Stenografischer Bericht: 114. Sitzung - Deutscher Bundestag
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10322 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – 15. Wahlperiode – <strong>114.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2004<br />
Präsident Wolfgang Thierse<br />
(A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie Zusatz- WHO spricht von einer Epidemie, wohl wissend, dass es (C)<br />
punkt 5 auf:<br />
sich hierbei nicht um etwas Ansteckendes handelt. Sie<br />
3 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung<br />
sagt, dass sich unser Lebensstil so verändert hat, dass<br />
sich Übergewicht und Fettleibigkeit wie eine Epidemie<br />
Eine neue Ernährungsbewegung für Deutsch- auf der Welt ausbreiten. Wir alle wissen natürlich, dass<br />
land<br />
das nur der eine Teil des Problems ist. Der andere Teil<br />
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula<br />
Heinen, Julia Klöckner, Peter H. Carstensen<br />
lautet, dass weltweit circa 840 Millionen Menschen an<br />
Unterernährung leiden.<br />
(Nordstrand), weiterer Abgeordneter und der Schauen wir uns die USA an, die uns an dieser Stelle<br />
Fraktion der CDU/CSU<br />
einen leichten Wink geben, wohin die Entwicklung noch<br />
Über-, Fehl- und Mangelernährung wirksam<br />
bekämpfen<br />
gehen kann. In den USA betragen die Behandlungskosten<br />
für übergewichtige und fettleibige Menschen jährlich<br />
rund 117 Milliarden US-Dollar. Es wird davon ausge-<br />
– Drucksache 15/3310 –<br />
gangen, dass Fettleibigkeit und Bewegungsmangel<br />
schon 2005 das Rauchen als Todesursache Nummer eins<br />
in den Statistiken der USA überholen wird.<br />
Überweisungsvorschlag:<br />
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und<br />
Landwirtschaft (f)<br />
Sportausschuss<br />
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend<br />
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung<br />
Zu der Regierungserklärung liegen ein Entschließungsantrag<br />
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/<br />
Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion<br />
der FDP vor.<br />
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für<br />
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung<br />
eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen<br />
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.<br />
Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucherschutz,<br />
Ernährung und Landwirtschaft:<br />
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete!<br />
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir geben<br />
in unserem Gesundheitssystem jährlich weit über<br />
71 Milliarden Euro an Folgekosten für ernährungsmitbedingte<br />
Erkrankungen aus; so lauten die letzten Berechnungen.<br />
71 Milliarden Euro pro Jahr – ich glaube,<br />
das ist eine Zahl, die uns beeindruckt.<br />
Es gibt noch andere Fakten, die einen beeindrucken<br />
können. Eine britische Studie besagt zum Beispiel, dass<br />
die heutige junge Generation die erste Generation sein<br />
wird, die vor ihren Eltern stirbt. Ein dreijähriges Mädchen<br />
erlag einem Herzinfarkt infolge von Übergewicht.<br />
Mit ihren drei Jahren wog sie 38 Kilogramm.<br />
Wenn wir uns die Schuleingangsuntersuchungen anschauen,<br />
erkennen wir: Übergewicht und seine Folgen<br />
sind ständig wachsende Probleme. Das sagen auch immer<br />
mehr Ärzte und Ärztinnen, die in diesem Bereich tätig<br />
sind.<br />
Wir haben es an dieser Stelle tatsächlich mit einem ernährungs-<br />
und gesundheitspolitischen Problem mit dramatischen<br />
Auswirkungen zu tun. Die Weltgesundheitsorganisation<br />
schätzt, dass weltweit rund 1 Milliarde<br />
Menschen übergewichtig ist. Das ist ein Sechstel der<br />
Weltbevölkerung. Davon leiden mindestens 300 Millionen<br />
Menschen unter Fettleibigkeit, Adipositas. Die<br />
In Westeuropa sterben jährlich schätzungsweise<br />
200 000 Menschen an den Folgen von Fettleibigkeit. Die<br />
Zahlen für Deutschland sind ebenso alarmierend. Die<br />
neuesten Erhebungen des Robert-Koch-Instituts besagen,<br />
dass zwei Drittel der männlichen Bevölkerung und<br />
gut die Hälfte der weiblichen Bevölkerung leicht bis<br />
stark übergewichtig sind. Mindestens ein Drittel der gesamten<br />
Gesundheitskosten werden durch Krankheiten<br />
verursacht, die durch Fehlernährung, Bewegungsmangel<br />
und erhebliches Übergewicht beeinflusst werden. Das<br />
muss man sich vor Augen halten: mindestens ein Drittel<br />
der gesamten Gesundheitskosten.<br />
(B)<br />
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat<br />
die Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung<br />
und Landwirtschaft, Renate Künast.<br />
Wenn wir das nicht ändern, werden wir die Kosten<br />
des Gesundheitssystems nicht im Rahmen halten können.<br />
Bei ungebremstem Trend rechnen Experten damit,<br />
dass in 40 Jahren jeder zweite Erwachsene adipös, also<br />
fettleibig, ist. Das ist nicht zu finanzieren, ganz zu<br />
schweigen von vielen anderen Fragen. Untersuchungen<br />
aus den USA zeigen: Die Kosten für Arbeitsausfälle aufgrund<br />
ernährungsmitbedingter Krankheiten werden für<br />
Unternehmen zu einem ernst zu nehmenden negativen<br />
Wirtschaftsfaktor.<br />
(D)<br />
Mit diesem Problem muss sich dieses Haus beschäftigen,<br />
auch wenn nicht alle zuhören.<br />
(Zuruf von der CDU/CSU)<br />
– Jetzt habe ich gemerkt, dass doch jemand zuhört. Ich<br />
wollte nur wissen, ob dieses Problem auch in der CDU<br />
erkannt wurde und jemanden interessiert.<br />
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN<br />
sowie bei Abgeordneten der SPD – Julia<br />
Klöckner [CDU/CSU]: Wir können beides! –<br />
Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Bundesregierung<br />
hat Abgeordnete nicht zu maßregeln!<br />
Merken Sie sich das!)<br />
– Nein, Herr Kauder, das würde ich nie wagen.<br />
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie haben ja<br />
noch 20 Minuten Zeit, sich zu steigern!)<br />
Es geht hier auch um schweres individuelles Leid.<br />
Nach Aussagen von Kinder- und Jugendärzten hat sich<br />
– das wurde bei Schuleingangsuntersuchungen festge-