Theater Nordhausen
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DER VERGESSENE DICHTER<br />
von Anja Eisner<br />
6<br />
Mein Blitz ist nie aus schnödem Groll herabgefahren;<br />
„Vaterland!“ – mein Schlachtgeschrei;<br />
„Friede!“ – mein Gebet und meine Kriegsfanfaren;<br />
„Gerechtsein!“ – meine Raserei.<br />
Und gegen schlammgebor’ne Schlangenbrut mein Feuer<br />
Zu schleudern, ist mein gutes Recht:<br />
Ausrotten, mitleidlos, die gift’gen Ungeheuer<br />
Gibt Leben menschlichem Geschlecht!<br />
7<br />
Der dies schrieb, war der adelige französische<br />
Lyriker André Marie de Chénier,<br />
der 1762 als Sohn des französischen<br />
Gesandtschaftsrates in Konstantinopel<br />
geboren wurde, und der 31-jährig in der<br />
Französischen Revolution 1794 auf der<br />
Guillotine geköpft wurde.<br />
Infolge des Siebenjährigen Krieges<br />
wurde der Vater Diplomat in Nordafrika,<br />
und die Familie übersiedelte, als André<br />
drei Jahre alt war, nach Frankreich. Erst<br />
elfjährig folgte André, der mit seinem<br />
jüngeren Bruder nach Südfrankreich<br />
zu einem Onkel gebracht wurde, seiner<br />
Mutter und den drei älteren Brüdern<br />
nach Paris. Dort erlebte der kleine,<br />
untersetzte, aber ungewöhnlich charmante<br />
Junge die Salons, die seine Mutter,<br />
eine gebürtige Griechin, wöchentlich<br />
abhielt. Schon bei seinem Onkel<br />
hatte er zu dichten begonnen: Melancholisches<br />
um Erotik, Eifersucht und<br />
andere Leidenschaften eines Heranwachsenden.<br />
Schnell wurde er gerngesehener<br />
Gast der Pariser Salons und<br />
Boudoirs. Seine Sensibilität bewahrte<br />
ihn davor, sich in den Trubel des Geschehens<br />
um ihn herum einbeziehen<br />
zu lassen. Stattdessen erhielt er sich<br />
seine von den griechischen Klassikern<br />
inspirierte poetische Sicht. Er übersetzte<br />
die antiken Klassiker und wurde<br />
für die Schönheit seiner Alexandriner<br />
bewundert. Nach dem Erstdruck seiner<br />
Werke (25 Jahre nach seiner Hinrich-<br />
tung) fand sein wehmütiger Grundton<br />
ein offenes Ohr bei den Romantikern<br />
des 19. Jahrhunderts.<br />
Für eine Militärlaufbahn war er nicht<br />
kräftig genug, so dass er 1787 Botschaftssekretär<br />
in London wurde.<br />
Im Sommer 1789, als die Revolution<br />
begann, war er im Urlaub in Paris und<br />
entschloss sich, als politischer Journalist<br />
vermittelnd zu wirken. Er trat für<br />
eine konstitutionelle Monarchie ein.<br />
So schrieb er mit am Plädoyer des Verteidigers<br />
von Louis XVI., der im August<br />
1792 abgesetzt und zur Persona non<br />
grata erklärt wurde. Chéniers Engagement<br />
führte auch zu seiner Verfolgung.<br />
Er floh nach Rouen, ging dann nach<br />
Versailles und wurde am 4. März 1794<br />
in Passy verhaftet. Dorthin hatte er<br />
eine Freundin begleitet, deren Mann<br />
des Verrats angeklagt war. Chénier<br />
wurde fünf Monate ins Gefängnis<br />
St. Lazare gesperrt. Als man ihm seine<br />
Anklage vor dem Revolutionstribunal<br />
verlas, stellte sich heraus, dass man<br />
ihn mit seinem jüngeren Bruder, der<br />
zuvor in St. Lazare gefangen gehalten<br />
wurde, verwechselt hatte. Der Irrtum<br />
wurde zwar aufgeklärt, aber das Urteil<br />
war bereits unveränderbar gefällt<br />
worden: Sofortiger Tod! Nur drei Tage<br />
vor dem Ende des Terrorregimes wurde<br />
André Chénier hingerichtet.<br />
Im Gefängnis hat Chénier eines<br />
seiner besten Werke verfasst, das<br />
Sabine Mucke, Kai Günther<br />
Poem „La jeune captive“, „Die junge<br />
Gefangene“. Zu dieser Meditation über<br />
das Gefängnis und den Tod wurde er<br />
von der verheirateten Anne (oder Aimée)<br />
de Coigny, die ebenfalls in St. Lazare<br />
eingesperrt war, inspiriert. Die Nachwelt<br />
erspann daraus eine Liebesbeziehung<br />
des Dichters (der übrigens nie<br />
verheiratet, aber mehrfach unglücklich<br />
verliebt war) zu der Frau. Doch<br />
möglicherweise hat die Coigny Chénier<br />
nicht einmal gekannt. In ihrer Autobiographie<br />
ist er nicht einmal erwähnt.<br />
Ebenfalls kurz vor seinem Tod schrieb<br />
er ergreifende Worte über die Poesie im<br />
Leben, ein Gedicht, das die Grundlage<br />
für Chéniers Arie „Come un bel dì di<br />
maggio“ im Schlussakt der Oper bildet.