<br />

weit entfernt verbreiterte sich <strong>de</strong>r Gang, en<strong>de</strong>te in einer etwas größeren Halle. Nebelschwa<strong>de</strong>n zogen dort über <strong>de</strong>n<br />

Bo<strong>de</strong>n, und ein bestialischer Gestank drang <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n in die Nase. Elan<strong>de</strong>r legte seinen Arm vors Gesicht und betete<br />

zu <strong>de</strong>n Gottheiten seines Volkes, daß das Gefühl <strong>de</strong>r Gefahr, das von diesem Ort ausging, nur Einbildung sein möge.<br />

Sie waren so weit gekommen, daß sie bereits auf morastigem Bo<strong>de</strong>n umhertraten, über <strong>de</strong>n sich weiße Schlieren<br />

zogen. Angewi<strong>de</strong>rt hielt sich <strong>de</strong>r Kleine in Talamàs Nähe, die Schutz verhieß. Je weiter sie vorankamen, <strong>de</strong>sto höher<br />

wogte <strong>de</strong>r Nebel, und bald schon ragte nur noch <strong>de</strong>r Kopf <strong>de</strong>s Zwerges aus <strong>de</strong>n Schwa<strong>de</strong>n hervor. Er bat Talamà,<br />

Rücksicht auf seine Größe zu nehmen, langsamer zu laufen, doch die junge Frau verneinte und reichte ihm statt<br />

<strong>de</strong>ssen ihre Hand. Der beißen<strong>de</strong> Nebel stieg noch immer an, und wenige Sekun<strong>de</strong>n später konnte <strong>de</strong>r Dverjae gar<br />

nichts mehr sehen, blieb unter einer dunstigen Schicht verborgen. Gedämpfte Geräusche drangen an sein Ohr, und<br />

plötzlich blieb seine Gefährtin stehen, verharrte inmitten dieser stinken<strong>de</strong>n Kloake. Gera<strong>de</strong> wollte er nach <strong>de</strong>m Grund<br />

ihres Haltes fragen, als ein an<strong>de</strong>rer Laut an seine Ohren drang: Ein Knatschen, das von Füßen erzeugt wur<strong>de</strong>, die über<br />

die sumpfige Er<strong>de</strong> liefen. Schockiert hielt er <strong>de</strong>n Atem an, doch dann bahnte sich eine verheeren<strong>de</strong> I<strong>de</strong>e ihren Weg in<br />

seinen Geist.<br />

Wie hatte er nur erwarten können, daß sie hier unten sicher wären? Das Mädchen war schließlich nicht zur<br />

Oberfläche gelaufen, son<strong>de</strong>rn nach unten! Er hätte damit rechnen müssen, daß sie früher o<strong>de</strong>r später auf Fein<strong>de</strong> treffen<br />

wür<strong>de</strong>n!<br />

Ein überraschtes Zischen ertönte von irgendwo oberhalb <strong>de</strong>s Dampfes, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Zwerg umwogte. Es war hoch und<br />

schrill, und Elan<strong>de</strong>r wußte, daß es sich um einen Weißen han<strong>de</strong>lte, <strong>de</strong>r sie ent<strong>de</strong>ckt hatte.<br />

„Du!“ fauchte <strong>de</strong>r Hochgewachsene und funkelte die Jurakai an, die ihm gegenüberstand. Talamà brach innerlich<br />

beinahe zusammen. Diese Stimme... sie war ihr so verhaßt, daß sie am liebsten sofort auf die Gestalt losgegangen<br />

wäre, die sich in greifbarer Nähe befand.<br />

„Chataih! Ich hätte nicht gedacht, daß wir uns noch einmal begegnen.“ Talamà richtete sich zu ihrer vollen Größe<br />

auf, um <strong>de</strong>m abstoßen<strong>de</strong>n Wesen zu zeigen, daß sie keine Angst vor ihm hatte. Ihre Augen hielt sie geschlossen.<br />

„Traust du dich nicht, mich anzusehen? Bist du so voller Furcht, daß du nicht einmal mehr <strong>de</strong>n Mut aufbringst, mir in<br />

die Augen zu sehen, so kurz vor <strong>de</strong>inem Tod?“ Höhnische Überlegenheit erklang aus <strong>de</strong>r Stimme Chataihs, als er auf<br />

die Jurakai zutrat. Talamà ermahnte sich, noch nicht einzugreifen. Wenn sie jetzt etwas unüberlegtes tat, wür<strong>de</strong> sie die<br />

nächsten Sekun<strong>de</strong>n nicht überleben. Aber wenn sie ihn nur für ein paar Sekun<strong>de</strong>n hinhalten konnte, nur für ein paar<br />

Sekun<strong>de</strong>n... vielleicht fiel ihr dann etwas ein, eine verzweifelte Möglichkeit, diesem Scheusal zu entrinnen.<br />

Vollmond erleuchtete die weiten Ebenen <strong>de</strong>s Hochlands, ließ <strong>de</strong>n Schnee in einem unheimlichen, strahlen<strong>de</strong>n Weiß<br />

glänzen. Die ruhigen Hügel füllten sich mit Lärm und Geräuschen, und dann strömte eine kleine Schar von Shat’lan<br />

über die Kuppe eines Hügels.<br />

„Bleibt stehen“ schrie <strong>de</strong>r Anführer <strong>de</strong>r Gruppe, ein Mann namens Maraquas. Er zügelte sein schwarzes Roß, das wie<br />

ein Fleck im hellen Schnee wirkte, und neben ihm hielt Jel’ari. Die bei<strong>de</strong>n warteten, bis sich die gesamte Schar im<br />

kleinen Tal gesammelt hatte und weiteren Befehlen lauschte.<br />

191


Maraquas brüllte schnelle, kurze Anweisungen, und die Shat’lan begannen mit eiligen Tätigkeiten. Jel’ari schüttelte<br />

stumm <strong>de</strong>n Kopf. Er war zu alt für so etwas. Früher, in <strong>de</strong>n Kriegen, die sie gegen die Manur gefochten hatten, da<br />

mochte <strong>de</strong>r wahre Kampfgeist noch in ihm geschlummert haben. Zu <strong>de</strong>r Zeit, vor über sechshun<strong>de</strong>rt Jahren, war er<br />

noch frisch und unverbraucht gewesen. Er hatte sich mutig und entschlossen gegen die Angreifer gestellt und ihnen<br />

getrotzt, auch wenn sie zahlenmäßig weit überlegen waren.<br />

Doch nun, so viel später und in dieser eisigen Nacht, sah alles so viel an<strong>de</strong>rs aus. Er war ein alter Mann, ein<br />

Gelehrter, <strong>de</strong>n Schlachten und Kämpfe zwar interessierten, über die er aber lieber in Büchern und Schriften las. Eine<br />

so hektische Angelegenheit war einfach nichts mehr für ihn. Er war nur hier, weil Keldar darauf bestan<strong>de</strong>n hatte, daß<br />

er mitkam.<br />

Jel’ari betrachtete die Shat’lan, die ihre Pfer<strong>de</strong> zusammengebun<strong>de</strong>n hatten und nun dabei waren, ihre Satteltaschen zu<br />

entla<strong>de</strong>n. Nach und nach nahmen Planen und Gestänge die Gestalt von Zelten an, wur<strong>de</strong>n kleine Bauten errichtet.<br />

Er stieg von seinem Pferd und ließ seine Füße auf <strong>de</strong>n verschneiten Bo<strong>de</strong>n fallen. Irgendwo dort unten, hun<strong>de</strong>rt Fuß<br />

tiefer o<strong>de</strong>r noch mehr, mußte jetzt eine wahnsinnige Schlacht toben. Keldar und die an<strong>de</strong>ren waren durch die<br />

verschie<strong>de</strong>nen Drachenlöcher hinabgeeilt, und fast die gesamte Streitmacht <strong>de</strong>r Shat’lan war unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />

verschwun<strong>de</strong>n. Nur die winzige Schar von Maraquas war noch hier an <strong>de</strong>r Oberfläche und bereitete alles für die –<br />

lei<strong>de</strong>r zweifelhafte – Wie<strong>de</strong>rkehr <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren vor.<br />

Jel’ari fuhr sich durch das ergraute Haar und dachte an die Zeiten zurück, in <strong>de</strong>nen er jung gewesen war. Damals<br />

hätte er sich bestimmt nicht damit abgefun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m Geschehen fern zu bleiben und ein kleines Lager zu errichten,<br />

während <strong>de</strong>r Rest kämpfte. Aber damals war eben nicht heute.<br />

Befehle bellend stand Maraquas mitten in <strong>de</strong>r Mul<strong>de</strong>, überwachte <strong>de</strong>n Aufbau <strong>de</strong>r Zelte und trieb die Shat’lan zur Eile<br />

an.<br />

Mit erschlafften Zügen musterte Jel’ari <strong>de</strong>n Mann und kramte in seinen Taschen, um einen zweiten Schal<br />

hervorzuholen, als er einen Schlag an <strong>de</strong>r Schulter spürte. Er drehte sich um, und verwirrt erkannte er, daß ein Pfeil<br />

aus seinem Arm ragte. Die Spitze hatte sich tief ins Fleisch gebohrt, und <strong>de</strong>r Schmerz fing an, aufzuwallen.<br />

Jel’ari riß die Augen auf und blickte sich um und sah, als wäre es hun<strong>de</strong>rtfach verlangsamt wor<strong>de</strong>n, eine Schar von<br />

Orks über die Kuppe eines Hügels rennen. Ein weiterer Pfeil löste sich aus ihren Reihen, schwirrte durch die Luft und<br />

fuhr in <strong>de</strong>n Schnee ein.<br />

In Panik wandte <strong>de</strong>r alte Mann sich um, doch noch kein an<strong>de</strong>rer Shat’lan schien die anbran<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Hor<strong>de</strong> bemerkt zu<br />

haben. Alle waren sie viel zu vertieft in <strong>de</strong>n Aufbau <strong>de</strong>s Lagers, als daß sie auf die Umgebung achteten.<br />

„Orks!“ schrie Jel’ari und faßte sich an die Schulter. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor, und noch immer<br />

schien sich alles in Zeitlupe abzuspielen. „Orks!“ rief er noch einmal, bevor ein Pfeilregen herunterging und die<br />

Gruppe traf. Eines <strong>de</strong>r Geschosse bohrte sich in Jel’aris Brust, und mit schwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Sinnen sah er, wie Aufruhr<br />

durch die kleine Menge von Shat’lan ging, als sie endlich die Orks erblickten. Doch sie waren zu wenige. Sie wür<strong>de</strong>n<br />

niemals Stand halten können.<br />

Keldar wür<strong>de</strong> hier kein Lager vorfin<strong>de</strong>n, wenn er zurückkam, ging es <strong>de</strong>m Alten noch durch <strong>de</strong>n Kopf, dann fiel er<br />

<strong>de</strong>n Schnee. Blut sickerte in <strong>de</strong>n mondbeschienenen, weißen Teppich.<br />

„Ich habe keine Angst vor dir, Chataih“ sagte Talamà mit fester Stimme und legte <strong>de</strong>n Kopf zur Seite. Ein plötzliches<br />

Geräusch ließ sie zusammenzucken und strafte ihre Worte lügen.<br />

Der Nebel, <strong>de</strong>r um die Gestalt <strong>de</strong>s Weißen herumwogte, riß lautlos entzwei, doch ein Schrei <strong>de</strong>s Kampfes ertönte in<br />

<strong>de</strong>r Höhle. Noch bevor Chataih überhaupt reagieren konnte, stach ein spitzer Gegenstand durch eines seiner Beine,<br />

und schmerzerfüllt fiel er nach hinten, trieb die Schwa<strong>de</strong>n auseinan<strong>de</strong>r. Nur Bruchteile einer Sekun<strong>de</strong> später wur<strong>de</strong><br />

die Waffe aus seinem Bein gezogen und ein zweites Mal nach unten gedrückt, durchschlug dieses Mal seinen<br />

Brustkorb. Kreischend vor Angst und Schmerz setzte <strong>de</strong>r Weiße an, seinem Angreifer mit <strong>de</strong>n Worten zuzusetzen,<br />

doch ein dritter Hieb zerfetzte seine Kehle, und ein röcheln<strong>de</strong>s Zischen war alles, was <strong>de</strong>r Hochgewachsene noch<br />

zustan<strong>de</strong> brachte. Ein letzter, verzweifelter Blick zeigte ihm das wuterfüllte Gesicht eines Zwerges, <strong>de</strong>r eine lange<br />

Klinge in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n hielt, dann krachte das Metall in seine Stirn, und die Welt um Chataih wur<strong>de</strong> schwarz.<br />

Eine ganze Ewigkeit lang herrschte völlige Stille, dann endlich fragte Talamà vorsichtig: „Elan<strong>de</strong>r?“<br />

„Ich bin hier“ antwortete <strong>de</strong>r Dverjae und nahm eine zittern<strong>de</strong> Hand <strong>de</strong>r Jurakai in seine eigene.<br />

„Ist Chataih...“<br />

„Ich weiß nicht, wie er heißt, aber er ist tot.“ Zufrie<strong>de</strong>n ließ <strong>de</strong>r Zwerg die metallene Spitze einer Hacke zwischen <strong>de</strong>n<br />

Fingern kreisen. Nach <strong>de</strong>m Angriff auf seine Freundin hatte er sich dazu entschlossen, sich eine Waffe zu besorgen.<br />

Er hatte dafür gesorgt, daß niemand das Werkzeug vermissen wür<strong>de</strong>. Der Stiel <strong>de</strong>r Spitzhacke ruhte tief in irgen<strong>de</strong>iner<br />

Erdwand, während ihr Kopf einen Platz im Stiefel <strong>de</strong>s Zwerges gefun<strong>de</strong>n hatte. Wenigstens hatte es sich gelohnt, die<br />

ewigen Schmerzen beim Laufen auf sich zu nehmen, dachte Elan<strong>de</strong>r, als er die Waffe betrachtete.<br />

Einen erleichterten Seufzer ausstoßend senkte die Jurakai <strong>de</strong>n Kopf und faßte Elan<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Schulter. „Womit hast<br />

du ihn umgebracht?“<br />

„Ich hatte eine kleine Überraschung für <strong>de</strong>n Mistkerl in meinem Stiefel bereit... das geschärfte En<strong>de</strong> einer Spitzhacke.<br />

Geschärft von meiner Wenigkeit, versteht sich.“<br />

192


„Du bist wun<strong>de</strong>rbar“ lobte Talamà ihren Gefährten. „Aber es ist noch nicht vorbei. Wür<strong>de</strong>st du mir die Waffe<br />

überlassen?“<br />

„Ich schätze, du weißt, was du tust.“ Mit einem schiefen Grinsen reichte <strong>de</strong>r Zwerg ihr das improvisierte<br />

Mordwerkzeug. Die Jurakai umschloß es mit <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n, atmete tief ein, als sie das kalte Metall an ihrer Haut spürte.<br />

„Das hoffe ich auch.“<br />

„Vorwärts“ gellte Dynes, als er mitsamt seinem Gefolge über die Hügel donnerte.<br />

Die Hufe <strong>de</strong>r Pfer<strong>de</strong> erzeugten stauben<strong>de</strong> Schneewolken, und von überall erklang das Wiehern <strong>de</strong>r Tiere. Es war<br />

unverkennbar, daß sie etwas witterten. Je<strong>de</strong>r von ihnen spürte es.<br />

Die vergangenen Tage waren wie ein Traum gewesen, und nun schickte sich die Wirklichkeit plötzlich an,<br />

gleichzuziehen. Sie waren geritten o<strong>de</strong>r hatten übernachtet, etwas an<strong>de</strong>res hatte es nicht gegeben. Die Pfer<strong>de</strong> waren<br />

ausgelaugt und erschöpft, und ebenso die Reiter, die schon tagelang nichts an<strong>de</strong>res mehr getan hatten, als sich im<br />

Sattel zu halten.<br />

„Es ist soweit“ rief Tom neben ihm. Der Ritter nickte und umklammerte die Zügel von Sturmauge.<br />

„Ich weiß!“ Er hielt die Schei<strong>de</strong> seines Schwertes. Sie alle wußten es. Sie alle spürten es. Das Gefühl kam direkt von<br />

<strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>n und setzte sich durch die Körper <strong>de</strong>r Menschen hindurch fort.<br />

Dynes’ Schar, zur Hälfte aus Bauern und zur Hälfte aus Soldaten bestehend, ergoß sich wie ein Schwall von Ameisen<br />

über <strong>de</strong>n nächsten Hügel. Dahinter eröffnete sich ihnen ein kleines Tal, eine Einmuldung zwischen ein paar größeren<br />

Hügeln.<br />

„Verdammt!“ schrie Dynes so laut, daß selbst die entferntesten Reiter ihn verstan<strong>de</strong>n. Er blickte nach vorn. Am Fuße<br />

<strong>de</strong>s Hügels wartete eine kleine Gruppe von Gestalten, die sich auf einen Kampf vorbereitete. Von <strong>de</strong>r<br />

entgegengesetzten Kuppe strömten Orks, liefen auf die Gestalten in <strong>de</strong>r Mitte, gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Errichtung von Zelten<br />

befindlich, zu. Das schnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Geräusch fliegen<strong>de</strong>r Pfeile erfüllte die Luft, und <strong>de</strong>r Ritter wußte, daß diese kleine<br />

Gruppe dort unten, wer o<strong>de</strong>r was immer sie auch sein mochten, niemals etwas ausrichten konnte gegen die Übermacht<br />

von Orks.<br />

Er riß sein Schwert aus <strong>de</strong>r Schei<strong>de</strong> und <strong>de</strong>utete nach vorn, auf die anbran<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Schar von Orks. Die Klinge blitzte im<br />

<strong>Mond</strong>schein, und wie zur Antwort wur<strong>de</strong>n hun<strong>de</strong>rt weitere Waffen gezogen, während die Pfer<strong>de</strong> galoppierten.<br />

Die Streitmacht <strong>de</strong>s Ritters sprengte an <strong>de</strong>n Shat’lan vorbei und direkt auf die Orkhor<strong>de</strong> zu. Ein paar Pfeile holten<br />

mehrere seiner Leute von <strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>n, doch <strong>de</strong>r Großteil befand sich auch weiterhin im Galopp gegen <strong>de</strong>n Feind.<br />

Dann trafen die Gruppen aufeinan<strong>de</strong>r, laufen<strong>de</strong> Orks und reiten<strong>de</strong> Menschen, und wie ein wirbeln<strong>de</strong>r Sturm pflügte<br />

Dynes’ Gefolge durch die feindlichen Reihen.<br />

Hinter ihnen kamen die Shat’lan, die durch die unerwartete Hilfe neuen Mut geschöpft hatten.<br />

Rasen<strong>de</strong> Schmerzen zuckten durch Indigos Körper und Geist, während die Gedanken <strong>de</strong>s monströsen, alten<br />

Geschöpfes in seinem Wissen stöberten und seine innersten Wünsche und Ängste betrachteten. Er krümmte sich,<br />

krallte sich mit <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n am klebrigen Bo<strong>de</strong>n fest. Welle für Welle <strong>de</strong>s Schmerzes raste durch seine Knochen,<br />

durch sein Fleisch und schien ihn von innen her zu verbrennen. Sein verzerrtes Gesicht flog zurück, warf sich von<br />

einer Seite auf die an<strong>de</strong>re. Grauseeles unbarmherziger Geist befand sich in seinem eigenen, war psychisch verbun<strong>de</strong>n<br />

mit <strong>de</strong>m Jurakai. Ächzend rollte Indigo sich zur Seite, als <strong>de</strong>r gigantische Kopf sich nach vorn schob, trotz <strong>de</strong>r Größe<br />

eine beträchtliche Gewandheit bewies.<br />

Augen, die so alt waren, daß sie <strong>de</strong>r Entstehung von Bergen und Ozeanen beigewohnt hatten, betrachteten ihn mit so<br />

zerfetzen<strong>de</strong>r Verachtung, daß <strong>de</strong>r junge Mann sich wünschte, auf <strong>de</strong>r Stelle zu sterben, sein jämmerliches Leben<br />

hinzugeben und zu veren<strong>de</strong>n...<br />

Ruhig blickten die mannsgroßen Augen auf ihn herunter, als die Schnauze <strong>de</strong>s Drachens sich <strong>de</strong>m Jurakai näherte.<br />

Zähne wur<strong>de</strong>n entblößt, und aus <strong>de</strong>m Rachen strömte <strong>de</strong>r Gestank tausen<strong>de</strong>r und abertausen<strong>de</strong>r Jahre <strong>de</strong>r<br />

Ver<strong>de</strong>rblichkeit und <strong>de</strong>s Vergehens. Der heiße Atem umspülte Indigo, umgab ihn mit einer Wolke aus Bitterkeit und<br />

Schlechtheit. Vergeblich versuchte das winzige Opfer, sich <strong>de</strong>m geistigen Griff <strong>de</strong>s Monstrums zu entwin<strong>de</strong>n, doch es<br />

war vergebens.<br />

Dachtest du tatsächlich, du könntest uns aufhalten, Jurakai?<br />

„Jemand wird euch Einhalt gebieten“ knirschte Indigo zwischen zusammengebissenen Zähnen.<br />

Du glaubst also wirklich, daß ein Einzelner wie du in <strong>de</strong>r Lage wäre, meine Pläne zu vereiteln? Ein donnern<strong>de</strong>s<br />

Geräusch, das fast an ein menschliches Lachen erinnerte, hallte durch die neblige Höhle. Dein Glaube ist<br />

bemerkenswert, Würmlein.<br />

„Trifft das Wort Wurm nicht... viel eher auf dich zu?“ keuchte <strong>de</strong>r Jurakai erschöpft. Die Anstrengung, die Schmerzen<br />

in seinem Kopf zu ignorieren, brachte ihn fast um <strong>de</strong>n Verstand.<br />

Das enorme Wesen musterte ihn schnaubend, dann fuhr eine seiner Pranken nach vorn. Die Klaue, so groß wie ein<br />

Scheunentor und schuppig wie <strong>de</strong>r Rest <strong>de</strong>r Kreatur, erwischte Indigo mit voller Wucht, schleu<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>n<br />

zerbrechlichen Körper über <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n.<br />

193


Der Jurakai purzelte hinfort und wollte beinahe anfangen, in heiteres Gelächter auszubrechen. Im Gegensatz zu <strong>de</strong>r<br />

geistigen Pein waren die Schmerzen, die er nun am Körper empfand, so lächerlich und unbe<strong>de</strong>utend, daß er am<br />

liebsten aufgestan<strong>de</strong>n wäre, um Grauseele seine Stärke zu beweisen. Doch so sehr er sich auch anstrengte, seine<br />

Glie<strong>de</strong>r zu bewegen – sie schienen festgefroren, rührten sich nicht, wenn er ihnen <strong>de</strong>n Befehl dazu gab. Irgendwo weit<br />

entfernt schmeckte ein Teil von ihm etwas warmes, salziges auf <strong>de</strong>r Zunge, und ohne große Überraschung registrierte<br />

sein Gehirn, daß es Blut war, das dort über seine Lippen floß.<br />

Du kannst dir keine Vorstellung davon machen, wie lange ich dieses Ereignis schon vorbereite, Jurakai. Kein<br />

leben<strong>de</strong>s Wesen kann sich eine Vorstellung von <strong>de</strong>r unendlichen Länge <strong>de</strong>r Zeit machen, die ich bereits diesen Plan<br />

hege. Niemand wird sich mir in <strong>de</strong>n Weg stellen, auch du nicht. Aber keine Angst, ich wer<strong>de</strong> dich nicht so einfach<br />

zerquetschen. Du wirst lei<strong>de</strong>n und lei<strong>de</strong>n, länger, als du es dir auch nur im Entferntesten erträumen lassen wür<strong>de</strong>st.<br />

Deine Qualen wer<strong>de</strong>n—<br />

Ein Zischen durchtrennte die Luft, und im nächsten Moment schnellten die geistigen Finger <strong>de</strong>s Ungetüms aus<br />

Indigos Kopf, zogen sich zurück und hinterließen nur Chaos und Verwirrung. Der Jurakai öffnete ein Auge, und<br />

verschwommen, seltsam verfärbt hinter einem Schleier aus Blut, <strong>de</strong>r sich über seine Augen gelegt hatte, nahm er <strong>de</strong>n<br />

gigantischen Kopf Grauseeles wahr, <strong>de</strong>r irgendwie erstaunt aussah. Aus einem seiner Augen ragte ein metallenes<br />

Objekt, hatte sich tief durch die riesige Iris gebohrt. Ein le<strong>de</strong>rnes Augenlied <strong>de</strong>s Drachen senkte sich und riß die<br />

frem<strong>de</strong> Substanz mit sich, doch noch im selben Moment brach ein Schwall schwarzen Blutes aus <strong>de</strong>r Wun<strong>de</strong> hervor<br />

und bespritzte <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n. Die wi<strong>de</strong>rliche, heiße Flüssigkeit benetzte die morastige Er<strong>de</strong> und <strong>de</strong>n Jurakai, <strong>de</strong>r auf ihr<br />

lag und mit <strong>de</strong>n Geschehnissen <strong>de</strong>r letzten Sekun<strong>de</strong>n nichts anzufangen wußte. Alles drehte sich um ihn, und sein<br />

Körper war plötzlich be<strong>de</strong>ckt mit <strong>de</strong>r gallertartigen Masse, die sein benommenes Gehirn als das Blut Grauseeles<br />

<strong>de</strong>utete.<br />

Er hörte Stimmen, sah noch immer das schreckliche Bild vor sich, das <strong>de</strong>n verletzten Giganten zeigte, <strong>de</strong>ssen eine<br />

Klaue sich nun auf das Auge preßte. Der geringelte Leib erbebte, rollte sich zur Seite und zerquetschte Orkwächter<br />

gleichermaßen wie <strong>de</strong>n Haufen aus toten und halbtoten Leibern. Als <strong>de</strong>r Lindwurm sich so tief unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> zu<br />

win<strong>de</strong>n begann, schienen die Wän<strong>de</strong> zu wackeln und <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n zu schaukeln. Und überall war das frem<strong>de</strong> Blut, das<br />

Blut...<br />

Ein Gedanke keimte in Indigo, als er auf seine pechschwarzen Finger herabsah...<br />

... hüte dich...<br />

... Indigo wußte nichts anzufangen mit diesem Bruchstück eines Satzes. Wo hatte er diese Worte schon einmal gehört?<br />

Sie waren wichtig, sie klangen wichtig...<br />

... hüte dich vor <strong>de</strong>m dunklen Blut...<br />

... ja, das war es! Die Worte, die ihn beschäftigten seit... seit langer Zeit...<br />

... hüte dich vor <strong>de</strong>m dunklen Blut...<br />

Indigo versuchte, einen Sinn zu erkennen in dieser Warnung. Das dunkle Blut hatte ihn benetzt, die schwarze<br />

Flüssigkeit rann über seine Haut, seine Kleidung.<br />

Wer wollte ihn warnen? Es waren seine Träume gewesen, die ihm gesagt, hatten, was er nun wußte. Seine Träume<br />

hatten ihm <strong>de</strong>n Kampf <strong>de</strong>r Shat’lan gezeigt, die Avalare, und auch Saya... aber niemand von ihnen war es gewesen,<br />

<strong>de</strong>r ihn gewarnt hatte, o<strong>de</strong>r? Die Worte waren einfach nur da gewesen, hatten sich in seinem Geist festgesetzt wie ein<br />

Parasit, ihn bearbeitet und ihm eingetrichtert, daß er sich hüten solle vor <strong>de</strong>m dunklen Blut. Doch wer wollte, daß er<br />

sich in Acht nahm? Mit schier übernatürlicher Anstrengung brachte <strong>de</strong>r Jurakai es fertig, eine Hand zu heben, und mit<br />

verwirrter Miene betrachtete er die Flüssigkeit, die von ihr herabtroff. Drachenblut, dachte er. Uraltes Drachenblut.<br />

Und... Geysa...<br />

... Geysa...<br />

Das Wort hallte in Indigos Geist wi<strong>de</strong>r, rauschte durch sein Gehirn und machte ihn schwindlig. Er fühlte sich, als<br />

schwebte er zwischen zwei Welten, die eine schwarz, die an<strong>de</strong>re weiß. Eine von bei<strong>de</strong>n schrie nach ihm, brüllte, daß<br />

er sich hüten müsse vor <strong>de</strong>m dunklen Blut...<br />

... doch er wußte nicht, welche von bei<strong>de</strong>n es war. Rote Nebel umspielten seine Sicht, und mü<strong>de</strong> schloß er seine<br />

Augen. Er mußte es darauf ankommen lassen.<br />

Lächelnd hob er die Hand zum Mund, ließ <strong>de</strong>n Zeigefinger über seine Zunge gleiten. Er schmeckte das Blut von<br />

Grauseele, spürte, wie es sofort in seinen Körper eindrang, durch seine A<strong>de</strong>rn zu rasen begann. Alles brannte, lo<strong>de</strong>rte<br />

in hellen Schmerzen, und nach Luft schnappend wand Indigo sich auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n. Seine Sinne spielten eine Musik<br />

<strong>de</strong>s Kraches, als die Wogen <strong>de</strong>r Agonie über ihn kamen. Und als die Welt um ihn herum leiser wur<strong>de</strong> und zu<br />

versinken begann, meinte er, noch einmal die Stimme Talamàs hören zu dürfen, wie sie zu ihm sprach. Auch meinte<br />

er, Berührungen spüren zu können, doch er war bereits so schwach, daß er sich nicht mehr rühren konnte. Und dann<br />

glitt er hinüber in die Bewußtlosigkeit.<br />

Der Schlachtenlärm war betäubend und sinnesraubend. Einerseits wirkte er wie eine bewußtseinserweitern<strong>de</strong> Droge,<br />

ließ die Dinge unwirklich und langsam wirken. An<strong>de</strong>rerseits vernahm man Geräusche, die ansonsten vielleicht<br />

einfach untergegangen wären.<br />

194


Tom, mit seinem Schwert durch eine Reihe von Orks mähend, lauschte auf. Er meinte, die Stimme Paves’ vernommen<br />

zu haben, die um Hilfe rief. Doch als er sich umblickte, sah er nur Fein<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Soldaten. Die seltsamen Gestalten, die<br />

<strong>de</strong>n Hügel hinaufströmten und in schwarze Kutten gewan<strong>de</strong>t waren, rückten ebenfalls näher. Doch <strong>de</strong>r Junge war<br />

nirgends zu sehen.<br />

Wie<strong>de</strong>r erklang <strong>de</strong>r Hilferuf, näher diesmal, und für <strong>de</strong>n Bruchteil einer Sekun<strong>de</strong> war Tom abgelenkt, als er die Augen<br />

vom Schlachtgeschehen löste. Den sich bieten<strong>de</strong>n Moment nutzend ließ ein Schwarzork sogleich seine Axt in das<br />

Vor<strong>de</strong>rbein von Toms Roß sausen, welches sich daraufhin auf die Hinterläufe stellte und <strong>de</strong>n Angreifer mit <strong>de</strong>n Hufen<br />

zu Bo<strong>de</strong>n schickte. Als es sich allerdings auf das verletzte Bein zu Stellen versuchte, knickte es ab, fiel zur Seite und<br />

begrub <strong>de</strong>n schreien<strong>de</strong>n Tom unter sich, drückte ihn in <strong>de</strong>n Schnee.<br />

Sofort verebbte <strong>de</strong>r äußere Lärm, wur<strong>de</strong> zu einem gedämpften, im Hintergrund geschehen<strong>de</strong>n Ding. Tom spürte <strong>de</strong>n<br />

Schnee unter sich und <strong>de</strong>n Leib <strong>de</strong>s Pfer<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r ihn zu erdrücken schien. Im Moment <strong>de</strong>s Aufpralls hatte er das<br />

Knacksen von mehreren seiner Rippen vernommen, doch mit schier übermenschlicher Anstrengung machte er sich<br />

daran, das strampeln<strong>de</strong> Pferd von sich zu stemmen. Pochend schlug sein Puls, hallte in seinen Schläfen wie<strong>de</strong>r und<br />

dröhnte in seinen Ohren. Paves war das einzige, was ihm noch durch <strong>de</strong>n Sinn ging, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Junge war in <strong>de</strong>n<br />

letzten Tagen wie ein Sohn für ihn gewesen, ein Sohn...<br />

Das Pferd rutschte zur Seite und gab Tom frei. Keine Sekun<strong>de</strong> zu früh, wie sich herausstellte, <strong>de</strong>nn sofort eilte ein<br />

Schwarzork schwertschwingend herbei. Doch noch im Laufen wur<strong>de</strong> er von einer Gestalt hoch zu Roß einfach<br />

davongefegt, zu Bo<strong>de</strong>n getrampelt und liegengelassen.<br />

Tom rappelte sich auf, versuchte etwas auszumachen auf <strong>de</strong>m nächtlichen Schlachtfeld. Sein Gehör hatte sich<br />

anscheinend verabschie<strong>de</strong>t, und nur ein lautes Pfeifen klang noch in seinen Ohren. Doch seine Augen leisteten ihre<br />

Dienste noch, und so erkannte er – nur wenige Fuß entfernt – <strong>de</strong>n Jungen, <strong>de</strong>r sich nach Hilfe rufend gegen mehrere<br />

Orks zur Wehr setzte.<br />

Tom suchte nach einer Waffe, doch bis er ein Schwert vom Bo<strong>de</strong>n gehoben und sich Paves’ wie<strong>de</strong>r zugewandt hatte,<br />

war <strong>de</strong>m Knaben schon an<strong>de</strong>rweitig jemand zu Hilfe geeilt. <strong>Arathas</strong>, <strong>de</strong>r mitsamt <strong>de</strong>r Vorhut bereits einmal durch die<br />

Orkreihen geprescht war, hatte hinter ihnen kehrt gemacht und pflügte das Feld <strong>de</strong>r Angreifer nun von hinten. Die<br />

drei Fein<strong>de</strong>, die <strong>de</strong>m Knaben am nächsten waren, enthauptete er im Vorbeireiten, <strong>de</strong>n vierten streckte Paves allein<br />

nie<strong>de</strong>r.<br />

Und dann waren die Schwarzgewan<strong>de</strong>ten auch schon heran, zersprengten die letzte Instanz <strong>de</strong>r Orks und vernichteten,<br />

was noch von ihnen übrig war. Tom, um <strong>de</strong>n sich alles drehte, ließ sich rücklings in <strong>de</strong>n Schnee fallen und hoffte,<br />

nicht zufällig auf einer Waffe zu lan<strong>de</strong>n. Das Glück war ihm hold, <strong>de</strong>nn nur Schnee wartete darauf, seinem Körper<br />

einen weichen Empfang zu bescheren.<br />

Während er verwun<strong>de</strong>t auf <strong>de</strong>m Schlachtfeld lag, schwan<strong>de</strong>n ihm die Sinne und schickten ihn in die Umarmung <strong>de</strong>r<br />

Besinnungslosigkeit.<br />

Verzweifelt zog Elan<strong>de</strong>r Indigos Körper nach hinten, nur weg vom Schauplatz <strong>de</strong>s Grauens. Ein kurzer Blick zeigte<br />

ihm, daß die Jurakai sich anschickte, <strong>de</strong>m Drachen mit <strong>de</strong>n Worten zuzusetzen, doch <strong>de</strong>r schwächliche Zauber<br />

bekümmerte das riesige Wesen nicht. Der um sich schlagen<strong>de</strong> Körper <strong>de</strong>s Wurmes schlängelte sich aus seiner<br />

Verankerung in <strong>de</strong>r Wand, <strong>de</strong>r gigantische Kopf Grauseeles hob sich, dann fuhren seine Klauen ins Erdreich,<br />

schaufelten einen Weg frei in die Tiefen <strong>de</strong>s schwarzen Untergrunds. Ein dicker Erdbrocken traf Talamà an <strong>de</strong>r Brust,<br />

und noch während sie durch die Luft flog und unsanft auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n klatschte, war <strong>de</strong>r Drache in <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />

verschwun<strong>de</strong>n.<br />

Ein Grollen ging durch <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, dann war es still im unheimlichen Gewölbe. Nur ein klaffen<strong>de</strong>s, riesiges Loch<br />

erinnerte an das gewaltige Monstrum. Die junge Frau vernahm das Ächzen von Elan<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r Indigo über die<br />

morastige Er<strong>de</strong> schleifte. Schnell eilte sie zu ihm, berührte <strong>de</strong>n Jurakai zärtlich.<br />

„Wie sieht er aus?“ fragte Talamà ängstlich.<br />

Über und über von schwarzem Schleim be<strong>de</strong>ckt und mit mehreren schweren Wun<strong>de</strong>n bot Indigo einen verheeren<strong>de</strong>n<br />

Anblick, doch wenigstens atmete er noch.<br />

„Er ist übel zugerichtet“ teilte <strong>de</strong>r Zwerg seiner Gefährtin mit und ließ <strong>de</strong>n Körper sanft zu Bo<strong>de</strong>n sinken. Er wischte<br />

ihm das schwarze Blut von <strong>de</strong>r Haut und verband die klaffen<strong>de</strong>n Wun<strong>de</strong>n mit Stücken seiner Kleidung, während<br />

Talamà über Indigos Gesicht streichelte, ihm liebevolle Worte zuflüsterte.<br />

„Wir müssen ihn hier so schnell wie möglich rausbringen. Und uns selbst ebenfalls“ fügte <strong>de</strong>r Kleine mit<br />

Bestimmtheit hinzu.<br />

„Bist du im Besitz einer weiteren Waffe?“ verlangte die Jurakai zu wissen. Das enttäuschen<strong>de</strong> Murmeln ihres<br />

Freun<strong>de</strong>s bestätigte sie in ihrer Vermutung. „Dann müssen wir auf unser Glück vertrauen“ sagte sie fest und nahm<br />

Indigo an <strong>de</strong>n Armen.<br />

„Ha!“ schnaubte Elan<strong>de</strong>r und stemmte die Beine <strong>de</strong>s Schlafen<strong>de</strong>n. „Davon haben wir ja je<strong>de</strong> Menge!“<br />

„Lauf mir einfach nach“ sagte Talamà und ging langsam voran. „Ich bin mir sicher, daß wir einen Weg fin<strong>de</strong>n<br />

wer<strong>de</strong>n.“<br />

„Auch in vollkommen dunklen Tunneln?“ fragte Elan<strong>de</strong>r skeptisch, doch die Jurakai ging unbeirrt weiter.<br />

195


„Für mich macht das keinen Unterschied, vergiß das nicht. Ich fin<strong>de</strong> mich zurecht, egal, wie widrig die äußeren<br />

Umstän<strong>de</strong> sind. Und wir haben noch einen weiteren Vorteil: Seit Chataihs Tod bin ich wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Lage, die Worte<br />

zu benutzen. Die Sperre, die er in meinem Geist befestigt hat, wur<strong>de</strong> zusammen mit ihm vernichtet. Wir sind nicht<br />

völlig wehrlos.“<br />

Erdbrocken fielen von <strong>de</strong>r Decke, als <strong>de</strong>r Shur-dai sich im To<strong>de</strong>skampf im Tunnel wälzte und mehrere Shat’lan mit<br />

seinen Klauen zerfetzte. Speere wur<strong>de</strong>n geworfen, und Sekun<strong>de</strong>n später en<strong>de</strong>te das Zucken <strong>de</strong>r Kreatur. Der lange<br />

Kopf ähnelte einem Igel, so gespickt war er mit Schwertern und an<strong>de</strong>ren Waffen. Mehrere Robenträger traten vor und<br />

zogen ihre Klingen aus <strong>de</strong>m bluten<strong>de</strong>n Leib <strong>de</strong>s Lindwurms, scharten sich dann um ihren Führer.<br />

„Ven‘lados! Hast du Saya gesehen?“ fragte Keldar einen seiner Männer, doch <strong>de</strong>r alte Shat’lan konnte nur mit <strong>de</strong>n<br />

Achseln zucken.<br />

„Ich weiß nicht, wo sie ist, Herr.“<br />

„Nein! Wo mag sie nur sein?“ Die hochgewachsene Gestalt <strong>de</strong>s Shat’lans ragte wie ein To<strong>de</strong>sengel im nun stillen<br />

Schacht auf. Die Orks hatten sich in an<strong>de</strong>re Regionen zurückgezogen, und die Weißen bil<strong>de</strong>ten schützen<strong>de</strong> Zirkel,<br />

waren in ihren kleinen Bunkern fast unangreifbar. Der lange schwarze Mantel Keldars wies Löcher und Risse auf,<br />

doch <strong>de</strong>r große Mann war unversehrt. Er nickte bedrückt. „Sie wird wissen, was sie tut. Laßt uns weitergehen.“<br />

Ein Schlachtruf, geschrien aus <strong>de</strong>n Kehlen vieler Krieger, bestätigte seine Worte. Die Menge <strong>de</strong>r verhüllten Schatten<br />

folgte ihrem voranschreiten<strong>de</strong>n Führer, nötigenfalls bis in <strong>de</strong>n Tod. Der Umhang Keldars flatterte hinter ihm,<br />

während er <strong>de</strong>n Weg in ein neues Gebiet auftat.<br />

„Ich habe eure Tochter in einen abzweigen<strong>de</strong>n Tunnel rennen sehen, Herr“ stieß ein junger Shat’lan hervor, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

Mann mit <strong>de</strong>m kantigen Gesicht nicht kannte. Er musterte <strong>de</strong>n Knaben, <strong>de</strong>r augenscheinlich noch nicht das Alter<br />

erreicht hatte, einen El’cha<strong>de</strong>rar zu reiten.<br />

„War sie allein?“<br />

„Nein, Herr. Ich weiß nicht, wer ihr folgte, doch es waren nicht weniger als fünf von uns.“<br />

Erleichtert atmete Keldar auf und nickte <strong>de</strong>m Jungen dankbar zu.<br />

„Ich schätze <strong>de</strong>ine Wachsamkeit, mein Freund. Bleib weiterhin aufmerksam.“<br />

„Natürlich, Herr.“ Der Shat’lan hob stolz sein Haupt und schritt im Gleichmaß neben Keldar. Er empfand es als große<br />

Ehre, neben <strong>de</strong>mjenigen laufen zu dürfen, <strong>de</strong>ssen Streitmacht seinerzeit, damals im Wintergarten, <strong>de</strong>n König <strong>de</strong>r<br />

Manur bezwang und damit <strong>de</strong>m Volk einen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Sieg einbrachte. Langsam ließ er sein Schwert in seinen<br />

Hän<strong>de</strong>n kreisen, spürte das beruhigen<strong>de</strong> Gewicht <strong>de</strong>r Waffe. Er fühlte sich, als wür<strong>de</strong> er die Hor<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Orks im<br />

Alleingang vertreiben können, als wür<strong>de</strong> ein Streich seiner Klinge genügen, um—<br />

Ein kurzes Rumpeln ging durch die Er<strong>de</strong>, dann ein Beben, und eine Sekun<strong>de</strong> später fuhr ein riesiges, schnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s<br />

Etwas durch die Höhlenwand und spießte <strong>de</strong>n Shat’lan auf, <strong>de</strong>r neben Keldar einherstolziert war. Der Anführer <strong>de</strong>r<br />

Gruppe drehte geistesgegenwärtig seinen Körper, und nur knapp entging er <strong>de</strong>m dolchartigen Gebil<strong>de</strong>, das sich durch<br />

das Erdreich grub. Der Knabe, durch <strong>de</strong>ssen Brustkorb die Klaue ragte, warf Keldar einen verzweifelten,<br />

verängstigten Blick zu. Er streckte hilfeheischend eine Hand aus, während das Blut aus seiner Brust gepumpt wur<strong>de</strong><br />

und <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n tränkte. Keldar blickte ihm in die Augen, trat zurück, holte mit seinem Schwert aus und versetzte <strong>de</strong>m<br />

Shat’lan einen gnädigen Hieb ins Herz. Das fragen<strong>de</strong> Gesicht <strong>de</strong>s Jungen verlor seine Härte, die Züge erschlafften,<br />

und <strong>de</strong>r schmale Körper glitt langsam von <strong>de</strong>m klauenartigen Gebil<strong>de</strong>.<br />

„Zur Seite“ wies Sayas Vater an, und seine Männer gehorchten sofort. Noch bevor das Ding sich weiter durch die<br />

Wand geschoben hatte, waren die Shat’lan am an<strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Ganges und flüchteten durch <strong>de</strong>n Korridor. Hinter<br />

ihnen brachen monströse Klauen durch die Wand, und kurz darauf schob sich <strong>de</strong>r Teil eines Kopfes in <strong>de</strong>n Schacht.<br />

Nüstern, die so groß und lang waren wie ein erwachsener Mann, schnupperten die abgestan<strong>de</strong>ne Luft, dann grub das<br />

Wesen sich in <strong>de</strong>n Schacht vor und nahm die Verfolgung <strong>de</strong>r Shat’lan auf.<br />

„Ich bin in irgendwas getreten!“ rief Elan<strong>de</strong>r angewi<strong>de</strong>rt und hätte beinahe <strong>de</strong>n Körper von Indigo fallen gelassen. „Es<br />

bewegt sich!“ Der schrille Unterton in <strong>de</strong>r Stimme <strong>de</strong>s Zwerges war Talamà nicht entgangen, und so verharrte sie und<br />

suchte nach <strong>de</strong>m richtigen Wort. Die Nebel, die <strong>de</strong>n Dverjae umhüllten, rissen entzwei, als ein gurgeln<strong>de</strong>r Ton <strong>de</strong>r<br />

Kehle <strong>de</strong>r Jurakai entwich.<br />

„Siehst du etwas?“ fragte sie ihren kleinen Gefährten.<br />

„Verdammt! Verdammt, was ist das?“ Indigo noch immer auf <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n balancierend, versuchte Elan<strong>de</strong>r<br />

angestrengt, seinen Fuß freizubekommen von <strong>de</strong>m wurmartigen Etwas, das sich neben ihm auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n<br />

schlängelte. Es ähnelte einem Drachen, doch es war viel kleiner und be<strong>de</strong>ckt mit einer gallertartigen Schicht von<br />

Schleim. Der krabbeln<strong>de</strong> Leib hatte sich um seinen Fuß gewickelt, hielt ihn fest in <strong>de</strong>r brechreizerregen<strong>de</strong>n Masse.<br />

Elan<strong>de</strong>rs Blick fiel auf die größeren Exemplare, die sich nun in heller Aufregung wan<strong>de</strong>n. Sie spürten, daß etwas<br />

nicht stimmte und konnten nicht länger still liegenbleiben. Die unfertigen Puppen beeilten sich, ihrem schleimigen<br />

Kokon zu entfleuchen und in abstoßen<strong>de</strong>r Weise auf <strong>de</strong>n Dverjae zuzukriechen. Kreischend befreite sich Elan<strong>de</strong>r von<br />

seinem Stiefel und hüpfte über <strong>de</strong>n sumpfigen Bo<strong>de</strong>n zur Seite. Talamà trug Indigo ebenfalls in die entgegengesetzte<br />

Richtung und wünschte sich, ihre Sehkraft wie<strong>de</strong>rzuerlangen.<br />

196


„Ich höre, wie sich etwas bewegt“ teilte sie <strong>de</strong>m Zwerg mit. „Es stinkt, als wäre es direkt aus <strong>de</strong>m Rachen eines<br />

Drachen entwichen.“<br />

„Du ahnst gar nicht, wie Recht du mit dieser Behauptung hast! Es sind Drachen, Talamà! Kleine, wi<strong>de</strong>rwärtige<br />

Biester, wahrscheinlich die Larven von <strong>de</strong>m Riesenviech vorhin!“<br />

„Dann sollten wir sie auslöschen, solange sie noch nicht ausgewachsen sind“ sagte die Jurakai kühl und warf ihren<br />

Kopf zur Seite.<br />

„Wir haben keine Waffen hier!“<br />

Talamà zog absichtlich laut die Luft ein und wartete auf eine Antwort <strong>de</strong>s Zwerges.<br />

„Riechst du es nicht?“ fragte sie ihren Gefährten, doch Elan<strong>de</strong>r hatte nur noch Augen für die schlängeln<strong>de</strong>n Leiber,<br />

die über <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n krochen und winzige Klauen ausstreckten. Die Exemplare, die bereits sehen konnten, fixierten ihn<br />

mit einem schrecklichen Blick, und zitternd wandte <strong>de</strong>r Dverjae sich an die Jurakai.<br />

„Egal, was du vorhast, tu es schnell, bitte! Wir sollten auf je<strong>de</strong>n Fall von hier verschwin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn sie kommen immer<br />

näher!“ Die bei<strong>de</strong>n hoben Indigos bluten<strong>de</strong>n Körper an, und auf Talamàs Befehl trugen sie ihn in <strong>de</strong>n düsteren Gang,<br />

<strong>de</strong>r zu Chataihs ehemaligem Gemach führte.<br />

„Ist noch etwas von <strong>de</strong>m Nebel auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n zu sehen?“ ließ sich Talamà vernehmen.<br />

„Nur ein paar kleine Zungen, die über unsere Füße lecken.“<br />

„Dann müssen wir weiter. Die Schwa<strong>de</strong>n dürfen sich nicht in unserer Nähe befin<strong>de</strong>n.“<br />

„Was genau hast du vor?“ fragte Elan<strong>de</strong>r, doch seine Gefährtin gab keine Antwort. Gemeinsam schleppten sie Indigo<br />

um die nächste Ecke, und hier gab <strong>de</strong>r Dverjae Entwarnung vor <strong>de</strong>n Nebelschwa<strong>de</strong>n. Der bewußtlose Körper wur<strong>de</strong><br />

sanft abgelegt, an einem Platz, <strong>de</strong>r weit entfernt war von <strong>de</strong>n wogen<strong>de</strong>n Schleiern.<br />

„Du wirst mir gleich helfen müssen.“ Die Jurakai riß am Ärmel ihres Hem<strong>de</strong>s und trennte einen Stofffetzen vom Rest<br />

<strong>de</strong>s Gewebes. Sie formte einen Klumpen, <strong>de</strong>n sie in ausgestreckten Hän<strong>de</strong>n hielt. „Hast du Angst vor Feuer?“<br />

„Warum?“ fragte Elan<strong>de</strong>r, und eine plötzliche Ahnung schoß durch seinen Kopf.<br />

Ein schallen<strong>de</strong>r Laut hallte durch <strong>de</strong>n Tunnel, als Talamà die Worte sprach. Erst passierte gar nichts, doch dann fing<br />

<strong>de</strong>r Stoffballen Feuer, lo<strong>de</strong>rte in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Jurakai.<br />

„Nimm ihn und wirf ihn so weit wie möglich in <strong>de</strong>n Gang“ befahl die Frau, und hastig griff <strong>de</strong>r Zwerg nach <strong>de</strong>m<br />

brennen<strong>de</strong>n Klumpen. Doch die Angst vor <strong>de</strong>m Feuer ließ ihn unvorsichtig wer<strong>de</strong>n, und mit einem Aufschrei glitt ihm<br />

<strong>de</strong>r Ballen aus <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n.<br />

„Keine Sorge“ sagte er mehr zu sich selbst als zu Talamà und atmete tief ein. Dann startete er einen zweiten Versuch,<br />

packte das brennen<strong>de</strong> Bün<strong>de</strong>l und faßte es fest mit <strong>de</strong>r Rechten.<br />

„Wirf dich zu Bo<strong>de</strong>n, sobald du geworfen hast“ empfahl die Jurakai, als Elan<strong>de</strong>r ausholte und <strong>de</strong>n lo<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Ball von<br />

sich warf. Er griff Talamàs Hand, und gemeinsam preßten sie sich gegen die kühle Er<strong>de</strong>.<br />

Irgendwo hinter ihnen im Gang rollte <strong>de</strong>r brennen<strong>de</strong> Stoffballen in die Nebelschwa<strong>de</strong>n, und im nächsten Moment<br />

explodierte die Welt in krachen<strong>de</strong>n Feuerwellen. Weitere Schläge ließen die Er<strong>de</strong> erzittern, und heiße Schwälle von<br />

Luft schoben sich über die Liegen<strong>de</strong>n hinweg. Als die größte Hitze verebbt war, for<strong>de</strong>rte Talamà <strong>de</strong>n Dverjae auf,<br />

weiterzulaufen.<br />

Flammen schlugen ihnen vom einen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Tunnels entgegen, als sie Indigo zwischen sich nahmen und in die<br />

an<strong>de</strong>re Richtung flüchteten. Die fürchterlichen, entsetzten Schreie <strong>de</strong>r verbrennen<strong>de</strong>n Larven hallten ihnen noch lange<br />

in <strong>de</strong>n Ohren.<br />

„Woher wußtest, du...“ fing Elan<strong>de</strong>r an, während sie rannten, doch Talamà fiel ihm ins Wort, mit einem grimmigen<br />

Lächeln auf <strong>de</strong>n Lippen.<br />

„Ich erkenne Grubengas, wenn ich welches rieche.“<br />

Menschen, Jurakai und Shat’lan halfen zusammen, als sie die Verletzten und Gefallenen vom Schlachtfeld <strong>de</strong>r Kuppe<br />

suchten und nach unten in die Mul<strong>de</strong> brachten.<br />

Dynes’ Herz füllte sich plötzlich mit stechen<strong>de</strong>m Schmerz, als er seinen Freund Tom zwischen <strong>de</strong>n zerhackten<br />

Leibern liegen sah. Er hoffte inbrünstig, daß er noch lebte, <strong>de</strong>nn vorhin war seine Frau an ihm vorübergelaufen, auf<br />

<strong>de</strong>r Suche nach ihrem Mann. Wie könnte er ihr unter die Augen treten und ihr sagen, daß Tom tot wäre...<br />

Er beugte sich über die riesige Gestalt und nahm ihren Arm auf.<br />

Ein fester, stetiger Pulsschlag nahm das Gewicht <strong>de</strong>r Sorge von Dynes, und erleichtert seufzte <strong>de</strong>r Ritter auf. Er packte<br />

seinen Freund an <strong>de</strong>n Armen und wollte schon beginnen, ihn wegzuziehen, als sich eine zweite Person zu ihm gesellte<br />

und ebenfalls mitanfaßte. Es war Yentaro, <strong>de</strong>r kopfschüttelnd Toms Beine hielt.<br />

„Ihr dürft ihn nicht über <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n schleifen, Sir <strong>Arathas</strong>“ teilte er fachmännisch mit. „Falls er gebrochene Knochen<br />

hat, müssen wir eine Trage bauen.“<br />

Dynes nickte und wollte <strong>de</strong>m Jurakai helfen, nötige Teile dafür zu suchen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte.<br />

Er drehte <strong>de</strong>n Kopf und blickte Zara ins Gesicht. Sie schien übermü<strong>de</strong>t und ausgelaugt zu sein, doch ihre<br />

Lebhaftigkeit hatte sie nicht verloren.<br />

„Ich kümmere mich um Tom“ sagte sie und rieb <strong>de</strong>n Arm <strong>de</strong>s Ritters. „Du wirst dort verlangt.“ Sie <strong>de</strong>utete auf eine<br />

Stelle im Tal, in <strong>de</strong>r mehrere Kuttenträger sich versammelt hatten.<br />

197


<strong>Arathas</strong> sah <strong>de</strong>r Frau fragend in die Augen, doch sie zuckte nur mit <strong>de</strong>n Achseln. Ohne weitere Worte begab Dynes<br />

sich hinab, gesellte sich zu <strong>de</strong>n Leuten, die einen Kreis am Anfang <strong>de</strong>r Mul<strong>de</strong> bil<strong>de</strong>ten. Hauptsächlich waren es<br />

Frem<strong>de</strong>, doch auch Veloria und Valken waren unter ihnen.<br />

„Wer seid Ihr?“ fragte Dynes, als ein robentragen<strong>de</strong>r Mann sich vor ihm postierte. Er betrachtete ihn eine Zeit lang,<br />

bevor er seine Frage neu formulierte.<br />

„Was seid Ihr?“<br />

Grauseele preßte seinen aufgequollenen Leib durch die Stollen, riß Wän<strong>de</strong> und Decke ein, während er wie wild alles<br />

Leben um sich herum auslöschte. Die Shat’lan, die es wagten, sich ihm in <strong>de</strong>n Weg zu stellen, wur<strong>de</strong>n gna<strong>de</strong>nlos<br />

zermalmt o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n malmen<strong>de</strong>n Kiefern zerrissen. Der Drache wütete durch die Gänge, verfolgte aufgebracht die<br />

Gruppe von Eindringlingen, die vor ihm flüchtete.<br />

„Er kommt näher“ schrie Keldar und trieb seine Männer zu noch größerer Eile an. Er blickte sich erneut um,<br />

betrachtete mit Grauen <strong>de</strong>n einstürzen<strong>de</strong>n Schacht. Immer wie<strong>de</strong>r schoben sich aus <strong>de</strong>r fallen<strong>de</strong>n Er<strong>de</strong> die Klauen und<br />

<strong>de</strong>r Kopf <strong>de</strong>s Ungetüms hervor, das nun dicht aufgerückt war. Erdbrocken schlugen neben <strong>de</strong>n Shat’lan auf <strong>de</strong>n<br />

Bo<strong>de</strong>n, rissen manch Unglücklichen von <strong>de</strong>n Füßen und begruben ihn unter sich. Grollen<strong>de</strong>s Donnern hallte durch<br />

<strong>de</strong>n Tunnel, erfüllte das Denken aller noch leben<strong>de</strong>n Wesen mit panischer Furcht.<br />

Und dann mün<strong>de</strong>te <strong>de</strong>r schmale Gang in eine größere Halle, eine unterirdisches Gewölbe, erleuchtet von Fackeln und<br />

fluoreszieren<strong>de</strong>n Gewächsen. Keldars Gruppe rannte in <strong>de</strong>n Raum, stieß dort mit weiteren Shat’lan zusammen, die<br />

sich bereits auf an<strong>de</strong>rem Wege bis hierher durchgekämpft hatten. Ein rascher Befehl, und die Verhüllten rotteten sich<br />

zu einer kleinen Streitmacht zusammen, die sich im hinteren Teil <strong>de</strong>s Gewölbes sammelte. Die vor<strong>de</strong>rste Reihe bil<strong>de</strong>te<br />

einen Verteidigungsgürtel, <strong>de</strong>r aus blitzen<strong>de</strong>n Klingen bestand. Inmitten <strong>de</strong>s Ringes aus entschlossenen Kriegern<br />

bereiteten sich an<strong>de</strong>re darauf vor, die Macht <strong>de</strong>r Worte zu vereinen, um <strong>de</strong>m Chaos Einhalt zu gebieten und <strong>de</strong>m<br />

schrecklichen Treiben ein En<strong>de</strong> zu machen.<br />

Die monströse Kreatur brach durch <strong>de</strong>n Schacht, ringelte einen Teil ihres Leibes in die Halle und bäumte sich auf. Die<br />

Decke war zwar nicht son<strong>de</strong>rlich hoch, doch im Gegensatz zu <strong>de</strong>n niedrigen Tunnels erschien sie meilenweit entfernt.<br />

Grauseele betrachtete die Shat’lan mit seinem gesun<strong>de</strong>n Auge, entblößte messerscharfe, gewaltige Zähne und stieß<br />

einen brüllen<strong>de</strong>n Laut aus. Er ließ eine seiner Klauen herabfahren, um die Angreifer zu zerfetzen, doch Speerspitzen<br />

und Schwerter, die sich in sein Fleisch bohrten, ließen ihn fauchend zurückfahren.<br />

„Jetzt“ schrie Keldar und warf sich mitsamt seiner Waffe zu Bo<strong>de</strong>n. Die an<strong>de</strong>ren Shat’lan, die nicht in <strong>de</strong>r Lehre <strong>de</strong>r<br />

Worte bewan<strong>de</strong>rt waren, taten es ihm gleich, und bald stand nur noch <strong>de</strong>r Ring aus robentragen<strong>de</strong>n, singen<strong>de</strong>n<br />

Schattenfiguren aufrecht, <strong>de</strong>ren Zauber einen flimmern<strong>de</strong>n Schild um die Gruppe legte. Grauseele wagte einen<br />

Versuch, die Angreifer mit seinem Körper zu überrollen, doch als er mit <strong>de</strong>n blauen Flammen in Berührung kam, die<br />

sich um die Shat’lan gelegt hatten, verbrannte seine Haut und er zuckte schmerzerfüllt zurück.<br />

Ein tiefer, dröhnen<strong>de</strong>r Ton drang durch die Halle und legte sich über alles und je<strong>de</strong>n. Er schwoll an, und mit ihm<br />

seine Konsistenz und seine Härte. Lauter und höher, mächtiger und warnen<strong>de</strong>r. Der zornige Blick <strong>de</strong>s Drachens<br />

verwan<strong>de</strong>lte sich in einen Ausdruck <strong>de</strong>s Grauens, als er erkannte, daß dieser Stoß ihm tatsächlich Scha<strong>de</strong>n zufügen<br />

wür<strong>de</strong>. Er grub die Klauen in <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, blickte ein letztes Mal auf das kleine Grüppchen, das ihn attackierte, und<br />

grub sich in die Er<strong>de</strong>.<br />

Und dann entlud sich <strong>de</strong>r Laut, krachte über <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, warf Flammen auf, während er auf <strong>de</strong>n sich win<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Leib<br />

<strong>de</strong>s Wurmes zurollte. Schlag auf Schlag zitterten die Druckwellen durch die Halle und fraßen sich durch Stein und<br />

Er<strong>de</strong>. Knistern<strong>de</strong>s Feuer brannte tiefe Wun<strong>de</strong>n in Grauseeles Fleisch, als sich <strong>de</strong>r schuppige Körper in <strong>de</strong>n Untergrund<br />

hinabzog. Flammen leckten an <strong>de</strong>n Segmenten <strong>de</strong>s Wurmes, <strong>de</strong>ssen Hinterbeine gera<strong>de</strong> durch <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n<br />

verschwan<strong>de</strong>n. Dann gewann <strong>de</strong>r Klang einen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n, vernichten<strong>de</strong>n Unterton, riß die Beine <strong>de</strong>r Bestie von<br />

ihrem Leib und verbrannte sie bis zur Unkenntlichkeit. Auch <strong>de</strong>r restliche Teil <strong>de</strong>s Schwanzes, <strong>de</strong>r sich bebend wand,<br />

verglühte in einem Ball aus reinem, lo<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>m Feuer.<br />

Und dann war die Wirkung <strong>de</strong>s Zaubers vorüber, <strong>de</strong>r Drachen in <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> verschwun<strong>de</strong>n. Die Beben, die nun durch<br />

die Er<strong>de</strong> liefen, waren unnatürlicher Natur, und bald schon fing die Decke <strong>de</strong>s Gewölbes an, sich zu senken und auf<br />

die Gruppe herabzuregnen. Erschöpfte Shat’lan fielen nacheinan<strong>de</strong>r zu Bo<strong>de</strong>n, wur<strong>de</strong>n von ihren schwachen<br />

Gefährten gestützt. Die Krieger rappelten sich auf und halfen, so gut sie konnten. Keldars Gestalt, hoch und<br />

entschlossen trotz <strong>de</strong>r schrecklichen Ereignisse, war bald umringt von fragen<strong>de</strong>n Gesichtern.<br />

„Ich <strong>de</strong>nke nicht, daß wir es getötet haben“ sagte <strong>de</strong>r bärtige Mann, und in seinen schwarzen Augen leuchtete das<br />

Feuer <strong>de</strong>s Kampfes. „Was immer es auch war. Aber ich <strong>de</strong>nke, es ist offensichtlich, daß dieses Wesen zum Teil – o<strong>de</strong>r<br />

vielleicht auch ganz – für dieses verfluchte unterirdische Grab verantwortlich ist. Ich schätze, daß dieser Drache<br />

niemals mehr Scha<strong>de</strong>n anrichten wird.“ Er <strong>de</strong>utete mit ausgestrecktem Arm auf die bröckeln<strong>de</strong> Decke und die<br />

einstürzen<strong>de</strong>n Schächte. „Wir haben die Macht <strong>de</strong>s Wesens gebrochen, das die Brut befehligte. Es bleibt jetzt nichts<br />

mehr als die Flucht. Verteilt euch und nehmt alle Shat’lan mit euch, die sich noch in <strong>de</strong>n Stollen befin<strong>de</strong>n. Wenn<br />

dieses Tunnelsystem einstürzt, darf keiner unserer Brü<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r noch am Leben ist, mehr hier sein.“<br />

198


Stummes Nicken bestätigte seine Worte, und schon nach kurzer Zeit hatten sich kleine Gruppen gebil<strong>de</strong>t, die in wil<strong>de</strong>r<br />

Hast durch die Schächte huschten. Nur Keldar und ein paar von ihm ausgewählte Shat’lan verharrten noch in <strong>de</strong>m<br />

Gewölbe, das langsam begann, in sich zusammenzufallen.<br />

Keldar atmete tief ein, und seine Schwerthand schloß sich fest um das Heft seiner Waffe. „Möglicherweise ist meine<br />

Tochter noch irgendwo hier unten...“ fing er an, doch eine schwere Hand, die sich auf seine Schulter legte, ließ ihn<br />

verstummen.<br />

„Wenn <strong>de</strong>m so ist, dann können wir nur darauf vertrauen, daß sie sich an die Oberfläche retten kann. Fin<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n<br />

wir sie niemals im Gewirr dieser Gänge, das muß dir klar sein. Wir müssen aufbrechen, Keldar. Selbst die Orks sind<br />

nicht so dumm, noch in diesem sterben<strong>de</strong>m Gewölbe zu verbleiben, siehst du?“<br />

Keldars betrübter Blick fiel in einen Schacht, in <strong>de</strong>m sich die Silhouetten verschie<strong>de</strong>ner Wesen abzeichneten, die zur<br />

Oberfläche flüchteten. Ein paar Shat’lan folgten ihnen und verwickelten sie in einen Kampf, doch die Attacken<br />

wur<strong>de</strong>n nur halbherzig ausgeführt, die Schläge waren ungezielt und verängstigt.<br />

„Alle hier spüren es“ sagte <strong>de</strong>r stämmige Shat’lan und sah seinem Anführer tief in die Augen. „Uns bleibt keine<br />

Wahl, alter Freund. Wir müssen fliehen. Wir haben keine Zeit.“<br />

Ein Ruck schien durch <strong>de</strong>n großen Mann zu gehen, <strong>de</strong>r seine Männer in die Höhle <strong>de</strong>s Drachen geführt hatte. Er war<br />

hier, und mit ihm hun<strong>de</strong>rte, wenn nicht tausen<strong>de</strong> von Shat’lan. Er durfte nicht das Leben an<strong>de</strong>rer aufs Spiel setzen,<br />

um <strong>de</strong>m Hirngespinst nachzujagen, daß er Saya fin<strong>de</strong>n könnte.<br />

„Du hast Recht, Mindaras.“ Ein Funke glomm in Keldars Pupillen, während er <strong>de</strong>n Kopf aufrichtete und seinen<br />

Männern einen grimmigen Blick schenkte.<br />

„Folgt mir.“<br />

„Folge mir.“<br />

Die son<strong>de</strong>rbare Shat’lan, die Indigo bereits aus an<strong>de</strong>ren Träumen kannte, nickte ihm aufmunternd zu. Ihre Augäpfel,<br />

die so völlig schwarz und undurchsichtig waren, lu<strong>de</strong>n ihn ein, diesem Alptraum zu entkommen, in <strong>de</strong>n er geraten zu<br />

sein schien. Indigo gab ihrer Bitte bereitwillig statt.<br />

Gera<strong>de</strong> eben noch befand er sich in Grauseeles Gewalt, einer Macht, die so stark und unglaublich alt war, daß die<br />

Welt selbst erzitterte unter <strong>de</strong>r schieren Last von Jahren, die auf <strong>de</strong>m Wesen liegen mußten. Und jetzt, nur wenig<br />

später, glitt die feuchte Er<strong>de</strong>, das wi<strong>de</strong>rliche Dunkel, das ihn unter sich begraben hatte, an ihm vorbei, rutschte nach<br />

unten und gab seinen Körper frei.<br />

Er sah auf seine Füße, bemerkte zu seinem Erstaunen, daß er sich nicht nur wie<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Oberfläche befand, son<strong>de</strong>rn<br />

noch immer höher hinaufstieg, sich in die Lüfte emporhob. Höher und höher, er ließ die Wäl<strong>de</strong>r und Wiesen unter<br />

sich, das ganze Land schrumpfte zu einem kleinen Fleck. Eisige Nachtluft umgab ihn, als er sich umblickte und nach<br />

<strong>de</strong>r wun<strong>de</strong>rschönen, jedoch alten Frau suchte, die ihn hierher gebracht hatte.<br />

Und dort schwebte sie, ebenso frei und ungebun<strong>de</strong>n wie er selbst, von nichts an <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> gehalten. Sie lächelte,<br />

während sie mit <strong>de</strong>r Hand auf das Land hinab<strong>de</strong>utete.<br />

„Ich will dir zeigen, wo es begann“ flüsterte sie mit einer Stimme, die wie <strong>de</strong>r Wind war, wispernd und unstet, doch<br />

gleichzeitig überall. „Folge mir.“<br />

„Ich bin ein Shat’lan. Mein Name lautet Maraquas.“<br />

Dynes nickte. Er wartete auf weitere Ausführungen <strong>de</strong>s Mannes.<br />

„Euer Name lautet Sir <strong>Arathas</strong> Dynes, nicht wahr?“<br />

Dynes nickte erneut.<br />

„Die bei<strong>de</strong>n Jurakai berichteten es uns. Wir sind Euch zu Dank verpflichtet, Sir <strong>Arathas</strong> Dynes. Ohne Eure Hilfe<br />

hätten wir <strong>de</strong>n Angriff dieser Orks niemals überlebt.“<br />

„Seid Ihr aus <strong>de</strong>m gleichen Grund hier, aus <strong>de</strong>m auch wir hierher kamen?“ verlangte <strong>de</strong>r Ritter zu wissen.<br />

Dieses Mal nickte Maraquas. „Wir verfolgen das gleiche Ziel. Wenigstens für die Dauer dieses Kampfes sollten wir<br />

uns verbün<strong>de</strong>n.“<br />

<strong>Arathas</strong> zögerte und sah sich um. Die Shat’lan hatten schon längst wie<strong>de</strong>r damit begonnen, ihre Zelte zu errichten,<br />

und bis auf ein paar einzelne auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n liegen<strong>de</strong> Laken stan<strong>de</strong>n die meisten bereits. Doch es waren nur wenige<br />

von <strong>de</strong>n Schwarzen Seelen hier, nicht einmal halb so viele Köpfe wie Dynes’ Schar aufweisen konnte.<br />

„Ich sehe die Frage in Euren Augen“ sagte Maraquas und <strong>de</strong>utete auf <strong>de</strong>n Schnee unter seinen Füßen. „Mein Volk<br />

befin<strong>de</strong>t sich im Augenblick unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und kämpft gegen die Wurzel <strong>de</strong>s Übels. Wir sind nur eine kleine<br />

Delegation, die das Lager hier oben vorbereitet.“<br />

Dynes verstand. Er ließ einen schnauben<strong>de</strong>n, knurren<strong>de</strong>n Laut entweichen.<br />

„Also wer<strong>de</strong>t Ihr Euch mit uns verbün<strong>de</strong>n?“ fragte <strong>de</strong>r Shat’lan und streckte <strong>de</strong>m Ritter seine Hand entgegen. Dynes<br />

blickte ihm in die Augen und verzog die Miene.<br />

„Ich glaube, daß diese Frage nicht notwendig ist“ sagte er und wandte sich zum Gehen. „Wir machen bereits<br />

gemeinsame Sache.“<br />

199


Er ließ Maraquas hinter sich zurück, <strong>de</strong>r ihm mit ausgestreckter Hand nachsah. Kopfschüttelnd drehte <strong>de</strong>r Shat’lan<br />

sich um und stapfte zurück zum Zirkel, um sich zu beraten.<br />

Dynes suchte nach Tom, fand ihn kurze Zeit später in einem <strong>de</strong>r Zelte <strong>de</strong>r Shat’lan. Von Schmerzen gekrümmt lag die<br />

breitschultrige Gestalt auf einer Decke. Das Bild <strong>de</strong>s bärigen, riesigen Mannes sah so ungewohnt aus, daß <strong>de</strong>r Ritter<br />

eine lange Zeit im Eingang <strong>de</strong>s Zeltes stehenblieb und wartete.<br />

Dann trat er endlich hinein und legte <strong>de</strong>r Heilerin, die aus <strong>de</strong>n Reihen <strong>de</strong>r Schwarzen Seelen stammte, eine Hand auf<br />

die Schulter.<br />

„Wie geht es ihm?“<br />

Die Frau blickte mit freundlicher Miene zu ihm auf. Ihre Augen leuchteten in reinstem Schwarz. Dynes fühlte sich<br />

unwillkürlich an tiefe, dunkle Löcher erinnert, die aus <strong>de</strong>n Höhlen eines Totenschä<strong>de</strong>ls starren. Er schüttelte <strong>de</strong>n<br />

Kopf. Woher kamen diese Wesen so plötzlich. Seit er lebte, waren die Shat’lan nichts weiter als ein Märchen, von<br />

<strong>de</strong>m manche erzählten, daß es Wirklichkeit sein wür<strong>de</strong>. Doch nun schien es, als wür<strong>de</strong>n längst vergessene<br />

Geschichten wahr wer<strong>de</strong>n, Geschichten von Monstern und an<strong>de</strong>ren sagenumwobenen Geschöpfen zugleich.<br />

„Seine Rippen sind gebrochen“ antwortete die Heilerin und strich mit <strong>de</strong>r Hand über die haarige, entblößte Brust. „Es<br />

sind nur leichte Brüche. Er wird bald wie<strong>de</strong>r gesund sein.“<br />

Toms Frau Jen stand in einer Ecke <strong>de</strong>s Zeltes, schweigend und mit traurigem Ausdruck. Als <strong>de</strong>r Ritter sich zu ihr<br />

gesellte, schenkte sie ihm ein zaghaftes Lächeln und wandte die Augen ab.<br />

„Ich dachte, er wäre tot“ flüsterte sie, und als <strong>Arathas</strong> ihre Hand nahm fühlte er, wie sehr sie zitterte. Er zog sie an<br />

sich und drückte sie, und sie preßte ihren Kopf an seine Schulter. Ungeweinte Tränen brachen aus ihrem Gefängnis<br />

aus. Dynes wußte nicht recht, wie er sich weiterhin verhalten sollte. So stand er einfach nur da und hielt Jen, bis<br />

Yentaro das Zelt betrat und sich Toms Frau langsam von ihm löste.<br />

„Ah“ sagte <strong>de</strong>r Jurakai und warf einen flüchtigen Blick auf Tom. „Ich dachte schon, daß ich Euch hier fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>.<br />

Wie geht es Eurem Freund?“<br />

„Er wird es überleben.“<br />

Yentaro nickte und machte eine auffor<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Geste, die Dynes zum Mitkommen bewegte. „Habt Ihr bereits mit <strong>de</strong>n<br />

Shat’lan gesprochen?“ fragte er, nach<strong>de</strong>m sie das Zelt verlassen hatten.<br />

„Mit ihrem Anführer, glaube ich“ sagte Dynes.<br />

„Es ist unglaublich, welche Verän<strong>de</strong>rungen sich uns hier eröffnen!“ Yentaro <strong>de</strong>utete auf die Schwarzen Seelen und<br />

schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Ich bin schon seit langer Zeit keinem Shat’lan mehr begegnet. Deswegen ist es umso<br />

erstaunlicher, wieviele von ihnen in Wirklichkeit leben.“<br />

„Ich wußte nicht einmal, daß es sie überhaupt gibt.“<br />

Der Jurakai faßte Dynes am Arm. „Dies ist eine Wendung, wie sie sich keiner hätte erhoffen können“ sagte er<br />

nach<strong>de</strong>nklich. „Niemand wußte, wie groß die Zahl <strong>de</strong>r Shat’lan tatsächlich ist. Ich habe mich ebenfalls mit ihrem<br />

Anführer unterhalten. Er wollte nicht viel verraten, doch ich weiß, daß tausen<strong>de</strong> von ihnen gera<strong>de</strong> gegen die Orks<br />

kämpfen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie sich die Wie<strong>de</strong>rkehr <strong>de</strong>r Shat’lan auf Ruben auswirken wird.<br />

Immerhin galten sie als das verstoßene Volk. Sie lebten unter <strong>de</strong>m ständigen Schatten <strong>de</strong>s Zorns Himmelfeuers, und<br />

nun kehren sie zurück aus ihrem Exil.“<br />

„Und das macht Euch sorgen?“ fragte Dynes, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n betretenen Gesichtsausdruck Yentaros ganz richtig<br />

interpretierte.<br />

„Einerseits nicht, <strong>de</strong>nn ohne die Hilfe ihrer Kämpfer wäre das Land sicherlich zum Untergang verurteilt gewesen, und<br />

vielleicht wer<strong>de</strong>n auch die Shat’lan es nicht schaffen, <strong>de</strong>m Mor<strong>de</strong>n Einhalt zu gebieten. Aber an<strong>de</strong>rerseits, wenn die<br />

Orks getötet o<strong>de</strong>r vertrieben wer<strong>de</strong>n... wie wer<strong>de</strong>n die Völker die Wie<strong>de</strong>rkehr <strong>de</strong>r Shat’lan dann auffassen? Vor allem<br />

ihr Manur wer<strong>de</strong>t nicht mühelos damit umzugehen wissen.“<br />

„König Westfald wird alles er<strong>de</strong>nkliche tun, um diese Leute von seinem Inneren Reich fernzuhalten. Er dul<strong>de</strong>t selbst<br />

Jurakai nur bedingt, und er haßt die Dverjae wie die Pest. Ich <strong>de</strong>nke kaum, daß er <strong>de</strong>n Schwarzen Seelen ihre<br />

Kooperation hoch anrechnen wird.“<br />

„Eben <strong>de</strong>shalb mache ich mir Sorgen“ meinte Yentaro und zupfte mit <strong>de</strong>r Hand am Kinn. „Es steht eine Verän<strong>de</strong>rung<br />

bevor. Ob es eine gute ist, das weiß ich nicht.“<br />

„Langsamer“ bat Elan<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>m bereits Tränen <strong>de</strong>s Schmerzes aus <strong>de</strong>n Augenwinkeln quollen. Seine Arme, auf die <strong>de</strong>r<br />

Leib <strong>de</strong>s Jurakai gestützt war, fühlten sich taub und stumpf an, doch trotz<strong>de</strong>m schickten seine Muskeln ihm heftige<br />

Protestschreie.<br />

„Nein“ wi<strong>de</strong>rsprach Talamà, und Trauer lag in ihrer Stimme. „Wir dürfen keine Zeit verlieren. Wir müssen zur<br />

Oberfläche, Elan<strong>de</strong>r! Wenn wir das geschafft haben, können wir ausruhen.“<br />

„Woher weißt du überhaupt, welchen Weg wir einschlagen müssen?“ schrie <strong>de</strong>r Zwerg verzweifelt und gab sich die<br />

größte Mühe, nicht unter seiner Last zusammenzubrechen. „Ich meine, schließlich bist du blind...“<br />

„Ich benötige die Hilfe meiner Augen nicht, kleiner Freund.“ Talamàs Stimme klang sanft und beruhigend. „Nicht<br />

mehr. Ich habe gelernt, mich auf meine an<strong>de</strong>ren Sinne zu verlassen, und hier unten sind sie mir eine große Hilfe. Ich<br />

rieche und höre, und in meinem Kopf befin<strong>de</strong>t sich beinahe eine Karte <strong>de</strong>r Gänge, die ich kenne. Wir sind jetzt schon<br />

200


lange an <strong>de</strong>n Stollen vorbei, in <strong>de</strong>nen wir zuletzt graben mussten. Ich kenne <strong>de</strong>n Weg noch, doch es wird nicht mehr<br />

lang dauern, bis sich auch meine Ortskenntnis in Wohlgefallen auflöst. Aber bis dahin bitte ich dich, mir zu<br />

vertrauen.“<br />

„Schon in Ordnung“ stöhnte <strong>de</strong>r Dverjae und stemmte Indigos Beine auf seine Schultern. Es war tatsächlich leichter,<br />

die Last so zu beför<strong>de</strong>rn, und ein Seufzer <strong>de</strong>r Erleichterung entfuhr ihm.<br />

Die verzweigten Gänge schienen endlos und fremd, und für je<strong>de</strong> kleine Steigung, die sie <strong>de</strong>r Oberfläche ein Stück<br />

näherbrachte, schien es gleich darauf wie<strong>de</strong>r hinab zu gehen, hinunter in die Tiefen <strong>de</strong>s Bergwerks. Zu allem Übel sah<br />

es auch noch so aus, als wür<strong>de</strong>n manche <strong>de</strong>r Schächte einstürzen, doch bis jetzt war noch kein Weg versperrt gewesen.<br />

Trotz<strong>de</strong>m konnte es nur eine Frage <strong>de</strong>r Zeit sein, bis ihnen die Decke auf <strong>de</strong>n Kopf fiel o<strong>de</strong>r ein Geröllhaufen das<br />

Weiterkommen unmöglich machte.<br />

Es waren ihnen we<strong>de</strong>r Weiße noch Orks begegnet, und auch keiner <strong>de</strong>r Shur-dai hatte sie belästigt. Elan<strong>de</strong>r wußte<br />

nicht, was das zu be<strong>de</strong>uten hatte, doch möglicherweise war die Höllenbrut selbst auf <strong>de</strong>r Flucht. Ihr Meister, <strong>de</strong>r<br />

gewun<strong>de</strong>ne Riesenwurm, hatte eine Verletzung davongetragen und war geflüchtet, obwohl <strong>de</strong>r Zwerg nicht glauben<br />

wollte, daß allein die Wun<strong>de</strong> am Auge das Monstrum verscheucht haben sollte. Nun, es hatte sie in Frie<strong>de</strong>n gelassen,<br />

und allein das zählte, o<strong>de</strong>r nicht? Vielleicht waren die Scharen <strong>de</strong>s Drachen ohne ihren Herren nicht in <strong>de</strong>r Lage,<br />

weiterzu<strong>de</strong>nken, und so verließen sie das sinken<strong>de</strong> Schiff...<br />

Erst jetzt fiel <strong>de</strong>m Dverjae auf, wie sehr sich die Luft verän<strong>de</strong>rt hatte, je weiter sie vorankamen. Es war merklich<br />

kühler gewor<strong>de</strong>n, und auch die Wän<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n waren fester und härter. Waren sie bereits so weit nach oben<br />

vorgedrungen? Elan<strong>de</strong>r konnte seine Vorfreu<strong>de</strong> kaum verbergen. Wenn sie wirklich schon so weit waren, dann<br />

wür<strong>de</strong>n sie die Oberfläche bald erreichen, endlich die Höhlen und Schächte verlassen können, in <strong>de</strong>nen sie für so<br />

lange Zeit gefangen gehalten wor<strong>de</strong>n waren...<br />

„Bis hierher“ ließ Talamà sich unvermittelt vernehmen und machte Halt.<br />

„Was meinst du?“ fragte Elan<strong>de</strong>r verwirrt.<br />

„Die Gerüche in diesen Tunnels sind fremdartig und ungewohnt für mich. Auch die Geräusche hier klingen... an<strong>de</strong>rs.<br />

Wir haben <strong>de</strong>n Punkt erreicht, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Abschied für uns bei<strong>de</strong> be<strong>de</strong>utet.“<br />

„Was willst du damit sagen?“ Der Zwerg ließ Indigo auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n sinken und stellte sich vor seine Freundin. Seine<br />

Lippen bebten, als er erneut fragte: „Was meinst du damit?“<br />

„Wir wer<strong>de</strong>n uns hier trennen, mein tapferer kleiner Freund. Wir sind weit genug gekommen. Du wirst <strong>de</strong>n Weg von<br />

hier ab alleine fin<strong>de</strong>n und brauchst mich nicht mehr. Ich kann nicht mehr zurück an die Oberfläche. Meine... Aufgabe<br />

hier unten ist noch nicht erledigt. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, und es bleibt auch keine Zeit für lange<br />

Worte. Ich danke dir für alles, Elan<strong>de</strong>r. Ich vertraue dir. Du wirst Indigo nach oben bringen, <strong>de</strong>ssen bin ich mir sicher.<br />

Aber ich wer<strong>de</strong> dich nicht begleiten.“<br />

„Was re<strong>de</strong>st du für wirres Zeug, Talamà?“ Tränen stan<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s Kleinen, als er die Hand seiner Gefährtin<br />

faßte und an sich drückte. „Wir haben es gemeinsam soweit geschafft, und wir wer<strong>de</strong>n auch <strong>de</strong>n restlichen Weg<br />

gemeinsam zurücklegen. O<strong>de</strong>r? O<strong>de</strong>r?“<br />

Talamà schüttelte traurig ihren Kopf. Ein zärtliches Lächeln war auf ihre Züge geschrieben, als sie sich bückte und<br />

die Hand <strong>de</strong>s Zwerges küßte. „Nein. Das können wir nicht, kleiner Freund. Ich habe mich von <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Leben<strong>de</strong>n<br />

schon vor einiger Zeit verabschie<strong>de</strong>t. Ich weiß, daß Indigo überleben wird. Er ist stark. Stärker als ich, stärker, als wir<br />

bei<strong>de</strong> auch nur ahnen können, Elan<strong>de</strong>r. Er gehört dorthin“ sie <strong>de</strong>utete vage nach oben „dorthin, wo Himmelfeuer ihn<br />

sehen kann. Aber mein Platz ist ein an<strong>de</strong>rer, mein Freund. Du wirst mich verstehen, wenn die Zeit gekommen ist.“<br />

Kopfschüttelnd zog Elan<strong>de</strong>r die junge Frau an sich heran, <strong>de</strong>ren Gesicht von Narben und Wun<strong>de</strong>n übersät war, und<br />

<strong>de</strong>ren Augen nur noch ziellos in <strong>de</strong>n Höhlen zuckten. Und doch sah sie wun<strong>de</strong>rschön aus im kalten Licht <strong>de</strong>r trüben<br />

Wän<strong>de</strong>. Er holte tief Luft und verzog das Gesicht.<br />

„Bist du sicher?“<br />

Die Jurakai lachte leise auf. „Oh ja. Ganz sicher. Bring du nur diesen Jungen hier fort, dann wer<strong>de</strong> ich dir auf ewig<br />

dankbar sein. Und alles weitere laß meine Sorge sein.“<br />

„Er ist so schwer, Talamà. Ich wer<strong>de</strong> ihn niemals alleine tragen können“ klagte Elan<strong>de</strong>r, doch das Mädchen lächelte<br />

bloß.<br />

„Du wirst es schaffen, kleiner Freund. Doch jetzt beeile dich, bitte. Euer Platz ist nicht in diesen Tiefen. Die<br />

Dunkelheit ist kein schöner Ort, glaub mir. Vor allem nicht für die Ewigkeit.“<br />

Sie preßte ihre Stirn an die Elan<strong>de</strong>rs, wandte sich ab und küßte die bewußtlose Gestalt Indigos.<br />

„Auch von dir muß ich mich nun verabschie<strong>de</strong>n, mein Liebster. Es war schön, dich noch einmal bei mir zu haben.<br />

Doch für uns bei<strong>de</strong> ist hier Schluß.“ Eine Träne fiel von ihren Augen, lan<strong>de</strong>te auf Indigos leblosem Gesicht.<br />

Talamà stand auf und schritt in entgegengesetzter Richtung davon. Elan<strong>de</strong>r wußte nicht, warum sie ihr Leben<br />

verschenkte und nicht mit ihm an die Oberfläche zurückkehrte. Die ganze Zeit über hatten sie bei<strong>de</strong> doch insgeheim<br />

diesen Traum gehegt, <strong>de</strong>r nun endlich in Erfüllung ging, o<strong>de</strong>r nicht? Traurig sah er ihr nach, bis sie von <strong>de</strong>r Finsternis<br />

<strong>de</strong>s Erdreichs verschluckt wur<strong>de</strong>. Nur ihre Schritte hallten noch in seinen Ohren, als er sich <strong>de</strong>m leblosen Körper<br />

Indigos zuwandte.<br />

201


„Jetzt sind nur noch wir zwei übrig, was?“ lachte <strong>de</strong>r Kleine voll Bitterkeit, und winzige Tränen rollten über seine<br />

Wangen. Mit festem Griff packte er <strong>de</strong>n Jurakai unter <strong>de</strong>n Schultern, begann ihn über <strong>de</strong>n gefrorenen Bo<strong>de</strong>n zu<br />

ziehen. Schweißperlen rannen über sein Gesicht und vermischten sich mit <strong>de</strong>n Tränen, die sich in seinem Bart<br />

verfangen hatten. Welcher Lohn war diese Anstrengung wert, fragte <strong>de</strong>r Zwerg sich, als er <strong>de</strong>n schweren Körper<br />

weiter zog.<br />

Der Shat’lan bückte sich unter <strong>de</strong>m Angriff <strong>de</strong>s Orks, schnellte nach oben und ließ sein Schwert in <strong>de</strong>n Brustkorb <strong>de</strong>s<br />

Wesens gleiten. Ein zweiter Angreifer prallte gegen ihn, und nur Glück verhin<strong>de</strong>rte, daß die gegnerische Klinge ihn<br />

aufspießte. Der Hieb streifte seinen Arm, und brennen<strong>de</strong>r Schmerz durchfuhr <strong>de</strong>n Alten. Er stellte sein Schwert quer,<br />

als ein weiterer Schlag <strong>de</strong>r Kreatur auf ihn nie<strong>de</strong>rsauste. Die Schnei<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Orks hämmerte auf das Schwert <strong>de</strong>s<br />

Shat’lan, und erschöpft sank <strong>de</strong>r Mann nach hinten, die Waffe glitt ihm aus <strong>de</strong>r Hand. Der Ork fletschte die Zähne<br />

und hob seine Klinge, um seinem Feind <strong>de</strong>n endgültigen Stoß zu versetzen. In Erwartung <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s biß <strong>de</strong>r Alte die<br />

Zähne aufeinan<strong>de</strong>r und blickte seinem Mör<strong>de</strong>r direkt ins Gesicht.<br />

Doch <strong>de</strong>r konnte seinen Schlag niemals zu En<strong>de</strong> führen. Ein drehen<strong>de</strong>r Schatten wirbelte heran, und zwei dünne<br />

Dolche bohrten sich blitzartig in die Seiten <strong>de</strong>s Orks. Ohne zu zögern wur<strong>de</strong>n sie aus <strong>de</strong>r sich krümmen<strong>de</strong>n Gestalt<br />

gerissen, um anschließend in <strong>de</strong>r Schläfe <strong>de</strong>s Wesens versenkt zu wer<strong>de</strong>n. Blutend brach die Kreatur zusammen, das<br />

lange Schwert noch immer in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n haltend.<br />

„Lendar! Bist du verletzt?“ Saya blickte sich suchend um, doch keine weiteren Angreifer schienen in <strong>de</strong>r Nähe zu<br />

sein.<br />

„Nur leicht“ sagte <strong>de</strong>r Shat’lan erleichtert und faßte sich an die Schulter. Der Stoff verfärbte sich bereits rot, doch <strong>de</strong>r<br />

Alte verzog keine Miene. „Es ist nicht mein Schwertarm. Ich kann kämpfen.“<br />

Saya nickte und ließ ihre Dolche zwischen ihren Fingern kreisen. Lendar sah zur an<strong>de</strong>ren Seite <strong>de</strong>s Höhlenbo<strong>de</strong>ns und<br />

betrachtete die Gestalten, die dort lagen. Es waren min<strong>de</strong>stens acht Orks gewesen, die sie angegriffen hatten...<br />

„Lassene ist tot“ berichtete die Frau betrübt. „Sie wur<strong>de</strong> hinterrücks erstochen. Ich konnte ihr nicht helfen.“<br />

Der alte Shat’lan nickte bedrückt. „Zeit zum Trauern ist jetzt nicht. Wir müssen weiter, Saya. Wenn schon die Orks<br />

fliehen, können auch wir nicht länger hier verweilen.“<br />

„Ich weiß. Vater – o<strong>de</strong>r einer seiner Hauptleute – muß es geschafft haben, <strong>de</strong>n leiten<strong>de</strong>n Kopf <strong>de</strong>r Brut zu töten!“ rief<br />

sie und lief durch <strong>de</strong>n kalten Schacht.<br />

Lendar verfluchte seine Unaufmerksamkeit, während er ihr nachsetzte. Bei <strong>de</strong>r ersten Rotte von Gegnern, die ihnen<br />

entgegenliefen, hatten vier Shat’lan ihr Leben gelassen. Keiner von ihnen hatte die Orks erwartet, und noch dazu<br />

waren es so viele gewesen...<br />

... aber auf die zweite Gruppe, die sich ihnen entgegengestellt hatte, hätte er vorbereitet sein müssen. Er machte sich<br />

schwere Vorwürfe wegen Lassenes Tod. Das Mädchen hätte nicht sterben müssen, wären sie nur ein wenig<br />

vorsichtiger gewesen! Erbost rannte <strong>de</strong>r Alte Saya hinterher, die sich bereits einen Vorsprung erlaufen hatte. Wenn sie<br />

ums Leben kam, wür<strong>de</strong> er Keldar niemals mehr unter die Augen treten können. Egal, was es kostete, er wür<strong>de</strong> sie<br />

nötigenfalls mit seinem Leben verteidigen!<br />

„Saya!“ Sein lauter Ruf hallte durch <strong>de</strong>n frostigen Gang und prallte von <strong>de</strong>n eisigen Wän<strong>de</strong>n ab. „Saya!“<br />

Die Shat’lan verharrte und wartete, bis Lendar zu ihr aufgeschlossen hatte.<br />

„Wir müssen zusammenbleiben“ befahl er ihr und faßte ihre Hand. „Bis wir wie<strong>de</strong>r oben sind, trennen wir uns nicht<br />

mehr, hast du verstan<strong>de</strong>n? Es ist zu gefährlich!“<br />

Saya nickte. Auch sie fühlte sich wesentlich besser in Lendars Nähe. Gemeinsam rannten sie durch <strong>de</strong>n langen Flur,<br />

<strong>de</strong>r ständig aufwärts führte. Nach wenigen Sekun<strong>de</strong>n erreichten sie eine Gabelung, die ihnen die Qual <strong>de</strong>r Wahl ließ.<br />

Bei<strong>de</strong> Wege stiegen an, und Saya entschied aus einem Gefühl heraus, <strong>de</strong>n Linken zu nehmen, als ein schriller Ton<br />

durch <strong>de</strong>n Schacht hallte und ihr das Blut in <strong>de</strong>n A<strong>de</strong>rn gefrieren ließ.<br />

„Weißmolche!“ schrie Lendar und hielt seine Waffe kampfbereit.<br />

Saya trat zurück, stieß gegen die kalte Wand und ließ hoffnungslos ihren Atem entweichen. Zwei Weiße kamen aus<br />

<strong>de</strong>m einen Gang auf sie zu, und die Luft vibrierte bereits von <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>r Worte. Sie faßte ihren Gefährten am<br />

Ärmel und zog ihn zu sich heran, bis sie bei<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r Wand lehnten.<br />

„Es ist vorbei“ flüsterte die junge Frau und umklammerte ihre Dolche. Keiner von ihnen beherrschte die Worte, und so<br />

hoffte sie wenigstens auf inneren Frie<strong>de</strong>n, wenn <strong>de</strong>r Tod sie ereilte. „Wir können nichts mehr tun.“<br />

Die bei<strong>de</strong>n Hochgewachsenen staksten durch <strong>de</strong>n Gang, ihre langen Körper gebeugt unter <strong>de</strong>r niedrigen Decke. Ihre<br />

milchigen Augen schimmerten in einem unheimlichen, farblosen Glanz, und ihre Mün<strong>de</strong>r bebten, als ihr Zauber an<br />

Stärke gewann. Einer von ihnen hob die Hand, und noch im selben Moment brach das Wort hervor, bran<strong>de</strong>te durch<br />

<strong>de</strong>n engen Stollen.<br />

Saya suchte Lendars Hand, doch <strong>de</strong>r Alte hielt noch immer sein Schwert umklammert. Blut troff von seinem Ärmel,<br />

und sein Blick war entschlossen und fest.<br />

„Für Keldar!“ schrie <strong>de</strong>r Shat’lan und stieß sich von <strong>de</strong>r gefrorenen Wand ab. Er begann zu rennen, und noch<br />

während Saya begriff, daß <strong>de</strong>r Alte sich gera<strong>de</strong> für sie opferte, wur<strong>de</strong> er schon von <strong>de</strong>n Wellen <strong>de</strong>s Zaubers erfaßt und<br />

durchgerüttelt. Seine Gestalt verblaßte im Wirbel <strong>de</strong>r Worte, dann erschien sie wie<strong>de</strong>r, heller und strahlen<strong>de</strong>r als<br />

202


zuvor. Glitzern<strong>de</strong> Funken umsprühten seinen Körper, als er es tatsächlich fertig brachte, <strong>de</strong>m Sturm zu wi<strong>de</strong>rstehen.<br />

Er bäumte sich auf, bei<strong>de</strong> Beine auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n. Irgendwo vor ihm stan<strong>de</strong>n die Weißen und betrachteten das<br />

ungewöhnliche Schauspiel interessiert.<br />

Plötzlich <strong>de</strong>hnte sich Lendars Leib, wur<strong>de</strong> so weit in die Länge gezogen, daß es künstlich und fast unwirklich<br />

anmutete, wie <strong>de</strong>r Alte in <strong>de</strong>r Höhle stand. Dann endlich verebbte <strong>de</strong>r Zauber, und <strong>de</strong>r tote, wi<strong>de</strong>rnatürlich gestreckte<br />

Körper fiel klatschend zu Bo<strong>de</strong>n. Die bei<strong>de</strong>n Weißen würdigten die Leiche keines Blickes mehr, als sie sich Saya<br />

zuwandten.<br />

Die junge Frau stieß <strong>de</strong>n angehaltenen Atem aus und bemerkte, daß sie noch immer ihre Dolche umklammert hielt. Es<br />

waren nur Sekun<strong>de</strong>n gewesen, in <strong>de</strong>nen Lendar sich gegen die Worte gestellt hatte, doch die Zeit war ihr<br />

vorgekommen wie Stun<strong>de</strong>n. Vollkommen allein stand sie nun <strong>de</strong>n Weißmolchen gegenüber, die sie vernichten<br />

wür<strong>de</strong>n, wie ein kleines Kind einen Käfer zerdrückt. Aber sie wür<strong>de</strong> nicht wehrlos sterben, schwor sie sich, als die<br />

Mün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Hochgewachsenen sich öffneten und zu einem weiterem Wort ansetzten. Sie faßte die Waffe in ihrer<br />

Rechten fester, holte aus und ließ sie auf eine <strong>de</strong>r weißen Gestalten zuschnellen.<br />

Wie beiläufig wich die Kreatur <strong>de</strong>m gezielten Wurf aus, brachte ihren schlanken Körper mühelos in Sicherheit. Saya<br />

verfluchte sich und warf <strong>de</strong>n zweiten Dolch, und diesmal zielte sie auf <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Gegner. Doch wie<strong>de</strong>r flog die<br />

Klinge weit am eigentlichen Ziel vorbei und prallte irgendwo gegen eine Wand. Nun, soviel zur Verteidigung.<br />

Die Weißen kamen ihr jetzt näher, gingen Schritt für Schritt auf sie zu, während <strong>de</strong>r gräßliche Gesang anschwoll und<br />

sich in Höhen steigerte, die <strong>de</strong>r Shat’lan das Trommelfell zerreißen wollten.<br />

Vorsichtig wandte Saya sich herum, glitt entlang an <strong>de</strong>r festen Wand, die sie in ihrer Bewegungsfähigkeit<br />

einschränkte. Sie wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Gestalten, die nun nur noch wenige Fuß entfernt waren, nicht entkommen können. Doch<br />

vielleicht bot sich eine an<strong>de</strong>re Möglichkeit, wenn sie nur mehr Spielraum hätte...<br />

Und dann krachte die aufgestaute Macht eines Wortes durch die Höhle, ließ <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n erzittern und die Wän<strong>de</strong><br />

beben. Tosen<strong>de</strong> Schläge pochten rasend und wellengleich durch die Luft, und rote Schlieren kün<strong>de</strong>ten von <strong>de</strong>r<br />

vernichten<strong>de</strong>n Härte <strong>de</strong>s Zaubers.<br />

Doch anstatt von <strong>de</strong>n Wellen erfaßt zu wer<strong>de</strong>n, blieb die verblüffte Saya unversehrt an <strong>de</strong>r Wand, kein Lüftchen regte<br />

sich um sie herum. Sie blickte auf, und auch die Weißen schienen verwirrt, als ihre Mün<strong>de</strong>r noch immer dabei waren,<br />

zu singen und <strong>de</strong>n To<strong>de</strong>szauber für sie zu spinnen. Also waren die Weißmolche gar nicht die Ursache für diesen<br />

Zauber! fuhr es <strong>de</strong>r Frau durch <strong>de</strong>n Kopf. Doch wer o<strong>de</strong>r was war dann verantwortlich für die donnern<strong>de</strong>n, roten<br />

Ringe, die sich jetzt durch <strong>de</strong>n Schacht zogen?<br />

„Lauf!“ ertönte eine weibliche Stimme, die Saya niemals zuvor gehört hatte. Der Ruf stammte von einer Frau, die<br />

durch <strong>de</strong>n abfallen<strong>de</strong>n Schacht auf die Weißen zurannte. In wil<strong>de</strong>r Panik versuchten die Hochgewachsenen nun, ihren<br />

Zauber zu En<strong>de</strong> zu bringen, doch das Unterfangen war vergeblich. Die rennen<strong>de</strong> Gestalt <strong>de</strong>r Frau prallte mit ihnen<br />

zusammen, und auch ihre schnellen Reflexe konnten die Weißmolche nicht vor <strong>de</strong>n ausgebreiteten Armen <strong>de</strong>s<br />

Mädchens bewahren. Die drei gingen zu Bo<strong>de</strong>n, rutschten über die steinige Er<strong>de</strong>, und noch während dieser seltsamen<br />

Umarmung gewann das mächtige Wort <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong>n Konsistenz, entfaltete seine wahre Macht. Die drei Gestalten<br />

prallten gegen eine Wand, und allesamt gingen ihre Körper in Flammen auf, als Hitzewellen durch <strong>de</strong>n Schacht<br />

strömten. Die Frau und auch die Weißen waren nur noch ein einziger glutrot lo<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>r Ball. Flammenzungen leckten<br />

an Sayas Klei<strong>de</strong>rn, doch die Shat’lan hatte sich bereits halbwegs in Sicherheit gebracht, befand sich außerhalb <strong>de</strong>s<br />

unmittelbaren Wirkungsbereiches <strong>de</strong>s Wortes.<br />

Keuchend lief sie einen Stollen hinauf, <strong>de</strong>r frostig weiß im Schein von Fackeln glitzerte, hörte hinter sich das Bersten<br />

einer Explosion. Sie schloß die Augen und lief weiter, achtete nicht auf das, was sich hinter ihrem Rücken ereignete.<br />

Nur die Steigung hinauf, um die nächste Ecke, die Sicherheit verhieß! Eine weitere Explosion erschütterte die<br />

komplexe unterirdische Anlage, und Saya vernahm wie im Traum, daß <strong>de</strong>r Tunnel einstürzte, in <strong>de</strong>m Lendar auf so<br />

grausame Weise <strong>de</strong>n Tod gefun<strong>de</strong>n hatte. Ein rascher, ängstlicher Blick zur Decke zeigte, daß <strong>de</strong>r Gang, durch <strong>de</strong>n sie<br />

gera<strong>de</strong> lief, stabil blieb, doch auf diese scheinbare Sicherheit legte sie keinen Wert. Sie rannte und rannte, und als sich<br />

vor ihr eine dunkle Gestalt im trüben Licht <strong>de</strong>r Höhle abzeichnete, wünschte sie sich, daß sie wenigstens eine ihrer<br />

Waffen behalten hätte.<br />

Mühselig schleifte Elan<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n schlaffen, son<strong>de</strong>rbar schweren Körper Indigos über die Er<strong>de</strong>, stöhnte unter <strong>de</strong>r<br />

Anstrengung. Der lange Tunnel, in <strong>de</strong>m er sich nun schon seit einiger Zeit befand, schien kein En<strong>de</strong> nehmen zu<br />

wollen, doch immerhin ging es stetig aufwärts. Vor wenigen Minuten hatte es, tief unter ihm zwar, doch trotz<strong>de</strong>m<br />

spürbar, mehrere kräftige Beben gegeben. Den Geräuschen nach zu urteilen musste einer <strong>de</strong>r Tunnel eingestürzt sein,<br />

und er hoffte, daß seine Freundin sich zu <strong>de</strong>m Zeitpunkt nicht dort aufgehalten hatte. Der Kleine schüttelte verwirrt<br />

<strong>de</strong>n Kopf, während er <strong>de</strong>n Leib <strong>de</strong>s Jurakai weiterzerrte.<br />

Wie hatte Talamà ihn nur allein lassen können? Wenn man die frostige Luft und die gefrorenen Wän<strong>de</strong> bedachte,<br />

dann war es wohl tatsächlich nicht mehr weit bis zu einem Ausgang, aber das Mädchen hatte sich nicht um diesen<br />

Umstand gekümmert. Was immer sie auch zu erledigen hatte unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, was war wichtiger, als diesem<br />

Höllenloch endlich zu entkommen? Auch jetzt gestaltete es sich nicht gera<strong>de</strong> leicht, <strong>de</strong>n Weg an die Oberfläche zu<br />

fin<strong>de</strong>n, doch die Jurakai zog es vor, wie<strong>de</strong>r hinab zu gehen, ins Dunkle...<br />

203


Nein, berichtigte sich <strong>de</strong>r Zwerg. Für das Mädchen war es nirgendwo mehr hell gewesen. Für sie war es gleich, ob<br />

heller Sonnenschein o<strong>de</strong>r totale Finsternis sie umgaben. Es gab nur Schwärze, und das für die Ewigkeit. Aber er<br />

konnte sich nicht vorstellen, daß Talamà ihr Leben so einfach wegwerfen wollte. Die langen Stun<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen sie<br />

gemeinsam an <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n geschürft und darüber philosophiert hatten, wie ihr Leben aussehen wür<strong>de</strong>, wenn sie erst<br />

einmal hier herauskämen, hatten ihn davon überzeugt, daß die Kleine <strong>de</strong>n Tod nicht weniger fürchtete als er. Und<br />

trotz<strong>de</strong>m war sie nicht mehr hier, bei ihm. Der Dverjae hoffte, daß Talamà es schaffen wür<strong>de</strong>, ebenfalls zu fliehen,<br />

daß sie nachkommen wür<strong>de</strong>, nur etwas später...<br />

Doch die Worte <strong>de</strong>s Abschieds waren so endgültig gewesen, als wenn die Jurakai gewußt hätte, daß dies das letzte Mal<br />

sein wür<strong>de</strong>, an <strong>de</strong>m sie miteinan<strong>de</strong>r sprachen. Ihr Gesicht war so... traurig gewesen, und trotz<strong>de</strong>m hatte ein<br />

Hoffnungsschimmer in ihm geglüht. Das war vielleicht mehr, als er jemals wie<strong>de</strong>r auf seinen Zügen tragen wür<strong>de</strong>. Er<br />

knurrte, als das verdammte Gewicht Indigos seine Arme taub wer<strong>de</strong>n ließ, und mit einem leisen Schrei hämmerte er<br />

mit <strong>de</strong>n Fäusten auf die Brust <strong>de</strong>s Jurakai.<br />

Trug dieser leblose Haufen Fleisch Schuld an Talamàs Verschwin<strong>de</strong>n? War es wegen diesem Kerl, <strong>de</strong>r sich schon an<br />

<strong>de</strong>r Schwelle <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s befand, daß das Mädchen ihn verlassen hatte? Tränen kullerten über Elan<strong>de</strong>rs Wangen, als er<br />

auf <strong>de</strong>n Brustkorb <strong>de</strong>s Jurakai trommelte. Er konnte ihn nicht weiter schleppen! Es war unmöglich, unmöglich. Seine<br />

Glie<strong>de</strong>r waren stumpf von <strong>de</strong>r Kälte und <strong>de</strong>n Schmerzen, und seine Gedanken waren bei Talamà.<br />

Wie sollte er <strong>de</strong>nn diesen verdammten Leib nach oben bringen, wenn er selbst kaum in <strong>de</strong>r Lage war, sich noch weiter<br />

zu quälen? Die Lippen <strong>de</strong>s liegen<strong>de</strong>n Jungen waren bereits blau verfärbt, und aus <strong>de</strong>r Wun<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r Stirn rann<br />

scharlachrotes Blut, das im düsteren Stollen wie Rost wirkte. Nein, er hatte keine an<strong>de</strong>re Wahl. Auch wenn er Talamà<br />

sein Versprechen gegeben hatte, Indigo hier herauszubringen... wenn er ihn nicht liegenließ, so wür<strong>de</strong>n sie bei<strong>de</strong> in<br />

dieser Höhle verrecken! So leid es ihm tat, er konnte nicht an<strong>de</strong>rs, <strong>de</strong>r Jurakai mußte hier unten—<br />

Ein Schatten schleu<strong>de</strong>rte ihn fort vom Körper <strong>de</strong>s Mannes, preßte <strong>de</strong>n übertölpelten Zwerg gegen <strong>de</strong>n eisigen Bo<strong>de</strong>n.<br />

Hän<strong>de</strong> faßten ihn brutal an seinen Kopf und drückten ihn an die Er<strong>de</strong>. Unter einer Kapuze betrachteten ihn zwei<br />

Augen, schwärzer und unbarmherziger als die Nacht. Der feste Griff war so überraschend und schnell gekommen, daß<br />

Elan<strong>de</strong>r nicht imstan<strong>de</strong> war, sich zu wi<strong>de</strong>rsetzen. Kampflos ergab er sich <strong>de</strong>m Angreifer und verfluchte <strong>de</strong>n<br />

bewußtlosen Jurakai, ohne <strong>de</strong>n er sich niemals in dieser mißlichen Lage befin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>.<br />

„Wer bist du, und was macht Asan bei dir?“ sagte das Wesen mit weiblicher und nicht unangenehm klingen<strong>de</strong>r<br />

Stimme. „Sprich!“<br />

„Ich weiß nicht, wer Ihr seid o<strong>de</strong>r wer dieser Asan ist“ keuchte <strong>de</strong>r Zwerg und rang nach Luft. „Aber ich versuche, das<br />

Leben dieses Mannes dort zu retten.“ Seine Augen huschten nach links, zur Gestalt Indigos.<br />

Die schwarzen Löcher starrten weiterhin, doch nach kurzer Zeit lockerte sich <strong>de</strong>r Griff um seinen Hals, und er war<br />

frei. Verwun<strong>de</strong>rt sah die Frau ihn an, schien ihn zu durchdringen mit ihrem Blick.<br />

„Mein Name ist Elan<strong>de</strong>r“ fügte <strong>de</strong>r Dverjae hinzu und versuchte zu erkennen, wer diese Person war, die ihn gera<strong>de</strong><br />

angegriffen hatte. Doch die junge Frau hatte anscheinend entschie<strong>de</strong>n, daß von ihm keine Gefahr drohte, und sich<br />

<strong>de</strong>m Jurakai zugewandt. Sorgsam untersuchte sie seine Wun<strong>de</strong>n, prüfte seine Atmung und brachte seine Glie<strong>de</strong>r in<br />

eine angenehmere Lage.<br />

„Aus welchem Grund willst du ihm helfen?“<br />

Elan<strong>de</strong>r hob erstaunt die Brauen und suchte nach einer passen<strong>de</strong>n Antwort. „Weil er ein Freund Talamàs ist. Und<br />

Talamàs Freun<strong>de</strong> sind auch meine Freun<strong>de</strong>. Außer<strong>de</strong>m bat sie mich, auf ihn Acht zu geben und ihn zur Oberfläche zu<br />

bringen.“<br />

Wie<strong>de</strong>r musterte die Schwarzäugige <strong>de</strong>n Zwerg, und wie<strong>de</strong>r fühlte <strong>de</strong>r Kleine sich durchdrungen von <strong>de</strong>m kühlen<br />

Blick. Dann erwärmten sich die harten Züge, und die Frau zog ihre Kapuze vom Kopf. Zum Vorschein kamen ein<br />

Schwall schwarzer Haare und ein zartes, schlankes Gesicht.<br />

„Mein Name ist Saya. Dieser Mann heißt Asan, und er gehört zu mir.“<br />

„Talamà sagte, sein Name lautete Indigo“ sagte Elan<strong>de</strong>r verwun<strong>de</strong>rt.<br />

„Das stimmt in gewisser Weise ebenfalls, ist aber jetzt nicht von Be<strong>de</strong>utung.“ Saya stemmte <strong>de</strong>n Körper Indigos hoch,<br />

und sofort eilte <strong>de</strong>r Zwerg ihr zu Hilfe. „Ich danke dir für <strong>de</strong>ine Bemühungen, Elan<strong>de</strong>r. Laß uns nun gehen. Ich hatte<br />

vor nicht allzu langer Zeit eine Begegnung mit ein paar Weißmolchen, die ich nicht wie<strong>de</strong>rholen möchte. Wir bei<strong>de</strong><br />

sind wahrscheinlich nicht einmal mehr fähig, uns gegen einen Ork zur Wehr zu setzen.“<br />

In diesem Punkt stimmte <strong>de</strong>r Dverjae ihr uneingeschränkt zu. Er war bereits so erschöpft, daß er <strong>de</strong>n Jurakai sogar<br />

hatte liegen lassen wollen, doch dieses Geheimnis behielt er besser für sich. Falls sie wirklich in die Fänge von Orks<br />

geraten sollten, sah es schlecht für sie bei<strong>de</strong> aus.<br />

„Du sagtest, du wür<strong>de</strong>st das Mädchen namens Talamà kennen“ meinte Saya nach einer Weile.<br />

„Bis vor kurzem war sie sogar noch bei mir.“ Der trübe Unterton in Elan<strong>de</strong>rs Stimme entging <strong>de</strong>r Shat’lan nicht.<br />

„Und was... geschah dann?“<br />

„Sie sagte, daß sie mich nicht bis an die Oberfläche begleiten könne. Sie sagte...“ Die Stimme <strong>de</strong>s Zwerges brach, als<br />

er die Worte seiner Freundin wie<strong>de</strong>rholte. „Sie sagte, daß sie sich bereits von <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Leben<strong>de</strong>n verabschie<strong>de</strong>t<br />

hätte. Wie immer sie das auch gemeint haben mag.“<br />

204


Saya verlangsamte ihren Schritt, und mit einem leichten Lächeln, das Zuneigung zum Ausdruck brachte, blickte sie<br />

<strong>de</strong>m Kleinen in die Augen.<br />

„Sie meinte es genau so, wie sie es gesagt hat. Ich schul<strong>de</strong> ihr mein Leben, Elan<strong>de</strong>r. Durch ihre Hand starben zwei<br />

Weißmolche, die mich ansonsten getötet hätten. Sie selbst hat <strong>de</strong>n Angriff nicht überlebt. Sie hat die Monster wie eine<br />

Rachegöttin mit sich in <strong>de</strong>n Tod gerissen.“<br />

Der starre Blick Elan<strong>de</strong>rs fixierte die kahle Höhlenwand. „Ich wußte, daß sie nicht zurückkehren wür<strong>de</strong>“ murmelte er<br />

so leise, daß die Shat’lan seine Worte nicht verstehen konnte. „Ich wollte sie nicht gehen lassen.“<br />

„Ich weiß nicht, woher sie wußte, daß ich bedroht wer<strong>de</strong>“ sagte Saya mit Bewun<strong>de</strong>rung, „aber ohne sie wäre ich jetzt<br />

nicht hier.“<br />

„Ja“ pflichtete <strong>de</strong>r Zwerg bei. „Sie war sehr merkwürdig in letzter Zeit..“<br />

Saya schüttelte ihren Kopf. „Ich glaube, wenn wir erst einmal hier herauskommen, wer<strong>de</strong>n wir uns eine Menge zu<br />

erzählen haben.“<br />

„Falls wir hier herauskommen.“<br />

„Ja.“<br />

„Ist dies... alles wirklich geschehen?“ fragte Indigo mit zittern<strong>de</strong>r Stimme. Das eben Gesehene überstieg all seine<br />

Ängste und Fürchte, lehrte in, was Grausamkeit tatsächlich be<strong>de</strong>utete.<br />

„Es ist die Geschichte meines Volkes“ sagte die traurige alte Shat’lan. „Und es gibt nur einen Weg, das Leid zu<br />

been<strong>de</strong>n.“<br />

„Ich weiß“ sagte Indigo. „Ich weiß, was ich zu tun habe. Ich danke Euch. Ich danke Euch für alles.“<br />

„Nein, Shat’lan. Ich danke dir. Wir alle sind dir zu tiefstem Dank verpflichtet.“<br />

Die wun<strong>de</strong>rsame Gestalt <strong>de</strong>r Alten verblaßte, verschmolz mit <strong>de</strong>m schwarzen, fließen<strong>de</strong>n Hintergrund und wur<strong>de</strong> eins<br />

mit <strong>de</strong>m Rest <strong>de</strong>r Welt.<br />

„Wartet“ rief Indigo ihr überrascht nach. „Ihr habt mir Euren Namen nicht mitgeteilt!“<br />

Er wartete, doch keine Antwort drang aus <strong>de</strong>n Leeren <strong>de</strong>s Raumes zu ihm. Die Bil<strong>de</strong>r und Geräusche, die Gefühle, die<br />

ihm die Shat’lan vermittelt hatte, waren verschwun<strong>de</strong>n. Doch das Wissen wallte noch immer in seinem Denken, füllte<br />

seinen leben<strong>de</strong>n Verstand.<br />

Als sein Geist in eine an<strong>de</strong>re Sphäre <strong>de</strong>r Traumwelt eindrang, wußte er bereits, was zu tun war.<br />

205


IX<br />

Weiß und Schwarz<br />

Dann, in <strong>de</strong>s Nebels wahrstem Zeichen<br />

muß Schatten nicht vor Sonne weichen<br />

und höchste Reihen er durchbricht<br />

in <strong>de</strong>s roten <strong>Mond</strong>es Licht<br />

Aus <strong>de</strong>m Buche „Rendar“<br />

Keldars Gestalt zeichnete sich schemenhaft vor einem verschneiten Hügel ab. Die Kapuze tief über das Haupt gezogen<br />

und mit verbissenem Gesicht erteilte er Befehle und Anweisungen an sein Volk. Ein grimmiges Grinsen breitete sich<br />

über seinem Bart aus, als er die laufen<strong>de</strong>n Männer und Frauen sah. Sie hatten gute Arbeit geleistet. Im Umkreis von<br />

mehreren Meilen waren alle Ein- und Ausgänge gesichert, und fliehen<strong>de</strong> Orks o<strong>de</strong>r Weiße, die unvorsichtigerweise<br />

die Flucht wagten, wur<strong>de</strong>n ohne Gna<strong>de</strong> nie<strong>de</strong>rgestreckt. Die Lindwürmer hatten sich schon seit langer Zeit nicht mehr<br />

blicken lassen, möglicherweise waren sie mit ihrem Vater - o<strong>de</strong>r was auch immer das Monstrum gewesen sein mochte<br />

- zusammen im Untergrund verschwun<strong>de</strong>n.<br />

Ja, durch die Tunnels wür<strong>de</strong> niemand mehr ungesehen herein- o<strong>de</strong>r herausschlüpfen können. Irgendwann, wenn <strong>de</strong>r<br />

stürmische Angriff verkraftet war, wür<strong>de</strong> er mit verschie<strong>de</strong>nen Gruppen von Shat’lan noch einmal unter die Er<strong>de</strong><br />

gehen müssen, um dort die letzten Reste <strong>de</strong>r Höllenbrut zu vernichten. Es durften keine Orks und Weißmolche übrig<br />

bleiben, die weiteres Unheil anrichten konnten. Der einzig vernünftige Weg war die komplette Ausrottung <strong>de</strong>r<br />

seltsamen Orkspezies, welche in Rubens Erdreich hauste. Doch das hatte Zeit.<br />

Die Nacht, die nun herrschte, war tief und hatte sich wie eine Decke über das Land gelegt. Es war, als wür<strong>de</strong> die<br />

Stimme Rubens mit stillem Schweigen antworten, als hätte die Welt selbst wie<strong>de</strong>r Ruhe gefun<strong>de</strong>n. Sogar <strong>de</strong>r Schnee<br />

hatte aufgehört zu fallen. Die weißen Flächen lagen glitzernd und anmutig da, schienen stumm zu warten, unter <strong>de</strong>m<br />

hellen Sternenhimmel schimmernd. Hier hatte alles begonnen, ging es <strong>de</strong>m Anführer durch <strong>de</strong>n Kopf. Hier, direkt<br />

unter ihm, mußte das Übel einen Weg gefun<strong>de</strong>n haben, um durch die Er<strong>de</strong> hervorzubrechen. Der Ort war gut gewählt,<br />

<strong>de</strong>nn die Hochebene bot sich förmlich an, um Angriffe auf die schwachen Städte zu wagen, die von <strong>de</strong>n Bauern<br />

angesie<strong>de</strong>lt wor<strong>de</strong>n waren. Auch störten hier keine größeren Wäl<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r Felsen, die <strong>de</strong>n Weg an die Oberfläche<br />

versperrten. Was immer es auch war, das diese Hor<strong>de</strong> geleitet hatte, es hatte genau gewußt, was es tat.<br />

Aber die Gefahr war gebannt. Keldar schüttelte <strong>de</strong>n Kopf, als er daran dachte, daß nicht viel gefehlt hätte, daß er und<br />

seine Leute nach ihrem unterirdischen Kampf <strong>de</strong>n Orks in die Arme gelaufen wären. Die Hor<strong>de</strong>, die die Shat’lan<br />

angegriffen hatte, wur<strong>de</strong> nur durch das beherzte Eingreifen von einer Schar Menschen vernichtet. Wären sie nicht<br />

gewesen, wäre Jel’ari nun tot. Vielleicht waren nicht alle Manur ein so feiger Haufen, wie er dachte.<br />

Ein Windstoß zog an Keldars Umhang, als er durch <strong>de</strong>n Schnee stapfte und sich zu <strong>de</strong>n Männern gesellte, die <strong>de</strong>n<br />

nächsten Eingang bewachten. Ringsum ragten weiße Zelte aus <strong>de</strong>m mondbeschienenen, gefrorenen Teppich. Das<br />

Lager sah nun zwar ein wenig zerrüttet aus, nach<strong>de</strong>m ein paar Pfeile hineingerauscht waren, doch es erfüllte seinen<br />

Zweck. Keldar betrachtete es anerkennend. Es war ein richtiges kleines Dorf, das sich dort im verschneiten Hügelland<br />

darbot. Feuer glühten in <strong>de</strong>r Nacht, Kessel wur<strong>de</strong>n über die Flammen geschoben, damit Schnee geschmolzen und<br />

Wasser gewonnen wer<strong>de</strong>n konnte. Auch die Pfer<strong>de</strong>, untergebracht in größeren Zelten und manche ziemlich verstört,<br />

mußten versorgt wer<strong>de</strong>n, und so waren erste Trupps auf <strong>de</strong>m Weg zu nahen Siedlungen <strong>de</strong>r Manur, die zwar zerstört<br />

waren, unter <strong>de</strong>ren Trümmern sich aber nichts<strong>de</strong>stotrotz brauchbare Dinge fin<strong>de</strong>n ließen.<br />

„Alles in Ordnung?“ fragte <strong>de</strong>r große Mann und legte einer Wache die Hand auf die Schulter. Der Angesprochene<br />

wandte <strong>de</strong>n Kopf und nickte ernst.<br />

„Es kommen viele Fein<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m Loch – doch nur sehr wenige Shat’lan.“ Der traurige Blick traf Keldars Augen, <strong>de</strong>r<br />

bedauernd <strong>de</strong>n Kopf senkte.<br />

„Wir alle wußten, daß es <strong>de</strong>n Tod be<strong>de</strong>uten kann, dort hinabzusteigen. Je<strong>de</strong>r Shat’lan war sich <strong>de</strong>ssen vollkommen<br />

bewußt. Niemand sollte sich Vorwürfe wegen ihres To<strong>de</strong>s machen. Wenn wir dieser Brut nicht Einhalt geboten hätten,<br />

wäre es früher o<strong>de</strong>r später sowieso auf einen Kampf hinausgelaufen.“<br />

Der Verhüllte nickte erneut. „Ihr sorgt Euch um eure Tochter Saya?“<br />

„Sie weilt noch nicht wie<strong>de</strong>r unter uns. Ich fürchte, daß sie nicht mehr zu uns zurückfin<strong>de</strong>n wird.“<br />

206


Entmutigt wandte Keldar sich ab und ging auf das provisorische Lager zu. Aus <strong>de</strong>n Zelten drangen Laute an sein Ohr,<br />

schmerzerfüllt und in Pein, und Mitleid ergriff sein Herz, als er an all die Shat’lan dachte, <strong>de</strong>nen zwar die Flucht aus<br />

<strong>de</strong>n Stollen geglückt, doch trotz<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Tod bestimmt war.<br />

Aber etwas hatte sich verän<strong>de</strong>rt! Er merkte es an je<strong>de</strong>m einzelnen Mann, <strong>de</strong>m er in die Augen blickte, an <strong>de</strong>r Haltung<br />

je<strong>de</strong>r Frau, die ihm über <strong>de</strong>n Weg lief. Etwas hatte sich verän<strong>de</strong>rt, hatte die Shat’lan aufgerüttelt. Die Tatsache, daß<br />

das Volk sich aus seinen Malasae erhoben, sich vereint und wie<strong>de</strong>r gemeinsam gekämpft hatte, wühlte lang<br />

verborgene Gefühle in <strong>de</strong>n älteren <strong>de</strong>r Anwesen<strong>de</strong>n auf, und auch die jüngeren waren sich <strong>de</strong>r seltsamen Macht<br />

bewußt, die das Volk ausstrahlte. Keldar wußte nicht, wie es weitergehen wür<strong>de</strong>, doch endlich hatten die Shat’lan<br />

wie<strong>de</strong>r zueinan<strong>de</strong>r gefun<strong>de</strong>n, hatten sie Seite an Seite gestan<strong>de</strong>n und sich gegen einen Feind verteidigt, <strong>de</strong>r viel größer<br />

und stärker erschienen war! Vielleicht wür<strong>de</strong> dieses Ereignis noch weitaus mehr bewirken als die bloße Vernichtung<br />

<strong>de</strong>r Drachenbrut...<br />

„Keldar!“ Der Ruf stammte von Geleas, einem <strong>de</strong>r Hauptmänner. Mit großen Schritten lief er auf <strong>de</strong>n bärtigen Mann<br />

zu, breitete erfreut die Arme aus. „Es ist schön, dich zu sehen!“ Erleichtert umarmten die bei<strong>de</strong>n sich, dann faßte <strong>de</strong>r<br />

Ankömmling sein Gegenüber an <strong>de</strong>n Schultern.<br />

„Wir haben sie geschlagen, Keldar! Die kläglichen Überbleibsel, die noch in <strong>de</strong>n Schächten umherfleuchen, wer<strong>de</strong>n<br />

weggewischt wie Dreck.“<br />

„Deine Gruppen waren also erfolgreich, Geleas. Das höre ich gern.“<br />

Geleas legte <strong>de</strong>n Kopf schief und betrachtete Keldar skeptisch. „Was hast du, alter Freund? Es ist doch etwas mit dir,<br />

o<strong>de</strong>r etwa nicht? Wir haben unserem Gegner einen vernichten<strong>de</strong>n Schlag zugefügt! Das ist, fin<strong>de</strong> ich, doch ein Anlaß<br />

zur Freu<strong>de</strong>.“<br />

„Mit unserem Sieg haben wir wahrscheinlich das Land, die Manur, Jurakai und Dverjae vor <strong>de</strong>m sicheren En<strong>de</strong><br />

bewahrt, und nicht zuletzt natürlich uns selbst. Es ist wirklich eine gute Nachricht, daß unser Volk seit Jahrhun<strong>de</strong>rten<br />

wie<strong>de</strong>r in die Schlacht gezogen ist. Doch meine Sorge ist ganz an<strong>de</strong>rer Natur. Meine Tochter Saya ist noch nicht<br />

wie<strong>de</strong>rgekehrt. Sie hat sich in <strong>de</strong>n Stollen von mir getrennt und sich auf eigene Faust aufgemacht, o<strong>de</strong>r vielleicht<br />

wur<strong>de</strong> sie auch einfach abgedrängt, und es war nicht ihre Schuld. Es waren ein paar meiner besten Männer bei ihr,<br />

aber trotz<strong>de</strong>m...“<br />

„Das ist keine gute Neuigkeit, mein Freund. Aber gib die Hoffnung nicht auf. Der Strom <strong>de</strong>r Flüchtlinge reißt nicht<br />

ab. Die meisten von ihnen sind Manur und Orks, aber es sind auch unzählige Shat’lan darunter. Deine Tochter ist<br />

noch lange nicht verloren.“<br />

„Ich danke dir, daß du mir Mut machst, Geleas. Deine Worte—„<br />

„Was ist das?“ entfuhr er Keldars Gegenüber, <strong>de</strong>r sich plötzlich abwandte. Bei<strong>de</strong> sahen sie in die Richtung <strong>de</strong>r<br />

Zeltstadt, in <strong>de</strong>r sich eine Gruppe von Shat’lan und Manur versammelt hatte. Rufe wur<strong>de</strong>n laut, und Finger <strong>de</strong>uteten<br />

hoch zum Firmament. Auch die Anführer blickten nach oben, ließen ihre Blicke über <strong>de</strong>n kalten Nachthimmel gleiten.<br />

Dort, noch weit entfernt, doch trotz<strong>de</strong>m bereits riesengroß, zeichnete sich die Silhouette einer fliegen<strong>de</strong>n, mächtigen<br />

Gestalt ab. Flügel, so gigantisch wie das gesamte Lager, wur<strong>de</strong>n auf und nie<strong>de</strong>r gepreßt, als das Wesen sich durch die<br />

Lüfte schwang. Und während es flog, funkelte es, beschienen vom hellen <strong>Mond</strong>, in einer ungebändigten Pracht.<br />

„Ein El’cha<strong>de</strong>rar“ stieß Keldar hervor und stolperte nach vorn. „Aber dieses Exemplar muß min<strong>de</strong>stens... es muß<br />

min<strong>de</strong>stens zweitausend Fuß in <strong>de</strong>r Länge messen! Geleas, sieh ihn dir an!“<br />

Mit weit aufgerissenen Augen stan<strong>de</strong>n die bei<strong>de</strong>n alten Shat’lan im verschneiten Lager, starrten, wie all die an<strong>de</strong>ren<br />

auch, auf die riesige Kreatur, die sich ihnen entgegenschwang.<br />

„Ich habe noch nie einen El’cha<strong>de</strong>rer gesehen, <strong>de</strong>r auch nur halb so groß wäre“ ließ sich Geleas vernehmen. „Dieser<br />

hier ist so... er ist so...“ Die aufgeregten Worte <strong>de</strong>s Shat’lan verklangen, als er wie<strong>de</strong>r zum Himmel emporschaute.<br />

„Er ist so an<strong>de</strong>rs“ been<strong>de</strong>te Keldar <strong>de</strong>n unfertigen Satz.<br />

Noch immer starrten sie hinauf zum silbernen Leib <strong>de</strong>s Wesens, das sich ihnen schnell näherte.<br />

„Wohin <strong>de</strong>nkst du, wird er unterwegs sein?“<br />

„Ich weiß es nicht“ keuchte Sayas Vater mit Bewun<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>r Stimme. „Er ist schlohweiß, Geleas. Sieh ihn dir an,<br />

er ist weiß!“<br />

„Kannst du ihn spüren?“<br />

Keldar schloß die Augen, versuchte, sich <strong>de</strong>m Drachen zu nähern. Er schaffte es nicht.<br />

„Nein. Er ist vollkommen an<strong>de</strong>rs als je<strong>de</strong>r El’cha<strong>de</strong>rar, <strong>de</strong>r mir jemals begegnet ist. Ich kann nicht einmal annähernd<br />

bis zu ihm vordringen.“<br />

„Was sollte ein solches Geschöpf dazu treiben, bis hierher, in diese Weiten Rubens, vorzustoßen?“<br />

„Wer weiß?“ sagte Keldar vage.<br />

Und dann war das mächtige Tier über ihnen. Seine Schwingen warfen weitflächige Schatten über die<br />

schneeverwehten, glatten Hänge. Doch die Geschwindigkeit <strong>de</strong>s Drachen hatte sich längst verlangsamt, das Wesen<br />

glitt nur noch im Gleitflug über <strong>de</strong>n Shat’lan dahin. Es erzeugte keinen Laut, und kein Lüftchen regte sich, obwohl<br />

die schiere Masse <strong>de</strong>r Kreatur schon einen reißen<strong>de</strong>n Wind erzeugen sollte. Mit ein paar leichten Schlägen <strong>de</strong>r<br />

Schwingen, die jedoch kein Unheil anrichteten, ließ sich <strong>de</strong>r El’cha<strong>de</strong>rar herabsinken aus <strong>de</strong>r Höhe, war schon bald<br />

fast am Bo<strong>de</strong>n angelangt. Der riesige Leib, <strong>de</strong>r sich silbrig vom Schnee abhob, lan<strong>de</strong>te mit einer grotesken Sanftheit<br />

207


und zur Größe völlig unpassen<strong>de</strong>n Eleganz zwischen <strong>de</strong>n Hügeln. Er berührte we<strong>de</strong>r die Zelte <strong>de</strong>s Lagers, noch befand<br />

sich sonst eine Gestalt in seiner Nähe.<br />

Der Kopf <strong>de</strong>s Wesens, groß wie eine uralte, ausgewachsene Eiche, legte sich auf <strong>de</strong>n Schnee. Die Nüstern <strong>de</strong>s Tieres<br />

stießen Dampfwolken aus, die die glitzern<strong>de</strong> Pracht vor ihm schmelzen ließen, das Gras unter <strong>de</strong>r gefrorenen Schicht<br />

freilegten. Der El’cha<strong>de</strong>rar wartete.<br />

„Meine Güte“ flüsterte Geleas achtungsvoll. „Ich hätte nieman<strong>de</strong>m auch nur ein Wort geglaubt, <strong>de</strong>r mir erzählt hätte,<br />

daß es einen El’cha<strong>de</strong>rar in dieser Größer gibt...“<br />

„Niemand hätte das...“ Keldar hatte sich wie<strong>de</strong>r gefangen, starrte <strong>de</strong>n Drachen jedoch unverwandt an. „Ich schätze,<br />

daß er hier bleiben wird, bis er bekommt, was er will.“ Zweifelnd schüttelte er <strong>de</strong>n Kopf. „Was immer das auch sein<br />

mag. Geleas, mein Leben lang habe ich am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gebirge gelebt, habe diese Wesen beobachtet und studiert... und<br />

dann geschieht so etwas und verwirft all meine Theorien und Studien über diese Tiere. Ich wünschte, Vinvi<strong>de</strong>nes<br />

könnte jetzt hier sein. Er hätte seine wahre Freu<strong>de</strong> allein an <strong>de</strong>r Existenz dieses El‘cha<strong>de</strong>rar.“<br />

Noch immer staunend betrachtete Geleas das Wesen, das seinen Kopf nun zwischen zwei gigantische Klauen gebettet<br />

hatte. Leises Schnauben erklang, als <strong>de</strong>r Drache in <strong>de</strong>r Ferne atmete. Das weiße <strong>Mond</strong>licht spiegelte sich auf seinen<br />

Schuppen.<br />

„Was immer er will, Keldar, er scheint keine Bedrohung für uns darzustellen.“<br />

„So scheint es. Ich hoffe nur, daß wir herausfin<strong>de</strong>n, warum er hierher gekommen ist. Aber auch wenn die Ankunft <strong>de</strong>s<br />

El’cha<strong>de</strong>rar ein Omen darstellt o<strong>de</strong>r was auch immer verheißen mag – die Arbeit muß weitergehen. Wir müssen<br />

trotz<strong>de</strong>m wachsam sein und die Ausgänge bewachen, möglicherweise strenger als bisher. Und auch die Verwun<strong>de</strong>ten<br />

wer<strong>de</strong>n nicht warten wollen, bis ihnen geholfen wird. Wir dürfen uns nicht ablenken lassen.“<br />

„Du hast natürlich Recht. Ich wer<strong>de</strong> gehen, um <strong>de</strong>m Volk auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite <strong>de</strong>s Lagers die seltsame Lage<br />

verständlich zu machen.“<br />

Stolz <strong>de</strong>utete Keldar auf die Zeltstadt, in <strong>de</strong>r das heftige Treiben bereits wie<strong>de</strong>r in seinen alten Gang zurückgefun<strong>de</strong>n<br />

hatte. „Du wirst ihnen nicht viel erklären müssen, Geleas. Wir zwei Narren sind anscheinend die einzigen, die <strong>de</strong>m<br />

El’cha<strong>de</strong>rar so viel Aufmerksamkeit geschenkt haben.“ Er lachte leise auf und verabschie<strong>de</strong>te sich von seinem Freund.<br />

Die Shat’lan hatten sich tatsächlich nicht so sehr um die Ankunft <strong>de</strong>s Drachen gekümmert, wie <strong>de</strong>r Alte es getan<br />

hatte. Keldar wußte nicht, ob er nun <strong>de</strong>n Drachen o<strong>de</strong>r sein Volk verwun<strong>de</strong>rlicher fin<strong>de</strong>n sollte. Aber er wußte, daß<br />

die Männer und Frauen, die hier Ordnung zu schaffen versuchten, instinktiv das Richtige taten. Sie alle wollten nichts<br />

weiter, als die verhaßten Gestalten <strong>de</strong>r Orks zu Fall bringen, die aus <strong>de</strong>n Löchern im Bo<strong>de</strong>n strömten, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />

Verletzten die dringend benötigte Hilfe zu gewähren. Nun, hier schien es nicht mehr viel für ihn zu tun zu geben.<br />

Seine Autorität war während <strong>de</strong>s Kampfes in <strong>de</strong>n Höhlen ein unerläßlicher Vorteil gewesen, um die Gruppe selbst bei<br />

widrigsten Umstän<strong>de</strong>n zusammenzuhalten, doch hier und jetzt war sie so überflüssig wie ein Fluß, <strong>de</strong>r kein Wasser<br />

trug. Das einzig vernünftige war nun, sich <strong>de</strong>n Tätigkeiten anzupassen und gegebenenfalls zu versuchen, ein wenig<br />

Ruhe zu fin<strong>de</strong>n. Doch vor <strong>de</strong>m Morgengrauen wollte er noch nicht aufgeben. Entschlossen schritt er auf ein paar<br />

Shat’lan zu, die einen <strong>de</strong>r Ausgänge umringten.<br />

Die Wachen warfen ihm einen flüchtigen Blick zu, konzentrierten sich dann wie<strong>de</strong>r auf das Loch. Strategisch verteilt<br />

waren ein paar von ihnen so plaziert, daß sie mit Hilfe <strong>de</strong>r Worte mühelos angreifen<strong>de</strong> Weiße vernichten konnten.<br />

Nichts konnte <strong>de</strong>n Verteidigungsgürtel durchdringen, <strong>de</strong>r um die Schächte herum aufgebaut wor<strong>de</strong>n war.<br />

Keldar zog seine eigene Klinge und postierte sich neben einem jungen Shat’lan, <strong>de</strong>r die dunkle Höhle mißtrauisch im<br />

Auge behielt. Er nickte einen stummen Gruß, als <strong>de</strong>r Anführer sich zu ihm gesellte.<br />

„Ist die Anzahl <strong>de</strong>r Flüchtlinge groß?“ fragte er <strong>de</strong>n Mann, <strong>de</strong>r seine Waffe gezückt hielt.<br />

„Hauptsächlich Manur. Die meisten von ihnen sind so zerschun<strong>de</strong>n und abgemagert, daß für sie wahrscheinlich je<strong>de</strong><br />

Hilfe zu spät kommt. Ein paar Orks haben ebenfalls versucht, hier herauszukommen.“ Er zeigte mit ausgestrecktem<br />

Schwertarm zu einer Stelle, an <strong>de</strong>r sich ein Haufen aufgestapelter Kadaver befand. „Weiter als bis hierher kamen sie<br />

nicht. Und von <strong>de</strong>n Weißmolchen hat sich an dieser Stelle noch überhaupt keiner blicken lassen. Worüber ich<br />

zugegebenermaßen auch sehr froh bin. Ich habe gehört, daß diese Bastar<strong>de</strong> hinterhältige und starke Gegner sein<br />

sollen.“<br />

„Das sind sie“ pflichtete Keldar <strong>de</strong>m Jungen bei.<br />

„Ich...“ begann <strong>de</strong>r Shat’lan, zögerte dann jedoch. Nach<strong>de</strong>m er sich einen innerlichen Ruck gegeben hatte, fuhr er<br />

fort: „Wißt Ihr, warum dieser El’cha<strong>de</strong>rar hier ist, Keldar?“<br />

„Diese Frage kann ich dir nicht beantworten, Junge. Ich habe ein solches Exemplar noch nie gesehen.“<br />

„Es ist nur...“ Die Stimme <strong>de</strong>s Jungen war nun lediglich ein Flüstern, und Keldar mußte sich nach vorne lehnen, um<br />

überhaupt noch etwas zu verstehen. „Es heißt, daß dieser Drache Weißklaue wäre. Aber ich weiß nicht, ob ich diesen<br />

Gerüchten Glauben schenken soll...“<br />

Der Shat’lanführer gab keine Antwort, sein nach<strong>de</strong>nklicher Blick starrte in weite Ferne. Weißklaue, Himmelfeuers<br />

Sohn. Er hatte noch nicht einmal daran gedacht, daß <strong>de</strong>r El’cha<strong>de</strong>rar eine lebendig gewor<strong>de</strong>ne Figur aus <strong>de</strong>r<br />

Schöpfungsgeschichte sein könnte. Doch alles, was er sah, sprach für diese Behauptung. Mit einem flauen Gefühl<br />

blickte er zu <strong>de</strong>m Drachen, <strong>de</strong>r still an seinem Platz lag, das Treiben im Schnee jedoch mit wachsamen Augen<br />

beobachtete.<br />

208


„Ich habe dir bereits gesagt, daß ich es nicht weiß“ sagte Keldar grübelnd. „Obwohl ich dieses Gerücht über<br />

Weißklaue doch sehr anzweifele... aber ich habe schon vor langer Zeit aufgehört, son<strong>de</strong>rbare Dinge zu verleugnen. Es<br />

kann also durchaus sein, daß dieses Wesen das ist, was es zu sein scheint.“<br />

„Aber das wür<strong>de</strong> be<strong>de</strong>uten, daß <strong>de</strong>r El’cha<strong>de</strong>rar so alt wie diese Welt selbst ist!“<br />

„Ich sagte nicht, daß diese Möglichkeit wahrscheinlich wäre. Ich <strong>de</strong>nke eher, daß—„<br />

Ein fester Schlag auf die Schulter ließ Keldar verstummen, und als er sich umdrehte, blickte er in die aufgerissenen<br />

Augen eines Shat’lan, <strong>de</strong>n er zu kennen glaubte. Der Mann atmete schwer, als er versuchte, seine Botschaft in Worte<br />

zu fassen.<br />

„Ihr müßt mir zu einem Ausgang folgen, Keldar! Er liegt auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite dieses Hügels!“<br />

„Was ist <strong>de</strong>nn so wichtig?“ verlangte <strong>de</strong>r hochgewachsene Mann zu erfahren, während er bereits zu Laufen begonnen<br />

hatte.<br />

„Es ist Eure Tochter, Herr. Sie ist hier. Und es heißt, auch An’chassar wäre zurückgekehrt.“<br />

Das letzte Steinchen <strong>de</strong>s Mosaiks fügte sich perfekt zwischen die restlichen Teile, die nun ein komplettes Ganzes<br />

ergaben. Endlich war es offensichtlich, und die Wahrheit konnte nicht mehr ungesehen bleiben.<br />

Das Geysa...<br />

... das Geysa aus <strong>de</strong>m dunklen Drachenblut, das so alt wie die Zeit selbst war...<br />

... es brannte in Indigos Körper, er fühlte, wie es durch seine A<strong>de</strong>rn rann. Es war mehr als eine bloße Droge. Es war<br />

<strong>de</strong>r Abstieg in eine an<strong>de</strong>re Welt, eine Welt <strong>de</strong>r Träume und Visionen. Jetzt wußte <strong>de</strong>r Jurakai endlich, was zu tun war.<br />

Das Wissen durchspülte seine Gedanken, in <strong>de</strong>nen das Feuer <strong>de</strong>s Geysa noch immer brannte. Es hatte ihn auch<br />

körperlich verän<strong>de</strong>rt, so wie es seinen Geist verän<strong>de</strong>rt hatte...<br />

Indigo öffnete die Augen, blinzelte durch einen blutigen Film, <strong>de</strong>r seine Pupillen be<strong>de</strong>ckte. Die scharlachfarbenen<br />

Schleier be<strong>de</strong>ckten sein ganzes Gesicht, flossen an seinem Hals entlang und tropften von seinem Leib. Ein kalter<br />

Wind streichelte seine Haut, und Kälte stahl die Wärme seines Körpers.<br />

Er sah hinauf in <strong>de</strong>n Nachthimmel, und über ihm, verfärbt durch das Blut in seinen Augen...<br />

... <strong>de</strong>r rote <strong>Mond</strong>.<br />

Endlich.<br />

Endlich zeigte er sich.<br />

Er lachte, als sich ihm das son<strong>de</strong>rbare Bild darbot, und unter Schmerzen hob er seinen Arm und wischte sich über sein<br />

Gesicht. Stimmen erklangen um ihn herum, doch er schenkte ihnen keine Beachtung. Noch nicht. Erst, als er seine<br />

wun<strong>de</strong> Haut gänzlich von <strong>de</strong>r scharlachroten Flüssigkeit befreit hatte, öffnete er seine Augen erneut, blickte in die<br />

besorgten Mienen vieler Shat’lan.<br />

„Es ist soweit“ murmelte er heiser, und seine Stimme brach, während er sprach. Doch die sofort herrschen<strong>de</strong> Stille<br />

ließ sogar seine leisen Worte laut erscheinen im kalten Tal.<br />

„Es ist soweit“ wie<strong>de</strong>rholte er, und ein zufrie<strong>de</strong>nes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Die Avalare hatte<br />

Recht mit <strong>de</strong>m, was sie behauptete... allerdings auf eine Weise, die die Alte nicht hatte vorausahnen können.“ Viele<br />

Blicke trafen ihn, und die Shat’lan, die ihn umringten, betrachteten ihn verwirrt. „Die Zeit <strong>de</strong>s Roten <strong>Mond</strong>es ist<br />

angebrochen“ erklärte er und sah hinauf in <strong>de</strong>n Himmel.<br />

Saya trat vor ihn und umschloß seine Hand mit ihren kühlen Fingern. „Asan“ war alles, was sie sagte. Es waren keine<br />

weiteren Worte mehr nötig, um ihm ihre Gefühle mitzuteilen. Indigo richtete sich vom eisigen Bo<strong>de</strong>n auf, auf <strong>de</strong>m er<br />

lag, legte liebevoll einen Arm um die Shat’lan. Er musterte sie, lächelte dann.<br />

„Du trägst unser Kind in <strong>de</strong>inem Leib“ flüsterte er in ihr Ohr, und erstaunt wich sie vor ihm zurück, betrachtete ihn<br />

verwirrt.<br />

„Woher...“<br />

„Ich weiß es einfach“ sagte er fest und <strong>de</strong>utete auf die schwärzliche Kleidung, die an seinem Leib hing. „Das<br />

Drachenblut, Saya. Es verän<strong>de</strong>rt. Es läßt... mich Dinge sehen. Dinge, die ich ohne das Geysa niemals hätte<br />

wahrnehmen können.“<br />

„An’chassar!“ Die neue Stimme, die nun erklang, gehörte einer Person, die Indigo wohl vertraut war. Erfreut blickte<br />

er zu Keldar auf, <strong>de</strong>r rennend über einen schneeverwehten Hang lief. „Und Saya!“ In inniger Umarmung fielen Vater<br />

und Tochter sich um <strong>de</strong>n Hals, doch schon wenig später löste sich <strong>de</strong>r Anführer wie<strong>de</strong>r.<br />

„Deine Rückkehr... sie ist für uns alle von großer Be<strong>de</strong>utung, An’chassar. Es ist, als wärst du von <strong>de</strong>n Toten<br />

auferstan<strong>de</strong>n.“<br />

„Möglicherweise hast du Recht. Es gibt vieles, das wir besprechen müssen, Keldar. Nicht zuletzt wur<strong>de</strong>n mir viele<br />

Informationen über die Kriege vorenthalten, die das Menschenvolk gegen uns führte.“<br />

„Das hat Zeit“ beschwichtigte <strong>de</strong>r große Mann und stützte <strong>de</strong>n schwachen Körper Indigos. „Zuallererst wirst du<br />

versorgt wer<strong>de</strong>n. Deine Wun<strong>de</strong>n sind tief, An’chassar. Du wirst die Hilfe eines Heilers benötigen.“<br />

„Es bleibt keine Zeit“ wi<strong>de</strong>rsprach <strong>de</strong>r Junge, und in seiner Stimme lag eine Endgültigkeit, die <strong>de</strong>n alten Shat’lan<br />

zusammenfahren ließ. „Die Prophezeiung <strong>de</strong>r Avalare geht in Erfüllung, Keldar. Und ich bin die Person, <strong>de</strong>ren<br />

Aufgabe es sein wird, dies zu gewährleisten.“<br />

209


„Es ist bereits geschehen, mein Sohn“ berichtete Sayas Vater <strong>de</strong>m Verwun<strong>de</strong>ten. „Das Land ist befreit von <strong>de</strong>m<br />

Dunkel, das über ihm lag. Die Brut <strong>de</strong>s Drachen ist zurückgeschlagen.“<br />

Erneut erklang Indigos Lachen. Unpassend. Unwirklich.<br />

„Das war <strong>de</strong>r Fehler <strong>de</strong>r Avalare, mein Freund. Auch sie glaubte, daß <strong>de</strong>r Reim auf die Kreaturen anspielte, die sich<br />

unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> eingenistet haben – o<strong>de</strong>r hatten. Sie beging einen Fehler – sie dachte nicht nach.“<br />

Der skeptische Blick, <strong>de</strong>n Keldar und Saya ihm schenkten, ließ Indigo fortfahren. „Dies ist <strong>de</strong>r Anfang“ teilte <strong>de</strong>r<br />

Jurakai ihnen mit, und zum ersten Mal wandte er sein Gesicht so zum Licht <strong>de</strong>s <strong>Mond</strong>es, daß die hellen Strahlen<br />

direkt auf seine Augen fielen. Erschrocken wich Saya ein Stück zurück, und Keldar schnappte nach Luft.<br />

„Es ist also wahr“ sagte <strong>de</strong>r Anführer mit Ehrfurcht in <strong>de</strong>r Stimme. Indigo senkte seinen Blick, doch alle umstehen<strong>de</strong>n<br />

Shat’lan hatten bereits gesehen, was Anlaß zur Verwun<strong>de</strong>rung gab. Die Augen <strong>de</strong>s Jurakai waren völlig schwarz, kein<br />

bißchen Weiß schimmerte mehr in ihnen. Selbst seine Augäpfel waren finster und dunkel.<br />

„An’chassar ist mehr Shat’lan, als wir alle jemals hätten ahnen können“ sagte Keldar und nickte Indigo zu. Dieser<br />

löste sich von <strong>de</strong>r stützen<strong>de</strong>n Gestalt, und auf wackeligen Beinen richtete er <strong>de</strong>n Blick gen Himmel. Der stumme,<br />

weiße <strong>Mond</strong> schien auf ihn herab, ba<strong>de</strong>te ihn in hellem Licht.<br />

„Das Geysa fließt in meinen A<strong>de</strong>rn!“ verkün<strong>de</strong>te er <strong>de</strong>m Himmelskörper, während ihm Blutstropfen von <strong>de</strong>n Wangen<br />

rannen und <strong>de</strong>n Schnee in Scharlach tränkten. Er sah erst zu Keldar, dann drehte er <strong>de</strong>n Kopf, schien nach etwas<br />

Bestimmten zu suchen. Er mußte nicht lange Ausschau halten, bis er <strong>de</strong>n gigantischen El’cha<strong>de</strong>rar ent<strong>de</strong>ckte, <strong>de</strong>r<br />

zwischen <strong>de</strong>n Hügeln lag.<br />

„Das Geysa fließt in meinen A<strong>de</strong>rn, Keldar. Es ist das echte Geysa – so alt wie die Zeit selbst. Es gibt mir Kraft, und<br />

seine Macht ist weitaus größer, als du dir im entferntesten vorstellen kannst. Ich bitte euch, mir zu folgen“ richtete er<br />

seine Worte an alle, die ihn umgaben, und ohne Umschweife eilten mehrere Shat’lan an seine Seite, stützten ihn, als<br />

er einen Hügel hinaufstapfte. Trotz <strong>de</strong>r Schmerzen, die ihm allein das Atmen bereiten mußte, ließ er sich nichts<br />

anmerken, biß die Zähne zusammen unter <strong>de</strong>m Laufen. Auf <strong>de</strong>r Kuppe <strong>de</strong>s kleinen Berges streckte er <strong>de</strong>n Arm aus,<br />

<strong>de</strong>utete auf <strong>de</strong>n Drachen.<br />

„Es gibt vieles, über das wir sprechen müssen, Keldar. Vieles, das vorbereitet wer<strong>de</strong>n muß.“<br />

Im düsteren Zwielicht einiger Kerzen saß Dynes an Toms Bett und hielt die große Pranke, die kraftlos in seinen<br />

Hän<strong>de</strong>n lag wie die Pfote eines ausgestopften Bären. Der Mann war aufgewacht, doch seine Verletzungen ließen ein<br />

Aufstehen nicht zu. Mit einem Lächeln betrachtete er seine Frau, anschließend seinen Freund und Paves.<br />

„Wir habe es geschafft, nicht wahr?“<br />

Dynes nickte. „Das haben wir. Allerdings haben wir es nicht ganz allein vollbracht.“<br />

„Wer sind all diese Leute?“ fragte Tom, während Jen ihm durchs Haar strich. Überall um sie herum liefen Shat’lan,<br />

versorgten Verwun<strong>de</strong>te und brachten weitere Menschen, Jurakai o<strong>de</strong>r Angehörige ihres Volkes herein. Schreie<br />

drangen aus Mün<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>nen bald kein Laut mehr entweichen wür<strong>de</strong>, und Stöhnen entwich <strong>de</strong>njenigen, die ihren<br />

Schmerz noch unter Kontrolle halten konnten.<br />

„Es sind Shat’lan, mein Freund.“<br />

„Shat’lan? Aras, ich dachte, die Geschichten über dieses Volk seien nur Märchen?“ Tom versuchte sich aufzurichten,<br />

um einen besseren Überblick zu bekommen. Sofort presste <strong>de</strong>r Ritter ihn nach unten. Trotz seiner Größe konnte Toms<br />

geschwächter Körper nichts ausrichten gegen die Hän<strong>de</strong>, die ihn an <strong>de</strong>r Schulter packten. Ächzend ließ er sich<br />

zurückfallen.<br />

„Die Shat’lan leben“ sagte Dynes achselzuckend. „Ich weiß genau so wenig über sie wie du. Sieht so aus, als wären sie<br />

noch einen Tick seltsamer als die Jurakai, die wir aufgelesen haben. Aber anscheinend haben sie es geschafft, die<br />

Orkhor<strong>de</strong>n zu vernichten. Ich habe mit einem von ihnen gesprochen. Scheinen nicht viel von <strong>de</strong>n Menschen zu<br />

halten.“<br />

„Wahrscheinlich ebensowenig, wie du von ihnen“ sagte Tom schmunzelnd und streckte die Hand nach Paves aus.<br />

„Und wie ist es dir ergangen, junger Mann?“<br />

Paves nickte an<strong>de</strong>utungsweise, sagte jedoch nichts. Sein Blick war seltsam leer.<br />

„Es war zuviel für ihn, Tom“ ließ sich Dynes vernehmen. „Seit wir gegen die Orks geritten sind, spricht er nicht<br />

mehr. Ich hoffe, daß er sich wie<strong>de</strong>r fängt.“<br />

„Natürlich“ sagte <strong>Arathas</strong>’ Freund. „Du hast soviel durchgemacht, da wirst du das auch noch überstehen, mein<br />

Großer!“<br />

Noch immer starrte Paves ausdruckslos nach vorn, dann verän<strong>de</strong>rten sich seine Augen auf einmal, und eine Träne<br />

quoll daraus hervor. Er schloß die Li<strong>de</strong>r. Tom zog ihn zu sich heran und drückte ihn mit all <strong>de</strong>r Kraft, die ihm<br />

verblieben war, an sich. Mit <strong>de</strong>r freien Hand fuhr er durch das rote Haar <strong>de</strong>s Jungen und atmete sorgenvoll ein, als <strong>de</strong>r<br />

Kleine sich nicht dagegen wehrte. Normalerweise haßte er es, wenn man in seinen Haaren wühlte.<br />

„Wieviele sind gefallen?“ fragte Tom nach einer Zeit, in <strong>de</strong>r <strong>Arathas</strong> und Jen still gewartet hatten.<br />

„Zu viele“ sagte eine frem<strong>de</strong> Stimme unerwartet. Ihr Besitzer kam näher, ein paar Shat’lan wie einen Schweif hinter<br />

sich herziehend. Der Frem<strong>de</strong> trug mehrere Verbän<strong>de</strong> und blutete aus kleineren Wun<strong>de</strong>n an Stirn und Hals. Der<br />

Großteil seiner Gestalt war unter einer Kutte verborgen.<br />

210


„Zu viele“ wie<strong>de</strong>rholte sie. Sie nickte <strong>de</strong>m Ritter und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Anwesen<strong>de</strong>n zu. „Bitte erlaubt mir, mich<br />

vorzustellen. Mein Name lautet Asan An’chassar.“<br />

„Dynes“ sagte Dynes knapp. „Was wollt Ihr?“<br />

„Mich bedanken. Ich habe gehört, daß Ihr und Euer Gefolge es wart, die uns zu Hilfe kamen, als meine Brü<strong>de</strong>r das<br />

Lager errichteten. Ohne Euch wären sie nun tot. Mein Dank gebührt Euch.“<br />

„Durch diesen Dank wer<strong>de</strong>n die Toten auch nicht wie<strong>de</strong>r lebendig“ knurrte Dynes und verdrehte die Augen.<br />

„Aras!“ zischte Tom und faßte seinen Freund am Arm. Paves saß einfach nur da, hörte vielleicht zu, vielleicht gingen<br />

die Worte auch bloß an ihm vorbei. „Ich bitte Euch, er meint es nicht so. Er ist—„<br />

„Die Gefallenen sind gefallen“ fiel Dynes ihm ins Wort. „Ihr Shat’lan mußtet Verluste hinnehmen, ebenso wie die<br />

Jurakai und Dverjae. Und wir sind auch nicht unverschont geblieben.“<br />

„Ich danke Euch trotz<strong>de</strong>m für Eure Hilfe“ sagte An’chassar und wandte sich an einen Mann hinter ihm. „Keldar, bitte<br />

sorge dafür, daß die Gruppe dieses Mannes versorgt und behan<strong>de</strong>lt wird, so weit es in unseren Kräften steht. Wir—„<br />

„Bastard“ sagte Dynes, erhob sich und wollte <strong>de</strong>m Shat’lan am Arm fassen. Noch bevor er An’chassar erreicht hatte,<br />

prallte er gegen <strong>de</strong>n Mann namens Keldar und wur<strong>de</strong> nun seinerseits festgehalten. Er funkelte die Gruppe von<br />

Shat’lan zornig an.<br />

„Wenn Ihr uns einen Gefallen tun wollt, dann wer<strong>de</strong>t Ihr alle versorgen, die verwun<strong>de</strong>t sind! Nicht bloß die Handvoll,<br />

die mit mir gekommen ist!“<br />

Asan schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. Er zog die Kapuze über seine Haare und entblößte die finsteren, pechschwarzen Augen.<br />

Überall um ihn herum schnappten an<strong>de</strong>re Shat’lan überrascht nach Luft. Dynes starrte ihn unverwandt an.<br />

„Also?“<br />

„Wir haben nicht annähernd genügend Platz und soviele Heiler zur Verfügung, daß wir eine ausreichen<strong>de</strong> Versorgung<br />

gewährleisten können. Es tut mir leid, aber Ihr solltet zufrie<strong>de</strong>n sein, daß Eurem Gefolge geholfen wird.“<br />

„Für wen haltet Ihr Euch eigentlich?“ zischte Dynes. „Ihr seid nichts weiter als ein Kind, das einmal mit <strong>de</strong>n Waffen<br />

eines Erwachsenen spielen durfte! Wie könnt Ihr es wagen—„<br />

„Ich bin An’chassar, Sir <strong>Arathas</strong>!“ Asans hatte <strong>de</strong>n Kopf gehoben, und trotz offensichtlicher Schmerzen zog er die<br />

Schultern nach oben und verzog die Lippen. „Ich bin <strong>de</strong>r Auserwählte <strong>de</strong>r Shat’lan. Und ich bin nur meinem Volk<br />

etwas schuldig, nicht etwa Eurem. Ihr und Eure Männer wer<strong>de</strong>n behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n, wie es Euch gebührt. Wenn ich<br />

überhaupt für jeman<strong>de</strong>n die Verantwortung trage, dann noch am ehesten für die Jurakai. Alle an<strong>de</strong>ren wer<strong>de</strong>n selbst<br />

zurecht kommen müssen.“<br />

Dynes nickte mit einem bitteren Lächeln. „Dann verschwin<strong>de</strong>t doch zu Euren Jurakai.“<br />

An’chassar neigte das Haupt, machte auf <strong>de</strong>m Absatz kehrt und verließ das Zelt schweigend. Die restlichen Shat’lan,<br />

die mit ihm gekommen waren, zogen sich ebenfalls zurück.<br />

„Hurensohn“ knurrte Dynes und schlug mit <strong>de</strong>r Faust gegen eine Verstrebung <strong>de</strong>s Zeltes, so stark, daß die gesamte<br />

Konstruktion zu wackeln begann.<br />

Hun<strong>de</strong>rte von Shat’lan hatten sich am Fuße eines großen Hügels versammelt.<br />

Die Gemüter waren unruhig und aufgeregt, <strong>de</strong>nn das Wort eilte durch die Reihen, daß An’chassar zurückgekehrt war.<br />

Sein Name war bereits bekannt, diejenigen, die Asans Ritt auf <strong>de</strong>m Rücken <strong>de</strong>s El’cha<strong>de</strong>rar beigewohnt hatten,<br />

verbreiteten die Kun<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r gesamten Zeltstadt. Die seltsame Geschichte <strong>de</strong>s Jurakai, <strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>r Obhut <strong>de</strong>r<br />

Avalare ruhte, hatte sogar ihren Weg bis in entfernte Städte <strong>de</strong>r Shat’lan gefun<strong>de</strong>n. Die Masse, die sich nun unter<br />

Keldars Befehl eingefun<strong>de</strong>n hatte, drängte darauf, <strong>de</strong>n Mann zu sehen, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Jurakai kam.<br />

Indigo, nun in seine schwarze Robe gehüllt, trat vor. Neben ihm stand Keldar, ebenfalls in dunkle Gewän<strong>de</strong>r<br />

geklei<strong>de</strong>t. Schweigen umfing die bei<strong>de</strong>n, als die Blicke <strong>de</strong>s Volkes Asan musterten. Erwartungsvolle Gesichter sahen<br />

zu ihm auf, betrachteten ihn stumm.<br />

„Shat’lan“ begann er, lächelte dann. „Mein Volk. Keldar Uleandaris hat euch hier zusammenkommen lassen, weil es<br />

eine wichtige Nachricht gibt, die allen Männern und Frauen mitgeteilt wer<strong>de</strong>n muß. Zuerst einmal will ich euch<br />

danken. Nur durch <strong>de</strong>n Einsatz unseres Volkes konnte das Übel zurückgedrängt und vernichtet wer<strong>de</strong>n, das Ruben<br />

bedroht hat. Die vielen unter euch, die in <strong>de</strong>n finsteren Schächten um ihr und unser aller Leben gekämpft haben,<br />

waren es, die das Land vor einer Katastrophe bewahrten. Wie ich erfahren habe, haben ein paar von euch – unter<br />

ihnen auch mein Freund Keldar – gegen einen schier übermächtigen Gegner gekämpft, einen Lindwurm von<br />

verheeren<strong>de</strong>n Ausmaßen. Auch ich habe mich diesem Untier stellen müssen. Und ich fand heraus, daß dieses Wesen<br />

<strong>de</strong>r Drachen war, <strong>de</strong>n man gemeinhin als „Grauseele“ kennt.“ Ein Raunen ging durch die Menge, und auch Keldar<br />

entfuhr ein entsetzter Laut, als er die Neuigkeit hörte. „Diese Kreatur, <strong>de</strong>ren Geist uralt und schlecht ist, war allein<br />

verantwortlich für die Belagerung <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s. Während ich mich in <strong>de</strong>r Gewalt <strong>de</strong>r Bestie befand, wur<strong>de</strong>n mir die<br />

Pläne mitgeteilt, die das Monstrum hegte. Es waren Pläne voller Übel und Grausamkeit, aber durch das beherzte<br />

Eingreifen <strong>de</strong>r Shat’lan konnte das Wesen besiegt wer<strong>de</strong>n.“<br />

Ein Jubeln ging durch die Menge, doch Keldar gemahnte zur Ruhe, und sofort legte sich Stille über <strong>de</strong>n Platz. Er hob<br />

eine Hand und bat Indigo, ihm das Wort zu erteilen. Der Jurakai nickte.<br />

211


„Wir haben Grauseele nicht getötet“ rief <strong>de</strong>r Anführer mit fester Stimme. „Vielleicht ist es überhaupt nicht möglich,<br />

diese gottlose Kreatur vom Angesicht <strong>de</strong>r Welt zu entfernen, doch wie <strong>de</strong>m auch sei: Dem Drachen gelang die Flucht.<br />

Er erlitt schwere Wun<strong>de</strong>n, während er sich davonmachte, und möglicherweise wird er nie wie<strong>de</strong>r dazu imstan<strong>de</strong> sein,<br />

Scha<strong>de</strong>n anzurichten.“<br />

„Die Zeit, die er brauchen wird, um einen neuen Angriff zu planen“ fiel Indigo ihm ins Wort, „wird wohl länger sein,<br />

als alle Völker <strong>de</strong>r Welt auf Rubens Antlitz leben und sterben wer<strong>de</strong>n. Er brauchte so viele tausend Jahre, um diesen<br />

einen Schlag vorzubereiten... ein weiterer wird uns kaum mehr betreffen, und auch unsere Nachkommen wer<strong>de</strong>n<br />

sicher leben können.“ Indigo trat ein paar Schritte nach vorn, um <strong>de</strong>r Menge noch näher zu sein.<br />

„Ich bitte euch nun, meinem Beispiel zu folgen“ schrie er, und mit einem Ruck zog er seine Kapuze zurück. Die<br />

schwarzen Augen funkelten in <strong>de</strong>r Kälte <strong>de</strong>r Nacht.<br />

„Blickt euch in die Augen!“ rief er, und die Shat’lan betrachteten ihr jeweiliges Gegenüber. „Wir sind ein stolzes<br />

Volk! Seht ihr nicht, wie stolz und groß wir einst waren? Unsere Bauten be<strong>de</strong>ckten fast die gesamten Weiten Rubens,<br />

unsere Städte waren an <strong>de</strong>r Oberfläche, unter <strong>de</strong>m hellen Sonnenlicht. Wir gehören nicht in die unterirdischen<br />

Malasae, so wie die Schwarzorks unter Tage gelebt haben. Unser Platz ist ein an<strong>de</strong>rer. Wir haben heute unseren ersten<br />

gemeinsamen Kampf gefochten, meine Brü<strong>de</strong>r. Aber wenn ihr mir folgt, dann wird es nicht <strong>de</strong>r letzte gewesen sein.<br />

Alles, was wir noch sind, ist ein bloßer Schatten. Aber <strong>de</strong>r Schatten muß nicht <strong>de</strong>r Sonne weichen, Shat’lan! Die<br />

Manur haben uns unser Land genommen, haben unsere Kin<strong>de</strong>r getötet und unsere Städte vernichtet. Sie sind wie ein<br />

Untier über unser Volk hergefallen, haben uns bis in die Wäl<strong>de</strong>r zurückgedrängt. Sie haben uns mit grausamen<br />

Mitteln getötet, haben uns mit ihrer schieren Übermacht überrannt.“<br />

Indigo senkte <strong>de</strong>n Kopf und seine Stimme, fuhr leiser fort: „Doch wir können etwas dagegen unternehmen. Wenn wir<br />

alle zusammenhalten und uns gemeinsam gegen die Menschen stellen, können wir die Plage verdrängen, die uns<br />

beinahe alles gekostet hat. Und wir haben mächtige Verbün<strong>de</strong>te.“<br />

Wie zum Beweis richtete sich <strong>de</strong>r gigantische El’cha<strong>de</strong>rar auf, <strong>de</strong>r sich bis jetzt ruhig verhalten hatte. Ein donnern<strong>de</strong>s<br />

Brüllen entwich seiner Kehle, ein Schrei, <strong>de</strong>r durch die Nacht hallte und die Luft erzittern ließ.<br />

„Das ist meine Botschaft an euch, an mein Volk. Es gab eine Zeit, in <strong>de</strong>r ich ein Jurakai war. Und ebenso gab es eine<br />

Zeit, in <strong>de</strong>r ich mich wie ein Außenseiter bei euresgleichen fühlte. Doch jetzt weiß ich, wohin ich gehöre und was<br />

meine Aufgabe ist. Wir wer<strong>de</strong>n uns wie<strong>de</strong>rholen, was uns zusteht. Aber es wird kein weiteres Blutvergießen mehr<br />

geben. Es darf kein Blutvergießen mehr geben. Die Manur schlachteten uns ab, und wir wehrten uns. Doch niemals in<br />

unserer Geschichte haben die Shat’lan einen Kampf begonnen. Und auch in diesen Tagen wird dies nicht nötig sein,<br />

<strong>de</strong>nn wir wer<strong>de</strong>n die Menschen allein durch unseren Willen zurückdrängen.“ Indigo zögerte, blieb einen Moment<br />

wortlos stehen. „Alles weitere wird Keldar euch mitteilen.“ Er wandte sich um, und hinter seinem Rücken wur<strong>de</strong> ein<br />

leiser Aufruf laut. Noch bevor er sich ganz abgewandt hatte, erklang <strong>de</strong>r schwache Ruf stärker, nun aus <strong>de</strong>n Mün<strong>de</strong>rn<br />

aller Versammelten. Selbst Keldar fiel in <strong>de</strong>n Schrei ein, <strong>de</strong>r über die schneeverwehten Hänge schall.<br />

Es war nur ein einziges Wort, doch es genügte, um <strong>de</strong>n Shat’lan <strong>de</strong>n Mut einzuflößen, <strong>de</strong>n sie benötigten. Es lautete<br />

„An’chassar“.<br />

Saya lehnte an Indigos Seite, hatte ihren Arm um <strong>de</strong>n jungen Mann geschlungen, während sie gemeinsam<br />

betrachteten, wie Männer und Frauen auf <strong>de</strong>n Rücken <strong>de</strong>s weißen El’cha<strong>de</strong>rar stiegen. Das riesige Wesen ließ es ohne<br />

Wi<strong>de</strong>rstand zu, doch reichte <strong>de</strong>r Platz für die vielen Shat’lan nicht aus.<br />

„Keine Sorge“ meinte <strong>de</strong>r Jurakai lediglich, und Keldar schüttelte ungläubig <strong>de</strong>n Kopf.<br />

„Ich hatte seit jeher meine Zweifel an <strong>de</strong>r tatsächlichen Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Gedichtes, das Sindaria in <strong>de</strong>n alten Büchern<br />

fand. Doch als die Drachenbrut sich durch unsere Er<strong>de</strong> grub, da dachte ich, daß dies unumstößlich die Plage sein<br />

mußte, die auf <strong>de</strong>n Lan<strong>de</strong>n liegt.“<br />

„Wie wir an<strong>de</strong>ren auch lagst du falsch mit <strong>de</strong>r Vermutung“ meinte Indigo und schenkte Saya einen liebevollen Blick.<br />

„Und nur durch das Eingreifen <strong>de</strong>iner Tochter hast du dich letztendlich dafür entschie<strong>de</strong>n, dich nicht <strong>de</strong>m Urteil <strong>de</strong>r<br />

Avalare zu beugen.“<br />

Keldar nickte. „Ansonsten wäre vieles verloren gewesen.“<br />

„Ansonsten hätte etwas Neues nie <strong>de</strong>n Anfang genommen.“<br />

Eine lange Zeit sagte niemand etwas, dann ergriff Indigo das Wort. „Keldar? Ich muß dir eine Frage stellen, die<br />

möglicherweise sehr wichtig ist...“<br />

„Dann frage mich, An’chassar. Ich wer<strong>de</strong> dir nach bestem Wissen Auskunft geben.“<br />

Indigo nickte. „Hast du jemals von einer Shat’lan gehört, <strong>de</strong>ren Augäpfel völlig schwarz waren?“<br />

„So wie <strong>de</strong>ine Augen?“ Keldar zögerte, schien zu überlegen. „Vor langer Zeit lebte tatsächlich eine solche Shat’lan.<br />

Ihr Name lautete Sen’rasua, und sie war die Begrün<strong>de</strong>rin <strong>de</strong>s Rates. Sie war die Älteste unter <strong>de</strong>r Sonne, und sie war<br />

eine <strong>de</strong>r ersten, die <strong>de</strong>m Krieg gegen die Manur zum Opfer fielen. Ihre Stelle war es, die vom Verräter Delabos<br />

eingenommen wur<strong>de</strong>. Woher weißt du von ihr?“<br />

„Das spielt nun keine Rolle, Keldar. Später einmal, in ruhigeren Zeiten, möchte ich gern mehr über diese Frau<br />

erfahren. Doch jetzt laß uns unsere Aufmerksamkeit auf die Dinge richten, die vor uns liegen.“<br />

212


Die drei Gestalten, die sich als dunkle Silhouetten vor <strong>de</strong>r dämmern<strong>de</strong>n Morgenröte abzeichneten, stan<strong>de</strong>n<br />

schweigend im kühlen Nordwind, <strong>de</strong>r kleine Schneekristalle über die Ebenen wehte. Niemand von ihnen sagte einen<br />

Ton, als die Gar<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Drachen das Lager erreichte, und ehrfürchtig beobachteten sie das wun<strong>de</strong>rsame Schauspiel, das<br />

sich nun bot.<br />

Die Schatten von fünf weiteren El’cha<strong>de</strong>rar zeichneten sich vor <strong>de</strong>r aufsteigen<strong>de</strong>n Sonne ab, während die massigen<br />

Leiber in völligem Gleichklang und mit vollkommener Eleganz auf die nahen Hügel herabsanken. Keiner von ihnen<br />

war auch nur annähernd so groß wie das weiße Tier, <strong>de</strong>ssen Rücken nun schon von vielen Shat’lan be<strong>de</strong>ckt war, doch<br />

auch ihre Länge war so immens, daß sie mit nichts zu vergleichen waren, das Keldar je gesehen hatte. Anmutig<br />

falteten die Geschöpfe ihre Schwingen, legten sich still nie<strong>de</strong>r und warteten auf Indigos Befehl.<br />

Keldar räusperte sich.<br />

„Ich habe ein Gerücht gehört, daß es sich bei <strong>de</strong>m perlmuttfarbenen El’cha<strong>de</strong>rar um... um Weißklaue han<strong>de</strong>ln soll“<br />

sagte <strong>de</strong>r Anführer leise, doch die erhoffte Antwort <strong>de</strong>s Jurakai blieb aus. „Möglicherweise ist—„<br />

„Laß uns dieses Thema nicht anschnei<strong>de</strong>n, Keldar“ unterbrach Indigo <strong>de</strong>n Satz. „Vielleicht ist dieses Wesen<br />

tatsächlich <strong>de</strong>r, für <strong>de</strong>n ihn viele hier halten. Vielleicht ist es auch nur ein beson<strong>de</strong>rs großes und auffällig gefärbtes<br />

Exemplar einer Spezies, die sich über Jahrhun<strong>de</strong>rte und Jahrtausen<strong>de</strong> hinweg aus Ruben zurückgezogen hatte.<br />

Niemand wird die Wahrheit von mir erfahren, mein Freund. Laß <strong>de</strong>inen Leuten ihre Vermutungen und Wünsche,<br />

<strong>de</strong>nn die Gerüchte, die sich um diesen El’cha<strong>de</strong>rar ranken wer<strong>de</strong>n, sind stärker, als irgen<strong>de</strong>ines meiner Worte je sein<br />

könnte.“<br />

Dynes betrachtete die sechs Drachen skeptisch, die sich auf <strong>de</strong>n verschneiten Hügeln nie<strong>de</strong>rgelassen hatten. Es war<br />

etwas Stören<strong>de</strong>s an ihnen, etwas, das nicht so Recht ins Bild passen wollte. Möglicherweise waren es jedoch nicht die<br />

grotesken Geschöpfe, drängte es sich ihm in <strong>de</strong>n Sinn, son<strong>de</strong>rn die Menschen, die hier fehl am Platze wirkten. Aus<br />

einem son<strong>de</strong>rbaren und unerfindlichen Grund sahen die Shat’lan vertraut mit <strong>de</strong>n Drachen aus. Es schien, als wüßten<br />

sie mit <strong>de</strong>n sagenumwobenen Untieren umzugehen. Und war das nun etwa verwun<strong>de</strong>rlich? Immerhin stammten die<br />

Shat’lan selbst bloß aus alten Legen<strong>de</strong>n, waren bis heute nichts weiter als eine lebhafte Geschichte gewesen. Doch es<br />

war um vieles leichter zu glauben, daß die verlorene Rasse sich aus ihren Schatten erhob, als die Existenz <strong>de</strong>r<br />

wurmähnlichen Drachen.<br />

Der Ritter wur<strong>de</strong> erst von seinen Gedanken gestoßen, als Asan An’chassar, <strong>de</strong>r selbsterwählte Führer <strong>de</strong>r Schwarzen<br />

Seelen, auf ihn zutrat. Sofort verän<strong>de</strong>rten sich Dynes Züge, verwan<strong>de</strong>lten sich in eine Maske <strong>de</strong>r Ablehnung.<br />

„Wollt Ihr mir vorschlagen, ebenfalls auf so ein Ungetüm zu steigen?“ fragte er, noch bevor <strong>de</strong>r Ankömmling bei ihm<br />

war. „O<strong>de</strong>r wollt Ihr Euch verabschie<strong>de</strong>n.“<br />

Asan neigte <strong>de</strong>n Kopf. „Ich weiß nicht, weswegen Ihr so verbittert seid, Sir <strong>Arathas</strong>. Ich tue alles in meiner Macht<br />

stehen<strong>de</strong>, um Euch und Euresgleichen zu helfen.“<br />

„Allein Eure Wortwahl stimmt mich zornig.“<br />

„Das tut mir leid. Ich versuche, so diplomatisch wie möglich vorzugehen. Vielleicht kanntet Ihr meinen Vater, Teagar<br />

Jael’vre?“<br />

Dynes zuckte die Achseln. „Sollte ich?“<br />

„Er war einer <strong>de</strong>r größten Diplomaten <strong>de</strong>r Jurakai“ sagte Asan und wollte weitersprechen, als <strong>de</strong>r ungläubige<br />

Ausdruck in <strong>Arathas</strong>’ Gesicht ihn verharren ließ.<br />

„Der Jurakai? Aber Ihr seid ein Shat’lan.“<br />

„Ich bin gebürtiger Jurakai. Dem allen liegt eine lange Geschichte zu Grun<strong>de</strong>, die auszuführen Euch vermutlich<br />

langweilen wür<strong>de</strong>.“<br />

„Vermutlich. Fahrt fort.“<br />

„Wie gesagt, mein Vater war einer <strong>de</strong>r größten Diplomaten, die dieses—„<br />

„Hab’ diese Diplomatenmistkerle nie gemocht“ fiel <strong>de</strong>r Ritter ihm ins Wort. „Sagen nie, was sie meinen und re<strong>de</strong>n um<br />

<strong>de</strong>n heißen Brei herum. Wenn es eine gute Eigenschaft an Westfald gibt, dann die, daß er nicht viel für Diplomaten<br />

übrig hat.“<br />

Asan zögerte einen Moment.<br />

„Gut“ sagte er schließlich. „Dann wer<strong>de</strong> ich Euch meine Bitte gleich eröffnen: Ich weiß, daß Ihr Euch am Königshof<br />

gut auskennt. Wer<strong>de</strong>t Ihr mit mir zusammen dort hin reisen“<br />

Ein Schnauben entfuhr <strong>Arathas</strong>, als er die Bitte vernahm.<br />

„Und warum sollte ich das tun? Es gibt hier genug für mich zu erledigen.“<br />

„Weil ich unnötiges Blutvergießen in je<strong>de</strong>m Fall vermei<strong>de</strong>n will. Nie wie<strong>de</strong>r soll einem <strong>de</strong>r Völker, das unter Rubens<br />

Sonne wan<strong>de</strong>lt, solches Leid wi<strong>de</strong>rfahren.“<br />

„Wie stellt Ihr Euch das vor, Mann? Glaubt Ihr, ich könnte meine Leute einfach allein lassen, um für was weiß ich<br />

wieviele Wochen mit—„<br />

„Zwei Tage.“ An’chassar hob eine Hand und streckte Daumen sowie Zeigefinger. „Zwei Tage, und nicht mehr.“<br />

„Und jetzt wer<strong>de</strong>t Ihr mir wahrscheinlich gleich sagen, wie Ihr das anstellen wollt.“<br />

Asan lächelte. „Natürlich. Wir wer<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>n El’cha<strong>de</strong>rar reiten. Und ihr ebenfalls.“<br />

213


Sayas Haar, das sie seit <strong>de</strong>m Aufbruch aus Ney’fasa’le schulterlang geschnitten trug, flatterte im leichten Wind. Der<br />

weiße El’cha<strong>de</strong>rar, das mächtigste Wesen, das <strong>de</strong>r Shat’lan je begegnet war, glitt leicht wie ein Fe<strong>de</strong>r durch die Luft,<br />

und <strong>de</strong>r stromlinienförmige Körper erzeugte we<strong>de</strong>r einen starken Luftzug noch sonstige Unannehmlichkeiten. Die<br />

junge Frau fühlte sich an ihren ersten Ritt auf einem Drachen zurückversetzt, erinnerte sich, wie es war, als sie vor<br />

Jahren die Prüfung abgelegt hatte. Das Geysa hatte ihren Geist beflügelt, und als sie Kontakt mit einem nahen<br />

El’cha<strong>de</strong>rar aufnahm, hatte sie sich sicher und lebendig gefühlt. Das Wesen, das von ihr angelockt wor<strong>de</strong>n war,<br />

konnte sich keinesfalls mit <strong>de</strong>n riesigen Geschöpfen messen, die sich jetzt wie gigantische Wolken über <strong>de</strong>n Himmel<br />

schwangen, doch sie war sehr stolz gewesen auf das große Tier.<br />

Nun blickte sie vom Rücken eines Drachen herab auf Ruben, <strong>de</strong>r so mächtig war wie <strong>de</strong>r legendäre Weißklaue, und sie<br />

fragte sich, was Asan wohl empfin<strong>de</strong>n mochte. Spürte auch er dieses unbändige Verlangen, mehr über die Wesen zu<br />

erfahren, sich eingehen<strong>de</strong>r mit ihnen zu beschäftigen? Saya selbst hatte nach ihrem ersten geglückten Ritt noch<br />

mehrere weitere Male Kontakt aufgenommen mit <strong>de</strong>n geflügelten Kreaturen, hatte sogar zusammen mit einer Gruppe<br />

von Shat’lan eine Expedition in die Berge gewagt, um <strong>de</strong>n Lebensraum und das Verhalten <strong>de</strong>r Tiere zu erkun<strong>de</strong>n.<br />

Was wußte Asan über diese Geschöpfe? Wieviel hatten ihm die Träume verraten, die seine Gedanken bewegten? Das<br />

Wissen, das nun durch ihn floß, mußte enorm sein, <strong>de</strong>nn er hatte ohne die Hilfe <strong>de</strong>s Geysa diese fünf El’cha<strong>de</strong>rar<br />

gerufen... und das, obwohl sie sich weitab von <strong>de</strong>n südlichen Gebirgen befan<strong>de</strong>n, inmitten <strong>de</strong>s Hochlan<strong>de</strong>s! Sie<br />

betrachtete <strong>de</strong>n Mann, <strong>de</strong>n sie liebte, und <strong>de</strong>ssen Kind sie in sich trug.<br />

Er stand ganz vorn, stemmte sich gegen <strong>de</strong>n Wind, während seine Hän<strong>de</strong> ein dickes Seil umfaßt hielten, das am Haar<br />

<strong>de</strong>s Drachen festgeknotet war. Er kommunizierte geistig mit <strong>de</strong>n El’cha<strong>de</strong>rar, sprach mit ihnen. Es war unglaublich,<br />

was dieser Shat’lan innerhalb so weniger Wochen alles erreicht hatte. Allein <strong>de</strong>r Prozeß, <strong>de</strong>r die Augen schwarz<br />

färbte... bei einem jungen Shat’lan, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Geysa in Kontakt kam, brauchte es min<strong>de</strong>stens zwei Jahre, bis seine<br />

Iris die Farbe angenommen hatten, die allgemein hin als die normale Augenfarbe ihres Volkes angesehen wur<strong>de</strong>.<br />

Keldars Tochter warf einen Blick nach hinten, und <strong>de</strong>r Anblick, <strong>de</strong>r sich ihr darbot, war einfach umwerfend. In<br />

perfekter Formation flogen die riesigen Drachen in Form eines „M“, glichen haargenau <strong>de</strong>m Sternbild <strong>de</strong>s Falken.<br />

Ihre Schwingen hoben und senkten sich im vertrauten Takt: Wenn die vor<strong>de</strong>ren Flügel die Luft nach unten preßten,<br />

glitten die hinteren Hautmembranen nach oben, und an<strong>de</strong>rsherum. Und auf <strong>de</strong>n Rücken <strong>de</strong>r Tiere... hun<strong>de</strong>rte von<br />

Shat’lan, die sich Asan angeschlossen hatten, die sogar bereit wären, für ihn in <strong>de</strong>n Tod zu gehen.<br />

Die Landschaft, ein bloßer Schemen, wenn man seinen Blick auf nur einen Ort richtete, floß rasant unter ihnen dahin.<br />

Bald wür<strong>de</strong>n sie die Hochburg erreicht haben, die Resi<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>s Königs. Wenigstens hier, so tief im Inneren Reich,<br />

waren die Städte und Siedlungen, die Saya von oben aus betrachten konnte, noch intakt und unberührt. Die Arme<br />

Grauseeles hatten sich nicht bis hierher erstreckt. Obwohl die Tunnel vielleicht weiter reichten, als sich irgendjemand<br />

vorstellen konnte...<br />

Die junge Frau wartete geduldig, bis die El’cha<strong>de</strong>rar ihr Ziel erreicht hatten, sich langsam <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n näherten. Sie<br />

stellte sich vor, wie die Reaktion <strong>de</strong>r Manur auf diese Wesen sein mußte, wie sie ungläubig auf ihren Höfen und<br />

Ackern stan<strong>de</strong>n und zum Himmel emporblickten, an <strong>de</strong>m sich Fabelwesen aus alten Legen<strong>de</strong>n bewegten.<br />

Die hohen Mauern <strong>de</strong>s Schlosses kamen in Sicht, und viele jüngere Shat’lan sahen das Herz <strong>de</strong>s Inneren Reiches nun<br />

zum ersten Mal in ihrem Leben. Die Älteren, die bereits auf Rubens Gesicht gewan<strong>de</strong>lt waren, als die Menschen das<br />

Land noch nicht besie<strong>de</strong>lt hatten, erinnerten sich noch an die Zeiten, in <strong>de</strong>nen diese Burg vom Volk bewohnt wor<strong>de</strong>n<br />

war. Bis hin zu <strong>de</strong>n Tagen, an <strong>de</strong>nen das Gemäuer errichtet wor<strong>de</strong>n war, konnte sich jedoch nicht einmal mehr <strong>de</strong>r<br />

Älteste erinnern. Möglicherweise waren die El’cha<strong>de</strong>rar in <strong>de</strong>r Lage dazu, doch für ein normal sterbliches Wesen war<br />

die Zeitspanne enorm groß.<br />

Langsam kamen die Mauern näher, und man konnte Einzelheiten erkennen. Kleine Punkte, die aufgebracht im Hof<br />

hin- und herliefen, sich in Win<strong>de</strong>seile im Burgfried bewegten. Kein Wun<strong>de</strong>r, dachte Saya, wer wäre nicht erstaunt,<br />

wenn ein bekanntes Sternbild sich am hellichten Tage plötzlich vom Himmel herabsenken wür<strong>de</strong>...<br />

Der Flügelschlag <strong>de</strong>r großen Wesen wur<strong>de</strong> langsamer, die El’cha<strong>de</strong>rar ließen sich nur noch gleiten, nutzten die<br />

Thermik, um sich sanft <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n entgegenschweben zu lassen. Die mächtigen, eisenbeschlagenen Tore <strong>de</strong>s<br />

Schlosses kamen in Sicht, und die Stadt Neru, die Königsstadt, die sich hinter <strong>de</strong>r Burg abzeichnete, verschwand, als<br />

die Drachen <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n berührten und tiefer sanken als die Mauern. Der weiße El’cha<strong>de</strong>rar, Asans geflügeltes Roß,<br />

grub seine Krallen nur wenige Fuß vom Haupttor entfernt in die schneebe<strong>de</strong>ckte Er<strong>de</strong>. Auch die an<strong>de</strong>ren Geschöpfe<br />

hatten sich nie<strong>de</strong>rgelassen, und ohne zu zögern glitt Asan vom Rücken <strong>de</strong>s Tieres, das seinen Kopf auf <strong>de</strong>m eisigen<br />

Untergrund bettete.<br />

Einer Handbewegung An’chassars folgend ließen sich auch die an<strong>de</strong>ren Shat’lan von <strong>de</strong>n El’cha<strong>de</strong>rar herab, stellten<br />

sich vor ihrem Anführer auf. Saya beobachtete, wie auch ihr Vater, einer <strong>de</strong>r Männer, die das meiste Vertrauen<br />

überhaupt genossen, sich bei <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren einreihte, ohne sich an Asans Seite zu begeben. Der Shat‘lan wartete, bis<br />

sich alle Männer und Frauen eingefun<strong>de</strong>n hatten, dann begab er sich mitsamt seinem Gefolge zum großen Tor.<br />

Eine lange Zeit geschah gar nichts, doch dann erschien ein menschlicher Kopf an <strong>de</strong>r Mauer über <strong>de</strong>m Tor, <strong>de</strong>r<br />

ängstlich und mit zittriger Stimme sprach.<br />

214


„Wer seid Ihr?“ fragte er, halb in Erwartung eines Angriffes. Als <strong>de</strong>r gefürchtete Schlag ausblieb, wagte er, sich ein<br />

Stückchen weiter über die Brüstung zu lehnen.<br />

„Öffnet das Tor“ rief Asan entschlossen, und über sechshun<strong>de</strong>rt grimmige Gesichter hinter seinem Rücken verliehen<br />

seinem Anliegen Dringlichkeit. „Wenn Ihr jetzt öffnet, wird es kein Blutvergießen geben. Ich will keine Gewalt<br />

anwen<strong>de</strong>n.“<br />

„Öffnet“ sagte auch Dynes nun, <strong>de</strong>r sich neben Asan postiert hatte. Verwun<strong>de</strong>rt blickte <strong>de</strong>r Mann zum einzigen<br />

Menschen in <strong>de</strong>r Menge hinab.<br />

„Diese Wesen dort...“ erklang seine Stimme erneut.<br />

„Sie sind imstan<strong>de</strong>, diese Hochburg mit einem Prankenhieb zu vernichten“ sagte An’chassar. „Doch sie wer<strong>de</strong>n nur<br />

angreifen, wenn ihnen <strong>de</strong>r Befehl dazu gegeben wird. Und noch ist nichts geschehen, was mich zu dieser Maßnahme<br />

veranlassen könnte.“<br />

„Verdammt, Mann! Öffnet endlich, o<strong>de</strong>r wollt Ihr einen Krieg heraufbeschwören?“<br />

Der Kopf zog sich eilig zurück, und wie<strong>de</strong>r dauerte es eine Weile, bis etwas geschah. Dann rasselten Ketten, und<br />

Knirschen ertönte, als die Tore geöffnet wur<strong>de</strong>n. Mehrere Ritter, in blanker Rüstung und mit gezogenen Schwertern,<br />

warteten zu bei<strong>de</strong>n Seiten hinter <strong>de</strong>n Toren. Ein kleiner Mann, <strong>de</strong>ssen rasierter Schä<strong>de</strong>l auf einen Mönch o<strong>de</strong>r Priester<br />

schließen ließ, trat auf das Shat’lan-Heer zu.<br />

„Glaubt Ihr tatsächlich, daß diese Wachen Euer Leben – o<strong>de</strong>r gar Eure Burg – retten könnten?“ Asan schüttelte <strong>de</strong>n<br />

Kopf. „Ihr müßt wirklich Vertrauen zu Himmelfeuer haben, alter Mann.“<br />

„Weshalb seid Ihr hier, Herr?“<br />

„Ich bin hier, weil dies rechtmäßig unser Besitz ist“ antwortete <strong>de</strong>r Shat‘lan und neigte das Haupt. „Ich bitte Euch<br />

nun, mich zu Eurem König Westfald zu bringen.“<br />

Unruhig trat das kleine Männchen von einem Fuß auf <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren, befand sich in einer sichtlich verzwickten Lage.<br />

„Ihr wißt, Herr, das kann ich nicht. Es ist mir nicht gestattet, Euch—„<br />

„Dies ist mein Vorschlag, es im Guten zu versuchen, Priester! Ich warne Euch, <strong>de</strong>nn ich bin nicht hier, um Eurem<br />

Herren zu huldigen. Laßt mich und meine Leute ein.“<br />

Der Kahlrasierte schien zu einem Entschluß zu gelangen. „Ich gestatte Euch <strong>de</strong>n Zutritt, ehrenwerter Herr, doch Euer<br />

Gefolge kann ich nicht einlassen.“<br />

Asan nickte kurz.<br />

Keldar, <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>s Wort verstan<strong>de</strong>n hatte, drängte sich durch die verhüllten Gestalten, um an die Seite <strong>de</strong>s Shat’lan zu<br />

gelangen. „Nein! Ich wer<strong>de</strong> dich nicht allein gehen lassen, An’chassar. Entwe<strong>de</strong>r wir gehen gemeinsam, o<strong>de</strong>r<br />

niemand wird diese Burg betreten.“<br />

Der Priester betrachtete die neue Situation mit Verwirrung, verneigte sich dann jedoch. „Es ist Euch gestattet“ sagte er<br />

hastig, um eventuellen Kommentaren vorzubeugen. „Aber Ihr müßt Eure Waffen ablegen.“<br />

Asan nickte Keldar zu, und zusammen entledigten sie sich ihrer Klingen.<br />

„Auch dieser Mensch wird mit uns kommen“ sagte <strong>de</strong>r Shat’lan in einem Tonfall, <strong>de</strong>r keine Wi<strong>de</strong>rre<strong>de</strong> zuließ. Der<br />

Mönch beäugte Dynes ängstlich und wich ein paar Schritte zurück, als dieser die Zähne fletschte. Schließlich ergab er<br />

sich seinem Schicksal und nickte. „Dann folgt mir bitte.“<br />

Asan, Keldar und Dynes, nun allesamt ohne Waffen, schritten hinter <strong>de</strong>m Menschlein drein und durchquerten das<br />

hohe Portal. Wie von Geisterhand bewegten sich die Tore hinter ihnen und fielen mit lautem Krachen ins Schloß.<br />

Saya blieb noch lange auf <strong>de</strong>m Rücken <strong>de</strong>s El’cha<strong>de</strong>rar, doch als die Zeit voranschritt und noch immer nichts von<br />

ihrem Geliebten o<strong>de</strong>r ihrem Vater zu hören war, mischte auch sie sich unter die Shat’lan und suchte nach vertrauten<br />

Gesichtern.<br />

Mit <strong>de</strong>m Zufallen <strong>de</strong>r Tore verän<strong>de</strong>rte sich auch das Gebaren <strong>de</strong>r Ritter, die jetzt keine Hun<strong>de</strong>rtschaften von Gegnern<br />

mehr vor sich sahen, nur noch drei unbewaffnete Frem<strong>de</strong>. Schwerter wur<strong>de</strong>n auf sie gerichtet, von <strong>de</strong>n Zinnen<br />

blickten Pfeilspitzen auf die Eindringlinge herab. Verfolgt von getuschelten Mutmaßungen und verachten<strong>de</strong>m<br />

Schnauben ging die kleine Gruppe über <strong>de</strong>n Burghof, wie eine Prozession zum To<strong>de</strong> verurteilter, die zwischen <strong>de</strong>n<br />

Schaulustigen ihren Weg zum Galgen beschritt, vor ihnen <strong>de</strong>r Mönch wie ein winziger Henker.<br />

Dynes’ Name fiel <strong>de</strong>s öfteren, wur<strong>de</strong> wie ein Fluch gesprochen o<strong>de</strong>r wie ein Bann. Manche <strong>de</strong>r Ritter, die <strong>Arathas</strong><br />

erkannten, spuckten <strong>de</strong>n Namen wie Speichel in <strong>de</strong>n Staub vor ihren Füßen. Doch Dynes hob lediglich mü<strong>de</strong> lächelnd<br />

die Brauen, schenkte <strong>de</strong>n Gestalten um ihn herum keinerlei Beachtung, was sie bloß noch rasen<strong>de</strong>r machte.<br />

Der kleine Mönch hüpfte vor ihnen wie ein Äffchen, sprang von einem Fuß auf <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren und zerrte mit<br />

Leibeskräften an <strong>de</strong>n Toren, die ins Innere <strong>de</strong>r Hochburg führten. Nach einigem Ziehen schwangen die Türen dann<br />

doch noch auf, und das Priesterlein gewährte <strong>de</strong>n Frem<strong>de</strong>n Einlaß in das marmorne Reich <strong>de</strong>s Königs. Weißer<br />

Alabaster glänzte von überall her, doch we<strong>de</strong>r Keldar o<strong>de</strong>r Indigo, noch Dynes, <strong>de</strong>r die Hallen schon oft durchwan<strong>de</strong>rt<br />

hatte, zeigten sich beeindruckt.<br />

Doch so beherrscht die Shat’lan sich auch hielten, so waren sie doch manchmal verblüfft von <strong>de</strong>n Eigenartigkeiten <strong>de</strong>s<br />

hohen Gewölbes. Die niedrigen Bauten ihrer Völker gewohnt, <strong>de</strong>ren Baustoffe sich fast ausschließlich auf organisches<br />

215


Material beschränkten, mutete die Umgebung wie eine an<strong>de</strong>re Welt an, eine Welt, die sich ihnen nicht wohlwollend<br />

präsentierte.<br />

Indigo schüttelte <strong>de</strong>n Kopf ob <strong>de</strong>r Seltsamkeiten <strong>de</strong>s Gebäu<strong>de</strong>s, zumal es einst von <strong>de</strong>n Shat’lan errichtet wor<strong>de</strong>n war,<br />

lange, bevor die Menschen nach Ruben kamen. Stellenweise fühlte er sich an die Kirche von Vater Callus erinnert,<br />

wenn ein langer Gobelin die Wand schmückte o<strong>de</strong>r ein Wasserspeier über die Treppen wachte.<br />

Alle Wächter o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Personen, an <strong>de</strong>nen sie vorbeieilten, versuchten einen Blick unter die Kapuzen zu<br />

erhaschen, die die Gesichter <strong>de</strong>r Shat’lan ver<strong>de</strong>ckten. Nur Dynes, <strong>de</strong>m man zwar eine <strong>de</strong>r Kutten angeboten, welche er<br />

jedoch abgelehnt hatte, entblößte seine Züge und war <strong>de</strong>r Grund zahlreicher Spekulationen.<br />

Die Miene <strong>de</strong>s Ritter spiegelte Abscheu wi<strong>de</strong>r, als sie endlich die Portale erreichten, hinter <strong>de</strong>nen die Gemächer <strong>de</strong>s<br />

Königs warteten. Hier sollte seine Odyssee also en<strong>de</strong>n. Von Westfald entsandt, um nach <strong>de</strong>m Rechten zu sehen im<br />

Äußeren Reich, heimgekehrt mit zu Fleisch gewor<strong>de</strong>nen Legen<strong>de</strong>n.<br />

Die Wächter, die vor <strong>de</strong>n Eichentüren stan<strong>de</strong>n, fuhren erschrocken auf, als plötzlich die laute Stimme Indigos durch<br />

<strong>de</strong>n Flur hallte.<br />

„Nairun?“ rief <strong>de</strong>r Jurakai, und in seinem Tonfall mischten sich Ungewissheit und Freu<strong>de</strong>. Als eine Gestalt, die sich<br />

Abseits aufhielt und <strong>de</strong>n Kopf gesenkt hatte, skeptisch aufblickte, verwan<strong>de</strong>lte sich Indigos Ungewissheit in<br />

Sicherheit. Er ließ <strong>de</strong>n verdutzten Priester mitten auf <strong>de</strong>m Gang stehen, lief auf <strong>de</strong>n Mann zu, <strong>de</strong>r einen verblüfften<br />

Gesichtsausdruck zur Schau trug.<br />

„Nairun!“ stieß Indigo noch einmal hervor und schob die Kapuze vom Kopf. Der verwirrte Blick <strong>de</strong>s Mannes musterte<br />

ihn, brauchte einige Sekun<strong>de</strong>n, bis er ihn erkannte. Die Reise <strong>de</strong>s Jurakai hatte an Indigo gezehrt, hatte unverkennbare<br />

Spuren hinterlassen, und auch die Wun<strong>de</strong>n auf Stirn und Körper hatten ihn verwan<strong>de</strong>lt. Doch dann verän<strong>de</strong>rte sich<br />

<strong>de</strong>r Blick <strong>de</strong>s Angesprochenen, und mit weit aufgerissenen Augen öffnete er <strong>de</strong>n Mund.<br />

„Indigo! Bist du es tatsächlich, Indigo Jael’vre? Deine... <strong>de</strong>ine Augen sind so an<strong>de</strong>rs...“<br />

„Laß dich nicht von Farben täuschen, Nairun. Wie lang ist es her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben? Drei<br />

Jahre?“<br />

„Das könnte ungefähr—„<br />

„Ich bitte um Vergebung, Herr, doch <strong>de</strong>r König wartet“ ging <strong>de</strong>r Priester unvermittelt dazwischen. Er zeigte zu <strong>de</strong>r<br />

großen Tür, legte flehend <strong>de</strong>n Kopf schief.<br />

„Wie kann <strong>de</strong>r König warten, Mann?“ entfuhr es Dynes, <strong>de</strong>m die nervöse Art <strong>de</strong>s Priesters zuwi<strong>de</strong>r war. „Habt Ihr<br />

nicht erst dort draußen selbst entschie<strong>de</strong>n, uns einzulassen?“<br />

Der Kahlköpfige schenkte ihm einen raschen Blick. „Ich... nein. Der König hat dieses Urteil bereits zuvor gefällt. Ich<br />

sollte Euch nur hinhalten.“ Zitternd trat <strong>de</strong>r Manur ein paar vorsichtige Schritte zurück.<br />

„Macht Euch keine Sorgen wegen uns“ sagte Indigo schnell und lächelte beschwichtigend. „Wir wer<strong>de</strong>n später<br />

sprechen können“ meinte er, zu Nairun gewandt. „Laßt uns weitergehen.“<br />

Auf Befehl <strong>de</strong>s Priesters hin wur<strong>de</strong>n die schweren Türen nach Innen gedrückt, offenbarten einen düsteren,<br />

zwielichtigen und stickigen Raum. Die stämmige Gestalt König Westfalds saß am einen En<strong>de</strong> auf ihrem Thron, neben<br />

ihm hatte sein Sohn Leonart Platz genommen. Mit erbostem Ausdruck preßte Westfald sich in die Höhe, als <strong>de</strong>r Ritter<br />

und die Shat’lan eintraten. Hinter ihnen wur<strong>de</strong>n die Türen geschlossen.<br />

„Dynes!“ grollte Westfald und zeigte auf <strong>de</strong>n Ritter. „Ich sollte Euch auf <strong>de</strong>r Stelle töten lassen!“<br />

„Ihr wür<strong>de</strong>t niemals dazu kommen“ sagte Indigo und trat neben <strong>Arathas</strong>. „Dieser Mensch steht unter meinem Schutz.“<br />

Der König lachte auf, als er die Stimme vernahm, lehnte sich dann vor auf seinem Thron. Noch ehe er etwas erwi<strong>de</strong>rn<br />

konnte, war Prinz Leonart ihm ins Wort gefallen und richtete sich wutentbrannt auf.<br />

„Ihr habt Fegget auf <strong>de</strong>m Gewissen, Dynes!“ zischte er. In <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s Prinzen schwelte reinster, purer Haß.<br />

„Er hat <strong>de</strong>n Unfall nicht überlebt? Dann seid Ihr für seinen Tod verantwortlich, Prinzchen.“ Dynes hob die Brauen.<br />

Sein Respekt vor <strong>de</strong>m königlichen Geschlecht war in <strong>de</strong>n letzten Wochen dahingeschrumpft, bis es nur noch ein<br />

elendiges Häuflein war, ganz so wie Leonart selbst.<br />

Dieser ballte in unbändigem Zorn die Faust, und als er die Finger wie<strong>de</strong>r freigab, waren blutige Kerben auf <strong>de</strong>r<br />

Innenfläche seiner Hand zu sehen. „Ihr wagt es...“ flüsterte er und wollte auf <strong>de</strong>n Ritter zustürmen, jedoch wur<strong>de</strong> er<br />

von seinem Vater zurückgehalten.<br />

„Ihr scheint vergessen zu haben, mir Bericht zu erstatten, Sir <strong>Arathas</strong>“ ließ sich Westfald vernehmen. „Immerhin habe<br />

ich Euch losgeschickt, um mir Nachricht zu sen<strong>de</strong>n von Euren Lehen.“<br />

„Und Ihr habt mir diesen Bastard von Reeves gleich hinterhergeschickt, nicht wahr?“ Dynes lachte bitter. „Ich habe<br />

eins und eins zusammengezählt, Herr. Dieser Hurensohn hatte von Anfang an <strong>de</strong>n Auftrag, mir im Weg zu stehen und<br />

mich zu erledigen, habe ich Recht?“<br />

Der König zögerte und blickte zu Keldar und Indigo, die allerdings einfach nur abzuwarten schienen, was als nächstes<br />

geschah.<br />

„Ihr habt Recht. Aber wie ich sehe, hatte er keinen großen Erfolg damit“ meinte Westfald letztendlich. „Denn Ihr<br />

steht vor mir, lebendig wie eh und je. Sehr zu meinem Bedauern, wie ich Euch gestehen muß.“<br />

216


„Mistkerl“ zischte Dynes und wäre fast versucht gewesen, mit bloßen Fäusten auf <strong>de</strong>n König loszugehen. Doch die<br />

Wachen, die rings um ihn stan<strong>de</strong>n und ihre Schwerter gezogen hielten, gemahnten ihn zur Vorsicht. „Mistkerl“<br />

wie<strong>de</strong>rholte er.<br />

„Und aus welchem Grund seid Ihr nun hier?“ fragte Westfald wie beiläufig. „Wolltet Ihr Euch rächen?“<br />

„Mich rächen?“ Erstaunt sah <strong>Arathas</strong> ihn an. „Reeves ist tot. Euer Plan ging nicht auf.”<br />

„Ich glaube, daß Vater an etwas an<strong>de</strong>res gedacht hat“ sagte Leonart und grinste hämisch. „O<strong>de</strong>r habt Ihr Euch niemals<br />

gefragt, wie Eure Eltern wirklich ums Leben kamen?“<br />

„Was wollt Ihr damit sagen? Re<strong>de</strong>t, Mann!“<br />

„Ihr kennt die Wahrheit noch gar nicht?“ Leonart lachte gackernd auf. „Das tut mir leid.“<br />

„Nun <strong>de</strong>nn“ setzte Westfald an. „Euer Vater war ein Mann <strong>de</strong>s Volkes. Er besaß zwar nur ein paar kleine Lehen im<br />

Äußeren Reich, aber er war <strong>de</strong>r Liebling <strong>de</strong>r einfachen Leute. Und nach<strong>de</strong>m unser letzter König an seiner Krankheit<br />

dahinsiechte und schon bald zu versterben drohte, suchte er nach einem würdigen Nachfolger. Ihr wißt, er hatte we<strong>de</strong>r<br />

Frau noch Kind, und so eilte es, jeman<strong>de</strong>n zu fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r ihn ersetzen wür<strong>de</strong>. Und lei<strong>de</strong>r hatte <strong>de</strong>r König ein Auge auf<br />

Euren Vater geworfen, Sir <strong>Arathas</strong>. Und als er in seinem Totenbett nach ihm verlangte, da schickte ich ein paar<br />

meiner Leute, um ihn auf seinem Weg abzufangen. Euer Vater kam niemals lebend auf <strong>de</strong>r Hochburg an, ebensowenig<br />

wie Eure Mutter.“<br />

„Und dann erzähltet Ihr mir, daß sie von Wegelagerern überfallen wor<strong>de</strong>n seien...“ flüsterte Dynes, als er die<br />

Wahrheit erkannte.<br />

„Ihr wart noch ein Kind, Sir <strong>Arathas</strong>. Zu meinem großen Bedauern ließ ich Gna<strong>de</strong> vor Recht ergehen und schonte<br />

Euer Leben. Niemals hätte ich gedacht, daß Ihr tatsächlich nach Eurem Vater kommen könntet.“<br />

Mit beben<strong>de</strong>n Fäusten blickte <strong>de</strong>r Ritter seinem König in die Augen, und plötzlich erfüllte Haß seine Sinne. Ohne sich<br />

beherrschen zu können sprang er auf und wollte auf Westfald losgehen, doch noch im selben Moment huschte Leonart<br />

nach vorn und riß sein Schwert hoch. Aus einem Reflex heraus wandte sich Dynes im Sprung zur Seite, und so<br />

erwischte ihn die Klinge <strong>de</strong>s Prinzen nur am Arm anstatt an <strong>de</strong>r Brust. Mit einer tiefen Fleischwun<strong>de</strong> purzelte <strong>Arathas</strong><br />

zu Bo<strong>de</strong>n und hielt sich die <strong>de</strong>n bluten<strong>de</strong>n Einschnitt. Leonart, <strong>de</strong>r lächelnd auf ihn zutrat, erhob seine Klinge.<br />

„Jetzt wer<strong>de</strong>t Ihr für das büßen, was Ihr meinem Freund angetan habt, Dynes.“<br />

„Es wäre eine Wohltat, endlich einmal tatsächlich zu sterben, wenn es mir angedroht wird.“<br />

„Ihr macht Euch zum letzten Mal über mich lustig“ zischte <strong>de</strong>r Prinz und wollte das Schwert auf Dynes’<br />

ungeschützten Hals nie<strong>de</strong>rfahren lassen. Doch ein einziges Wort aus Indigos Mund ließ ihn verharren.<br />

„Halt“ sagte <strong>de</strong>r Jurakai. Leise, aber eindringlich. „Steckt die Waffe weg.“<br />

Leonart starrte die verhüllte Gestalt mit unverhohlener Wut an, beugte sich jedoch ihrem Willen und versenkte die<br />

Klinge in ihrer Schei<strong>de</strong>. Knurrend begab er sich an die Seite seines Vaters zurück.<br />

„Steht auf“ sagte Indigo an Dynes gewandt und half <strong>de</strong>m Verwun<strong>de</strong>ten nach oben. Ein tiefer Schnitt zeigte sich dort,<br />

wo Leonarts Schwert ihn getroffen hatte.<br />

„Nicht so schlimm“ murmelte Dynes und umwickelte die Verletzung mit <strong>de</strong>m Stoff seines Hem<strong>de</strong>s, um das Blut<br />

abzuschnüren.<br />

Indigo schritt zu Westfald und schob seine Kapuze vom Kopf. Neugierig betrachtete <strong>de</strong>r König das Gesicht <strong>de</strong>s<br />

Frem<strong>de</strong>n.<br />

„Mein Name lautet Asan An’chassar, Hoheit. Ich bin nicht gekommen, um Euch Ehre zu erbieten.“<br />

„Weswegen dann, Frem<strong>de</strong>r?“<br />

„Ich stelle Euch ein Ultimatum, König Westfald. Euch bleiben zwei Möglichkeiten. Wählt Ihr die erste, kann<br />

unnötiges Blutvergießen vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Wenn Ihr Euch für die zweite Entschei<strong>de</strong>t, wer<strong>de</strong>t Ihr sterben. Ihr und<br />

alle Eure Untertanen.“<br />

Eine lange Zeit schwieg Westfald, dann winkte er einen Menschen heran, <strong>de</strong>r sich Abseits gehalten hatte. Eine<br />

schlangengleiche Gestalt glitt lautlos an seine Seite und neigte unterwürfig <strong>de</strong>n Kopf.<br />

„Dies ist mein persönlicher Priester und Diener. Er wird mit anhören, was Ihr zu sagen habt.“<br />

Indigo nickte. „So sei es.“<br />

„Nun sprecht“ verlangte Westfald und hob ungeduldig eine Hand.<br />

„Bevor ich auf meine For<strong>de</strong>rungen eingehe, Hoheit, bitte ich Euch, mir in die Augen zu sehen.“<br />

„Sie sind schwarz. Und?“<br />

„Wißt Ihr, was das zu be<strong>de</strong>uten hat, König Westfald?“<br />

„Ihr wer<strong>de</strong>t es mir erzählen, hoffe ich.“<br />

Indigo verbeugte sich. Die Geste wirkte abgrundtief falsch, <strong>de</strong>nn in Indigos Gesicht stand alles an<strong>de</strong>re als Respekt<br />

o<strong>de</strong>r Unterwürfigkeit geschrieben.<br />

„Ich bin ein Shat’lan, Hoheit. Ich gehe davon aus, daß Ihr bereits von meinem Volk gehört habt.“<br />

Der Priester an Westfalds Seite schnappte hörbar nach Luft, doch <strong>de</strong>r König selbst blieb ruhig. „Die Shat’lan sind<br />

ausgerottet. Möglich, daß sie früher einmal existierten. Doch die Könige vor mir haben sie bis auf <strong>de</strong>n letzten<br />

vernichtet.“<br />

„Und für was haltet Ihr dann das Heer, das vor Euren Toren wartet?“<br />

217


„Ich weiß nicht, von was Ihr sprecht“ sagte Westfald, doch sein Tonfall strafte ihn Lügen.<br />

„Ich rate Euch, kein Spiel mit mir zu spielen, Hoheit. O<strong>de</strong>r es könnte Euer letztes sein.“<br />

„Ihr wagt es, mir zu drohen? Um Euch herum stehen die besten Ritter <strong>de</strong>s gesamten Reiches, Mann. Ihr dagegen<br />

besitzt nicht einmal eine Waffe!“<br />

„Mein Geist ist meine Waffe. Ich weiß, daß Ihr die Drachen bereits gesehen habt, Hoheit. Sie warten nur auf einen<br />

Befehl von mir, um anzugreifen. In <strong>de</strong>m Moment, in <strong>de</strong>m Ihr das Schwert gegen mich erhebt, erheben sich die<br />

El’cha<strong>de</strong>rar und machen diese Festung <strong>de</strong>m Erdbo<strong>de</strong>n gleich.“<br />

„Gleichviel. Ihr wärt ebenso tot wie wir.“<br />

„Entschuldigt, Hoheit. Aber habe ich auch nur mit einem Wort erwähnt, daß ich dabei sterben könnte?“<br />

„Ihr haltet Euch also für unsterblich, wie?“<br />

Indigo lächelte. „Ihr wollt mich auf die Probe stellen?“<br />

Ein scharfes Klirren ertönte, als <strong>de</strong>r Prinz sich erhob und seine Waffe aus <strong>de</strong>r Schei<strong>de</strong> riß. „Ich wer<strong>de</strong> Euch töten. Ihr<br />

seid ein verdammter Narr, Frem<strong>de</strong>r!“<br />

Leonart blickte zu seinem Vater, <strong>de</strong>r seinem Sohn mit einem grimmigen Nicken erlaubte, anzugreifen.<br />

Sofort flog die Klinge nach vorn, doch sie streifte nur leere Luft an <strong>de</strong>r Stelle, an <strong>de</strong>r Indigo sich gera<strong>de</strong> noch<br />

befun<strong>de</strong>n hatte.<br />

„Dies ist Eure letzte Chance, das Leben Eures Sohnes zu retten, Hoheit.“<br />

„Hört auf zu schwätzen!“ kreischte Leonart und schwang sein Schwert. Wie<strong>de</strong>r erzeugte es nicht mehr als ein Pfeifen,<br />

als es die Luft durchschnitt. Wütend sprang <strong>de</strong>r Prinz vor und versuchte, seine Waffe wenigstens in die Nähe <strong>de</strong>s<br />

Frem<strong>de</strong>n zu bringen. Dieser jedoch wich trotz offensichtlicher Verletzungen mit Leichtigkeit aus und lächelte<br />

hintergründig.<br />

„Nun, Ihr habt es so gewollt.“<br />

Indigo sah <strong>de</strong>m Prinzen in die Augen, und noch während Leonart sein Schwert erneut erhob, verän<strong>de</strong>rte sich sein<br />

Gesichtsausdruck und wich einem entsetzten, ungläubigen Glotzen. Er umklammerte das Heft seiner Waffe, wollte<br />

<strong>de</strong>n Blick abwen<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>m Shat’lan, doch er konnte nicht. Langsam, als wür<strong>de</strong> er in <strong>de</strong>r Bewegung erstarren,<br />

senkte er die Klinge und hielt die Spitze so, daß sie auf ihn selbst gerichtet war. Auf sein Herz. Seine Miene verriet<br />

einen inneren Konflikt. Aber <strong>de</strong>r Junge war machtlos.<br />

Der König, <strong>de</strong>r zu spät erkannte, was hier vorging, streckte die Hand aus und wollte etwas rufen, doch noch im selben<br />

Augenblick hatte Leonart zugestoßen und sich das Schwert in <strong>de</strong>n Leib gerammt. Indigo noch immer in die Augen<br />

starrend sank er zu Bo<strong>de</strong>n. Eine Blutlache breitete sich um <strong>de</strong>n toten Körper herum aus und wur<strong>de</strong> beständig breiter.<br />

„An’chassar braucht keine Waffen mehr“ lächelte Keldar grimmig. „Er trägt die Worte in seinem Kopf.“<br />

„Mein Sohn“ hauchte Westfald und öffnete und schloß seinen Mund mehrmals. „Ihr habt...“<br />

„Ich habe Euch gewarnt“ sagte Indigo fest. „Und nun solltet Ihr tun, was ich sage, wenn Ihr weiteres Leid vermei<strong>de</strong>n<br />

wollt.“<br />

„Verfluchter Hurensohn“ grollte Westfald und war geneigt, sein eigenes Schwert zu fassen.<br />

„Braucht Ihr einen weiteren Beweis meiner Macht?“ fragte Indigo schnell und <strong>de</strong>utete auf die zusammengesackte<br />

Gestalt Leonarts. Dynes war gera<strong>de</strong> dabei, das Schwert aus <strong>de</strong>r Leiche zu ziehen, als Indigo eine abwehren<strong>de</strong> Geste<br />

machte.<br />

„Laßt ihn liegen, Sir <strong>Arathas</strong>“ verlangte er. „Und Ihr, Hoheit, lauscht nun besser meinen Worten.“<br />

Seine Fingernägel in das Holz seines Thrones grabend preßte Westfald sich zurück. „Sprecht, Frem<strong>de</strong>r.“<br />

Ein Lächeln zog sich über Indigos Lippen. „Frem<strong>de</strong>r? Ich glaube, Ihr wißt nicht, was dieses Wort be<strong>de</strong>utet, Hoheit. Ihr<br />

seid <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong>. Ihr und Euer ganzes Volk. Dies ist unser Land, Hoheit. All die Wei<strong>de</strong>n, Wäl<strong>de</strong>r und Ebenen, die Ihr<br />

seht, wenn Ihr von Eurer Burg hinabblickt... all dies ist unser Land. Einst wur<strong>de</strong> es uns entrissen, mit Gewalt<br />

genommen. Doch die Shat’lan sind mächtig, Hoheit. Mächtiger als alle Eure Armeen zusammen. Unser Verbün<strong>de</strong>ter<br />

ist <strong>de</strong>r El’cha<strong>de</strong>rar, <strong>de</strong>r Drache. Ich und mein Volk, wir wer<strong>de</strong>n uns wie<strong>de</strong>rholen, was uns zusteht. Ihr habt dieses<br />

Land lange genug geplün<strong>de</strong>rt.“<br />

„Dann sagt mir, was Ihr verlangt, Mann! Ist es Gold? Ist es Reichtum? Den könnt Ihr haben!“<br />

Indigo schüttelte <strong>de</strong>n Kopf, lächelte noch immer. „Ihr seid so engstirnig, Hoheit. Die Shat’lan besie<strong>de</strong>lten Ruben. Das<br />

ganze Ruben. So war es, und so wird es sein. Ich, Asan An’chassar, verlange von Euch, daß Ihr Euch ins Exil begebt,<br />

König Westfald. Ihr – und Euer gesamtes Volk. Alle Menschen, die in Ruben leben, wer<strong>de</strong>n unser Land verlassen und<br />

niemals wie<strong>de</strong>r einen Fuß darauf setzen. Erfüllt diese Bedingung – und Ihr lebt. Wi<strong>de</strong>rsetzt Euch mir - und Ihr wer<strong>de</strong>t<br />

sterben.“<br />

Stille herrschte im Saal, als <strong>de</strong>r König mit ruhigem Gesicht die bei<strong>de</strong>n Shat’lan betrachtete. Es schien, als wür<strong>de</strong> er<br />

eine Ewigkeit lang nur dasitzen und ins Leere starren, als ein leises Glucksen erklang. Das Geräusch gewann an<br />

Festigkeit, und bald schon war Westfald in einen wahren Lachkrampf ausgebrochen. Er schlug sich auf die Schenkel<br />

und lachte herzhaft, doch Indigo stand noch immer reglos am selben Platz, verzog keine Miene. Langsam beruhigte<br />

sich <strong>de</strong>r König wie<strong>de</strong>r.<br />

218


„Wie... wie stellt Ihr Euch das vor, Mann?“ fragte er, und seine Stimme hob sich. „Soll ich vor meine Tore treten und<br />

rufen: „Mein Volk! Versammelt Euch, verlaßt Eure Häuser und verlaßt dieses Land, <strong>de</strong>nn ein einzelner Mann befahl<br />

es mir!“ Was glaubt Ihr, was geschehen wird, Shat’lan? Sie wer<strong>de</strong>n nicht auf mich hören! Sie leben in Ruben.“<br />

„Allerdings nicht mehr lang“ antwortete Indigo unbeeindruckt. „Und auch Ihr wer<strong>de</strong>t nicht mehr lange leben, wenn<br />

Ihr noch einmal mir gegenüber Eure Stimme erhebt.“<br />

Westfald verzog die Lippen und packte <strong>de</strong>n Geistlichen, <strong>de</strong>r an seiner Seite stand, am Arm. Seine Braue zuckte<br />

unkontrolliert, als er <strong>de</strong>n Kopf <strong>de</strong>s Mannes zu sich heranzog. Tuschelnd berieten sich die bei<strong>de</strong>n, dann blickte<br />

Westfald auf. Auch <strong>de</strong>r schlangengleiche Mann erhob sich aus seiner gebückten Lage und bleckte die Zähne.<br />

„Ihr beherrscht die Kunst <strong>de</strong>r Worte, Frem<strong>de</strong>r.“ Westfald ballte die Faust. „Doch Ihr seid nicht <strong>de</strong>r einzige. Eure<br />

Macht ist nichts im Vergleich zu <strong>de</strong>r, die ich unter meinem Befehl habe.“<br />

Indigo sah ihn ernst an. „Ihr begeht einen Fehler, Hoheit.“<br />

„Priester“ wandte sich Westfald an <strong>de</strong>n kahlköpfigen Mann. „Töte ihn.“<br />

„Sehr wohl“ erklang die geraunte Antwort.<br />

Der Geistliche hob die Hän<strong>de</strong>, als er begann, die Worte heraufzubeschwören. Indigo ließ ihn gewähren. Er sagte<br />

nichts, blickte ihm einfach nur in die Augen, während <strong>de</strong>r Priester einsilbige Worte murmelte. Eine halbe Ewigkeit<br />

lang starrten sich die bei<strong>de</strong>n an, und es schien, als wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Geistliche <strong>de</strong>n Blick abwen<strong>de</strong>n müssen, als hielte er <strong>de</strong>r<br />

Macht <strong>de</strong>s verhüllten Mannes nicht stand. Doch dann schwoll seine Brust ebenso an wie <strong>de</strong>r Klang seiner Worte, und<br />

ein höhnisches Grinsen trat auf seine Züge.<br />

„Ihr seid nicht halb so mächtig, wie Ihr uns Glauben machen wollt“ flüsterte <strong>de</strong>r Kahlköpfige, und seine Stimme fing<br />

an, sich zu überschlagen, als das Wort Form annahm und sich festigte. Fast füllte es <strong>de</strong>n Raum aus, war wie etwas<br />

Greifbares zu erhaschen.<br />

„Meint Ihr?“ fragte Indigo, und auch er lächelte. Der Priester kniff die Augen zusammen, und im selben Moment<br />

wur<strong>de</strong> ein Schwert mit solcher Wucht von hinten durch seinen Rücken gestoßen, daß die Klinge aus seiner Brust<br />

hervortrat. Ungläubig betrachtete <strong>de</strong>r Geistliche die blutige Schnei<strong>de</strong>, die dort aus seinem Körper herausragte, dann<br />

rutschte er an <strong>de</strong>r Klinge entlang und fiel tot zu Bo<strong>de</strong>n.<br />

Der Ritter, <strong>de</strong>r hinter ihm gestan<strong>de</strong>n hatte und nun die Mordwaffe in <strong>de</strong>r Hand hielt, bewegte zitternd die Lippen. „Ich<br />

wollte nicht... ich habe...“ stammelte er. Dann sackte er bebend zusammen, und nur noch ein leises Wimmern war zu<br />

hören.<br />

„Genug“ erklang Westfalds Stimme im schweigen<strong>de</strong>n Saal. „Es ist genug, Shat’lan. Ich habe gesehen, was ich sehen<br />

mußte. Niemand wird Euch mehr angreifen, das schwöre ich Euch. Auch Ihr, Dynes, wer<strong>de</strong>t verschont. Ich beuge<br />

mich <strong>de</strong>r Gewalt. Betrachtet Euch als Sieger, Frem<strong>de</strong>r.“ Ein erschöpfter Ausdruck lag auf <strong>de</strong>s Königs Zügen, nach<strong>de</strong>m<br />

er die Worte hervorgebracht hatte. Er wußte, wann er verloren hatte.<br />

Indigo nickte. „Ihr habt die richtige Entscheidung gefällt, Hoheit. Die einzige, die Euch und Eurem Volk das Leben<br />

retten konnte.“<br />

„Und was sollen wir nun tun?“ fragte Westfald verwirrt. Er trug eine Miene zur Schau, die herzerweichend war. Der<br />

starke, ungebändigte König fügte sich einem frem<strong>de</strong>n Willen.<br />

„Ihr wer<strong>de</strong>t die Nachricht unter Eurem Volk verkün<strong>de</strong>n, daß die Shat’lan zurückgekehrt sind, Hoheit. Anschließend<br />

wer<strong>de</strong>t Ihr ins Exil gehen. Ich lasse Euch drei volle <strong>Mond</strong>e Zeit, um alles vorzubereiten. Nach dieser Frist will ich nie<br />

wie<strong>de</strong>r einen Menschen auf Rubens Antlitz sehen.“<br />

„Wohin sollen wir gehen? Hinter <strong>de</strong>m südlichen Gebirge liegt nur endlose Wüste“ sagte <strong>de</strong>r König gebrochen. „Kein<br />

Mensch kann dort für längere Zeit überleben.“<br />

„Dann reist in <strong>de</strong>n Nor<strong>de</strong>n, Hoheit.“<br />

„Seid Ihr verrückt? Der Nor<strong>de</strong>n ist durchzogen mit <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nsten Orkstämmen! Und nicht nur Orks leben dort,<br />

son<strong>de</strong>rn noch viel Schlimmeres...“<br />

Indigo winkte ab. „Ihr seid groß darin, Völker zu verdrängen und auszurotten, Hoheit. Eure gesamte Rasse ist wie<br />

geschaffen dafür. Ihr wer<strong>de</strong>t bestimmt keine Mühe damit haben, das Land für Euch zu beanspruchen.“<br />

Mit einem Kopfschütteln senkte Westfald das Haupt und ließ sich von seinem Thron sinken. „Dann erweist mir<br />

wenigstens die eine Ehre und verlaßt mich nun“ murmelte er.<br />

Indigo nickte Keldar zu, und auch Dynes, <strong>de</strong>r das gesamte Schauspiel still verfolgt hatte, zog sich mit ihnen zurück.<br />

Hinter ihnen fiel König Westfald auf die Knie und nahm die leblose Hand seines Sohnes vom Bo<strong>de</strong>n auf. Zum ersten<br />

Mal in seinem Leben hatte er eine Nie<strong>de</strong>rlage erlitten. Zum ersten Mal in seinem Leben weinte er.<br />

„Du hast es geschafft, An’chassar“ murmelte Keldar, und seine Worte hallten von <strong>de</strong>n marmornen Wän<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r.<br />

„Schatten muß nicht mehr vor Sonne weichen...“<br />

„So stellt Ihr Euch also die Lösung all Eurer Probleme vor“ sagte Dynes, während sie durch die Hallen wan<strong>de</strong>rten.<br />

„Ich verstehe Eure Sorge, Sir <strong>Arathas</strong>.“ Indigo hielt an und wartete, bis <strong>de</strong>r Ritter es ihm gleich tat. „Doch Ihr braucht<br />

keine Angst zu haben.“<br />

„Um was sollte ich noch Angst haben?“ erkundigte Dynes sich schwach. „Da Ihr sowieso schon alles an Euch gerissen<br />

habt, das Ihr bekommen konntet.“<br />

219


„Ich wer<strong>de</strong> Euch und <strong>de</strong>nen, die Euch folgen, nichts zu Lei<strong>de</strong> tun. Ihr habt uns geholfen, als wir Hilfe dringend<br />

benötigten. Nun wer<strong>de</strong> ich Euch helfen.“<br />

Skeptisch sah <strong>de</strong>r Ritter ihn an. Er wollte die Achseln zucken, doch <strong>de</strong>r Schmerz im Arm hin<strong>de</strong>rte ihn daran. „Und?“<br />

„Ich gewähre Euch, in Ruben zu bleiben, Sir <strong>Arathas</strong>. Ihr und Euer Gefolge müßt das Land nicht verlassen. Ich<br />

schenke Euch einen Stück Land, wenn Ihr wollt.“<br />

Dynes sah zu Keldar, <strong>de</strong>r stumm wartete. Dann sah er wie<strong>de</strong>r zu Indigo, und mit einem Mal mußte er herzlich lachen.<br />

All die Bitterkeit, die sich in sein Herz gefressen hatte, all das Leid, das er mit ansehen mußte, all diese Dinge lachte<br />

er nun heraus. Seine Stimme hallte von Wän<strong>de</strong>n und Decken wie<strong>de</strong>r, während er sich <strong>de</strong>n Bauch faßte und glucksend<br />

in die Hocke ging. Selbst die Wun<strong>de</strong> am Arm vergaß er vor lauter Heiterkeit, und ein Blutstrom ergoß sich von seinem<br />

Ärmel und benetzte die weißen Fliesen.<br />

Die bei<strong>de</strong>n Shat’lan wußten nicht so recht, wie sie auf dieses Verhalten reagieren sollten, und so blieben sie geduldig<br />

stehen und sahen <strong>de</strong>m seltsamen Menschen zu, wie er lachte.<br />

Irgendwann verebbte das laute Geräusch, und Dynes schüttelte, immer noch schmunzelnd, <strong>de</strong>n Kopf.<br />

„Ihr seid tatsächlich noch ein Kind, An’chassar. Nichts weiter als ein törichtes, unwissen<strong>de</strong>s Kind.“ Er sah <strong>de</strong>m<br />

Shat’lan in die Augen. „Und darum vergebe ich Euch auch Eure Worte.“<br />

Verdutzt blickte Indigo ihn an. Er konnte nichts erwi<strong>de</strong>rn.<br />

„Ich vergebe sie Euch, <strong>de</strong>nn Ihr wißt es nicht besser“ fuhr Dynes fort. „Vielleicht lernt Ihr mit <strong>de</strong>r Zeit, doch im<br />

Moment seid Ihr lei<strong>de</strong>r nichts weiter als ein Kind, das zu früh an die Macht gelangt ist.“<br />

Er verschnaufte und holte Luft, bevor er weitersprach.<br />

„Ich schlage Euer Angebot aus, An’chassar. Ich wer<strong>de</strong> zusammen mit meinem Volk ins Exil gehen.“<br />

220


Nachwort<br />

Ein neuer Frühling war gekommen und hatte die kläglichen Reste <strong>de</strong>s Winters hinfortgeweht.<br />

König Westfald hatte sein Wort gehalten, und noch vor En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Winters hatte sich ein Pilgerstrom von wahrhaft<br />

gigantischen Ausmaßen zusammengefun<strong>de</strong>n, um das Reich für immer zu verlassen. Die Manur hatten die Grenzen<br />

Rubens nach Nordwesten hin überschritten, und nun besie<strong>de</strong>lten bereits seit mehreren Monaten wie<strong>de</strong>r die<br />

ursprünglichen Gebieter das ihnen anvertraute Land. Viele Shat’lan, vor allem die Älteren und Schwächeren, hatten<br />

es vorgezogen, ihr Leben auch weiterhin in <strong>de</strong>n Malasae zu verbringen, wie sie es seit Jahrhun<strong>de</strong>rten gewohnt waren,<br />

doch die meisten Schwarzäugigen stellten sich <strong>de</strong>r Herausfor<strong>de</strong>rung und kolonisierten die verlassenen Landflächen,<br />

die die Menschen zurückgelassen hatten und die von Grauseeles Armeen verwüstet wor<strong>de</strong>n waren.<br />

Nach vielen Treffen und Unterredungen mit <strong>de</strong>n Dverjae waren Abkommen getroffen wor<strong>de</strong>n, die für alle Seiten<br />

zufrie<strong>de</strong>nstellend waren. Asans Suche nach überleben<strong>de</strong>n Jurakai war nicht erfolglos geblieben, und bald schon hatte<br />

er, auf <strong>de</strong>m Rücken <strong>de</strong>s El’cha<strong>de</strong>rar, das gesamte Land durchkämmt. Viele <strong>de</strong>r übriggebliebenen Stämme hatten sich<br />

auf Grund <strong>de</strong>r Nachrichten von Angriffen in ihre Waldstädte zurückgezogen und dort <strong>de</strong>n gesamten Herbst und<br />

Winter verbracht. Manche fand er auch in <strong>de</strong>n Städten <strong>de</strong>r Zwerge, wo sie vom kleinen Volk aufgenommen wor<strong>de</strong>n<br />

waren. An’chassar begegnete ihnen mit Liebe und Respekt, und seine Großherzigkeit wur<strong>de</strong> mit Wohlwollen<br />

vergolten.<br />

Innerhalb kürzester Zeit hatte ein einzelner Mann das gesamte Reich vereint, hatte <strong>de</strong>n verbannten Shat’lan zu ihrem<br />

rechtmäßigem Platz unter Rubens Sonne verholfen. Asan hatte sich das Ziel gesetzt, einen neuen Rat aufzubauen, und<br />

die ersten Mitglie<strong>de</strong>r neben ihm waren Keldar und seine Tochter Saya. Der Zirkel wuchs ständig, und durch die Lehre<br />

An’chassars wur<strong>de</strong> es erstmals möglich, daß schon sehr junge Shat’lan in <strong>de</strong>n Worten unterrichtet wur<strong>de</strong>n.<br />

Der son<strong>de</strong>rbare weiße Drachen jedoch, <strong>de</strong>r Asan am Tage <strong>de</strong>r Schattenwen<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>n Toren <strong>de</strong>s Hochkönigs leitete,<br />

blieb verschwun<strong>de</strong>n. Er wur<strong>de</strong> niemals wie<strong>de</strong>r erblickt, und schon jetzt sprachen viele von ihm, als wäre eine reine<br />

Phantasiegestalt. Das Garn unglaublicher Geschichten begann, gesponnen zu wer<strong>de</strong>n...<br />

Indigo zögerte, bevor er <strong>de</strong>n gewebten Vorhang vom Fenster zurückzog. Die trübe Dunkelheit, das schattige Licht, das<br />

jetzt im Raum lag, hatte etwas gemütliches und... vertrautes. Er senkte die Hand und ging zum Bett zurück, in <strong>de</strong>m<br />

Saya lag und schlief. Ihr Bauch hatte bereits angefangen, sich zu wölben, und mit Verzückung betrachtete <strong>de</strong>r Jurakai<br />

die schlafen<strong>de</strong> Gestalt.<br />

Er legte sich wie<strong>de</strong>r ins Bett, hoffte, daß er sie nicht aufgeweckt hatte, doch ein leises Murmeln belehrte ihn eines<br />

Besseren. Saya rollte sich herum, so daß sie Angesicht zu Angesicht auf <strong>de</strong>r Matratze lagen, und verschlafen öffnete<br />

sie ihre Augen.<br />

„Asan“ flüsterte sie, und er legte einen Arm um ihren Körper, zog sie an sich.<br />

„Es tut mir leid, dich geweckt zu haben. Es ist noch früh. Schlaf weiter, Kleines.“<br />

Die junge Shat’lan lächelte und wand sich aus <strong>de</strong>r Umarmung. „Nein, ich bin nicht mehr mü<strong>de</strong>.“ Und mit diesen<br />

Worten erhob sie sich aus <strong>de</strong>m Bett, schlüpfte schnell in ihre Kleidung. Die dunklen Töne ihres Volkes hatten sie<br />

zugunsten hellerer Farben eingetauscht, und Indigo fand, daß sie einfach unwi<strong>de</strong>rstehlich in ihrem laubbraunen,<br />

hellen Gewand aussah. Mit einem Handschlag hatte Saya <strong>de</strong>n Vorhang beiseite geschoben, und mit langen Schritten<br />

verließ sie das Zimmer. Der Jurakai folgte ihr, eilte ihr durch die Tür ihres kleinen Hauses nach. Sie hatte sich vor <strong>de</strong>r<br />

Wohnung auf einem bläulich gesprenkelten Stein nie<strong>de</strong>rgelassen, um <strong>de</strong>n schon die ersten Frühlingsblumen aus <strong>de</strong>m<br />

Bo<strong>de</strong>n sprossen. Er setzte sich von hinten zu ihr, umarmte sie und legte seinen Kopf auf ihre Schulter.<br />

Ebenwal<strong>de</strong>n war einer <strong>de</strong>r schönsten Orte, die von <strong>de</strong>n Shat’lan neu aufgebaut wor<strong>de</strong>n waren, und langsam begannen<br />

die Arbeiten an <strong>de</strong>r Stadt an Farbe zu gewinnen. Der Umstand, daß Ebenwal<strong>de</strong>n sich in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Ra’an-Gebirges<br />

befand, machte die kleine Siedlung zu einer wahrhaft multitkulturellen Stätte. Nicht nur Jurakai und Shat’lan hatten<br />

sich dort zusammengefun<strong>de</strong>n, sogar einige <strong>de</strong>r Dverjae ließen sich hier nie<strong>de</strong>r. Auch Elan<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r seit <strong>de</strong>n Tagen <strong>de</strong>r<br />

Schattenwen<strong>de</strong> ein enger Freund Sayas und Indigos war, hatte sich dafür entschie<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n kleinen Städten <strong>de</strong>r Dverjae<br />

zu entfliehen.<br />

Obwohl Ebenwal<strong>de</strong>n weitab vom neu errichteten Tempel <strong>de</strong>r Witterung im Herzen <strong>de</strong>r Schattenwäl<strong>de</strong>r, nahe<br />

Ney’fasa’le lag, verspürte Indigo nicht das geringste Verlangen, diesen Ort zu verlassen.<br />

„Es ist unglaublich, welche Hingabe die Völker zeigen, Asan“ sagte Saya mit Blick auf die hölzernen Bauten. „Jetzt,<br />

wo die meisten Städte nur noch Schutt und Asche sind, beginnt rings um uns das Leben zu erblühen.“<br />

„Und die Shat’lan sind endlich aus ihrem Versteck hervorgekrochen...“<br />

Saya blickte ihm in die tiefschwarzen Augen. „Ich möchte dich etwas fragen, Asan.“<br />

Indigo nickte stumm. Fragend blickte er seine zögern<strong>de</strong> Gefährtin an.<br />

„Glaubst du, daß Grauseele zurückkehren kann? Du hast ihn leibhaftig gesehen. Ist er in <strong>de</strong>r Lage dazu?“<br />

221


„Nein“ antwortete Indigo fest. „Grauseele hat Jahrhun<strong>de</strong>rtelang auf <strong>de</strong>r Lauer gelegen und gewartet, bis die<br />

El’cha<strong>de</strong>rar ihm nicht mehr gefährlich wer<strong>de</strong>n können. Erst, als die Drachen von <strong>de</strong>n Manur in die südlichen Gebirge<br />

gedrängt wur<strong>de</strong>n, hat er sich herausgewagt aus seinem Versteck. Die Menschen haben durch ihr Tun <strong>de</strong>m Monster<br />

einen Weg in die Freiheit geebnet. Aber nun sind die El’cha<strong>de</strong>rar zurückgekehrt, ebenso wie die Shat’lan, und<br />

gemeinsam sind sie stärker als je<strong>de</strong>r Feind. Grauseele ist feige, Saya. Er wird sich nicht wie<strong>de</strong>r hervorwagen.“<br />

Die junge Frau schloß die Augen, und ein zufrie<strong>de</strong>nes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.<br />

„Das ist sehr beruhigend.“ Indigos Hän<strong>de</strong> fuhren über ihren Bauch, kitzelten über ihre gestraffte Haut. „Kannst du sie<br />

fühlen?“ fragte sie ihn, und er schmiegte sich an ihre Seite.<br />

„Natürlich“ flüsterte er sanft in ihr Ohr. „Und meinem Gespür nach zu urteilen wird sie eine prächtige Shat’lan,<br />

Saya.“<br />

„Ich hoffe, daß ihr Leben angenehmer verläuft als das unsere“ murmelte die Shat’lan, und Indigo schüttelte <strong>de</strong>n Kopf.<br />

„Wer weiß? Die Zeit wird zeigen, was kommt. Alles liegt nun in unseren Hän<strong>de</strong>n.“<br />

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