Lemon_DU_2010_Potenzialeinschaetzung.pdf
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Ein Überblick über ausgewählte Instrumente der Potenzialeinschätzung<br />
Dagmar Untermarzoner<br />
In diesem Überblick werden aktuelle Dilemmas beim Einsatz von Testverfahren<br />
aufgezeigt, sowie eine Auswahl an bewährten und in Projekten eingesetzten<br />
Instrumenten (Tiefeninterview, CAPtain, STAB, Karriereanker, Color-Test, KAIROS) für<br />
Potenzialeinschätzungen vorgestellt. Wir sind laufend an der Integration von innovativen<br />
Verfahren orientiert und agieren verfahrensunabhängig. Instrumente wählen bewusst<br />
nach ihren Möglichkeiten aus, diese zugleich als Analyse- und Lernmodelle für eine<br />
strategische Personalentwicklung einzusetzen.<br />
Aktuelle Dilemmas im Einsatz von Testverfahren in der Potenzialeinschätzung<br />
Einerseits ist der zunehmende Einsatz von "objektiven" Verfahren ein Fortschritt und<br />
reflektiert den Bedarf an differenzierten Entscheidungsgrundlagen. Andererseits bringt<br />
der vermehrte Einsatz auch Probleme hervor und Studien belegen bereits, dass sie nicht<br />
zu besseren Ergebnissen führen (Lang-von Wins, 2008 1 ). Tests erzeugen den Mythos von<br />
Objektivität und Realität. In Wirklichkeit sind sie immer Selbsteinschätzungsinstrumente,<br />
die ohne die Betrachtung des Umfeldes, der geschichtlichen Gewordenheit und des<br />
situativen Kontextes einer Person keine Aussagekraft haben. Grundsätzlich ist zu<br />
bedenken, dass Potenzial-Tests den Versuch darstellen, soziales Verhalten zu<br />
diagnostizieren und letztlich zu bewerten. Werden diese Tests nicht im Kontext einer<br />
professionellen diagnostischen Prozesskompetenz und Organisationsentwicklungs-<br />
Expertise, sondern von zertifizierten Testanwendern ohne expliziten professionellen<br />
Hintergrund eingesetzt, werden die Ergebnisse weitgehend entkontextualisiert, d.h. ihre<br />
Bedeutung für die Person und Organisation bleibt unverstanden.<br />
Dieser scheinbar objektive Zugang durch die Anwendung von Tests birgt deutliche<br />
Fehlerquellen:<br />
• Erstens zeigt sich, dass "objektive" Personalentscheidungen in der Praxis nicht immer<br />
die besten Entscheidungen sind. Da es eben nicht um logische Ableitungen von Soll-<br />
Profilen mit Ist-Profilen geht, sondern um komplexe Entscheidungsprozesse mit<br />
unterschiedlichsten Perspektiven, ist "Objektivität" bei Personalentscheidungen nicht<br />
1 Lang-von-Wins, T, C, Triebel, U.G., Buchner, A., Sandor (2008): Potenzialbeurteilung. Diagnostische<br />
Kompetenz entwickeln – die Personalauswahl optimieren. Heidelberg: Springer Verlag<br />
© Dagmar Untermarzoner, <strong>2010</strong>, unveröffentliches Manuskript, www.lemon.at
möglich. An die Stelle von Objektivität muss die Reflexion unterschiedlicher<br />
Dimensionen in einem nachvollziehbaren gemeinsamen Arbeitskontext treten, wo<br />
Entscheidungsgrundlagen besprochen und ausgehandelt werden können.<br />
• Zweitens wird vernachlässigt, dass es zumeist die "falschen" Qualifikationsprofile<br />
sind, die zu Fehlbesetzungen führen. In diesem Fall werden Qualifikationen als<br />
notwendig erachtet, die sich in der Praxis dann als nicht erfolgskritisch herausstellen.<br />
Unternehmen, die sich zu stark auf Tests in zertifizierter Selbstanwendung<br />
konzentrieren, verlieren diesen Zusammenhang tendenziell aus den Augen.<br />
• Drittens verlieren Unternehmen, die sich einem Instrument verschreiben („Wir<br />
verwenden immer den XY-Test“), jeden Zusammenhang zwischen den<br />
Testergebnissen und den Personen. Personalentscheidungen werden dann auf sehr<br />
fragwürdigen Grundlagen aufgesetzt.<br />
• Viertens ist die kontextgebundene Interpretation von wissenschaftlichen Tests eine<br />
professionelle Anforderung, die in anderen Anwendungszusammenhängen immer an<br />
einschlägige und mehrjährige Ausbildungen von Testanwendern gebunden ist. In der<br />
betrieblichen Eignungsdiagnostik reichen vielfach zweitägige Zertifizierungsseminare.<br />
Erfahrungen zeigen, dass Unternehmen, die solche Verfahren in dieser Art und Weise<br />
anwenden, deutlich die Tendenz aufweisen, sich bei Entscheidungen auf bestimmte<br />
Testwerte als erfolgskritisch zu verständigen (also zu vereinfachen) oder die<br />
Testergebnisse nicht mehr wirklich in ihre Entscheidungsprozesse integrieren, weil sie<br />
inhaltlich unverbunden bleiben ("interessant, aber wenig praxisrelevant"). Das bedeutet,<br />
dass Tests kontextgebunden eingesetzt und in einen Beratungsprozess eingebaut<br />
werden, der den Teilnehmer nicht als Objekt einer Beurteilung konzeptioniert (siehe<br />
Abb.1).<br />
Subjekt - Objekt<br />
Subjekt - Subjekt<br />
Test<br />
Fremdeinschätzung<br />
Gutachten<br />
Lernen<br />
Dialog<br />
(Selbst-)Verstehen<br />
Beschreiben (in Worte fassen)<br />
Abb.1: Zwei Varianten des Testeinsatzes in der Potenzialeinschätzung<br />
© Dagmar Untermarzoner, <strong>2010</strong>, unveröffentliches Manuskript, www.lemon.at
1. Das Tiefeninterview<br />
Das Tiefeninterview ermöglicht das Verstehen von Kompetenzen auf der Basis von<br />
beruflichen und biographischen Entwicklungen des Betroffenen. Mit dieser besonderen Art<br />
der fragenden Gesprächsführung kann der Betroffene selbst sein implizites<br />
Erfahrungswissen und seine Motive explizit machen. Grundsätzlich fördert das<br />
Tiefeninterview die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung, indem anhand zentraler beruflicher<br />
Erfahrungen die eigenen Potenziale herauskristallisiert werden. In der Gesprächssituation<br />
wird das eigene Einwirken auf Menschen und Organisationen erkundet. Die<br />
Grundannahme dabei ist, dass der Betroffene selbst mit Hilfe des Beraters sein Verhalten<br />
interpretieren und den Zusammenhang von Kontext und eigenem Wirken verstehen lernt.<br />
Jemand ist nicht an sich teamfähig, lernbereit, aktionsorientiert etc. oder nicht, es gibt<br />
sehr verschiedene und kontextspezifische Zugänge zu Teamarbeit etc, weshalb<br />
allgemeine kategoriale Bewertungen in der Praxis nutzlos sind. Das Tiefeninterview ist<br />
das wichtigste Instrument zur Deutung und Interpretation der stärker strukturierten<br />
Instrumente (STAB, Captain, Kairos, Color Test). Im Abgleich der konkreten<br />
biographischen Erfahrungen mit den einzelnen Testergebnissen gewinnt der Betroffene<br />
selbst und der Berater zunehmend Einsicht in die impliziten Potenziale und „Eigenarten“.<br />
Das Tiefeninterview ist die Basis, um auch in heiklen Situationen wie internen<br />
Bewerbungen oder verordneten Standortbestimmungen nicht nur auf Testergebnisse<br />
abzustellen. Es gilt die Besonderheit des Menschen zu verstehen und nicht Ausprägungen<br />
von Testdimensionen.<br />
2. CAPtain<br />
CAPTain (CNT Gesellschaft für Personal- und Organisationsentwicklung, Hamburg) ist<br />
ein Online-Test zur Erhebung von Arbeitsverhalten, wie der Betroffene sich selbst sieht<br />
und gleichzeitig, wie der Betroffene aktuell im Arbeitsleben handelt. Die Dimensionen<br />
umfassen den Umgang mit sachlichen Aufgabenstellungen, den Umgang mit anderen<br />
Personen, den Umgang mit Veränderungen und neuen Situationen, sowie das<br />
Führungsverhalten in Bezug auf Mitarbeiter und andere nicht direkt unterstellten<br />
Personen. Der CAPTain ist ein kriterienorientiertes Verfahren, d.h. er beschreibt detailliert<br />
unterschiedliche Verhaltensweisen und bewertet nicht in gute oder weniger gute<br />
Verhaltensweisen. Die tatsächliche Bewertung des Verhaltens muss gemeinsam in der<br />
Beratung vor dem Hintergrund der Anforderungen erarbeitet werden. Der CAPTain ist in<br />
© Dagmar Untermarzoner, <strong>2010</strong>, unveröffentliches Manuskript, www.lemon.at
14 Sprachen verfügbar, was seine besondere Eignung für die Nutzung in ost- und<br />
südosteuropäischen Ländern ausmacht.<br />
3. STAB<br />
Das STAB-Modell (Dr. Wolfgang Looss & Marina Barz, Praxis für Management<br />
Development und Organisationsberatung, Darmstadt, Berlin) ist ein bewährtes, seit<br />
vielen Jahren eingesetztes Modell zur Erhebungen von Arbeitsorientierungen. Das<br />
Verfahren liefert ein Verständnis darüber, wie der Betroffene auf relevante Umwelten<br />
Einfluss nimmt, wie er auf Personen einwirkt und was dabei seine Grundmotive sind. So<br />
einfach das Modell erscheint, so sorgfältig muss es in der Beratung in den Kontext der<br />
Biographie des Betroffenen gesetzt werden. Der STAB ist eine Selbsteinschätzungs-<br />
Analyse, das heißt er zeigt das Selbstverständnis und das reale aktuelle<br />
Verhaltensmuster auf. Damit wird das Modell der Grundannahme gerecht, dass unser<br />
Verhalten sowohl von unserer Persönlichkeit, wie auch aus Anforderungen der Umwelten<br />
beeinflusst wird. Auch hier ist wichtig zu betonen, dass es sich um eine Momentaufnahme<br />
handelt, Entwicklungen der Person bringen auch neue Ergebnisse hervor.<br />
4. Karriereanker<br />
Der Karriereanker (Edgar Schein, 1996) ist ein Instrument zur Erfassung von Mustern<br />
in der persönlichen Karriereentwicklung. Er besteht aus einem Fragebogen, einem<br />
strukturierten Interview, sowie einem strukturierten Vergleich zwischen den persönlichen<br />
Annahmen des Betroffenen über seine Karriereorientierung und den real praktizierten<br />
Entscheidungen im Verlauf seiner beruflichen Laufbahn. Die entscheidende und heute<br />
hoch aktuelle Bedeutung des Konzepts liegt in der Differenzierung von acht<br />
Karriereorientierungen und den möglichen individuellen Kombinationen. Damit kann die<br />
Organisation und die Person Karriere differenzierter verstehen als in der bisher üblichen<br />
Form der Unterscheidung von Führungs- und Expertenkarriere, oder auch etlichen<br />
Stufen-Modellen (Junior, Professional, Senior). Das, was für eine Person Karriere<br />
bedeuten kann, wird somit zu einer hochgradig individualisierbaren beruflichen<br />
Gestaltung und einzelne Handlungen von Personen werden in diesem Kontext verstehbar.<br />
Berufliche Entscheidungen der Zukunft kann der Betroffene besser treffen, wenn er seine<br />
meist unbewussten Karriereanker explizit versteht und damit beruflichen Erfolg sinnhaft<br />
interpretieren kann.<br />
© Dagmar Untermarzoner, <strong>2010</strong>, unveröffentliches Manuskript, www.lemon.at
5. Color-Test für Change Manager<br />
Dem Color-Test liegen mehrjährige Forschungsarbeiten von holländischen Forschern<br />
und Beratern zugrunde (Leon d. Caluwé, Hans Vermaak, 2003), die der Frage<br />
nachgegangen sind, warum wir über Veränderungsmanagement so ganz unterschiedliche<br />
Vorstellungen haben. Während die einen von hochgradig strukturierten Planungsansätzen<br />
ausgehen, setzen die anderen auf Atmosphäre und Anreizsysteme und wiederum andere<br />
auf die Herstellung von win-win Situationen in gut zusammengesetzten Power-Teams.<br />
Der Color-Test und das dahinter liegende Modell gibt Auskunft darüber, wie jemand<br />
glaubt, erfolgreich Veränderungen zu erzielen und inwieweit die aktuelle Praxis des<br />
Betroffenen mit diesen inneren Bildern übereinstimmt. Gleichzeitig gibt das Color Modell<br />
einen Hinweis auf die Kultur eines Unternehmens im Umgang mit Veränderungen. So<br />
kann eine meist unterschätzte Dimension in der Verbindung von Organisation und Person<br />
genauer beleuchtet werden. Vielfach sind Kompetenzen optimal vorhanden und trotzdem<br />
wird ein Manager nicht erfolgreich in einem sich veränderndem Unternehmen. Hier gibt<br />
die Betrachtung von Unternehmenskultur und Veränderungsansatz der Person<br />
entscheidende Hinweise für mögliche Konfliktpotenziale.<br />
6. KAIROS-Entscheiderprofil<br />
Dieses Instrument (Lanzenberger Management Diagnostik & Sutrich<br />
Organisationsberatung 2008) beleuchtet die Potenziale im Umgang mit Entscheidungen.<br />
Es bietet sowohl für Einzelpersonen als auch für Teams einen Zugang zum Verständnis<br />
von Entscheidungsstilen, die ja meist implizit sind: worauf achtet der Einzelne, wenn er<br />
Entscheidungen trifft? Worauf legt er besonderen Wert in der Absicherung von<br />
Entscheidungen? Auf welche Ressourcen kann er zurückgreifen? Worin liegt das<br />
besondere Talent? Welche Aufgaben liegen ihm/ihr daher besonders und welche weniger?<br />
Welche Rolle spielen unterschiedliche Entscheidungsstile im Team? Mit welchen<br />
Konflikten ist zu rechnen und wie können die Unterschiede produktiv genutzt werden?<br />
Da das Entscheiden Kernaufgabe insbesondere von Managern ist, liegt mit dem KAIROS<br />
Modell nun ein Konzept vor, dass eine zentrale bislang nur sehr verkürzte<br />
Dimensionsbeschreibung im Sinne von „entscheidungsstark“ versus<br />
„entscheidungsschwach“ differenziert bearbeitet.<br />
Das Kairos Entscheiderprofil ist als Online-Test durchzuführen, hat jedoch auch als<br />
Konzept einen deutlichen Lernwert.<br />
© Dagmar Untermarzoner, <strong>2010</strong>, unveröffentliches Manuskript, www.lemon.at