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Madleine und mein Freund Manni

Als wir eines Morgens mal wieder eine kleine Pause auf einer Parkbank eingelegt hatten, schaute sie mich tief an und sagte: „Nu küss mich doch mal endlich.“ Mich quälte es. Madleine war immer Mannis Frau gewesen. Grundsätzlich, bei aller Sympathie die ich für sie hatte. Obwohl ich Madleine als attrak­tive Frau wahrnahm, ihr Äußeres mir sehr gefiel, löste es nie irgendeine Art von erotischen oder sexuellen Assoziationen aus. Mein Unbewusstes hatte festgelegt, dass Madleine nicht als Frau, als geschlechtliches Wesen femininer Art in meinem Bewusstsein in Erscheinung treten sollte, sondern nur als die Frau meines Freundes, Manni. Was sollte ich ma­chen? Sie küssen weil sie es gern wollte. Nein das machte ich Madleine gegen­über nicht. „Ich kann das nicht, Madleine.“ sagte ich und wollte ihr wortreich erklären, warum nicht. Madleine stand auf. Sie wollte anscheinend nichts hö­ren. Nach einiger Zeit begann sie über etwas anderes zu sprechen. Am nächs­ten Morgen kam sie nicht zum Spazierengehen und rief auch nicht vorher an. Zum Frühstück erschien sie aber. Am darauffolgenden Morgen das Gleiche. „Madleine, wir haben offensichtlich Familienstreit, oder wie siehst du das?“ fragte ich sie bei Udo. Ich bekam mein liebstes Lächeln. Milde, verstehend und wunderschön mit den kleinen ge­schwungenen Fältchen neben ihren Augen. „Hieltest du es für völlig falsch, wenn wir versuchten, die Dissonanzen zu bereinigen?“ fragte ich nach. Wieder das Lächeln und ein langgezogenes „Nöh.“, als ob es sie nur marginal berühre. Ich sah es aber eher als Scherz und schlug vor, morgen früh an der Regatta­bahn darüber zu reden. Mit einem „Mm-Mm“ und Kopfschütteln wies sie mei­nen Vorschlag zurück. „Wo denn?“ wollte ich wissen. „Bei dir“ legte sie katego­risch fest. „Und wann?“ erkundigte ich mich nach ihren Vorstellungen. „Jetzt gleich, anschließend“ erfuhr ich.

Als wir eines Morgens mal wieder eine kleine Pause auf einer Parkbank eingelegt hatten, schaute sie mich tief an und sagte: „Nu küss mich doch mal endlich.“ Mich quälte es. Madleine war immer Mannis Frau gewesen. Grundsätzlich, bei aller Sympathie die ich für sie hatte. Obwohl ich Madleine als attrak­tive Frau wahrnahm, ihr Äußeres mir sehr gefiel, löste es nie irgendeine Art von erotischen oder sexuellen Assoziationen aus. Mein Unbewusstes hatte festgelegt, dass Madleine nicht als Frau, als geschlechtliches Wesen femininer Art in meinem Bewusstsein in Erscheinung treten sollte, sondern nur als die Frau meines Freundes, Manni. Was sollte ich ma­chen? Sie küssen weil sie es gern wollte. Nein das machte ich Madleine gegen­über nicht. „Ich kann das nicht, Madleine.“ sagte ich und wollte ihr wortreich erklären, warum nicht. Madleine stand auf. Sie wollte anscheinend nichts hö­ren. Nach einiger Zeit begann sie über etwas anderes zu sprechen. Am nächs­ten Morgen kam sie nicht zum Spazierengehen und rief auch nicht vorher an. Zum Frühstück erschien sie aber. Am darauffolgenden Morgen das Gleiche. „Madleine, wir haben offensichtlich Familienstreit, oder wie siehst du das?“ fragte ich sie bei Udo. Ich bekam mein liebstes Lächeln. Milde, verstehend und wunderschön mit den kleinen ge­schwungenen Fältchen neben ihren Augen. „Hieltest du es für völlig falsch, wenn wir versuchten, die Dissonanzen zu bereinigen?“ fragte ich nach. Wieder das Lächeln und ein langgezogenes „Nöh.“, als ob es sie nur marginal berühre. Ich sah es aber eher als Scherz und schlug vor, morgen früh an der Regatta­bahn darüber zu reden. Mit einem „Mm-Mm“ und Kopfschütteln wies sie mei­nen Vorschlag zurück. „Wo denn?“ wollte ich wissen. „Bei dir“ legte sie katego­risch fest. „Und wann?“ erkundigte ich mich nach ihren Vorstellungen. „Jetzt gleich, anschließend“ erfuhr ich.

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Carmen Sevilla<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong><br />

Neue Sonne in Rainers Leben<br />

Erzählung<br />

Wende dich immer der Sonne zu, dann<br />

allen die Schatten hinter Dich.<br />

China<br />

Als wir eines Morgens mal wieder eine kleine Pause auf einer Parkbank<br />

eingelegt hatten, schaute sie mich tief an <strong>und</strong> sagte: „Nu küss mich doch mal<br />

endlich.“ Mich quälte es. <strong>Madleine</strong> war immer <strong>Manni</strong>s Frau gewesen.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich, bei aller Sympathie die ich für sie hatte. Obwohl ich <strong>Madleine</strong> als<br />

attraktive Frau wahrnahm, ihr Äußeres mir sehr gefiel, löste es nie irgendeine<br />

Art von erotischen oder sexuellen Assoziationen aus. Mein Unbewusstes hatte<br />

festgelegt, dass <strong>Madleine</strong> nicht als Frau, als geschlechtliches Wesen femininer<br />

Art in <strong>mein</strong>em Bewusstsein in Erscheinung treten sollte, sondern nur als die<br />

Frau <strong>mein</strong>es Fre<strong>und</strong>es, <strong>Manni</strong>. Was sollte ich machen? Sie küssen weil sie es<br />

gern wollte. Nein das machte ich <strong>Madleine</strong> gegenüber nicht. „Ich kann das<br />

nicht, <strong>Madleine</strong>.“ sagte ich <strong>und</strong> wollte ihr wortreich erklären, warum nicht.<br />

<strong>Madleine</strong> stand auf. Sie wollte anscheinend nichts hören. Nach einiger Zeit<br />

begann sie über etwas anderes zu sprechen. Am nächsten Morgen kam sie<br />

nicht zum Spazierengehen <strong>und</strong> rief auch nicht vorher an. Zum Frühstück<br />

erschien sie aber. Am darauffolgenden Morgen das Gleiche. „<strong>Madleine</strong>, wir<br />

haben offensichtlich Familienstreit, oder wie siehst du das?“ fragte ich sie bei<br />

Udo. Ich bekam <strong>mein</strong> liebstes Lächeln. Milde, verstehend <strong>und</strong> w<strong>und</strong>erschön mit<br />

den kleinen geschwungenen Fältchen neben ihren Augen. „Hieltest du es für<br />

völlig falsch, wenn wir versuchten, die Dissonanzen zu bereinigen?“ fragte ich<br />

nach. Wieder das Lächeln <strong>und</strong> ein langgezogenes „Nöh.“, als ob es sie nur<br />

marginal berühre. Ich sah es aber eher als Scherz <strong>und</strong> schlug vor, morgen früh<br />

an der Regattabahn darüber zu reden. Mit einem „Mm-Mm“ <strong>und</strong> Kopfschütteln<br />

wies sie <strong>mein</strong>en Vorschlag zurück. „Wo denn?“ wollte ich wissen. „Bei dir“ legte<br />

sie kategorisch fest. „Und wann?“ erk<strong>und</strong>igte ich mich nach ihren<br />

Vorstellungen. „Jetzt gleich, anschließend“ erfuhr ich.<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 1 von 28


<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> - Inhalt<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong>................................................... 4<br />

Tote Hose....................................................................................... 4<br />

Erst mal raus hier........................................................................... 4<br />

Lokale Prägung...............................................................................5<br />

Kein Eremitentyp............................................................................ 6<br />

Ein bisschen Mühe geben................................................................6<br />

Lebe deinen Traum?....................................................................... 7<br />

Le Bistro......................................................................................... 8<br />

Männerfre<strong>und</strong>schaften <strong>und</strong> <strong>Madleine</strong>..............................................8<br />

Späte Erkenntnis............................................................................ 9<br />

Kleines Glück................................................................................ 10<br />

La Madeleine.................................................................................10<br />

<strong>Madleine</strong>s Problem....................................................................... 11<br />

<strong>Manni</strong>s Andropause...................................................................... 13<br />

Sommerferien............................................................................... 13<br />

Beratung mit Lucia....................................................................... 14<br />

Desperate..................................................................................... 15<br />

Schlussstrich................................................................................ 16<br />

Vertrauensverhältnis.................................................................... 17<br />

Nu küss mich doch........................................................................18<br />

Familienstreit............................................................................... 19<br />

Anschließend zum Küssen............................................................19<br />

Hell strahlender Stern..................................................................20<br />

Residenz....................................................................................... 21<br />

Erwartungen.................................................................................22<br />

Weihnachtsplanungen.................................................................. 22<br />

Seid ihr denn alle blind?............................................................... 23<br />

Neue Nomenklatur für Verwandte................................................24<br />

Frohe Botschaft............................................................................ 24<br />

Weihnachtsspaziergang................................................................25<br />

Garten mit Sonne..........................................................................27<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 2 von 28


<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong><br />

Tote Hose<br />

Diese Stadt zählt doch zu den größten im Land, <strong>und</strong> trotzdem: „Hier ist nichts<br />

los.“ denkst du oft. Auch Städte, die noch mehr Einwohner haben, teilen dieses<br />

Schicksal. Tote Hose, trotz Hektik, großer Fabriken, breiter Straßen <strong>und</strong> Autobahnen.<br />

Wirtschaft, Industrie <strong>und</strong> Arbeit haben alles fest im Griff? Das kulturelle<br />

Ambiente fehlt? Keineswegs, tolle Opernaufführungen, eine Philharmonie<br />

<strong>und</strong> exquisite Kunstausstellungen kann sich die Stadt leisten, nur ich habe oft<br />

keine Lust hinzugehen, weil sie mir wie Fremdkörper vorkommen, die nicht aus<br />

dieser Stadt gewachsen sind, nicht aus der Geschichte dieser Stadt. Diese<br />

Stadt hat keine spürbare Geschichte, <strong>und</strong> was Geschichte war im Stadtkern<br />

<strong>und</strong> all den Einzelorten aus denen sie zusammengesetzt wurde, zerstörten die<br />

Bomben des zweiten Weltkriegs wegen der industriellen Bedeutung. Wenn ich<br />

hier in die Kneipe gehe, stört mich nichts. Ich fahre in andere Städte ins Theater,<br />

selbstverständlich. Hier frage ich mich jedes Mal, ob ich auch wirklich Lust<br />

auf die Oper habe. Natürlich gibt es alles, was es in einer Stadt dieser Größe<br />

zu geben hat, aber kann das ein Gr<strong>und</strong> sein, sie zu lieben? Es gibt viele singuläre<br />

Elemente, die bew<strong>und</strong>ernswert sind, die mir gefallen <strong>und</strong> die ich mag, aber<br />

etwas fehlt. Vielleicht ein harmonischer Rahmen, in dem es sich zu einem Gesamtbild<br />

fügt. Wünscht du dir dein Zuhause hierher? Trotzdem lebe ich, bis auf<br />

die Zeit des Studiums, immer in dieser Stadt. Warum? Früher habe ich mich<br />

das oft gefragt, gedacht „Du musst raus hier.“, geträumt vom Leben an anderen<br />

Orten, die mir gefielen. Nicht vom Land, ich mag Natur <strong>und</strong> Land sehr, aber<br />

absolut nicht als Lebensperspektive. Was hält mich hier fest, warum komme<br />

ich hier nicht weg? Warum darf ich <strong>mein</strong>en Traum in München oder Hamburg,<br />

in Freiburg oder Bremen nicht leben?<br />

Erst mal raus hier<br />

Udo weiß es auch nicht. Neun<strong>und</strong>dreißig Jahre lang hat er es versucht in Paris<br />

<strong>und</strong> an mehreren Orten in der Provence. Seit fünf Jahren ist er wieder hier <strong>und</strong><br />

versucht sich mit seinem kuriosen Bistro „Baguette“ über Wasser zu halten.<br />

Redest du mit ihm über Frankreich, erhältst du immer eine Vorlesung in Philosophie,<br />

Lebensphilosophie unter besonderer Berücksichtigung Frankreichs, dieser<br />

Stadt <strong>und</strong> der Welt im Allge<strong>mein</strong>en. Ich besuche Udo täglich gegen elf Uhr,<br />

außer an Wochenenden. Udo ist mit mir zur Schule gegangen, war <strong>mein</strong> Klassenkamerad.<br />

Er hat direkt nach dem Abitur entschieden, das Wichtigste ist<br />

„Erst mal raus hier“ <strong>und</strong> das war Paris. Einfach beantworten kann er es nicht,<br />

warum er wieder zurückgekommen ist. Lange Vorträge löst eine Frage danach<br />

aus, aber warum genau seine art de vivre ihn wieder hierher zurückgeführt<br />

hat, weißt du am Ende doch nicht. Genauso blumig, beziehungsweise vorgeschoben<br />

sind die Begründungen der anderen sieben Jungs aus <strong>mein</strong>er Klasse,<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 3 von 28


die entweder auch wie ich hier kleben geblieben sind oder wie Udo den Weg<br />

zurück gef<strong>und</strong>en haben. Der eine hat sich verliebt, der andere etwas geerbt,<br />

der nächste eine günstige Beschäftigung gef<strong>und</strong>en etc., alles ausgerechnet<br />

hier. Von den Mädchen lebt niemand hier, aber es waren ja auch nur drei bei<br />

uns in der Klasse, weil man als junge Dame gewöhnlich das<br />

Mädchengymnasium besuchte. <strong>Manni</strong>s Frau war auch bei uns auf der Schule,<br />

allerdings zwei Klassen tiefer.<br />

Lokale Prägung<br />

Gegenüber der Atmosphäre bei unserem regelmäßigen Stammtisch am Dienstag,<br />

wirkte das Verhalten bei den meisten Familientreffen sicher distanziert.<br />

Was sich vor über fünfzig Jahren entwickelt <strong>und</strong> eingebrannt hatte, war sofort<br />

präsent, auch wenn man sich wie Udo über vierzig Jahre nicht gesehen hatte.<br />

Ein richtig ordentlicher Stammtisch mit viel Bier trinken, grobe Witze erzählen<br />

<strong>und</strong> kluge Phrasen dreschen waren unsere Treffen wohl nicht. Es war schlicht<br />

ein Zusammensein meistens mit Gattinnen oder Lebensgefährtinnen, bei dem<br />

die meisten auch etwas aßen <strong>und</strong> sich über irgendetwas unterhielten. Bis auf<br />

Rolf <strong>und</strong> Hartmut, die schon damals in der Schule ein wenig distanzierter waren,<br />

nahmen alle fast regelmäßig an den Dienstagstreffen teil. Udo hatte auch<br />

schon mal Probleme, eine Bedienung für's 'Baguette' geregelt zu bekommen.<br />

Manchmal mutete es mich gespenstisch an. Keiner pries die Stadt in lyrischen<br />

Hymnen, allenfalls in einem „Ach, leben kann man hier doch schon.“ gipfelte<br />

der Ausdruck ihrer höchsten Verb<strong>und</strong>enheit. Sollte <strong>Manni</strong> gar nicht mal völlig<br />

Unrecht haben mit seinem Joke, mit dem er Udos Rückkehr begründete? „On<br />

revient toujours à ses premières amours“ erklärte er es für ihn, der ja Reißaus<br />

genommen hatte vor seiner ersten Liebe, wenn es denn überhaupt jemals eine<br />

gewesen sein sollte. Bargen wir vielleicht alle im Unterbewusstsein eine gewisse<br />

Art Zuneigung für diese Stadt, die wir aber nicht wahrhaben wollten <strong>und</strong> vor<br />

uns selbst nicht eingestehen durften? Hatten sich in unserer frühen Gehirnentwicklung<br />

als Ort unserer Residenz diese Lokalitäten schon unauslöschlich eingeprägt<br />

<strong>und</strong> waren während der Kindheit <strong>und</strong> frühen Jugend, als es noch keine<br />

Vorbehalte gegen diese Stadt gab, weiter verfestigt worden. Hatte sich dieser<br />

Ort wie eine Art Urvertrauen im Sozialen im Lokalen eingebrannt <strong>und</strong> blieb rationalen<br />

Erwägungen gegenüber prinzipiell unzugänglich? Zog es uns hierher,<br />

selbst wenn wir es gar nicht wollten? Wer wollte das herausfinden? Der Psychiater<br />

vielleicht, aber der wusste ja selbst auch nicht, was an dieser Stadt so<br />

schön sein sollte.<br />

Man wollte doch erwachsen sein, sich von seiner alten schützenden Umgebung<br />

abgenabelt haben <strong>und</strong> ein eigenständiges Leben führen. Hatten wir ja auch alles<br />

gemacht <strong>und</strong> jetzt mit über sechzig wäre es wohl ein wenig spät dafür gewesen,<br />

aber im Kreise der Primaner war's einfach vertrauter, angenehmer <strong>und</strong><br />

gemütlicher. Und auch die Frauen schienen es zu goutieren. Ihre gute Laune<br />

<strong>und</strong> Freude gaben den Treffen erst ihr Gesicht. Hätten sich nur die Männer getroffen,<br />

ich bin mir nicht ganz sicher, ob das über zehn Jahre hätte bestehen<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 4 von 28


können.<br />

Kein Eremitentyp<br />

Ich führte <strong>mein</strong> eigenständiges Leben allein, seit sieben Jahren schon. Da hatten<br />

<strong>mein</strong>e Frau <strong>und</strong> ich uns getrennt. Einsam fühlte ich mich keineswegs, nur<br />

Gedanken machte ich mir immer noch darüber. Auch wenn's völlig müßig war,<br />

sinnierte ich öfter, ob <strong>und</strong> unter welchen Bedingungen ein weiteres Zusammenleben<br />

doch hätte möglich <strong>und</strong> sinnvoll sein können. Margot, <strong>mein</strong>e Frau, war<br />

eben <strong>mein</strong> Leben gewesen. Trotz aller Auseinandersetzungen <strong>und</strong> Missverständnisse,<br />

trotz unserer Leben, die sich, wie wir <strong>mein</strong>ten, auseinanderentwickelt<br />

hätten. Auch wenn zum Schluss alles sehr unangenehm gewesen war,<br />

fast dreißig Jahre hatten wir ein ge<strong>mein</strong>sames Leben geführt. Du magst es mit<br />

unterschiedlichen emotionalen Assoziationen erinnern, aber wie sollte es nicht<br />

mehr präsent, so gut wie vergessen sein? Das ist unmöglich.<br />

„Du bist nicht der einzige. Millionen anderer ehemaliger Partner trifft das gleiche<br />

Schicksal, aber die meisten schauen in die Zukunft <strong>und</strong> grübeln nicht über<br />

Vergangenes, das sowieso nicht mehr zu ändern ist.“ lautete Silkes Vorwurf.<br />

Silke war <strong>mein</strong>e Tochter <strong>und</strong> studierte jetzt in München Pharmazie. Warum<br />

Pharmazie <strong>und</strong> warum in München? Ich hörte ihre Argumente, aber <strong>mein</strong> Herz<br />

akzeptierte sie nicht. Silke war immer Daddys Daughter gewesen. Auf alle Mitarbeiter<br />

im Betrieb gelang es mir, <strong>mein</strong>en Einfluss auszuüben, aber bei <strong>mein</strong>er<br />

Allerliebsten war ich chancenlos. Durch die weite Entfernung sahen wir uns viel<br />

zu selten. Was sie hier alles hätte studieren können <strong>und</strong> im Nachbarort auch<br />

Pharmazie, wir hätten uns immer treffen können, aber nein, ihr schien die erforderliche<br />

frühkindliche lokale Prägung wohl zu fehlen. Bei Udo war die Wirkung<br />

ja auch erst nach neun<strong>und</strong>dreißig Jahren eingetreten. Silke vertrat die<br />

Ansicht, es sei unges<strong>und</strong> für mich, allein zu leben. Ich sei kein Eremitentyp, ich<br />

brauche eine Fre<strong>und</strong>in. Als ich ihr die Probleme aufzeigte, erklärte sie, dass für<br />

solche Fälle extra die Partnervermittlungsagenturen existierten. Obwohl das<br />

überhaupt nicht <strong>mein</strong> Fall ist, habe ich mich dreimal mit Frauen getroffen, bis<br />

auch Silke der Überzeugung war, so macht es keinen Sinn. Ich kann das nicht.<br />

Wenn ich eine Frau treffe <strong>und</strong> dabei denke, dass ich mit der eventuell zusammenleben<br />

soll, möchte ich immer sofort flüchten. Ihr Reden, ihr Verhalten, ihr<br />

Aussehen sagen mir nichts mehr. Wie phobisch reagiert <strong>mein</strong> Kopf jedes Mal.<br />

Keine weiteren Kontakte. Bei mir hat es noch nie Peng gemacht, wenn ich eine<br />

Frau sehe. Liebe auf den ersten Blick oder Ähnliches, für mich unvorstellbar.<br />

Die Liebe wächst, je besser ich jemanden kenne. Von <strong>mein</strong>er Cousine, die ich<br />

immer in den Ferien traf, habe ich früher geträumt <strong>und</strong> <strong>mein</strong>e Frau kannte ich<br />

aus langer Verb<strong>und</strong>enheit als Kommilitonin, bevor das Verlangen in mir erwachte.<br />

Unser Haus würde schon eine Einsiedelei bleiben müssen.<br />

Ein bisschen Mühe geben<br />

Vielleicht hätte ja Bruno Lust, sich mit mir zusammen zu tun, aber der hatte<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 5 von 28


selber auch ein Haus. Unabhängig davon befand sich Bruno krampfhaft auf<br />

permanenter Brautschau <strong>und</strong> hatte ständig etwas, wohl primär, weil der feminine<br />

Phänotyp nicht zu verkennen war. Nach ein paar Wochen oder Monaten war<br />

es dann auch wieder vorüber. Warum er das, was er als Begründung nannte,<br />

nicht schon sofort oder zumindest doch am zweiten Tag festgestellt hatte, blieb<br />

ein Rätsel. Wenn die Frauen sich in der Pflicht sahen, Bruno gute Ratschläge<br />

für's nächste <strong>und</strong> weitere Male zu erteilen, entwickelte sich der Dienstagabend<br />

meistens in Richtung bunter Abend. Mir auch mal ein paar gute Tips für <strong>mein</strong>e<br />

Situation zu geben, löste nur ein „Ach, Rainer, musst dir mal ein bisschen Mühe<br />

geben.“ aus. So wurde es wohl gesehen. Wenn ich mich ein wenig kümmern<br />

würde, könne es für mich doch keine Probleme geben. Für unsympathisch<br />

wurde ich auch in der Regel wohl nicht gehalten. Häufig bekam ich ein<br />

fre<strong>und</strong>liches Lächeln geschenkt, aber was sollte ich denn damit anfangen?<br />

Wenn sich auch keine Liebe zeigte, aber einschätzen würde ich <strong>mein</strong> Gegenüber<br />

doch wie alle Menschen auch auf den ersten Blick. Üblicherweise wurde<br />

dabei zwischen Mann <strong>und</strong> Frau auch immer die Qualität als potenzieller Sexualpartner<br />

gecheckt. Das wurde den anderen in der Regel genauso gut nicht bewusst,<br />

sie orientierten nur ihr Verhalten daran. Dass ich derartiges auch sah,<br />

will ich nicht bezweifeln, doch <strong>mein</strong> Bewusstsein erreichte es nie, <strong>und</strong> an <strong>mein</strong>em<br />

Verhalten fiel mir auch nichts auf.<br />

Lebe deinen Traum?<br />

Aber es existierte auch keine Art von Leidensdruck für mich, obwohl ich es<br />

schon als angenehmer empf<strong>und</strong>en hätte, mit einer geliebten Partnerin zusammenzuleben.<br />

War es ein Traum, ein schöner Traum, den ich eigentlich hätte<br />

verwirklichen <strong>und</strong> leben sollen? Träume waren <strong>mein</strong>e Fre<strong>und</strong>e nur nachts im<br />

Bett <strong>und</strong> beim Einschlafen, eine feste Absicht, <strong>mein</strong>e Träume zu leben, habe<br />

ich nie gehabt. Was du träumen kannst, kommt auch nur aus dir selber, sind<br />

Gebilde aus dem, was in dir ist, was du weißt, erfahren <strong>und</strong> kombiniert hast.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich Neues kommt darin nicht vor. Das kann dir nur dein Leben selber<br />

bieten, <strong>und</strong> da kann es vieles geben, was du gern geträumt, sofern du es denn<br />

gekannt hättest. Zum Beispiel das Glück, wie ich es im Zusammenleben mit<br />

den Kindern erfahren habe, hätte ich nicht im Voraus träumen können. Und<br />

auch manch freudige Überraschung <strong>und</strong> Erfahrung in der Firma hätte ich mir<br />

nicht vorher erträumen <strong>und</strong> dann realisieren können. Lebe deinen Traum? Das<br />

Leben hat manchmal traumhaftere Erfahrungen für dich bereit, als deine eigenen<br />

Träume zustandebringen können. Sorge dafür, dass du glücklich sein<br />

kannst, dann hat das Leben mehr zu bieten als Träume.<br />

Udo hatte fast vierzig Jahre danach gesucht, seinen Traum oder seine Träume<br />

leben zu können. Er hat bestimmt manch schöne Tage gehabt, doch sein Traum<br />

war eine Phantasmagorie. Mittellos ist er zurückgekommen, muss sich quälen,<br />

um seinen Unterhalt zu verdienen, lebt in einer kleinen Wohnung mit einer<br />

Studentin zusammen, die ihn liebt <strong>und</strong> ist glücklich. Fritz <strong>und</strong> Volker haben ja<br />

auch die längste Zeit ihres Lebens nicht hier verbracht, bis sich eine Gelegen-<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 6 von 28


heit bot, zurückzukehren. Fritz hätte das geerbte Haus verkaufen können. Volker<br />

<strong>und</strong> seine neue Lebensgefährtin wohnten beide nicht hier. Warum war nicht<br />

der eine nach Köln gezogen oder die andere nach Dortm<strong>und</strong>? Sie nannten<br />

Gründe, nur klangen die sehr sonderbar. Volkers Unterbewusstsein hatte sich<br />

durchgesetzt, dass sie beide hier ihr Glück finden würden.<br />

Le Bistro<br />

Ich ging morgens immer von zehn bis elf an der Regattabahn spazieren. Auch<br />

wenn das Wetter nicht zu einem schönen Tag passte, ich liebte es. Ich mochte<br />

den Wald, das Wasser <strong>und</strong> auch die Begegnungen mit den eifrig hechelnden<br />

<strong>und</strong> schwitzenden Joggern. Ich war gern draußen in der Natur, <strong>und</strong> völlig falsch<br />

sein konnte es ja auch nicht, sich ein wenig zu bewegen. Anschließend ging ich<br />

zu Udo frühstücken. Mir gefiel Udos etwas eigenwilliges Bistro sehr. Natürlich<br />

gab es unterschiedlich präparierte Baguettes, aber man konnte sich auch alles<br />

selbst zusammenstellen <strong>und</strong> sein Baguette mit den anderen Zutaten à la manière<br />

française fleißig überall eintunken. Er kochte das Frühstücksei einzeln,<br />

mit Sicherheit war es zu billig. Auch Crêpe konnte mann bekommen, <strong>und</strong> es<br />

hätte nicht Udos Bistro sein können, wenn es nicht über eine reichhaltige Käseplatte<br />

verfügt hätte. Weine verkaufte er nur au goût du Udo. In den Bierlanden<br />

hat man in den Kneipen normalerweise ein oder zwei Rotweine zur Wahl, die<br />

die Beurteilung 'noch genießbar' meist kaum erreichen, Udo hatte immer sieben<br />

bis zehn, über deren Geschmack man diskutieren konnte, deren Qualität<br />

aber unstrittig war. Wie wollte er das alles finanzieren? Angemessene Preise<br />

konnte er nicht nehmen, er lebte ja von den Studenten als K<strong>und</strong>en. Die wussten<br />

zwar das Ambiente zu schätzen, liebten auch das Angebot, hatten aber<br />

meistens nur wenig Geld. Anderswo als in Uninähe hätte er überhaupt nicht<br />

existieren können. So lebte er hauptsächlich von fertigen Baguettes <strong>und</strong> Crêpes<br />

<strong>und</strong> musste damit nicht nur sich selbst sondern auch noch einige Verlustgeschäfte<br />

finanzieren, aber ohne Käse, Wein <strong>und</strong> Libération hätte wahrscheinlich<br />

Udos Seele geweint. So hatte er morgens die Möglichkeit, sich bei mir befreiend<br />

auszuweinen. Ich mochte Udo, hatte ihn schon früher in der Schule gemocht,<br />

obwohl er ein ganz anderer Typ war als ich. Vielleicht weil er vieles einschätzte<br />

<strong>und</strong> tat, was ich auch gern so gekonnt hätte, mich aber nicht traute.<br />

Das war heute sicher nicht mehr der Fall, aber ich bew<strong>und</strong>erte ihn schon immer<br />

noch ein wenig. Nicht nur die Einrichtung seines Bistros, auch dass er mit<br />

Nina, einer Studentin zusammenlebte, wäre für mich nicht denkbar gewesen.<br />

Vielleicht hoffte <strong>mein</strong> Unterbewusstsein ja, in Udos Bistro auch eine Studentin<br />

kennen zu lernen, die sich dann in mich verliebte. Mein Bewusstsein ließ mich<br />

allerdings wissen, das dies für mich eher mit Angst als mit Wunsch in Verbindung<br />

zu bringen sei.<br />

Männerfre<strong>und</strong>schaften <strong>und</strong> <strong>Madleine</strong><br />

<strong>Madleine</strong>, <strong>Manni</strong>s Frau, hatte sich erk<strong>und</strong>igt, ob ich denn jeden Morgen um die<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 7 von 28


gleiche Uhrzeit bei Udo sei. Sie säße morgens immer allein zu Hause. <strong>Manni</strong><br />

musste noch drei Jahre zur Schule, er war Lehrer <strong>und</strong> wurde erst zum Abschluss<br />

des Schuljahres, in dem er fünf<strong>und</strong>sechzig geworden war, pensioniert.<br />

„Wenn's euch nicht stört, würde ich vielleicht ganz gern dazu kommen, aber ihr<br />

müsst offen sagen, wenn ihr lieber unter euch sein möchtet.“ erk<strong>und</strong>igte sich<br />

<strong>Madleine</strong>. Ihre Anwesenheit würden wir begrüßen, falls ihre Beiträge <strong>und</strong> Kommentare<br />

aber auf die Dauer störend wirken sollten, würden wir es sie wissen<br />

lassen, erklärte ich scherzend. „Ha, nu bleib mal auf dem Teppich, Junge. Ich<br />

will mir das erst mal anschauen. Weiß ich denn was ihr da treibt? Dass eure<br />

Gespräche nicht viel deprimierender wirken, als allein zu Haus am Tisch zu<br />

sitzen, steht ja noch gar nicht fest.“ reagierte <strong>Madleine</strong>. Dass <strong>Madleine</strong> kam<br />

war angenehm <strong>und</strong> belebend, aber die Gesprächsstruktur veränderte es schon.<br />

Im Gr<strong>und</strong>e ist es ja sehr ungewöhnlich. In welcher Tierart gibt es das, wo<br />

können Männchen auch in Zeiten der Brunft gute Fre<strong>und</strong>e sein. Männer zeigen<br />

sich zwar permanent in Kampfpose <strong>und</strong> Fighten auch ständig dort, wo es gar<br />

nicht um die Verbreitung ihres Samens geht, aber wenn sie einmal gute<br />

Fre<strong>und</strong>e sind, wird das Kampfgen oder der verantwortliche<br />

Sozialisationsbereich abgeschaltet. Viele Worte sind da fehl am Platz. „Ich mag<br />

dich. Du bedeutest mir sehr viel. Unsere Fre<strong>und</strong>schaft ist mir sehr wichtig.“ so<br />

etwas sagen Männer nicht. Da braucht man sich nur wie Jungs nach einer<br />

Spaßrauferei einmal zuzuzwinkern, das sagt alles. Das Wesentliche soll man<br />

nicht zerreden, ist eine Gr<strong>und</strong>satzregel für Männerfre<strong>und</strong>schaften. Die Mimik<br />

kann so vielsagend sein, da reichen kurze Zwei- bis Drei-Wort-Fragen <strong>und</strong><br />

Antworten. Die Vielfalt der Sprache ist für das, was sonst auf der Welt<br />

geschieht, vorgesehen, aber nicht für die Beziehung untereinander. Die<br />

Anwesenheit einer Frau stört diesen kumpelhaften Konsens, für sie trifft er<br />

nicht zu. Keinesfalls muss sie die Männer zum Balzverhalten animieren, nur sie<br />

eröffnet die Möglichkeit, das auch über etwas anderes gesprochen werden<br />

kann. So geschah es mit <strong>Madleine</strong> auch. Wir sprachen nicht selten von früher,<br />

von der Schule oder Sonstigem aus unseren Lebenswegen. Dienstagsabends<br />

redete man nicht über Biographisches. Es erschien einem unausgesprochenen<br />

Tabu gleich, nur es lag schlicht daran, dass niemand Lust hatte, sich<br />

Geschichten aus dem Leben anzuhören. Sehr selten wurden mal Details<br />

erwähnt, wenn sie in anderem Zusammenhang von Interesse waren. Natürlich<br />

kannte jeder die Vita des anderen. Zu Beginn oder wenn er dazugekommen<br />

war, musste er sie natürlich erzählen, aber sonst generierten sich die Themen<br />

so gut wie ausschließlich aus dem gegenwärtigen Leben. Zwischen Udo <strong>und</strong><br />

mir hatte sich das morgens zwischen elf <strong>und</strong> halb zwölf kaum anders<br />

abgespielt, aber Madeleine erzählte nicht nur viel, wie sie wann was erlebt<br />

hatte, sie war auch daran interessiert, es von uns zu hören. Unangenehm war<br />

es nicht. Wann hatte ich mal jemandem erzählen können, wie überrascht ich<br />

war, dass es mir gelang, einen Untergebenen dazu zu bringen, sich mit der<br />

Firma zu identifizieren <strong>und</strong> er gleiche Weg immer wieder funktionierte, <strong>mein</strong>e<br />

Abteilung hohes Ansehen genoss <strong>und</strong> mir bis zuletzt Anerkennung verschaffte.<br />

Anerkennung für etwas, dessen ich mich vor mir selber schämte. Ich hatte<br />

andere Menschen dazu motiviert, sich für die Firma auszubeuten. Über<br />

Erlebnisse, die uns emotional bewegt hatten, sprachen wir. Langweilig <strong>und</strong><br />

uninteressant wurde uns dabei nicht, <strong>und</strong> wir lernten eben vieles gegenseitig<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 8 von 28


von uns kennen, dass uns sonst verborgen geblieben wäre.<br />

Späte Erkenntnis<br />

„Ich finde, du bist eine ganz tolle Frau, Madeleine.“ erklärte ich, weil ihre<br />

Selbsteinschätzungen nicht selten despektierliche Züge aufwiesen. „Ein bisschen<br />

spät, dass dir das auffällt.“ reagierte sie darauf. Ich verstand nichts. „Ja,<br />

in der Schule damals gefielst du mir außergewöhnlich gut. Es war <strong>mein</strong> Traum,<br />

dass wir beide etwas miteinander zu tun hätten, aber du beachtetest mich gar<br />

nicht. Warst mit Lydia zusammen, die viel doofer <strong>und</strong> hässlicher war als ich.<br />

Ärgerlich <strong>und</strong> wütend war ich auf dich. Mit deinem Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> habe ich<br />

geflirtet <strong>und</strong> dachte, dadurch deine Aufmerksamkeit zu erreichen. Hat aber<br />

nicht funktioniert, sondern sich anders entwickelt, wie du ja weißt.“ erklärte<br />

Madeleine. „Und liebst du mich fast fünfzig Jahre später immer noch?“ fragte<br />

ich scherzhaft. „Oh, Rainer, wir leben in einer völlig anderen Welt. Ich bin<br />

glücklich verheiratet, habe erwachsene Kinder. Auf der Schule bin ich nicht<br />

mehr.“ antwortete sie, aber ein direktes klares Nein hatte Madeleine nicht<br />

ausgesprochen, dass ich für sie mehr bedeutete, als irgendjemand aus der<br />

Primanerclique, war mir auch schon vorher aufgefallen.<br />

Kleines Glück<br />

Es war das kleine Glück, besonders jetzt im März, wenn die Luft dich spüren<br />

lässt, dass sie auch Wärme übertragen kann <strong>und</strong> die Sonne beginnt, die Tage<br />

nicht nur heller zu machen, sondern allem was du siehst auch neue leuchtend<br />

bunte Farben zu geben. Nicht nur deine Augen sehen es, auch dein Gemüt<br />

nimmt es wahr, wie die vielen kleinen gelben Blüten <strong>und</strong> zart grünen Blättchen,<br />

die ein anderes Gesamtbild der Natur prägen. Das zu erleben <strong>und</strong> sich anschließend<br />

mit lieben Menschen bei Udo zum Frühstück zu treffen, kann ein<br />

Tag glücklicher beginnen? Sonst hatte ich immer eine halbe St<strong>und</strong>e bei Udo<br />

verbracht, mit <strong>Madleine</strong> hatte es sich ausgedehnt <strong>und</strong> wir verließen Udo kaum<br />

jemals vor Zwölf. „Ich bin ja um jede Minute froh, die ich da raus bin.“ ließ Madeleine<br />

mal auf dem Weg zum Auto so nebenbei fallen. Ich wollte wissen, was<br />

sie <strong>mein</strong>te. „Ich bin ja nicht nur morgens allein, wenn <strong>Manni</strong> zur Schule ist.<br />

Aber nein, nein, nein, darüber spreche ich nicht.“ sprach's <strong>und</strong> schwang sich<br />

ins Auto. Es war Freitag <strong>und</strong> ich hatte das Wochenende Zeit, darüber zu sinnieren.<br />

Offensichtlich gab's Probleme zwischen den beiden. Das <strong>Manni</strong> mir noch<br />

nichts davon erzählt hatte, w<strong>und</strong>erte mich. Wir beide waren wie Brüder, in der<br />

Schule schon dicke Fre<strong>und</strong>e gewesen <strong>und</strong> hatten ansonsten auch das ganze<br />

Leben hier verbracht. Mir hätte <strong>Manni</strong> es wahrscheinlich eher anvertraut als<br />

seinem Psychiater, aber er hatte nichts von Problemen verlauten lassen. Dienstagsabends<br />

konnte man bei ihm auch nichts verspüren.<br />

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La Madeleine<br />

Da musste <strong>Madleine</strong> doch etwas darüber erzählen. „Madeleine, du hast mich<br />

verwirrt, mit dem, was du am Freitag gesagt hast. Bei mir gibt es sicher auch<br />

etwas, dass ich dir nicht erzählen würde. Nur es scheint dich doch zu bedrücken.<br />

Willst du es dann einfach runterschlucken, als ob nichts gewesen<br />

wäre? Das wird nicht funktionieren. Es wird dich mehr <strong>und</strong> mehr quälen, bis du<br />

es allein nicht mehr ertragen kannst <strong>und</strong> Hilfe suchst. Ich denke, es wäre am<br />

besten, du würdest so früh wie möglich darüber reden. Mit wem denn wohl anders<br />

als <strong>Manni</strong>s bestem Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> deinem guten Fre<strong>und</strong>.“ erklärte ich ihr am<br />

Montagmorgen, als Udo gerade eine K<strong>und</strong>in bediente. <strong>Madleine</strong> schien viel<br />

überlegen zu müssen. Ihre Mimik, die sonst stets einem Lächeln nahe war, signalisierte<br />

Skepsis <strong>und</strong> Zweifel. Ihre Augen starrten ins Bistro, aber sie sah Filme,<br />

die sich in ihr selbst abspielten. „Ja, o. k., aber nicht hier. Du gehst doch<br />

vorher spazieren, kann ich da nicht mitkommen <strong>und</strong> mich mit dir unterhalten?“<br />

fragte sie, als Udo kassierte. „Natürlich, schon, nur weiß du, da sind auch immer<br />

einige andere Leute, <strong>und</strong> da würde es schon attraktiver wirken, wenn die<br />

Absätze von deinen Stöckelschuhen ein wenig höher sein könnten.“ reagierte<br />

ich <strong>und</strong> veranlasste Madeleine zu smilen. Sie war wieder hier <strong>und</strong> nicht mehr<br />

bei dem, worüber wir morgen an der Regattabahn reden wollten. „Udo bleib<br />

sofort vorne. Ich brauche unbedingt noch einen Espresso <strong>und</strong> einen Digestif,<br />

die Brioche liegt mir viel zu schwer im Magen.“ rief ich ihm zu. Ich musste<br />

mich auch wieder zurückholen, <strong>und</strong> zu Madelein gewandt: „Isst du eigentlich<br />

gerne Kuchen? Die Brioches sind ja im Prinzip auch Kuchen. Marie Antoinette<br />

hat sie der Bevölkerung empfohlen, als ihr berichtet wurde, dass es dem Volk<br />

an Brot mangele. Da halte ich mich strikt dran. Völlig kurios, eigentlich mag ich<br />

am liebsten saures Roggenbrot <strong>und</strong> keinen Kuchen. Ich schau auch immer die<br />

Reklame von Aldi in der Zeitung an, ob es wieder Gâche gibt. Dafür müsstest<br />

du ja sonst nach Düsseldorf fahren. Hier braucht man so etwas in der Regel<br />

nicht.“ „Das ist eine sehr unhöfliche Frage, Monsieur.“ antwortete Madeleine<br />

darauf, „Erwecke ich den Anschein, als ob ich jeden Nachmittag <strong>mein</strong>e fünf<br />

Stückchen Butterkremtorte vertilgen müsste?“ „Ich habe ja nicht gefragt, ob<br />

du's wirklich tust, ich wollte mich doch nur nach deinen Bedürfnissen erk<strong>und</strong>igen.“<br />

war <strong>mein</strong>e Replik. <strong>Madleine</strong> grinste schelmisch <strong>und</strong> <strong>mein</strong>te zu Udo gewandt:<br />

„Dein Fre<strong>und</strong> ist der deutschen Sprache nicht ganz mächtig. Sag du<br />

ihm doch mal, wie er formulieren müsste, was er zu fragen beabsichtigt.“ Wir<br />

scherzten ein wenig weiter, <strong>und</strong> Madeleine musste noch erklären, wie sie schon<br />

damals in dieser Stadt zu ihrem französisch Namen gekommen sei. Ihre Großmutter<br />

sollte Taufpatin werden, <strong>und</strong> es sei nicht ungewöhnlich gewesen, deren<br />

Namen an die Enkelkinder weiter zu geben. „Nur die hieß Magda, richtig Magdalene.<br />

Das konnte man einem Kind auch damals nicht antun. Meine Mutter<br />

schwärmte immer von Paris, das sie nur aus Büchern <strong>und</strong> von Bildern kannte.<br />

Da fiel ihr 'La Madeleine' ein <strong>und</strong> sie war begeistert. Nur sie haben sich verschrieben<br />

<strong>und</strong> das E in der Mitte vergessen. So einfach ist das.“ erklärte <strong>Madleine</strong>.<br />

Wenn jemand 'La Madeleine' erwähnte, wurde natürlich über Paris geredet.<br />

<strong>Madleine</strong> selbst hatte die Kirche auch schon eingehend inspiziert <strong>und</strong> war<br />

mit ihrer Namenspatronin vollauf zufrieden.<br />

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<strong>Madleine</strong>s Problem<br />

Am nächsten Morgen an der Regattabahn umarmten wir uns zur Begrüßung.<br />

Das geschah sonst nicht, aber wenn du das Bedürfnis verspürst, ein vertrautes<br />

Empfinden zu erzeugen, drängt es dich dazu. Wir besangen das schöne Frühlingswetter<br />

<strong>und</strong> <strong>Madleine</strong> übertrug es: „Ich könnte die wechselnden Jahreszeiten<br />

ja auch ertragen, würde Herbst <strong>und</strong> Winter überstehen, wenn ich wüsste,<br />

es käme danach ein Frühling, der die Sonne wieder für mich scheinen ließ <strong>und</strong><br />

mir die Welt wieder bunt machte, aber es ist wie ein permanenter Herbst ab infinitum,<br />

immer nur grau.“ „<strong>Madleine</strong>, du bist traurig <strong>und</strong> unzufrieden. Was ist<br />

es, das dazu führt?“ fragte ich sie. „Rainer, manchmal zweifle ich an mir, überlege<br />

ob ich mir nicht etwas zusammen spinne, aber ich weiß doch, wie es anders<br />

war, das sind doch keine Fantasiegebilde <strong>und</strong> mit euch erlebe ich es ja<br />

auch jeden Tag. Ob <strong>Manni</strong> zu Hause ist oder nicht, spielt für mich im Gr<strong>und</strong>e<br />

gar keine Rolle. Er scheint mich nicht wahrzunehmen. Ich könnte der<br />

Kleiderschrank, die Küchenfrau oder eine Gardine sein. Als ob ich, <strong>Madleine</strong><br />

persönlich, für ihn überhaupt nicht existierte. Kein Stückchen Aufmerksamkeit,<br />

kein Stückchen Beachtung von Zuneigung ganz zu schweigen. Es ist<br />

entwürdigend für mich, diesen Mann zu bitten, doch mal von mir Notiz zu<br />

nehmen, ihm in den Hintern kriechen zu müssen. In mir kommt Wut hoch,<br />

richtig aggressive Wut. Ich könnte ihm in die Fresse hauen. Er selbst scheint<br />

ein Idiot geworden zu sein. Versteht angeblich nicht, was ich <strong>mein</strong>e. Hält alles<br />

für ganz normal. Wir würden uns doch verstehen, es gäbe doch keinen Streit,<br />

<strong>und</strong> die wilden Begehrlichkeiten des Liebesrausches würden sich im Alter nun<br />

mal legen. Das sei doch ganz natürlich. Manchmal frage ich mich tatsächlich,<br />

ob er nicht sogar Recht hat, ob nicht bei vielen Paaren, wenn sie älter werden<br />

alles abstumpft <strong>und</strong> stirbt <strong>und</strong> ich nicht überdreht bin, etwas will, das es für<br />

mich nicht mehr gibt. Aber wenn ich euch morgens treffe, merke ich immer,<br />

dass ich noch lebe <strong>und</strong> dass ich es darf <strong>und</strong> dass ich es will. Nur <strong>Manni</strong> wird es<br />

nie verstehen.“ stellte <strong>Madleine</strong> ihre Situation dar. Vielleicht verstand ich etwas<br />

von dem, was <strong>Madleine</strong> gesagt hatte. Ich versuchte mir <strong>Manni</strong> vorzustellen,<br />

von dem ich <strong>mein</strong>te, ihn so gut zu kennen. Er war doch Pädagoge. Sein Leben<br />

lang war er damit konfrontiert worden, dass seine Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler<br />

vordringlich Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Beachtung einforderten, er praktizierte es<br />

jeden Tag, musste es beachten, weil es konstitutiv für seinen pädagogischen<br />

Erfolg war. Und zu Hause sollte er sich davon erholen müssen. Waren seine<br />

Kapazitäten dafür erschöpft. So war es wohl nicht. Aber wie konnte er das, was<br />

für seine Schüler selbstverständlich war, im Zusammenhang mit <strong>Madleine</strong> für<br />

überflüssig halten. Vielleicht hatte sie für ihn gar nicht mehr den Status einer<br />

anderen Person, die der Aufmerksamkeit bedurfte. War sie nicht eventuell wie<br />

der Kleiderschrank zum selbstverständlichen Mobiliar seiner eigenen<br />

psychosozialen Wohnung mutiert. Sie gehörte einfach zu ihm, zu seiner Welt<br />

dazu. „<strong>Madleine</strong>, was du erzählst, verwirrt mich, ist mir unverständlich, ich<br />

kann es nicht nachvollziehen. Ich weiß auch nicht, wie ich euch helfen könnte,<br />

wie ihr da raus kommen wollt. Ich brauchte bei so etwas Hilfe von außen, von<br />

Leuten, die sich mit Derartigem auskennen. Mehr fällt mir dazu gar nicht ein,<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 11 von 28


außer dass ich dich sehr bedauere.“ kommentierte ich es. Wir gingen<br />

schweigend neben einander her. Ob ich <strong>Manni</strong> mal darauf ansprechen sollte?<br />

Nein, nein, das wäre nicht günstig. „Ich würde euch ganz dringend raten, doch<br />

etwas in Richtung Paartherapie oder Ähnlichem zu unternehmen, denn für<br />

ziemlich verfahren halte ich euer System schon.“ wies ich <strong>Madleine</strong> hin. „Weiß<br />

du, Rainer, oft möchte ich da einfach nur raus. Weglaufen, wenn ich wüsste<br />

wohin. Von allem nichts mehr sehen <strong>und</strong> hören müssen, kann es einfach nicht<br />

ertragen. Es sind ja nicht unangenehme beklemmende fünf Minuten, es ist ja<br />

der ganze Tag, permanent, <strong>und</strong> du weißt, dass es morgen nicht anders sein<br />

wird. Deine Gr<strong>und</strong>stimmung soll es sein, mit der du alle Tage zu verbringen<br />

hast. Wenn du eine Therapie machst, willst du etwas reparieren, du siehst eine<br />

Perspektive, auf die du dich freuen kannst. Wie soll das denn mit <strong>Manni</strong><br />

aussehen? Dass alles wieder so wird wie früher?“ <strong>Madleine</strong> lachte, „Soll ich das<br />

glauben? Vorstellen kann ich es mir nicht.“ Bei Udo hielt sich die Stimmung<br />

heute bedeckter. Morgen wollten wir nochmal ge<strong>mein</strong>sam spazieren gehen.<br />

<strong>Manni</strong>s Andropause<br />

Zunächst unterhielten wir uns ausschließlich über <strong>Madleine</strong>s <strong>und</strong> <strong>Manni</strong>s Beziehung,<br />

bis <strong>Madleine</strong> es auch so sah, dass es keinen anderen Weg aus ihrer jetzigen<br />

Situation gäbe, außer sich zu trennen oder eine Therapie zu beginnen. Obwohl<br />

wir über ihre Beziehung nicht mehr redeten, gingen wir weiter ge<strong>mein</strong>sam<br />

morgens spazieren. Wenn ihr das Wetter als zu schlecht erschien, wollte<br />

<strong>Madleine</strong> mich vorher anrufen. Es schien ihr Spaß zu machen, mich das häufig<br />

wissen zu lassen, um von mir zu hören, dass <strong>und</strong> wie es trotzdem möglich sei.<br />

Sie stelle alberne <strong>und</strong> dämliche Fragen <strong>und</strong> konnte sich schief dabei lachen.<br />

Beim Spazierengehen sprachen wir meist ernsthaft <strong>und</strong> seriös über Themen,<br />

die mit unserem Leben zusammenhingen. Wir erzählten uns keine Geschichten,<br />

sondern diskutierten zum Beispiel über unsere Vorstellungen zu feministischen<br />

Fragen oder wie ich <strong>mein</strong>e revolutionären Erlebnisse aus dem Studium in<br />

<strong>mein</strong>em späteren Leben verarbeitet hätte <strong>und</strong> Dergleichen. Bei Udo tobten wir<br />

uns anschließend beim Frühstück aus.<br />

<strong>Manni</strong> rief mich an. Ob wir uns mal treffen könnten. Er kam zu mir. <strong>Madleine</strong><br />

wolle ihn zum Therapeuten schleppen. Er hatte absolut keine Lust darauf <strong>und</strong><br />

auch keine Lust darauf, sich mit all dem zu beschäftigen. „Vielleicht hat mich<br />

die Andropause ja so verändert, aber mich reizt in der Richtung überhaupt<br />

nichts mehr. Wie ne lästige Pflicht kommt es mir vor. Ich beneide dich oft, <strong>und</strong><br />

die arme <strong>Madleine</strong> kann doch nichts dazu. Ich dachte bei Frauen würde sich<br />

das mit dem Wechsel schon eher so entwickeln, aber <strong>Madleine</strong> scheint da<br />

nichts von mitbekommen zu haben.“ erläuterte er. „<strong>Manni</strong>, dein Beruf ist es<br />

doch, aus Kindern gebildete junge Menschen werden zu lassen. Warum nimmst<br />

du dich selber davon aus. Was du über's Klimakterium erzählst ist ein Konglomerat<br />

von halbwahren On dits, zusammengenommen ist es absoluter<br />

Schwachsinn. Ich bin kein Experte in diesen Dingen, aber dass keine Beziehung<br />

wegen der hormonalen Umstellung der Partner zwangsläufig zerbrechen<br />

muss, das weiß ich sicher. Du kannst ja mal zum Arzt gehen <strong>und</strong> bei dir die<br />

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physiologischen Bedingungen untersuchen lassen. Es gibt doch Andrologen, die<br />

können dir auch sicher ein paar gescheite Takte zur Andropause sagen. Nur ich<br />

denke, das da auch noch mehr ist. Wenn du was verändern willst, wird es keinen<br />

Weg am Therapeuten vorbei geben.“ machte ich ihm deutlich. Wir redeten<br />

noch länger. Ob es speziell <strong>Madleine</strong> oder die permanente Anwesenheit einer<br />

anderen Person überhaupt war, die ihm lästig schien, konnte ich nicht genau<br />

herausfinden.<br />

Sommerferien<br />

„Ja, ja, <strong>Manni</strong> geht mit zum Therapeuten.“ jubilierte <strong>Madleine</strong> freudig. Primär<br />

handelte es sich wohl um die Freude, ihn davon überzeugt zu haben. Realistische<br />

Freude über die zu erwartende Perspektive hätte sehr viel gedämpfter<br />

ausfallen müssen. „<strong>Madleine</strong>s Berichte über die Sitzungen klangen dann auch<br />

bei weitem nicht so hoffnungsvoll <strong>und</strong> schlossen immer mit dem Satz: „Na ja,<br />

aber das ist ja auch erst der Anfang.“ Im Sommer wollte sie nicht in Urlaub<br />

fahren. Über lange Jahre hatten sie regelmäßig die Ferien in einem Haus in der<br />

Nähe von Tavira an der Ostalgarve verbracht, jetzt wollte <strong>Madleine</strong> nicht. Sie<br />

habe keine Lust, erklärte sie stereotyp, das hieß, sie wollte über den wahren<br />

Hintergr<strong>und</strong> nicht reden. Seitdem die Kinder nicht mehr in der Schule waren,<br />

fuhr ich sowieso nicht in der Hauptsaison. Richtiggehenden Relaxurlaub machte<br />

ich nie. Den konnte ich bei mir täglich auf der Terrasse haben. Städtetouren,<br />

Urlaub mit Bildung tat so dringend Not. In den Ferien wollte ich auch gern zu<br />

Hause sein, weil ich da <strong>mein</strong>e 'Süßen' auch schon mal länger bei mir<br />

verweilten. Silke sowieso aber auch Pascal konnte vierzehn Tage bleiben. In<br />

seine Fre<strong>und</strong>in hätte ich mich bestimmt verlieben können, wenn sie mich bei<br />

Udo angesprochen hätte. Nach <strong>mein</strong>em Empfinden sah sie nicht nur w<strong>und</strong>erbar<br />

aus, sondern war vor allem eine intelligente, verständnisvolle <strong>und</strong> lustige junge<br />

Frau. Viel zu schade für Pascal. Wenn die Kinder da waren, Fre<strong>und</strong>innen <strong>und</strong><br />

Fre<strong>und</strong>e mitgebracht hatten, fand wieder ein buntes Leben statt, ein buntes<br />

Sommerleben. Sie sorgten dafür, dass es auch noch bunt blieb, wenn die<br />

Sonne schon lange untergegangen war. Ebenso wenn wir trotz Nieselregens<br />

morgens alle ge<strong>mein</strong>sam zur Regattabahn <strong>und</strong> anschließend zu Udo gingen.<br />

Silke kannte <strong>Madleine</strong> natürlich schon lange, während Pascal sich einen Scherz<br />

daraus machte, fest davon überzeugt zu sein, dass es sich um <strong>mein</strong>e neue<br />

Fre<strong>und</strong>in handle. Ich hatte es wohl zu engagiert bestritten. Diskussionen über<br />

die prinzipielle Monotonie des geraden Weges <strong>und</strong> ob das erkenntnisleitende<br />

Interesse beim Spazierengehen eher die geometrische Betrachtung der<br />

Verbindung von Start <strong>und</strong> Ziel sei oder eher die freudige Erwartung, mit der<br />

man auf akzidentelle Ereignisse abseits des Weges gespannt sei <strong>und</strong> ähnlich<br />

Absurdes bildeten morgens unsere Gesprächsthemen <strong>und</strong> nicht selten wurde<br />

Udo anschließend auch noch in den Unfug einbezogen.<br />

Beratung mit Lucia<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 13 von 28


Als wir mittags von Udo nach Hause kamen, fragte Lucia, Pascals Fre<strong>und</strong>in, ob<br />

sie mich mal allein sprechen könne. Wenn Silke etwas vertrat oder praktizierte,<br />

das <strong>mein</strong>e Zustimmung nicht fand, war es ein berechtigtes Zeichen ihrer Individualität,<br />

bei Pascal war es Dummheit <strong>und</strong> Naivität. Schon früh war mir das<br />

bewusst geworden. Warum sah ich sie so unterschiedlich. Ich mochte <strong>und</strong> liebte<br />

Pascal, ohne jeden Zweifel, nur dass sein Verhalten oft nicht <strong>mein</strong>en Vorstellungen<br />

entsprach, störte mich sehr, während ich es bei Silke ohne Probleme<br />

akzeptieren konnte. Dass Silke Pharmazie studierte, hielt ich zwar trotz all ihrer<br />

Begründungen auch weiterhin für absolut bescheuert, aber es störte mich<br />

nicht. Es war ihre berechtigte Entscheidung <strong>und</strong> somit o. k., aber dass Pascal<br />

seinen MBA machen wollte, tat mir immer weh. Das alles passte doch gar nicht<br />

zu ihm. Er war doch so ein feinfühlig musisch begabter Junge gewesen <strong>und</strong><br />

dann wählte er diesen Weg, um seine Persönlichkeit zu foltern <strong>und</strong> voraussichtlich<br />

ein vermurkstes Leben zu beginnen. Bei ihm ließ es mich nicht los, <strong>und</strong> ich<br />

hatte Angst um ihn. Warum fiel es mir leicht, bei Silke zu akzeptieren, dass sie<br />

nicht ich war, sondern eine andere Person, während ich bei Pascal unbeabsichtigt<br />

stets ein Okkupationsbedürfnis entwickelte?<br />

Was wollte Lucia von mir über ihn wissen? Gar nichts. Offensichtlich wollte sie<br />

von mir viel mehr über sich selbst erfahren. „Rainer, ich habe den Eindruck,<br />

dass man mit dir gut reden kann. Es gibt bei uns nämlich einige Probleme.“ begann<br />

sie. Nur die gab es gar nicht. Lucia war mit sich selbst in Zweifeln. „Ich<br />

wollte das alles nie. Dass ich ein selbstbestimmtes Leben führen könnte, ist mir<br />

immer äußerst wichtig gewesen, <strong>und</strong> dazu gehörte eben auch <strong>und</strong> vor allem<br />

mich nicht in einer festen Paarbeziehung vom Partner abhängig zu machen.<br />

Das stand für mich absolut fest <strong>und</strong> stellte auch kein Problem dar. Kannst du<br />

das verstehen?“ fragte sie mich, „Als ich Pascal kennen lernte <strong>und</strong> nach kurzer<br />

Zeit ungewöhnliche Verhaltensweisen bei mir feststellte, habe ich Schluss mit<br />

ihm gemacht. Nur bei ihm funktionierte das nicht. Nach einer Woche konnte<br />

ich's nicht mehr ertragen. Es gab keine andere Möglichkeit, als ihn wiederzusehen.“<br />

berichtete Lucia <strong>und</strong> erzählte so erstaunt von ihrer Verliebtheit, als ob sie<br />

die einzige Frau auf der Welt sei, der jemals so etwas widerfahren wäre. Sie<br />

wollte es für sich nicht zulassen. Immer wieder hatten sie sich aufs Neue getrennt,<br />

bis Pascal erklärt hätte, dass er sich so etwas nicht als Dauerzustand<br />

wünsche <strong>und</strong> sie jetzt eine Entscheidung treffen müsse. Sie hatte zwar eingesehen,<br />

dass sie gegen ihre Liebe zu Pascal ohnmächtig war, aber die Frage der<br />

Paarbindung war damit nicht geklärt. Lucia wollte von mir Rechtfertigungen hören,<br />

die ihre Beziehung zu Pascal für sie sanktionierten. Direkt mit Pascal oder<br />

ihrer Beziehung hatte das nichts zu tun. Wir diskutierten allge<strong>mein</strong>e Fragen zu<br />

Beziehung, Liebe <strong>und</strong> dem gegenseitigen Verhalten untereinander. Wir sprachen<br />

über menschliche Bedürfnisse, Identität <strong>und</strong> Genderfragen. Wir erörterten<br />

die Bedeutung von Anerkennung für den einzelnen, seine Psyche <strong>und</strong> seine<br />

Identität <strong>und</strong> wodurch <strong>und</strong> wie sie in Paarbeziehungen erfolge <strong>und</strong> was sie störe.<br />

Bis zum Abendbrot redeten wir miteinander. Lucia war eine außerordentlich<br />

kluge Frau <strong>und</strong> es war ein Vergnügen, sich mit ihr zu unterhalten. Bei Medizinerinnen<br />

hätte ich das gar nicht für möglich gehalten. „Ich werd' den Pascal in<br />

Zukunft öfter nach Hause schicken, damit wir mal wieder miteinander reden<br />

können.“ <strong>mein</strong>te Lucia lächelnd zum Schluss. „Ja, ja, der Pascal ist ein schweres<br />

Problem. Das weiß ich schon lange.“ scherzte Silke über unser ungewöhn-<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 14 von 28


lich langes Gespräch. „Der ist doch uninteressant. Über Pascal haben wir kein<br />

Wort verloren.“ reagierte ich. Der betroffene Pascal lächelte gequält generös,<br />

als ob er demonstrieren wolle, dass ihn alles überhaupt nicht tangiere.<br />

Desperate<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>mein</strong>te, als wir beide allein spazieren gingen über unsere ge<strong>mein</strong>samen<br />

Spaziergänge sinnierend: „So sieht <strong>mein</strong> Traum vom Leben aus. Das ist<br />

Sonne, die ganz tief in <strong>mein</strong> Herz scheint, warmes Empfinden erzeugt <strong>und</strong> alles<br />

erstrahlen lässt, erstrahlen in bunten <strong>und</strong> leuchtenden Farben. Das ist doch lebensbejahend<br />

<strong>und</strong> fördert es. Warum hat die Evolution nicht Menschen hervorgebracht,<br />

die selbstverständlich, genetisch bedingt so leben? Warum sind die<br />

Tristesse produzierenden in ihrer lebensfeindlichen Art nicht längst ausgestorben?“<br />

<strong>und</strong> fügte dem unvermittelt hinzu, „Kannst Du mich nicht einmal umarmen?“<br />

Ich stutzte kurz, schloss sie aber dann in <strong>mein</strong>e Arme. Sie lächelte, als<br />

wir uns lösten <strong>und</strong> strich mir über die Wange. Wir schwiegen. Mir fiel nichts<br />

dazu ein. „Das tut gut, sehr gut.“ erklärte <strong>Madleine</strong>, „kannst du das<br />

verstehen?“ Als sie weiterreden wollte, begann sie zu weinen. Ich nahm sie<br />

wieder in den Arm. „Das hat doch alles keinen Sinn.“ begann sie <strong>und</strong> weinte<br />

erneut. Wir setzten uns auf eine Bank <strong>und</strong> <strong>Madleine</strong> erläuterte ihre<br />

Perspektivlosigkeit: „Die Situation ist pervers. Der (womit sie <strong>Manni</strong> <strong>mein</strong>te)<br />

sitzt da, weil er sich von dir hat überzeugen lassen, das tun zu müssen. Eigene<br />

Motivation hat der nicht die Bohne, sitzt da, als ob er gar nicht weiß, was er<br />

hier eigentlich soll, lässt im Gr<strong>und</strong>e nur alles brav über sich ergehen. Ich weiß<br />

überhaupt nicht, was ich machen soll. Du spürst die Situation <strong>und</strong> sollst dir<br />

ehrlich Mühe geben? Lächerlich kommst du dir vor <strong>und</strong> weist selbst nicht mehr,<br />

was du hier willst. Eine Farce ist es <strong>und</strong> wird es bleiben. Ein Alibi für <strong>Manni</strong>,<br />

dass er ja alles versucht habe. Ich sehe keine Chance mehr.“ Warum es<br />

<strong>Madleine</strong> gut tut, sich umarmen zu lassen? Dumme Frage, jeder hat es gern,<br />

von einem Menschen, den man mag, sich in den Arm nehmen zu lassen. Altes<br />

Ritual, haben alle schon bei Mutti gelernt. Nur dass <strong>Madleine</strong> es sich von mir<br />

wünschte, war vorher noch nicht passiert. Wahrscheinlich sollte es als Trost für<br />

den Schmerz dienen, den ihr zerrissenes Leben ihr bereitete. Nach <strong>mein</strong>er<br />

Einschätzung hätte ich ihr raten müssen, dass es nur die eine sinnvolle Lösung<br />

gebe, nämlich sich zu trennen. Niemand konnte sagen, welche W<strong>und</strong>er sich<br />

morgen ereignen würden, aber dass <strong>Manni</strong>, nachdem was ich gehört hatte,<br />

morgen wieder Lust auf <strong>Madleine</strong> entwickeln würde, lag außerhalb <strong>mein</strong>er<br />

Vorstellungskraft. Trotzdem war es eine Entscheidung, zu der <strong>Madleine</strong> schon<br />

selber finden musste, aber unabhängig davon hätte ich es auch voraussichtlich<br />

gar nicht über <strong>mein</strong>e Lippen bringen können. Es hätte ja nicht nur das Ende<br />

ihrer Beziehung bedeutet, sondern auch <strong>mein</strong> Bild wäre zerstört worden. <strong>Manni</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Madleine</strong> waren für mich immer das Musterbild einer glücklichen<br />

Beziehung gewesen. Ein Beispiel dafür, wie vernünftige Menschen es schafften,<br />

eine glückliche Paarbeziehung zu leben. In <strong>mein</strong>er Krisenzeit hatte ich mich oft<br />

mit <strong>Manni</strong> unterhalten. Wollte ihr System erkennen, wollte herausfinden, ob es<br />

nur für sie zutreffe oder Allge<strong>mein</strong>gültigkeitswert besitze. In völligem<br />

Widerspruch stand es zu dem, was ich von <strong>Madleine</strong> erfahren hatte, aber<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 15 von 28


dieses Bild konnte ich nicht sofort vernichten. Es war einfach neben dem der<br />

Zerrüttung stehen geblieben. Wieso konnte <strong>Manni</strong> es verdrängt haben, wenn<br />

es für mich noch gegenwärtig war. Offensichtlich ist die Vergangenheit für die<br />

kommunikative Interaktion relativ irrelevant, das aktuelle Empfinden<br />

dominiert. Frühere Emotionen kannst du erinnern, aber nicht wiederbeleben.<br />

Ein Zurück zu alten Zeiten gibt es nie. Zwangsläufig sind es immer neue.<br />

Schlussstrich<br />

<strong>Madleine</strong> hatte ja öfter bek<strong>und</strong>et, dass sie aus der Situation raus wolle, keine<br />

Perspektive mehr sehe. Warum machte sie nicht Schluss, warum kam kein<br />

'Fini, es hat keinen Zweck'? Rational war es unverständlich, aber emotional fiel<br />

es eben nicht leicht, einen Schlussstrich zu ziehen, einen Schlussstrich unter<br />

das gesamte bisherige Leben als erwachsener Mensch, unter all die Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> das Erlebte, unter all das, was schließlich einen selbst ausmachte, die<br />

eigene Identität darstellte. Dass sich <strong>Madleine</strong> all ihre Qualen, die sie mit einer<br />

Trennung verband, aufdrängten, war nur zu verständlich. „Ich will ja mit <strong>Manni</strong><br />

leben. Es war ja in Ordnung über all die Jahre, nur wie es sich jetzt entwickelt<br />

hat, ist es unerträglich. Ich kann gar nicht genau sagen, wann es begonnen<br />

hat. Als mir bewusst wurde, dass es mich nervte, lief es ja schon lange in diese<br />

Richtung. Dabei war er es, der mich vergötterte, der völlig verknallt war in<br />

mich. Ich mochte ihn auch, hatte ihn auch gern, nur so crazy verliebt, dass ich<br />

es keine Minute ohne ihn aushalten konnte, das gab es bei mir nicht. Für mich<br />

hatte es sich auch ziemlich soft entwickelt. Dass ich mich in ihn verlieben<br />

wollte, war ja zu Anfang gar nicht beabsichtigt.“ erläuterte <strong>Madleine</strong>. „Kannst<br />

du denn sonst noch mit jemandem darüber reden?“ erk<strong>und</strong>igte ich mich. „Mit<br />

wem denn?“ reagierte sie, „Dienstagsabends zerreißen sie sich zwar auch das<br />

Maul über die Männer, musst mal hören, was die Alexandra von Fritz erzählt,<br />

aber dann ist doch im Gr<strong>und</strong>e alles in Ordnung. Dass ist nicht die Ebene für<br />

mich <strong>und</strong> <strong>mein</strong>e Probleme. Ich bin überzeugt, dass von den anderen auch<br />

keine Dienstagsabends von ihren tatsächlichen Problemen erzählt oder<br />

erzählen würde. Sind zwar alles die besten Fre<strong>und</strong>innen, aber das gehört da<br />

nicht hin. Ich kenne zwar auch noch andere, aber niemanden, von dem ich<br />

<strong>mein</strong>e, mit ihr darüber reden zu können. Andere könnten so etwas vielleicht.<br />

Sich laut <strong>und</strong> schimpfend bei allen darüber beklagen. Dem Partner sagen: 'Hör<br />

mal, Bürschen, stell das ab, sonst sind wir die längste Zeit Fre<strong>und</strong>e gewesen.'.<br />

Aber so ein Typ bin ich nicht. Ich sehe mich nicht als besonders introvertiert,<br />

aber diese auffällige Extraversion ist <strong>mein</strong>er Ansicht nach auch immer mit<br />

Oberflächlichkeit verb<strong>und</strong>en.“ „Das ist nicht extravertiert, das ist einfach<br />

großmäulig, bescheuert <strong>und</strong> dumm. Ich halte dich für ausgesprochen<br />

extravertiert. Du suchst doch Gesellschaft, liebst es heiter <strong>und</strong> herzlich zu sein,<br />

quatscht gern <strong>und</strong> bist immer aktiv. Wo soll denn deine Introvertiertheit sein?<br />

Hartmut <strong>und</strong> auch Rolf, die haben eher etwas in der Richtung an sich, aber du<br />

doch nicht. Du musst doch nicht deine Situation wie eine Bagatelle behandeln<br />

<strong>und</strong> es allen auf dem Marktplatz verkünden. Ich denke nicht, dass wir dann<br />

Fre<strong>und</strong>e sein könnten.“ kommentierte ich. „Ich stell mir immer vor, dass<br />

extravertierte Menschen viel aufgedrehter wären, ständig auf der Suche nach<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 16 von 28


Hully Gully, immer Kirmes um sich brauchten.“ reagierte <strong>Madleine</strong> lächelnd.<br />

„Bei dir im Unterbewusstsein wird das auch so sein. Du traust dich nur nicht.<br />

Deine Libido will es, aber dein Ego verbietet es. Daraus entstehen deine<br />

Konflikte.“ erklärte ich scherzend. „Wenn du wüsstest was <strong>mein</strong>e Libido will<br />

<strong>und</strong> was <strong>mein</strong>e Konflikte sind …“ vollendete den Satz nicht, lachte <strong>und</strong> fiel mir<br />

um den Hals.<br />

Vertrauensverhältnis<br />

Ich hatte <strong>mein</strong>e Tage immer unbedacht gelebt <strong>und</strong> mich wohl dabei gefühlt,<br />

hatte mir gar keine Gedanken darüber gemacht, was es bedeutete jeden Morgen<br />

zwei St<strong>und</strong>en mit <strong>Madleine</strong> zusammen zu sein. Hatte es nur als angenehm<br />

empf<strong>und</strong>en. Was es für <strong>Madleine</strong> bedeuten konnte, daran hatte ich erstrecht<br />

nicht gedacht. Wer war <strong>Madleine</strong> eigentlich für mich, was bedeutete sie mir<br />

<strong>und</strong> wie sah sie mich, nahm sie mich wahr? Es wurde mir deutlich, dass sich<br />

zwischen uns ein Vertrauensverhältnis entwickelt hatte, wie ich es wohl noch<br />

nie zu einer anderen erwachsenen Person gehabt hatte, auch zu Margot, <strong>mein</strong>er<br />

Frau, nicht. Selbst in den Zeiten größter Verliebtheit, war sie doch immer<br />

die Frau <strong>und</strong> ich der Mann. Das ist vielleicht normal <strong>und</strong> die Regel, nur zwischen<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> mir existierte diese aus der Rollendifferenz resultierende<br />

Distanziertheit nicht. Sie hatte eine Position, wie ich sie mir für eine<br />

imaginierte geliebte Schwester vorstellen könnte. War es nicht ein<br />

unvergleichliches Geschenk, so eine gute Fre<strong>und</strong>in zu haben? Müsste ich es sie<br />

nicht mal wissen lassen, was sie mir bedeutete? Meine Psyche wusste es ja<br />

bestimmt schon länger <strong>und</strong> hatte es ihr in unseren kommunikativen<br />

Begegnungen vermittelt. Dass sie mir sehr viel bedeutete, würde sie sicher<br />

schon gespürt haben, aber es direkt zu formulieren <strong>und</strong> auszusprechen,<br />

verstärkte <strong>und</strong> bestätigte dies sicher noch. Ich freute mich aber nicht darauf,<br />

es ihr sagen zu können, hatte ein unsicheres Empfinden, ein leichtes<br />

Unbehagen. Meiner Ansicht nach passte es nicht zu unserer Kommunikation. Es<br />

käme mir vor wie eine förmliche Laudatio, wie das Lob des Lehrers für eine<br />

fleißige Schülerin. Ich musste andere Wege finden, es sie wissen zu lassen.<br />

Nu küss mich doch<br />

<strong>Manni</strong> <strong>und</strong> die Trennungsprobleme spielten eine immer geringere Rolle. Die<br />

Therapie hatten sie abgebrochen, das heißt <strong>Madleine</strong> hatte <strong>Manni</strong> unter heftigen<br />

Vorwürfen <strong>und</strong> Beschimpfungen klar gemacht, dass sie für einen derartigen<br />

Zirkus nicht länger zur Verfügung stehe. Entschieden hatte <strong>Madleine</strong> noch<br />

nichts <strong>und</strong> an <strong>Manni</strong>s Verhalten hatte sich auch nichts geändert. Nur sie hatten<br />

jetzt öfter Streit. Vor allem aber erweckte es den Eindruck, dass <strong>Madleine</strong> nicht<br />

nur unter <strong>Manni</strong>s fehlender Anerkennung weniger litt, sondern überhaupt keinen<br />

Wert mehr darauf legte. Sie hatte ihn anscheinend auch zum Mobiliar erklärt,<br />

von dem sie nichts mehr erwartete. Unsere Unterhaltungen beflügelte<br />

das sehr. Verklemmt oder bedrückt war mir <strong>Madleine</strong> außer, wenn wir ihre Pro-<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 17 von 28


leme besprachen, zwar nie vorgekommen, jetzt erweckt sie aber den Eindruck,<br />

aufgeblüht zu sein. Sie entwickelte Freude <strong>und</strong> Lust auf neue Ideen.<br />

Wollte sich hippe Klamotten zulegen <strong>und</strong> mich zum Einkaufen mitnehmen. Als<br />

wir eines Morgens mal wieder eine kleine Pause auf einer Parkbank eingelegt<br />

hatten, schaute sie mich tief an <strong>und</strong> sagte: „Nu küss mich doch mal endlich.“<br />

Mich quälte es. <strong>Madleine</strong> war immer <strong>Manni</strong>s Frau gewesen. Gr<strong>und</strong>sätzlich, bei<br />

aller Sympathie die ich für sie hatte. Das bedeutete nicht nur rational ein Verbot,<br />

irgendwelche Begehrlichkeiten zu entwickeln, ich hatte es so internalisiert,<br />

dass nichts von dem was <strong>mein</strong>e Wahrnehmung über <strong>Madleine</strong> erkannte, jemals<br />

an <strong>mein</strong>e Libido weitergeleitet werden konnte. Obwohl ich <strong>Madleine</strong> als attraktive<br />

Frau wahrnahm, ihr Äußeres mir sehr gefiel, löste es nie irgendeine Art<br />

von erotischen oder sexuellen Assoziationen aus. Mein Unterbewusstsein hatte<br />

festgelegt, dass <strong>Madleine</strong> nicht als Frau, als geschlechtliches Wesen femininer<br />

Art in <strong>mein</strong>em Bewusstsein in Erscheinung treten sollte. Was sollte ich machen?<br />

Sie küssen weil sie es gern wollte. Nein das machte ich <strong>Madleine</strong> gegenüber<br />

nicht. „Ich kann das nicht, <strong>Madleine</strong>.“ sagte ich <strong>und</strong> wollte ihr wortreich<br />

erklären, warum nicht. <strong>Madleine</strong> stand auf. Sie wollte anscheinend nichts hören.<br />

Nach einiger Zeit begann sie über etwas anderes zu sprechen. Am nächsten<br />

Morgen kam sie nicht zum Spazierengehen <strong>und</strong> rief auch nicht vorher an.<br />

Zum Frühstück erschien sie aber.<br />

Familienstreit<br />

Am darauffolgenden Morgen das Gleiche. „<strong>Madleine</strong>, wir haben offensichtlich<br />

Familienstreit, oder wie siehst du das? fragte ich sie bei Udo. Ich bekam <strong>mein</strong><br />

liebstes Lächeln. Milde, verstehend <strong>und</strong> w<strong>und</strong>erschön mit den kleinen geschwungenen<br />

Fältchen neben ihren Augen. „Hieltest du es für völlig falsch,<br />

wenn wir versuchten, die Dissonanzen zu bereinigen?“ fragte ich nach. Wieder<br />

das Lächeln <strong>und</strong> ein langgezogenes „Nöh.“, als ob es sie nur marginal berühre.<br />

Ich sah es aber eher als Scherz <strong>und</strong> schlug vor, morgen früh an der Regattabahn<br />

darüber zu reden. Mit einem „Mm-Mm“ <strong>und</strong> Kopfschütteln wies sie <strong>mein</strong>en<br />

Vorschlag zurück. „Wo denn?“ wollte ich wissen. „Bei dir“ legte sie kategorisch<br />

fest. „Und wann?“ erk<strong>und</strong>igte ich mich nach ihren Vorstellungen. „Jetzt<br />

gleich, anschließend“ erfuhr ich. Dass es <strong>Madleine</strong> generell daran mangelte,<br />

zügig Entscheidungen zu treffen <strong>und</strong> dass sie nicht klare Vorstellungen davon<br />

hatte, was sie wollte, konnte man ihr nicht nachsagen. Ich war gespannt.<br />

„Ich war sauer, enttäuscht <strong>und</strong> beleidigt, aber jetzt will ich es hören.“ begann<br />

<strong>Madleine</strong>. Ich erläuterte es ihr <strong>und</strong> sagte ihr jetzt auch, was sie für mich bedeute.<br />

Sie streichelte mir die Wange. „Ich bin aber nicht mehr Udos Frau oder<br />

Gardine oder was weiß ich. Ich bin jetzt nur noch ich selber. Du wirst bei dir einiges<br />

umstellen müssen, <strong>mein</strong> Lieber, sonst wirst du mich immer völlig falsch<br />

sehen.“ reagierte <strong>Madleine</strong>, „Ich glaube schon, dich verstanden zu haben, aber<br />

denkst du denn gar nicht daran, was es für mich bedeutet. Für mich als Frau<br />

ist es schon sehr ungewöhnlich, dich als Mann zu bitten, mich zu küssen. Für<br />

mich stand fest, wir sind so gute Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> du traust dich nur nicht. Und<br />

dann lässt du mich sitzen <strong>und</strong> sagst, du kannst nicht. Ich schäme mich. Das ist<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 18 von 28


entwürdigend für mich. Außerdem hast du <strong>mein</strong>e festen Glückserwartungen<br />

einfach mit einem Satz zerstört. „Komm runter. Klär das zu Hause.“ hab ich mir<br />

gesagt. Ich wollte dich nicht mehr sehen, konnte es nicht ertragen, mich in dir<br />

so getäuscht zu haben. Aber so ganz ohne, wäre ein noch viel verdorbenerer<br />

Tag gewesen.“ Den ganzen Nachmittag haben wir uns erklärt, wie viel wir uns<br />

gegenseitig bedeuteten. Der Glanz der Sonne verblasste gegenüber dem Glorienschein<br />

mit dem wir den Anderen beziehungsweise die Andere umgaben.<br />

Mein Lustzentrum schien jedoch eher einer trägen Masse zu entsprechen <strong>und</strong><br />

ließ sich einstweilen davon noch nicht bewegen. Trotzdem haben wir uns geküsst,<br />

richtig, <strong>und</strong> ich fand es auch toll <strong>und</strong> vor allem aufregend. Das sollten<br />

wir öfter machen. Das würde <strong>mein</strong>e Libido doch nicht permanent ignorieren<br />

können.<br />

Anschließend zum Küssen<br />

So hielten wir's dann auch. Jetzt gingen wir nicht nur ge<strong>mein</strong>sam wandern <strong>und</strong><br />

frühstücken, sondern auch anschließend zu mir zum Küssen. Dass wir uns<br />

nicht nur umarmten, einige Male küssten <strong>und</strong> <strong>Madleine</strong> dann nach Hause fuhr,<br />

war nicht nur zufällig so, sondern auch beabsichtigt. Es gefiel uns, machte<br />

Freude, war schon mal sehr komisch lustig. Trotzdem tat sich die Erotik schwer<br />

mit mir, <strong>und</strong> konnte erst in einem mühsamen, langwierigen Prozess nach zwei<br />

Monaten erreichen, dass wir beiden vor Erregung unbedingt miteinander schlafen<br />

wollten. Dann allerdings wollte sie diesen Platz auch nicht mehr räumen,<br />

<strong>und</strong> <strong>Madleine</strong> war der Ansicht, ihren Traum vom Leben korrigieren zu müssen.<br />

Sie habe ihn nur auf Regattabahnen bezogen <strong>und</strong> dabei die Schlafzimmer ganz<br />

vergessen. Sie blieb immer länger bei mir <strong>und</strong> legte <strong>Manni</strong> nur einen Zettel hin,<br />

dass es voraussichtlich später würde. <strong>Madleine</strong> erklärte ihm nichts <strong>und</strong> er traute<br />

sich nicht zu fragen. Er konnte es sich natürlich denken, wenn er sie gefragt<br />

hätte, was würde <strong>Madleine</strong> ihm gesagt haben? „Das geht dich nichts an.“ oder<br />

etwas Ähnliches von gleicher Bedeutung. Als der Sommer zu Ende ging, blieb<br />

<strong>Madleine</strong> auch über Nacht bei mir.<br />

Ich befürchtete, <strong>Manni</strong> nicht mehr vor die Augen treten zu können, als <strong>Madleine</strong><br />

sich zum ersten Mal mit mir küssen wollte. Jetzt war es fast so, als ob nie<br />

etwas geschehen wäre. Alle gingen weiterhin davon aus, das <strong>Madleine</strong> <strong>Manni</strong>s<br />

Frau wäre, <strong>und</strong> sich alles wie eh <strong>und</strong> je verhalte. Nur Udo, der wusste natürlich<br />

Bescheid, aber was sollte ihn dazu motivieren, es verbreiten zu wollen. <strong>Manni</strong><br />

merkte man auch nichts an, nur ich bekam schon manchmal einen vielsagenden<br />

Blick. Einen Anlass, mit seinem besten Fre<strong>und</strong> über seine Frau zu reden,<br />

gab es offensichtlich nicht.<br />

Hell strahlender Stern<br />

Man sagt, dass ältere Männer gern mit jungen Frauen zusammen sind, um das<br />

Gefühl zu bekommen, ein Stück ihrer Jugend zurück zu erhalten. Ich war mir<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 19 von 28


nicht sicher, ob man dazu eine junge Frau benötigte. Ein Stück <strong>mein</strong>er Jugend<br />

erhielt ich wohl auch nicht zurück, mir fiel nur auf, wie häufig es mir Spaß<br />

machte, kindisch doof zu sein. <strong>Madleine</strong> amüsierte sich köstlich. „Weißt du,<br />

Rainer“ wenn Aschenputtel den jungen Königssohn zum Mann bekommt, dann<br />

weiß man, er ist etwas Besseres, ist reich <strong>und</strong> auch vielleicht noch ein kleiner<br />

Held obendrein. Eigentlich langweilig. Wenn man sich aber gern hat <strong>und</strong> liebt<br />

<strong>und</strong> sich hinterher herausstellt, das der Liebste auch noch außergewöhnlich<br />

lustig sein kann, dann ist das schon eine tolle Überraschung. Wirst du mich<br />

morgen mit weiteren Überraschungen verwöhnen?“ „Würde ich schon gern,<br />

aber es ist das Zusammensein mit dir, das mich dazu befähigt <strong>und</strong> beflügelt.<br />

Wenn du möchtest, dass ich dir etwas vor singen kann, gib dir Mühe. Bis jetzt<br />

fällt mir nur manchmal ein: „O selig, o selig, ein Kind noch zu sein.“<br />

Nach den Mühen der Liebe saßen wir meistens am Kopfende des Bettes <strong>und</strong> erzählten<br />

uns was. <strong>Madleine</strong> smilte, es war ein Lächeln der kleinen Lust <strong>und</strong> des<br />

Wohlgefühls. Ich hatte <strong>mein</strong>en Kopf an <strong>Madleine</strong>s Schulter gelehnt, erzählte ihr<br />

eine Nonsensgeschichte von den weisen alten Männern aus dem Lande, das<br />

man das Sauere nannte <strong>und</strong> spielte mit <strong>mein</strong>er Hand an ihren Brüsten. Es war<br />

mehr als die Sonne, die alles bunt macht <strong>und</strong> zum Leuchten bringt, es war eine<br />

Harmonie, sie ließ eine Melodie erklingen, die mehr als nur unsere Augen verwöhnte.<br />

Sie war es letztlich, die das Empfinden von Glück aufkommen ließ.<br />

Wir redeten oft über Glück, mal ernsthaft, aber auch unsinnig. Das Glück <strong>und</strong><br />

Unsinn zusammengehören mussten, war ja Nietzsche schon aufgefallen. Worüber<br />

konnte man vielfältiger, unsinniger <strong>und</strong> glücklicher reden als über das<br />

Glück. Es kam uns vor wie ein heller strahlender Stern, den alle kannten, den<br />

aber niemand genau beschreiben konnte. Er musste viele Planeten haben.<br />

Freude <strong>und</strong> Lust waren zwei von ihnen, die ihn ganz nah umkreisten. Sicher<br />

war für uns nur, dass wir unser Eudaimonion hier finden wollten <strong>und</strong> keinen<br />

gesteigerten Wert auf irdische Qualen legten, um eschatologisch auf das große<br />

Glück im Jenseits zu hoffen. Ich erinnerte ein altes Gemälde, bei dem einem<br />

zunächst die vielen nackten <strong>und</strong> spärlich bekleideten Frauen mit einem gierig<br />

im Vordergr<strong>und</strong> knienden nackten alten Mann ins Auge vielen. <strong>Madleine</strong><br />

beruhigte mich. Meine Allegorie des Glücks könne das nicht sein, da wäre sie<br />

sich absolut sicher. Natürlich stören dich die Verluste des Alterns, aber ich<br />

denke nicht, dass du dir tatsächlich deine Jugend oder Kindheit zurück<br />

wünscht, es gibt nur vieles, was du für dein Leben gelernt hast <strong>und</strong> dir immer<br />

wünschen wirst, manches davon passt aber nicht zu dem Bild, das du als<br />

seriöser Erwachsener von dir haben willst. Mit dem Empfinden von Glück<br />

wächst auch das Gefühl der Freiheit, <strong>und</strong> du kannst vieles zulassen, was du dir<br />

sonst versagt hättest.<br />

Residenz<br />

Silke kam. <strong>Madleine</strong> wollte zu Hause bleiben. „Du wirst mich nie verstehen.“<br />

war eine Floskel, mit der wir häufig Erklärungen begannen oder abschlossen,<br />

„Kannst du dir vorstellen, dass es mich freut, dich <strong>mein</strong>er Tochter vorstellen zu<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 20 von 28


können?“ Silke hatte alles schnell gecheckt, beschwerte sich, nicht telefonisch<br />

schon früher informiert worden zu sein, dass wir die Eremitage in Little Paradise<br />

verwandelt hätten <strong>und</strong> wollte wissen, warum <strong>Madleine</strong> denn nicht komplett<br />

hier wohne. Das konnten wir so genau auch nicht sagen. Das war eben so <strong>und</strong><br />

störte nicht. Nachmittags fuhr <strong>Madleine</strong> öfter zu sich, aber abends, nachts <strong>und</strong><br />

morgens war sie sowieso immer hier. „Und wie macht ihr das Weihnachten? Ist<br />

<strong>Madleine</strong> dann auch hier <strong>und</strong> fährt <strong>Manni</strong> am zweiten Weihnachtstag mit einem<br />

kleinen Geschenk besuchen?“ fragte Silke, „Ich kenne ja eure weisen<br />

Ratschlüsse nicht, aber was dich daran hindert, dich für einen Wohnort zu entscheiden,<br />

kann ich nicht nachvollziehen, <strong>Madleine</strong>.“ Ich glaubte das schon eher<br />

zu können. Rationale Argumente gab es sicher nicht. Es war ja nicht nur <strong>Manni</strong>,<br />

mit dem sie ihr Leben verbracht hatte, es war ja auch, dieser Ort, an dem<br />

es stattgef<strong>und</strong>en hatte, ihr Ort, der Platz ihres Lebens, der gewiss auch in ihrer<br />

Identität einen Platz hatte. Hier war sie <strong>Madleine</strong> gewesen, den weitaus überwiegenden<br />

Teil ihres Lebens. Dass es für sie schwer sein würde, diesen Ort<br />

aufzugeben, <strong>mein</strong>te ich nachvollziehen zu können. Wenn sie nicht gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

geklärt hätte, dass sie mit mir zusammen lebe <strong>und</strong> bei mir wohne, würde sie<br />

Weihnachten bei sich verbringen. Für die Kinder insenzierten sie ja jetzt auch<br />

immer schon Fakes, wenn jemand zu Besuch kam, wurde happy family gespielt.<br />

Sehr pervers, die eigenen Kinder zu verarschen. Wenn es <strong>Madleine</strong> darum<br />

gehen sollte, für sich selbst ein eigenes Domizil zu haben, dann sollte sie<br />

sich eine eigene Wohnung nehmen, oder <strong>Manni</strong> rausschmeißen. Ich wollte es<br />

mal mit <strong>Madleine</strong> überdenken, aber <strong>Manni</strong> sprach mich am folgenden Dienstag<br />

an. Er wolle nicht über <strong>Madleine</strong> reden. Gegen die Liebe sei man ja sowieso<br />

machtlos. Das sei schon alles o. k., ließ er mich generös wissen. Nur der Zustand<br />

so sei doch verrückt. Er wolle sie keinesfalls loswerden. Selbstverständlich<br />

könne sie wohnen bleiben solange sie wolle, er könne es nur nicht verstehen.<br />

Ich hätte doch ein großes Haus mit viel mehr Platz für sie als in ihrer<br />

Wohnung. Diese ewige Hin- <strong>und</strong> Her-Fahrerei, warum sie sich das denn antäte.<br />

Ob ich denn schon mal mit ihr darüber gesprochen hätte. „Weißt du, Rainer, es<br />

ist ja so widersinnig. Sie kann tun <strong>und</strong> lassen was sie will <strong>und</strong> trotzdem bin ich<br />

das größte Arschloch für sie. Was ich auch immer sage, ist falsch oder absoluter<br />

Unsinn. Ich müsste ihr sagen: „Du bleibst hier wohnen <strong>und</strong> ziehst nicht<br />

aus.“ dann wäre sie morgen verschw<strong>und</strong>en. Vernünftig reden kann ich kein<br />

Wort mehr mit ihr.“ jammerte <strong>Manni</strong>. Ich hätte ihm schon etwas dazu sagen<br />

können, hielt es aber in Anbetracht unserer Fre<strong>und</strong>schaft für geboten, zu<br />

schweigen.<br />

Erwartungen<br />

<strong>Madleine</strong> erklärte es so ähnlich, wie ich es vermutet hatte. Das sei der Ort ihres<br />

ge<strong>mein</strong>samen Lebens gewesen, das <strong>Manni</strong> zerstört habe. Er gehöre da<br />

nicht mehr hin. Es bedurfte eines langen Gesprächs, aber letztendlich waren<br />

die Bedingungen für die Kinder ausschlaggebend. Sie rief beide auch sofort<br />

nach unserem Gespräch an. „Der arme <strong>Manni</strong> wird Weihnachten ganz allein<br />

sein, Judith <strong>und</strong> Marielle (<strong>Madleine</strong>s Töchter) werden ihn doch höchstens mal<br />

für ein paar St<strong>und</strong>en besuchen. Sie hatten ein absolut gutes Verhältnis zu Man-<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 21 von 28


ni, aber ihr Bezugspunkt war immer ich. Können sie denn um Weihnachten<br />

auch mal einen Tag länger hier bleiben?“ erk<strong>und</strong>igte sich <strong>Madleine</strong>. „Ich werde<br />

dich nie verstehen <strong>Madleine</strong>. Wenn du hier wohnst, ist es doch dein Haus. Wie<br />

kannst du mich so etwas fragen?“ reagierte ich. „Ich werde es lernen müssen.<br />

Wie du mich lieben gelernt hast, werde ich <strong>mein</strong> neues Zuhause lieben lernen.<br />

Vielleicht geht es ja sogar ein wenig schneller als bei dir.“ frotzelte sie. In der<br />

zweiten Adventswoche zog <strong>Madleine</strong> um. Jetzt wohnte <strong>und</strong> lebte sie richtig <strong>und</strong><br />

ganz mit mir zusammen. Ausschließlich mit Freude war es für mich belegt,<br />

aber es ließ mich auch ins Sinnieren kommen über den Wert von Erwartungen<br />

<strong>und</strong> Vorstellungen, die man entwickelte. Dass <strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> ich einmal zusammenleben<br />

<strong>und</strong> äußerst glücklich sein würden, hätte so fernab von <strong>mein</strong>er Vorstellungswelt<br />

gelegen, dass dann auch alle Märchen <strong>und</strong> W<strong>und</strong>er hätten realisierbar<br />

sein können. Welchen Wert haben deine Erwartungen <strong>und</strong> Perspektiven<br />

überhaupt. Wie deine Träume bestehen sie aus dem was du bist, was deiner<br />

Identität entspricht. Deine Allmachtsfantasien möchten sie gern als etwas Umfassendes,<br />

Allge<strong>mein</strong>gültiges sehen, aber sie sind nur Teil deiner spezifischen<br />

Auseinandersetzung mit der Welt. Was du für möglich <strong>und</strong> realisierbar hältst ist<br />

deshalb nicht unbedeutend, nur ablehnen solltest du etwas Darüberhinausgehendes<br />

nicht. Dadurch würdest du deine Persönlichkeit <strong>und</strong> Entwicklung einengen<br />

<strong>und</strong> beschneiden, <strong>und</strong> das wünschen sich auch selbst die, die es tun, im<br />

Alter nicht.<br />

Weihnachtsplanungen<br />

Pascal kündigte ich an, <strong>mein</strong> Bild von ihm gr<strong>und</strong>legend revidieren zu wollen,<br />

nachdem ich hätte zugeben müssen, dass er mich besser kenne als ich mich<br />

selbst. Er lachte, wollte aber auf jeden Fall Weihnachten seine neuen Geschwister<br />

kennenlernen wie alle anderen auch. Silke hatte sich trotz Lucas – ihres<br />

Fre<strong>und</strong>es – Flehen <strong>und</strong> Schwärmen unerbittlich für uns durchgesetzt. Sie wäre<br />

schon gern in die Schweiz gefahren, aber was waren Berge <strong>und</strong> Schnee gegen<br />

neue Familienmitglieder. „<strong>Madleine</strong>, wir werden Weihnachten eine große Gesellschaft<br />

haben <strong>und</strong> nicht umhin können, uns dazu einige Gedanken zu machen.“<br />

gab ich zu bedenken. Judith <strong>und</strong> Marielle kamen allein. <strong>Madleine</strong> ließ ihre Betten<br />

<strong>und</strong> eine Doppelschlafcouch aus dem Gästezimmer von <strong>Manni</strong> holen. Sie<br />

brauche das jetzt, hatte sie <strong>Manni</strong> lapidar erklärt. Was sollte er dazu schon sagen.<br />

Jetzt waren zwar ausreichend Übernachtungsmöglichkeiten vorhanden,<br />

aber alles andere veranlasste uns noch zu Gedanken <strong>und</strong> Planungen wie sie bei<br />

Staatsempfängen sicherlich nicht viel intensiver sein konnten. Wir freuten uns<br />

eben beide mächtig.<br />

Seid ihr denn alle blind?<br />

Nachdem <strong>Madleine</strong> eingezogen war, erklärte ich am Dienstagabend: „Ich wollte<br />

euch sagen, dass <strong>Madleine</strong> jetzt bei mir wohnt, damit ihr Bescheid wisst.“ Aber<br />

was er sagen sollte, wusste Keiner. Alle schauten mich, <strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>Manni</strong> an,<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 22 von 28


nur gab das keine Antwort. Klaus machte als erster den M<strong>und</strong> auf: „Also hab<br />

ich das richtig verstanden? Du <strong>und</strong> <strong>Madleine</strong>, ihr seid jetzt zusammen <strong>und</strong><br />

nicht mehr mit <strong>Manni</strong>?“ „Genauso hab ich's gesagt. <strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> ich leben<br />

jetzt zusammen, wohnen zusammen <strong>und</strong> lieben uns. So ist es.“ bestätigte ich<br />

ihn. Allen kam es wahrscheinlich genauso ungeheuerlich vor, wie es für mich<br />

selbst vor einem Jahr auch noch geklungen hätte. Nur ich hatte Zeit, mich<br />

langsam daran zu gewöhnen, für die anderen war es natürlich ein Schock. Juliane<br />

starrte mit offenem M<strong>und</strong>. Für sie war ja auch vor einer Woche noch alles<br />

eindeutig beim Alten gewesen, <strong>und</strong> innerhalb einer Woche liierte sich die Frau<br />

mit einem anderen. War das jetzt der Beginn zum Frauentausch? Sollte man<br />

sich mal umsehen, ob nicht einer von den anderen Jungs mehr zu bieten hätte<br />

als der eigene? Udo der einzig Sehende mischte sich ein: „Man, ihr macht Gesichter.<br />

Das ist doch schon ne alte Kiste. Habt ihr denn überhaupt nichts gesehen?<br />

Seid ihr denn alle komplett blind?“ Jetzt hatten natürlich alle schon längst<br />

etwas bemerkt, <strong>und</strong> sich auch irgendwie Gedanken dabei gemacht. Also dieses<br />

Lächeln <strong>und</strong> dieser Blick... <strong>und</strong> darüber konnte man den ganzen Abend reden.<br />

Die uralten Schulfre<strong>und</strong>e kannten sich so gut, dass sie nicht merkten, wenn<br />

sich zwei von ihnen verliebten <strong>und</strong> konnten sich einen ganzen Abend über etwas<br />

unterhalten, was sie vorgeblich gesehen haben wollten. Enttäuscht war ich<br />

nicht. Dass mir <strong>mein</strong>e Fre<strong>und</strong>e nicht mehr so viel bedeuten wie sonst, konnte<br />

ich auch nicht direkt behaupten. Es schien mir nur so, als ob ich, solange ich<br />

allein lebte, stärker auf sie angewiesen gewesen wäre. Dass ich von <strong>Manni</strong>s Situation<br />

erst durch <strong>Madleine</strong> erfuhr, hatte mich stutzig gemacht <strong>und</strong> verw<strong>und</strong>ert.<br />

Wieso hatte er nicht mit mir darüber gesprochen? Von dem besten<br />

Fre<strong>und</strong> hätte ich es eigentlich für selbstverständlich gehalten. Stellte ich zu<br />

hohe Anforderungen an die Fre<strong>und</strong>schaft? Ich denke, es war eher das, was den<br />

Unterschied in <strong>mein</strong>em Verhältnis zu Silke <strong>und</strong> Pascal ausmachte. Ich konnte<br />

ihn nicht als den anderen außerhalb von mir akzeptieren, sondern forderte in<br />

der Fre<strong>und</strong>schaft eine Identifikation für die Anerkennung. Auch wenn die anderen<br />

nicht alle <strong>mein</strong>e besten Fre<strong>und</strong>e waren, aber <strong>mein</strong>e Vorstellungen, Erwartungen<br />

<strong>und</strong> Ansprüche, waren in ihrer Struktur sicher denen an <strong>Manni</strong> vergleichbar.<br />

Ich habe mir <strong>mein</strong>e alten Schoolmates ebenso einverleibt. Nur bei<br />

Udo war das nicht der Fall, trotzdem oder gerade deshalb war er mir wohl der<br />

Liebste.<br />

Neue Nomenklatur für Verwandte<br />

„Du bist also nicht <strong>mein</strong>e neue Schwester oder Stiefschwester, aber was bist du<br />

dann?“ wollte Silke von Judith wissen, die beide schon zwei Tage vor Heiligabend<br />

gekommen waren. „Judith, nur Judith, sonst nichts. Wir können<br />

Fre<strong>und</strong>innen sein, aber für die Verwandtschaft müssten die beiden zuerst heiraten.“<br />

antwortete sie. „Ach Judith, das ist doch Stuss. Von so antiquierten<br />

Vorstellungen lassen wir uns doch nichts diktieren. Dass die beiden sich lieben<br />

ist doch das Entscheidende, <strong>und</strong> daraus ziehen wir unsere Schlüsse, aber doch<br />

nicht daraus, ob sie uns einen Trauschein vorzeigen können oder nicht.“ <strong>mein</strong>te<br />

Silke dazu. Es war ja nichts besonders Lustiges, aber die beiden lachten unentwegt.<br />

Vielleicht half auch der Wein, den sie schon nachmittags zur Begrüßung<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 23 von 28


geöffnet hatten, ein wenig dabei. „Ja, ja,“ reagierte Judith sinnierend, „ich hab<br />

deinen Dad als Kind ja schon gekannt. Ich find ihn voll in Ordnung, aber sein<br />

Stiefkind möchte ich trotzdem nicht sein. Niemandens Stiefkind möchte ich<br />

sein.“ „Judith, du wirst kein Stiefkind werden <strong>und</strong> ich werde keine böse Stiefmutter<br />

bekommen, das wollen wir nicht. Wir werden die Verwandtschafts- <strong>und</strong><br />

Beziehungsverhältnisse gegenwartskompatibel machen.“ erklärte Silke kategorisch.<br />

Ich wurde gefragt, ob ich lieber Judiths Liebesvater, Rainervater oder<br />

Fre<strong>und</strong>esvater sein wolle. Es sei mir schon recht, wenn Judith mich in allen drei<br />

Versionen sehen würde, aber zu Verbalisierung schiene Fre<strong>und</strong>esvater doch am<br />

geeignetsten. Unter Lachen aber doch in ernster Absicht wurde die neue Nomenklatur<br />

festgelegt. 'Fre<strong>und</strong>' sollte das 'Stief' ersetzen <strong>und</strong> war auch ohne<br />

Vorlage eines Trauscheins anzuerkennen <strong>und</strong> gültig. Luca saß nur lächelnd <strong>und</strong><br />

staunend dabei <strong>und</strong> unterhielt sich am Rande manchmal mit mir. Judith <strong>und</strong><br />

Silke hatten nicht nur das neue Verwandtschaftsverhältnis konstituiert, sondern<br />

auch die Atmosphäre für die weihnachtliche Begegnung geprägt. Pascal <strong>und</strong><br />

Lucia kamen als letzte Heiligabend morgens. Udo hatte eigentlich gar nicht geöffnet,<br />

nur wusste ich das nicht, als ich ihn fragte. Er bestand aber darauf,<br />

dass wir bei ihm zu frühstücken hätten. Zum Dank kauften wir ihm noch ein<br />

paar Weine ab, nahmen die meisten Käsevorräte mit <strong>und</strong> luden ihn <strong>und</strong> Nina zu<br />

einer kleinen Fète am zweiten Weihnachtstag ein.<br />

Frohe Botschaft<br />

Heiligabend wurde es besinnlich. Marielle spielte Klavier <strong>und</strong> Lucia Geige. Sie<br />

hatten sich vorher telefonisch abgestimmt, was sie spielen könnten <strong>und</strong> wollten.<br />

Pascal vertrat die Ansicht, dass es zwingend notwendig sei, ge<strong>mein</strong>sam<br />

Weihnachtslieder zu singen. Dem Wunsch sollte entsprochen werden. Durch<br />

unser ständiges Lachen <strong>und</strong> Marielles Spiel, die die Lieder im Stil einer Barpianistin<br />

intonierte, war die Beschaulichkeit schnell dahin. Wir konstatierten, dass<br />

sich in Bethlehem gegenüber unseren Niederkünften doch recht wenig<br />

abgespielt habe. Uns sei nicht nur ein Sohn geschenkt worden, sondern Brüder,<br />

Schwestern, Mütter <strong>und</strong> Väter, ein ganzes Konglomerat an neuen Beziehungen<br />

sei zu verteilen. Luca gab zu bedenken, dass das Ereignis von Bethlehem doch<br />

nicht aus der Menge resultiere, sonder in der hier verkündeten Botschaft zu<br />

suchen sei. „Luca, Luca, du wirst der einzige sein, der die Botschaft nicht<br />

gehört hat, die hier allenthalben im Raum steht. 'Liebet euch, ihr sollt einander<br />

lieben, lieben wie ihr es bei <strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> Rainer erkennen könnt'. Bekommst<br />

du das denn gar nicht mit?“ fragte Silke erstaunt <strong>und</strong> ließ alle schmunzeln.<br />

„Das ist ja schön <strong>und</strong> gut, aber ich weiß auch nur, dass ihr euch heiß <strong>und</strong> innig<br />

liebt. Mehr kenne ich von der Frohen Botschaft gar nicht. Ich würde sie dann<br />

aber auch schon in der heiligen Nacht gern richtig verkündet haben wollen.“<br />

monierte Pascal. <strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> ich sollten erzählen, das sahen alle so. Bis drei<br />

Uhr in der Nacht erzählten wir uns alle unsere Liebesgeschichten. Ich hätte mir<br />

gar nicht denken können, wie spannend, amüsant aber auch sehr ernsthaft<br />

<strong>und</strong> nachdenklich es sein kann, andere Menschen die Geschichte ihrer Liebe<br />

erzählen zu hören. Betroffenheit <strong>und</strong> Bedeutung verleihen den Berichtenden<br />

Authentizität, Stil <strong>und</strong> Manière, die faszinieren. Lucia würde voraussichtlich<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 24 von 28


immer von der Ungeheuerlichkeit ihrer Verliebtheitsentwicklung fasziniert<br />

bleiben, versuchte dies auch jetzt zu vermitteln <strong>und</strong> erzeugte dadurch nicht<br />

nur nachhaltigen Eindruck, sondern auch die lustigsten Diskussionen <strong>und</strong><br />

Kommentare.<br />

Als wir ins Bett gingen, legte <strong>Madleine</strong> sich an mich <strong>und</strong> ihren Kopf auf <strong>mein</strong>e<br />

Schulter. Ich streichelte ihr Haar <strong>und</strong> ihre Wange <strong>und</strong> merkte, wie sich <strong>mein</strong>e<br />

Schulter befeuchtete. „Ich weiß es nicht.“ sagte sie zum Gr<strong>und</strong> ihrer Tränen,<br />

„Traurig bin auf keinen Fall. Ob es ein Glück ist, das zu groß ist für <strong>mein</strong> gewöhnliches<br />

Fassungsvermögen. Glück ist es ganz bestimmt, aber es ist auch<br />

noch etwas anderes. Ich sehe dabei auch <strong>mein</strong> ganzes Leben. Wie ein Ultrakurzfilm<br />

zeigt es sich. Ob wir immer <strong>und</strong> heute auch noch so glücklich gewesen<br />

wären, wenn ich bei dir damals in der Schule nicht das Handtuch geworfen hätte?<br />

Was <strong>mein</strong>st du?“ fragte <strong>Madleine</strong>. „Ich könnte darauf etwas Dummes antworten,<br />

aber alle Antwortversuche dazu würden dumm sein, weil es eine Frage<br />

ist, die niemand beantworten kann. Vielleicht willst du dass ja auch gar nicht<br />

wissen, sondern nur sagen, dass du doch ein bisschen traurig bist, weil du deinen<br />

Kopf nicht schon vor dreißig Jahren auf <strong>mein</strong>e Schulter legen konntest. Im<br />

Nachhinein finde ich es auch sehr schade. Nur wir können nicht zurückreisen.<br />

Wir werden alles nachholen müssen. Sehr, sehr vieles haben wir noch nachzuholen.“<br />

<strong>mein</strong>te ich dazu. <strong>Madleine</strong> hob ihren Kopf, lächelte <strong>und</strong> wir küssten<br />

uns. „Weihnachten muss das wohl so sein. Alles nur Frohe Botschaften.“ sinnierte<br />

<strong>Madleine</strong> noch, als sie sich wieder zum Einschlafen an mich kuschelte.<br />

Weihnachtsspaziergang<br />

Gegen elf Uhr kamen auch die letzten aus den Federn gekrochen. Die anderen<br />

hatten schon lange diskutiert, ob ein Weihnachtsspaziergang doch noch nötig<br />

<strong>und</strong> sinnvoll sei. Mit Pascal <strong>und</strong> Lucia, die zu berücksichtigen forderte, dass sie<br />

auch nicht mehr die Jüngste sei, begann die Diskussion erneut. Auch wenn<br />

man einsah, dass frische Luft <strong>und</strong> ein wenig Bewegung an diesem w<strong>und</strong>erschönen<br />

klaren Weihnachtsmorgen überhaupt nicht falsch sein könnten, schien den<br />

Physiologien <strong>und</strong> Emotionen ein gemächliches Verharren bei Kaffee, kleinen<br />

Häppchen <strong>und</strong> launigen Gesprächen am Küchentisch näher zu liegen. „Was soll<br />

das denn für einen Tag werden? Mir kommt es so vor, als ob wir bis heute<br />

Abend hier so sitzen bleiben wollten.“ beschwerte ich mich <strong>und</strong> veranlasste alle<br />

sich zu erheben. Luca erklärte mir beim Spazierengehen, das ihn alles sehr<br />

nachdenklich mache. „Ich freute mich, Silke alles bei mir zu Hause zeigen zu<br />

können. Sie war ja noch nie in der Schweiz. Was habe ich mir dabei eigentlich<br />

gedacht. 'Sie wird staunen <strong>und</strong> etwas bew<strong>und</strong>ern, das ich ihr gezeigt habe, das<br />

zu mir gehört.' Das sie mich dafür bew<strong>und</strong>ern wird, werde ich wohl empf<strong>und</strong>en<br />

haben. So ein Mensch will ich überhaupt nicht sein. Im Prinzip ist es ja nichts<br />

anderes, als wenn du von deiner Fre<strong>und</strong>in Zuneigung erwartest, weil du so ein<br />

dickes Auto hast. Natürlich würde ich sie gerne wissen lassen, wo ich herkomme,<br />

aber ich verstehe jetzt, warum sie unbedingt nach Hause wollte. Euer Zusammenleben<br />

<strong>und</strong> wie ihr miteinander umgeht, hat mich vom ersten Moment<br />

an fasziniert. Ich kannte so etwas nicht <strong>und</strong> wusste nicht, was es für mich be-<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 25 von 28


deuten kann. Dagegen sind der höchste Berg <strong>und</strong> die unheimlichste Schlucht<br />

nur Spielereien. Hohe Berge, große Häuser, wilde Flüsse, das sind alles schöne<br />

Bilder, aber doch von geringem Wert, bedeutsam für dich <strong>und</strong> deine Person ist<br />

es, wie du andere Menschen erfährst, wie du mit ihnen kommunizierst, was du<br />

dabei erlebst <strong>und</strong> empfindest, das gestaltet deine Welt in dir <strong>und</strong> nicht hohe<br />

Berge mit viel Schnee. Das Leben bei euch hat mir das bewusst gemacht <strong>und</strong><br />

es mich erkennen lassen. Ein Weihnachtsgeschenk, wie es größer nicht sein<br />

könnte.“ bedankte sich Luca. Anstatt Silke mit der Schweiz zu erstaunen, hatte<br />

sie ihn mit ihrem Social Family Environment fasziniert. Judith <strong>und</strong> Marielle verdeutlichte<br />

<strong>Madleine</strong>, das dies der gerade Weg zum Ziel gewesen sei, den wir<br />

täglich immer <strong>und</strong> immer wieder beschritten hätten, was Marielle zu dem Einwand<br />

veranlasste, dass es zu den meisten Zielen aber doch viele Wege gebe,<br />

die dort hin führten. „Aber immer nur einen geraden.“ erklärte <strong>Madleine</strong> kategorisch<br />

<strong>und</strong> lachte dabei.<br />

Lucia war nicht nur schön, intelligent, gebildet <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>lich, sie war eine<br />

Elfe. Eigentlich esse sie ja gar kein Fleisch, aber Weihnachten würde doch auch<br />

so erklärt, das Gott selber Fleisch geworden sei, als Incarnation, <strong>und</strong> göttliches<br />

Fleisch, das caro divina, was man denn da noch gegen einwenden wolle. „Oder<br />

bist du der Ansicht, dass es nicht mit Judiths Verständnis von Körper <strong>und</strong> Sprache<br />

in Einklang zu bringen ist am Weihnachtstage Fleisch zu essen?“ fragte sie<br />

Silke, mit der sie sich beim Spazierengehen über etwas von Judith Butler unterhalten<br />

hatte. „Doch, doch, schon“ erklärte Silke die sich vor Lachen bog,<br />

„Ich sehe es auch so, das Judith Körper nicht vorrangig in der Form des<br />

Schweinebratens definiert wissen möchte.“ Lucias Humor brachte Unsinn hervor,<br />

der mir ein Glücksempfinden vermittelte.<br />

Glücksempfindungen hatten diese Weihnachtstage wohl für alle aufkommen<br />

lassen. „Ich werde sie bestimmt in Zukunft öfter sehen. Dicke Fre<strong>und</strong>schaften<br />

sind zwischen Silke, Lucia, Judith <strong>und</strong> Marielle entstanden, als ob sie wirklich in<br />

den wenigen Tagen so etwas wie Schwestern geworden wären. Es kommt mir<br />

auch so vor, als ob sie sich gern so empfinden möchten. Marielle <strong>und</strong> Judith<br />

sind absolut begeistert. Auch wenn sie schon erwachsen <strong>und</strong> eigenständig sind,<br />

sehe ich es so, dass auch für sie ein neues, anderes Leben beginnt. Sie haben<br />

ein neues zu Hause bekommen, in dem sie sich wohler fühlen können, als in<br />

dem vorherigen, <strong>und</strong> das tut in jedem Alter gut.“ erklärte es <strong>Madleine</strong>.<br />

Garten mit Sonne<br />

Im Januar schon begann <strong>Madleine</strong> mit Planungen für einen Garten. Seit eh <strong>und</strong><br />

jeh bestand der Garten aus einer größeren Rasenfläche mit Sträuchern drumherum,<br />

die ab <strong>und</strong> an beschnitten wurden. Trostlos sei das <strong>und</strong> passe nicht zu<br />

uns, hatte <strong>Madleine</strong> festgestellt. Wo Erde sei, müssten auch Blumen wachsen<br />

können. „Die Sonne verschenkt ganz viele Farben, das ist das w<strong>und</strong>erschöne<br />

an ihr <strong>und</strong> Blumen können sie in ihrer Vielfalt <strong>und</strong> Pracht zeigen. Der Garten<br />

jetzt braucht nur die Magentastrahlen, ist eintönig. Ein Garten kann eine Metapher<br />

der Natur für dein Leben sein. Aber einen philosophischen Garten will ich<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 26 von 28


ja gar nicht, nur ein bisschen passen sollte er zu uns schon. Unser Leben ist<br />

vielgestaltig, bunt, lebhaft <strong>und</strong> zärtlich, kannst das da draußen irgendwo erkennen?“<br />

fragte <strong>Madleine</strong> rhetorisch. „<strong>Madleine</strong>, ich höre, was du sagst <strong>und</strong><br />

habe schon Vorstellungen von Gärten, die schön sein können, aber ich habe<br />

überhaupt keine Ahnung von so etwas. Ich denke, jede Pflanze, die ich in die<br />

Erde bringen würde, stürbe ab, statt Blüten hervor zu bringen“ war <strong>mein</strong>e<br />

Sicht. „Rainer, ich habe doch auch noch nie gesät, gepflanzt <strong>und</strong> Gartenarbeit<br />

gemacht. Warum sollen wir es nicht lernen <strong>und</strong> probieren können. Für uns ist<br />

doch alles frei <strong>und</strong> offen. Wir versuchen ge<strong>mein</strong>sam den Garten unseres Lebens<br />

zu entwickeln <strong>und</strong> zu gestalten. Sicher wird er sehr viele Blumen enthalten<br />

müssen, die die Sonne bunt leuchten lässt so wie wir uns gegenseitig zu<br />

buntem Strahlen veranlassen.“ war <strong>Madleine</strong>s Ansicht, wozu ich <strong>mein</strong>te: „Ich<br />

bin mir fast sicher, <strong>Madleine</strong>, dass deine Sonne, die für mich scheint, viel, viel<br />

mehr Farben haben muss, als die da oben. Sie kann nicht nur Blumen bunt<br />

strahlen lassen, alles erleuchtet sie <strong>und</strong> lässt es bunt werden. Die graue Stadt,<br />

das triste Ambiente, die hässlichen Fabriken, alles scheint in mir nicht mehr zu<br />

existieren, solange deine Sonne <strong>mein</strong>e Bilder davon bestrahlt <strong>und</strong> sie bunt werden<br />

lässt. Die Stadt selbst ist es nicht, es ist die Sonne, die in dir leuchtet <strong>und</strong><br />

dich empfinden lässt, ob du hier glücklich sein kannst oder nicht, denn Glück<br />

ist immer bunt.“<br />

FIN<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 27 von 28


Wende dich immer der Sonne zu, dann fallen die Schatten<br />

hinter Dich.<br />

China<br />

Als wir eines Morgens mal wieder eine kleine Pause auf einer Parkbank<br />

eingelegt hatten, schaute sie mich tief an <strong>und</strong> sagte: „Nu küss mich doch mal<br />

endlich.“ Mich quälte es. <strong>Madleine</strong> war immer <strong>Manni</strong>s Frau gewesen.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich, bei aller Sympathie die ich für sie hatte. Obwohl ich <strong>Madleine</strong> als<br />

attraktive Frau wahrnahm, ihr Äußeres mir sehr gefiel, löste es nie irgendeine<br />

Art von erotischen oder sexuellen Assoziationen aus. Mein Unbewusstes hatte<br />

festgelegt, dass <strong>Madleine</strong> nicht als Frau, als geschlechtliches Wesen femininer<br />

Art in <strong>mein</strong>em Bewusstsein in Erscheinung treten sollte, sondern nur als die<br />

Frau <strong>mein</strong>es Fre<strong>und</strong>es, <strong>Manni</strong>. Was sollte ich machen? Sie küssen weil sie es<br />

gern wollte. Nein das machte ich <strong>Madleine</strong> gegenüber nicht. „Ich kann das<br />

nicht, <strong>Madleine</strong>.“ sagte ich <strong>und</strong> wollte ihr wortreich erklären, warum nicht.<br />

<strong>Madleine</strong> stand auf. Sie wollte anscheinend nichts hören. Nach einiger Zeit<br />

begann sie über etwas anderes zu sprechen. Am nächsten Morgen kam sie<br />

nicht zum Spazierengehen <strong>und</strong> rief auch nicht vorher an. Zum Frühstück<br />

erschien sie aber. Am darauffolgenden Morgen das Gleiche. „<strong>Madleine</strong>, wir<br />

haben offensichtlich Familienstreit, oder wie siehst du das?“ fragte ich sie bei<br />

Udo. Ich bekam <strong>mein</strong> liebstes Lächeln. Milde, verstehend <strong>und</strong> w<strong>und</strong>erschön mit<br />

den kleinen geschwungenen Fältchen neben ihren Augen. „Hieltest du es für<br />

völlig falsch, wenn wir versuchten, die Dissonanzen zu bereinigen?“ fragte ich<br />

nach. Wieder das Lächeln <strong>und</strong> ein langgezogenes „Nöh.“, als ob es sie nur<br />

marginal berühre. Ich sah es aber eher als Scherz <strong>und</strong> schlug vor, morgen früh<br />

an der Regattabahn darüber zu reden. Mit einem „Mm-Mm“ <strong>und</strong> Kopfschütteln<br />

wies sie <strong>mein</strong>en Vorschlag zurück. „Wo denn?“ wollte ich wissen. „Bei dir“ legte<br />

sie kategorisch fest. „Und wann?“ erk<strong>und</strong>igte ich mich nach ihren<br />

Vorstellungen. „Jetzt gleich, anschließend“ erfuhr ich.<br />

<strong>Madleine</strong> <strong>und</strong> <strong>mein</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>Manni</strong> – Seite 28 von 28

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