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von Manfred Schallmeier, IG Metall Vorstand

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<strong>Manfred</strong> Schallmeyer<br />

Neujahrsempfang<br />

der Verwaltungsstelle Osnabrück<br />

am 25. Januar 2007<br />

im Gasthaus Thies, Rheiner Landstr. 16,<br />

49205 Hasbergen-Gaste<br />

- Es gilt das gesprochene Wort -


2<br />

Kolleginnen und Kollegen,<br />

auch in diesem Jahr stehen allen Menschen 365 Tage, 8.760 Stunden,<br />

525.600 Minuten oder 31.536.000 Sekunden zur Verfügung.<br />

Diese Zuteilung der Zeit am Beginn eines Jahres ist Chancengleichheit<br />

und Gerechtigkeit zugleich. Was wir daraus machen liegt auch an uns -<br />

aber eben nicht nur an uns.<br />

Auf jeden Fall: alles Gute, Gesundheit und Wohlbefinden. Berufliche<br />

Qualifizierung und Erfüllung an einem sicheren, menschengerechten<br />

Ausbildungs- und Arbeitsplatz. Gutes Geld für gute Arbeit. Sichere Rente<br />

für erbrachte Lebensleistung:<br />

Euch allen für die restlichen 340 Tage im neuen Jahr 2007.<br />

Und aus dem Reformhaus Ullalala Schmidt füge ich einen<br />

Spezialwunsch hinzu:<br />

Bleiben Sie gesund, damit Sie nicht krank sind, wenn Sie einmal tot<br />

gehen.


3<br />

Kolleginnen und Kollegen,<br />

Neujahrsempfänge sind willkommene Gelegenheiten,<br />

• Bilanz zu ziehen, was man geleistet,<br />

• und auch was man sich geleistet hat:<br />

selbstkritisch, aber selbst bewusst<br />

• vor allem aber:<br />

den Blick nach vorne zu richten, damit man sich für die Zukunft<br />

richtig aufstellt und sich politisch mit klarem Profil, mit Sympathie<br />

und Glaubwürdigkeit positioniert.<br />

Dazu hatte uns eigentlich auch Frau Dr. Angela Merkel auf unserem<br />

letzten Gewerkschaftstag in Hannover geraten.<br />

Zwar wieder mit so einem für sie typischen Gesichtsausdruck wie am<br />

Wahlabend, als wäre sie die Inhaberin einer Sodbrennerei. Aber sie hat<br />

uns durchaus Bemerkenswertes hinterlassen:<br />

„Wenn Sie <strong>von</strong> der <strong>IG</strong> <strong>Metall</strong> mit mir und meiner Partei Krach haben, ist<br />

das völlig in Ordnung. Aber wenn Sie als <strong>IG</strong> <strong>Metall</strong> mit vielen in dieser<br />

Republik zerstritten sind, dann sollten Sie doch einmal Gelegenheit<br />

nehmen, über Ihre Politik, über Ihre Positionen, Forderungen und<br />

Projekte tiefer und selbstkritischer nachzudenken!“<br />

Dieser Aufforderung möchte ich heute bei dieser Gelegenheit<br />

nachzukommen versuchen - mit einer paar Anmerkungen und Gedanken<br />

zu den Stichworten:


4<br />

1. das Reformhaus Deutschland mit seinen Rezepten für Gesundheit<br />

und Rente<br />

2. warum die <strong>IG</strong> <strong>Metall</strong> eine unbelehrbare Verfechterin des<br />

Sozialstaats ist - und hoffentlich immer bleibt.<br />

Und das alles nach dem Rhetorik-Grundsatz Nr. 1:<br />

In der Regel sollst Du Deine Rede an dem Tag beenden, an dem Du sie<br />

begonnen hast.<br />

Kolleginnen und Kollegen,<br />

Bei der letzten Bundestagswahl ist doch eines wohl ganz deutlich<br />

geworden:<br />

Es gibt in diesem Land keine Legitimation für eine weitere<br />

Radikalisierung der Gesellschaft und erst recht nicht für eine verschärfte<br />

neoliberale Politik.<br />

Die Wählerinnen und Wähler haben ganz klar zum Ausdruck gebracht,<br />

dass sie eine Stabilisierung und Weiterentwicklung des Sozialstaats<br />

wollen und keine Deregulierung oder gar Demontage.<br />

Und die Wirklichkeit?<br />

Nach gut ein einem Jahr sitzen CDU und SPD, sitzt die große Koalition<br />

im Umfragekeller. Von Edmund Stoiber und der bayrischen Staatspartei<br />

ganz zu schweigen.


5<br />

„Die große Koalition hätte die Chance gehabt, ein bisschen Hoffnung zu<br />

wecken!“ - sagt FORSA-Chef <strong>Manfred</strong> Güllner.<br />

Aber genau das passiert nicht. Die Leute glauben nicht mehr an die<br />

Politik. Resignation ist das vorherrschende Gefühl.<br />

Angela Merkel hat bei der Haushaltsberatung im Bundestag in Berlin bei<br />

ihrer Analyse folgendes wörtlich gesagt:<br />

„Das Vertrauen der Menschen in die Arbeit der Regierung ist<br />

verbesserungswürdig!“<br />

Nein!! Diese Analyse ist so falsch wie ignorant.<br />

Nicht das Vertrauen der Menschen in die Arbeit der Bundesregierung ist<br />

verbesserungswürdig. Die Arbeit der Regierung ist verdammt<br />

verbesserungsbedürftig.<br />

So wird ein Schuh draus.<br />

Dann klappt das auch wieder mit den Wählerinnen und Wählern. Dann<br />

gehen sie auch wieder zur Wahl.<br />

Da müssen sie ihre politische Meinung nicht durch Wahlenthaltung zum<br />

Ausdruck bringen und dadurch den Nazis <strong>von</strong> der NPD zu<br />

erschreckenden Stimmenanteilen verhelfen.


6<br />

Wir in der <strong>IG</strong> <strong>Metall</strong> haben manchmal den Eindruck: die Globalisierung<br />

<strong>von</strong> Wirtschaft und Gesellschaft wird zum willkommenen Anlass<br />

genommen, bewährte Errungenschaften gleichsam auf die Wühltische<br />

<strong>von</strong> Reformprozessen zu werfen, so als ginge es darum, angeblichen<br />

sozialen Ballast in der Gunst der Stunde zu entsorgen.<br />

Und was mich besonders aufregt: wie der Schwanz mit dem Hund<br />

wedelt die Wirtschaft mit der Politik.<br />

Teile der Wirtschaft sehen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nur<br />

noch als bloße Kostenfaktoren auf zwei Beinen: eben als laufende<br />

Kosten!<br />

Der kurzfristige ökonomische Erfolg und der Bückling vor den Aktionären<br />

ist der maßgeblichen Elite wichtiger geworden als die nachhaltige<br />

Sicherung des gesellschaftlichen Wohlstandes.<br />

Siemens liefert doch den besten Anschauungsunterricht in Sachen<br />

verrotteter Unternehmermoral und bizarr verrutschter ethischer<br />

Maßstäbe in den Topetagen mancher Konzerne.<br />

Da kämpften die Belegschaften der Siemens-Handywerke am<br />

Niederrhein und in München um ihre Arbeitsplätze und machten dem<br />

feinen Herrn <strong>von</strong> Pierer und seinem Nachfolger Zugeständnisse in<br />

Sachen Lohn und Arbeitszeit bis weit über die Schmerzgrenze hinaus -<br />

um am Ende doch verramscht zu werden: für 350 Mio. Handgeld an die<br />

Taiwanesen <strong>von</strong> BenQ.


7<br />

Und nach knapp einem Jahr unter neuem Firmenlogo finden sich über<br />

3.000 Kolleginnen und Kollegen in der Insolvenzmasse wieder, während<br />

sich die Siemens-Vorstände kurz zuvor 30 % Gehaltserhöhung<br />

genehmigt hatten.<br />

Der Erzbischof <strong>von</strong> Bamberg hat in einer Predigt zu diesem Thema<br />

gesagt: hier habe sich die Fratze des ungezügelten Kapitalismuses in<br />

ihrer ganzen Hässlichkeit offenbart.<br />

Es ist für die Betroffenen ein Desaster. Und für die Politiker, die sich<br />

dutzendweise im Rettungsvokabular geübt haben, ein weiterer bitter<br />

Beweis ihrer Ohnmacht in Zeiten der Globalisierung.<br />

Kolleginnen und Kollegen,<br />

in der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Debatte ist eines ganz<br />

deutlich geworden:<br />

Die Begeisterung für Reformen wächst mit dem Abstand zur eigenen<br />

Betroffenheit.<br />

Solange ich und meine Familie nicht betroffen sind, kann reformiert<br />

werden was will - Hauptsache es trifft mich nicht!<br />

Wasch mir den Pelz - aber mach mich nicht nass.


8<br />

Und genau deshalb demonstriert uns immer wieder sonntags um 21.45 h<br />

in der ARD bei Christiansen eine illustre intellektuelle Talkrunde <strong>von</strong><br />

Wochenend-Apokalyptikern ihre eindrucksvolle Fähigkeit,<br />

Selbstverständliches und Unwesentliches akzentuiert hervorzuheben,<br />

Banalitäten mutig auszusprechen und durch anglo-amerikanische<br />

Ausdrücke griffig und allgemein verständlich auf den Punkt zu bringen.<br />

Und das alles unter der bewährten Regie der umgeschulten<br />

Flugbegleiterin der Frau Christiansen, der Rache der Lufthansa für alle<br />

am Boden Gebliebenen.<br />

Unsere Elite - und die, die sich dafür halten - scheint das völlig abhanden<br />

gekommen zu sein, was die moderne Neuro-Biologie und -Psychologie<br />

die emotionale Intelligenz nennt, nämlich die Fähigkeit und auch die<br />

Bereitschaft, sich in die Rolle derjenigen zu versetzen, die als Opfer die<br />

Folgen ihrer Politikentwürfe und ihrer Weisheiten zu tragen haben.<br />

Ich war unserem früheren Bundespräsidenten - Johannes Rau -<br />

ausdrücklich dankbar, als er in seiner letzten großen Berliner Rede<br />

folgendes festgestellt hatte:<br />

„Der Vertrauensverlust in unserem Land hat aber auch ganz handfeste<br />

Gründe. Es ist nämlich ein Irrtum zu glauben, dass man Menschen zu<br />

besserer oder mehr Leistung motivieren kann, wenn sie ständig Angst<br />

haben ihren Arbeitsplatz zu verlieren und im Alter in Not zu geraten.<br />

Jeder Mensch braucht eine gewisse Grundsicherheit, damit er den Kopf<br />

frei hat für auch für Anstrengungen und Erfolg im Beruf.“


9<br />

Das waren die Worte eine wirklich großen Bundespräsidenten - das kann<br />

man wahrscheinlich <strong>von</strong> einem Heinrich Lübke des Neoliberalismus wohl<br />

nicht erwarten.<br />

Kolleginnen und Kollegen,<br />

Deutschland mag ja ein Reformhaus geworden sein - ein Armenhaus ist<br />

Deutschland aber noch lange nicht.<br />

Für uns in den Gewerkschaften steht fest: unser Reichtum sind<br />

• die Menschen.<br />

• ihre Qualifikation.<br />

• ihr Fleiß.<br />

• ihre Verlässlichkeit<br />

und<br />

auch ihre Folgebereitschaft im Reformprozessen.<br />

Wenn man sie nämlich<br />

• bei ihren Sorgen und Problemen abholt,<br />

• wenn man sie im Reformprozess mitnimmt,<br />

• wenn man sie an den Reformschriften beteiligt<br />

und vor allem


10<br />

• wenn man glaubhaft vermitteln kann, dass sich alle<br />

Veränderungen, Zumutungen, Opfer und Einschnitte im Endeffekt<br />

für jede Einzelne und jeden Einzelnen auch tatsächlich nachhaltig<br />

lohnen werden.<br />

Und genau das gelingt eben nicht. Dieses Vertrauen, dieses Zutrauen in<br />

die Politik wird eben nicht hergestellt.<br />

Aber das ist ja auch kein Wunder: wer monatelang ohne konkretes<br />

Arbeitsangebot in der Warteschlange beim Arbeitsamt sitzt, der kriegt<br />

keinen Appetit auf Hartz IV.<br />

Wer beim Arzt zu allererst das Portemonnaie zücken muss und dann<br />

erst die Zunge rausstrecken darf, der glaubt eben nicht an die<br />

Segnungen der Gesundheitsreform.<br />

Wenn der Fenstermonteur abends in den Spätnachrichten hört, er soll<br />

demnächst bis 67 malochen, dann schaut er traurig auf seine langen<br />

Arme, mit denen er nach einem so langen Arbeitstag im Stehen Blumen<br />

pflücken kann.<br />

Und wenn Rentner erleben müssen, wie jeden Tag eine neue Sau<br />

durchs Dorf getrieben wird, dann fühlen sie sich eben unwürdig<br />

behandelt.<br />

Du hast manchmal wirklich den Eindruck, die Politik weiß gar nicht mehr<br />

um was es geht.


11<br />

Natürlich sind wir in der <strong>IG</strong> <strong>Metall</strong> auch keine Hellseher, keine besseren<br />

Wirtschaftsfachleute, keine besseren Politiker. Aber wir sind näher an<br />

den Menschen. Wir bekommen vieles schneller mit als die Politik.<br />

Und ich meine: wir sind doch keine Traumtänzer oder unverschämte<br />

Ignoranten, wenn wir unbeirrt die Forderung aufstellen:<br />

Politik und wirtschaftliches Handeln müssen in Deutschland und in<br />

Europa nach unserem Selbstverständnis der Chancengleichheit<br />

und dem Wohlstand aller Menschen dienen.<br />

Und deshalb bleiben wir in der <strong>IG</strong> <strong>Metall</strong> die unbelehrbaren Verfechter<br />

des Sozialstaats.<br />

Denn er, der Sozialstaat, hat nach den schrecklichen Ereignissen und<br />

politischen Verbrechen in der ersten Hälfte des gerade zu Ende<br />

gegangenen Jahrhunderts, mehr für die Demokratisierung und<br />

Befriedung der Gesellschaft und auch mehr für das Gemeinwohl in<br />

unserem Land getan als alles andere zusammen genommen.<br />

Nun mag ja eine Reform in vielerlei Hinsicht angezeigt, wenn nicht sogar<br />

schon längst überfällig sein.<br />

Aber:<br />

• wenn die Reform des Sozialstaats zum Tarnwort wird für seine<br />

Deregulierung oder gar für seine Demontage<br />

• wenn Bessergestellte immer noch besser gestellt und<br />

Schlechtergestellte immer noch schlechter gestellt werden sollen,


12<br />

dann bleiben gewerkschaftlicher Protest und Widerstand und alternative<br />

Politik- und Gesellschaftsentwürfe angezeigt,<br />

egal wer im Bund, wer im Land oder wer in der Kommune gerade regiert.<br />

Und wenn uns deshalb Teile der Medien als Betonköpfe mit Wagenburg-<br />

Mentalität diffamieren und insbesondere die <strong>IG</strong> <strong>Metall</strong> kaputt schreiben<br />

wollen unter der Überschrift „vorwärts in die Vergangenheit“<br />

nur weil wir den Sozialstaat mit seinen Friedensformeln und<br />

Gerechtigkeitsgleichungen verteidigen, während andere offensichtlich<br />

den Sozialstaat mit Karacho an die Wand fahren wollen, dann ist das für<br />

uns keine Beleidigung, dann ist das für uns die Verleihung einer<br />

Tapferkeitsmedaille.<br />

Und deshalb darf auch nach meiner Meinung an einer Tatsache<br />

überhaupt nicht gerüttelt werden. Die Gewerkschaften des DGB, unsere<br />

<strong>IG</strong> <strong>Metall</strong> zumal, sind und bleiben politisch profilierte aber parteipolitisch<br />

unabhängige Einheitsgewerkschaften, die als politische Lobby sich nur<br />

einem einzigen Ziel verpflichtet fühlen dürfen, nämlich,<br />

die Anmeldung, Durchsetzung und Verteidigung der Interessen <strong>von</strong><br />

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, <strong>von</strong> Rentnerinnen und Rentnern,<br />

<strong>von</strong> Arbeitslosen und ihren Familien.<br />

Noch ist es in diese Lande so, dass Arbeitnehmerinnen und<br />

Arbeitnehmer und Rentnerinnen und Rentner mit ihren Familien die<br />

eindeutige Mehrheit stellen.


13<br />

und<br />

• ihre Interessen zu stärken,<br />

• ihre Sorgen ernst zu nehmen,<br />

• für sie Lösungen und Perspektiven zu erarbeiten,<br />

das waren, sind und bleiben die ureigensten Aufgaben der<br />

Gewerkschaften.<br />

Und das sind übrigens auch die Merkmale einer mehrheitsfähigen Politik<br />

in diesem Land.<br />

Und genau das ist die Botschaft des Wahlergebnisses vom<br />

18. September 2005.<br />

Und genau deshalb trauen sich DGB und seine Gewerkschaften, unsere<br />

<strong>IG</strong> <strong>Metall</strong>, konkrete Forderungen an die Bundesregierung, die große<br />

Koalition, zu formulieren.<br />

Und das sind die Stichworte zu unseren Themen, für die wir am<br />

21. Oktober des vergangen Jahres mit über 300.000 Kolleginnen und<br />

Kollegen auf die Straße gegangen sind:<br />

• Teilhabe am Haben und am Sagen<br />

• die Mitbestimmung der Arbeitnehmer: keiner Herr, keiner Knecht.<br />

• die Gesundheitsreform: weg mit der Zweiklassen-Medizin<br />

• her mit einer solidarischen Bürgerversicherung.


14<br />

Verteilungsgerechtigkeit mit den Merkpunkten:<br />

• Tarifpolitik<br />

• gerade im Jahr 2007;<br />

• Mindestlöhne<br />

• Hartz IV<br />

• und Unternehmenssteuerreform.<br />

Generationensolidarität mit den Stichworten:<br />

• Ausbildung und Beschäftigung<br />

• Qualifizierung<br />

• und Rente.<br />

Das Reizthema für die <strong>IG</strong> <strong>Metall</strong> in diesen Tagen: Rente mit 67!!<br />

Bundesregierung und Koalition haben sich auf folgende Eckpunkte<br />

festgelegt und so wird die endgültige Gesetzeslage wohl aussehen:<br />

Kernprojekt der Reform ist die Anhebung der Regelaltersgrenze <strong>von</strong> 65<br />

auf 67 Jahre.<br />

Dazu soll ab 2012 das Renteneintrittsalter 12 Jahre lang um einen Monat<br />

nach hinten verschoben werden. Ab 2023 sind es dann 6 Jahre lang<br />

jeweils 2 Monate.<br />

Von der Anhebung der Altersgrenze sind alle Jahrgänge ab 1947 und<br />

jünger betroffen. Ab Jahrgang 1964 wird der Rentenbeginn im Jahre<br />

2029 mit 67 Jahren Realität.


15<br />

Wie bereits in der Koalitionsvereinbarung beschlossen, soll der<br />

Beitragssatz ab 2007 auf 19,9 % angehoben werden. Er soll zur<br />

Konsolidierung und Stabilisierung der Rentenfinanzierung dienen.<br />

Der ab 2011 geplante Nachholfaktor - der sogenannte Münte-Faktor -<br />

wird zu weiteren Nullrunden bei der Rente führen.<br />

Auch nach 2012 soll es möglich sein, eine abschlagsfreie Rente mit 65<br />

zu beziehen, aber nur in Ausnahmefällen. Man braucht 45<br />

Pflichtbeitragsjahre. Bereits heute erfüllen nur etwa ein Drittel der<br />

Rentner und weniger als 10 % der Rentnerinnen diese Voraussetzung.<br />

Künftig soll die Altersrente frühestens ab dem 63. Jahr in Anspruch<br />

genommen werden können. Dann fallen aber lebenslang 14,4 %<br />

Abschläge an.<br />

Für die Inanspruchnahme mit 63 müssen die versicherungsrechtlichen<br />

Voraussetzungen erfüllt sein. Und man muss es sich vor allem finanziell<br />

auch tatsächlich leisten können. Denn selbst für eine Rente ab 65 muss<br />

ein lebenslanger Abschlag <strong>von</strong> 7,2 % finanziert werden.<br />

Schwerbehinderte sind ebenfalls <strong>von</strong> den Plänen betroffen: auch ihre<br />

Altersgrenze wird um 2 Jahre angehoben. Künftig soll der Zugang<br />

frühestens mit 62 Jahren möglich sein. Und dann fällt ein Abschlag<br />

lebenslang in Höhe <strong>von</strong> 10,8 % an.<br />

Eine abschlagsfreie Rente für Schwerbehinderte soll es erst ab dem 65.<br />

Lebensjahr geben.


16<br />

Eine Anhebung um 2 Jahre gibt es grundsätzlich auch bei den Renten<br />

wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Statt ab dem 63. Lebensjahr soll<br />

die Rente erst ab 65 abschlagsfrei sein. Ausnahme: Versicherte mit 35<br />

Beitragsjahren bis zum Jahr 2023 - dann gilt weiterhin 63. Lebensjahr.<br />

Ab 2024 benötigt man für eine abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente<br />

ab 63 dann 40 Beitragsjahre.<br />

So viel zu den Fakten, die ja sattsam bekannt sind.<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />

im Interview mit der Tageszeitung „die Welt“ vom 15. Januar zum Thema<br />

Rente mit 67 wird Berthold Huber gefragt:<br />

„Stimmen Sie mit SPD-Chef Kurt Beck überein, dass die Grenze der<br />

Zumutbarkeit bald erreicht ist?“<br />

Die Antwort <strong>von</strong> Berthold Huber:<br />

„Nein, überhaupt nicht. Die Grenze der Zumutbarkeit ist längst<br />

überschritten. Man kann nicht auf Dauer Politik gegen die Leute machen.<br />

Ich kann die Politik und insbesondere meine eigene Partei, die SPD, nur<br />

dazu aufrufen, nicht völlig die Verbindung zu den Menschen zu<br />

verlieren.“


17<br />

Und am gleichen Tag nennt Jürgen Peters im Deutschen Fernsehen den<br />

„Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an<br />

die demografische Entwicklung und zur Stärkung der<br />

Finanzierungsgrundlage der gesetzlichen Rentenversicherung“<br />

das, was der Entwurf ist - nämlich: eine Regierungsprogramm zur breiten<br />

Absenkung der Rentenbezüge.<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />

In der Tat: Rente mit 67, das ist der falsche Weg. Damit kann und will<br />

sich die <strong>IG</strong> <strong>Metall</strong> nicht anfreunden. Und sie wird auch keine Ruhe<br />

geben. Die Rente mit 67 - das ist der Realitätsverlust der Politiker - denn<br />

sie wissen nicht, was sie tun.<br />

Dabei kennt doch jeder die nach wie vor desolate Lage auf dem<br />

Arbeitsmarkt - trotz mancher erfreulicher Frühlingsluft.<br />

Jetzt sollen die, die Arbeit haben, bis 67 arbeiten? Das ist doch wirklich<br />

ein schlechter Witz.<br />

Wir haben nach wie vor für deutlich über 4 Millionen Menschen keine<br />

Arbeit. Das Krebsgeschwür <strong>von</strong> über 1,5 Millionen Langzeitarbeitslosen.<br />

Nicht zu reden <strong>von</strong> den rasant zunehmenden prekären<br />

Arbeitsverhältnissen in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen,<br />

vom 1-€-Job über die Leiharbeit bis hin zum nicht enden wollenden<br />

akademischen Praktikum.


18<br />

Und die, die noch Arbeit haben, sollen länger arbeiten. Das ist absurd,<br />

das hat mit der Förderung <strong>von</strong> Beschäftigung so viel zu tun wie Edelstahl<br />

mit Diebstahl, nämlich überhaupt nichts.<br />

Und überhaupt: es ist ja wohl ein riesiger Unterschied, ob ich als<br />

<strong>Vorstand</strong>svorsitzender, der schnell nach oben befördert werden musste,<br />

weil er unten nur Unheil angerichtet hatte, in vollklimatisierten Räumen<br />

den Bleistift spitze. Oder auf dem Bau, am Band oder in der Hitze, im<br />

Akkord- und in Schichtarbeit malochen muss. Das ist eben der<br />

Unterschied zwischen Gummistiefeln auf der Baustelle und Lackschuhen<br />

in der Teppichboden-Etage.<br />

Hinzu kommt - und das ist für mich das perfide an der ganzen<br />

Geschichte - das ist die vollkommene Volksverdummung: die Reden<br />

vom Renteneintritt ab 67. Und meinen schlicht und einfach:<br />

Rentenkürzung durch noch mehr Abschläge als jetzt.<br />

Und alle Versuche, uns das mit dem demografischen Faktor zu erklären,<br />

der immer mehr als demagogischer Faktor missbraucht wird, ändert<br />

nichts an der Tatsache, dass es reine Rentenkürzung ist, und sonst gar<br />

nichts.<br />

Rentenkürzung für alle, die es aus gesundheitlichen Gründen nicht bis<br />

67 schaffen, weil der Job sie kaputt gemacht hat.<br />

Rentenkürzung für alle die, die vorher auf die Straße geflogen sind und<br />

trotz aller Bemühungen nie wieder einen Job gekriegt haben.


19<br />

Die Arbeitsmarktforscher der Bundesagentur für Arbeit haben errechnet,<br />

dass für die Rente mit 67 drei Millionen zusätzliche Jobs notwendig sind.<br />

Das kann doch niemand wirklich erwarten - das ist doch<br />

ausgesprochener Quatsch.<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />

das heißt ja nicht, dass alles so bleiben kann, wie es ist.<br />

Ohne Zweifel braucht es auch im Rentensystem Reformen.<br />

Unter der Überschrift „Generationensolidarität“ hat die <strong>IG</strong> <strong>Metall</strong> ein<br />

Konzept mit Alternativen zur aktuellen Rentenpolitik entwickelt - das<br />

können alle Abgeordneten des Deutschen Bundestags lesen.<br />

Wir setzen an mehreren Punkten an:<br />

Ganz aktuell: wir brauchen kräftige Einkommenssteigerungen, damit der<br />

vorhandene und wachsende gesellschaftliche Reichtum auch bei uns<br />

und der Rentenversicherung ankommt.<br />

Nebenbei: bei der Diskussion um die Erhöhung der Mehrwertsteuer<br />

wollten die einen 2 %, die anderen höchstens 1 %. Geeinigt hat man sich<br />

bekanntermaßen auf 3 %.<br />

Wenn sich unsere Tarifpolitiker dies als Kompromissformel für die<br />

Tarifrunde 2007 auf die Fahnen schreiben, dann kommen wir diesem<br />

Ziel deutlich näher.


20<br />

Keine Frage: wer über die Zukunft des Rentensystems spricht, muss<br />

auch über seine Finanzierung sprechen.<br />

Die Finanzierungsbasis der gesetzlichen Rentenversicherung ist in den<br />

letzten Jahren immer wieder geschwächt worden. Die Zahl der<br />

sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze geht zurück. Jetzt aber<br />

weiter Sozialabbau zu betreiben ist keine Lösung, sondern Teil des<br />

Problems.<br />

Wie wir uns bei der Gesundheitsreform für eine Bürgerversicherung<br />

aussprechen, votieren wir bei der Rente für eine<br />

Erwerbstätigenversicherung.<br />

Selbständige, Freiberufler, Beamte und Parlamentarier, die Richter<br />

sollen schrittweise in die Rentenversicherung mit einbezogen werden.<br />

Das bringt neues Geld in die Kassen.<br />

Und im Rahmen eines solchen Konzeptes darf auch die Anhebung des<br />

Beitragssatzes kein Tabu sein. Rentenversicherungsbeiträge werden<br />

durch die paritätische Finanzierung anteilig durch die Arbeitgeber<br />

mitgetragen. Eine Erhöhung der Beiträge ist auf jeden Fall gerechter, als<br />

die Kosten der Alterssicherung einseitig auf die Beschäftigten und<br />

Rentner abzuwälzen wie es die aktuelle Politik tut.<br />

Ich kann meinen Vorsitzenden nur unterstützen, wenn er mit konstanter<br />

Boshaftigkeit <strong>von</strong> der Bundesregierung eine Fortführung der 2009<br />

auslaufenden Altersteilzeit oder eine gleichwertige Nachfolgeregelung<br />

verlangt. Und er hat völlig recht, wenn er behauptet:


21<br />

„Spätestens wenn die jetzige Altersteilzeitregelung ausläuft; wird die<br />

Bundesregierung merken, dass sie auf einem beschäftigungspolitischen<br />

Pulverfass sitzt.“<br />

Unsere Kolleginnen und Kollegen müssen auch nach 2009 die<br />

Möglichkeit haben, vorzeitig aus dem Berufsleben aussteigen zu können.<br />

Nicht, weil sie nicht mehr wollen - sondern weil sie schlicht und einfach<br />

nicht mehr können. Über Details kann man ja reden, aber wir brauchen<br />

unbedingt eine angemessene Nachfolgeregelung für die Altersteilzeit.<br />

Das ist in erster Linie Beschäftigungspolitik. Das ist ein Teil der<br />

Beschäftigungsbrücke zwischen jung und alt.<br />

Unmittelbar damit verknüpft ist auch die Frage nach altersgerechter<br />

Arbeit in den Betrieben. Die demografische Herausforderung ist vor<br />

allem in den Unternehmen gewaltig und in der <strong>Metall</strong>- und<br />

Elektroindustrie ist der Anteil der unter 40-Jährigen noch einmal um etwa<br />

2 % niedriger als in der Gesamtwirtschaft. Und über die besondere<br />

Belastung vieler Arbeitsplätze muss ich hier ja wohl nicht viel erzählen.<br />

Wir sollten den Bundestagsabgeordneten in ihren Wahlkreisen die<br />

Gelegenheit geben, vor ihrer persönlichen Gewissensentscheidung über<br />

die Rente mit 67 den vorliegenden Gesetzesentwurf auf seine<br />

Praxistauglichkeit und betriebliche und persönliche Verträglichkeit zu<br />

testen:


22<br />

Laden wir sie ein zu einer Woche Nachtschicht.<br />

Laden wir sie ein zu einer Woche Akkordarbeit.<br />

Laden wir sie ein zu einer Woche körperlicher Arbeit am Band - dann<br />

wissen sie, wie schön das ist, wenn man frei rumlaufen darf.<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />

ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass sich meine 10 Minuten so langsam<br />

ihrem Ende zuneigen - und deshalb nur noch so viel:<br />

Wir befinden uns in einem grundlegenden Umbruch, der fast<br />

ausschließlich <strong>von</strong> reiner betriebswirtschaftlicher Rationalität geprägt<br />

wird. Es zählt nur der Preis - es zählt nicht mehr der Wert.<br />

Die Globalisierung stellt uns vor völlig neue Herausforderungen - auch<br />

der Arbeitsmarkt ist ein Weltmarkt geworden.<br />

Und der gesellschaftliche Strukturwandel hat eindeutig zur Stärkung des<br />

Individuums geführt.<br />

Es gilt nicht mehr wie selbstverständlich: Gemeinsam sind wir stark.<br />

Die Parole lautet heute immer öfter: Allein bin ich besser.


23<br />

Und seit sich die moderne Arbeitsgesellschaft etabliert hat, hängen die<br />

Chancen eines guten Lebens am Vermögen und an Arbeit.<br />

Und alle, die nie Vermögen gehabt und keine Arbeit mehr haben, die<br />

noch zu jung oder schon zu alt oder zu krank sind, können ihre soziale<br />

Existenz nicht mehr aus eigener Kraft sichern.<br />

Und alle, die das nicht oder nicht mehr können, werden in diesem<br />

unserem Land nicht mehr für voll genommen.<br />

Die Gewerkschaft ist die einzige Organisation mit nennenswerter Macht<br />

und Durchsetzungskraft, die sich gegen diesen Kult des privaten Erfolgs<br />

wehrt, die sich für soziale Verantwortung auch öffentlich stark macht -<br />

und dafür ihre Mitglieder mobilisieren kann.<br />

Und wenn uns dafür der eher unbedeutende Vorsitzende einer völlig<br />

überflüssigen Partei der Besserverdienenden als Plage für unser Land<br />

diffamiert,<br />

dann sollten wir diesem Guido Westerwelle deutlich unter die Nase<br />

reiben:<br />

Wir lassen uns die Lebensleistung ganzer Generationen <strong>von</strong><br />

Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern <strong>von</strong> diesem Go-Go-Girl des<br />

Casinokapitalismus doch nicht in den Dreck ziehen.


24<br />

Ich bin zutiefst da<strong>von</strong> überzeugt, dass engagierte NEIN der<br />

Gewerkschaften zum Abbau der Sozialsysteme, zur Deregulierung des<br />

Arbeitsmarktes, gegen die Anschläge auf die Tarifautonomie und auf die<br />

Mitbestimmung hatten mehr Freunde als die etablierte Politik bisweilen<br />

wahrhaben will.<br />

Das sollten wir nutzen und fördern.<br />

Das darf uns auch Mut machen.<br />

Wir haben als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter überhaupt gar<br />

keine Veranlassung uns wegen unseres gewerkschaftlichen<br />

Bekenntnisses und Engagements verschämt auf die eigenen Fußspitzen<br />

zu schauen oder uns bei irgend jemandem zu entschuldigen.<br />

Denn Gewerkschaftsmitglied zu sein bedeutet zur Koalition der<br />

anständigen Leute zu gehören.<br />

Und wir als <strong>Metall</strong>er, als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, als<br />

Rentnerinnen und Rentner sind gut beraten, wenn wir die alte<br />

Volksweisheit beherzigen: Wer sich auf andere verlässt, ist verlassen.<br />

Und deshalb müssen wir unser Profil stärken, eigene Positionen<br />

entwickeln und unsere Mächtigkeit, unsere Kampagnenfähigkeit und<br />

Durchsetzungsfähigkeit zur Erreichung unserer gemeinsamen Ziele auch<br />

und gerade am 21. Oktober in Frankfurt beweisen.


25<br />

Ich meine: Wir haben es selbst in der Hand, all diejenigen Lügen zu<br />

strafen, die uns als Abstiegskandidaten titulieren, die uns kaputt<br />

schreiben wollen, weil sie uns keine Zukunft mehr zutrauen.<br />

Und deshalb müssen wir in Zukunft auch häufiger sagen wofür wir sind -<br />

und nicht immer nur wogegen wir sind.<br />

Wir müssen Themen anpacken und nicht nur Probleme thematisieren.<br />

Wir müssen Probleme lösen und nicht immer nur problematisieren.<br />

Wir dürfen nicht immer nur gackern - wir müssen ab und zu auch mal ein<br />

Ei legen.<br />

Denn: Die <strong>IG</strong> <strong>Metall</strong> ist keineswegs die Traditionskolonne der<br />

Zukunftsverlierer.<br />

Wir sind die politische Lobby für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer<br />

und ihrer Familien, für Rentnerinnen und Rentner und deren Familien.<br />

Wir streiten für die Teilhabe am Haben und am Sagen.<br />

Wir handeln nach dem Motto: Die Sachen klären - den Menschen helfen.<br />

Und da<strong>von</strong> wollen wir auch in Zukunft eine Menge verstehen.<br />

Herzlichen Dank.

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