TÄTER – OPFER: EINE HILFREICHE DICHOTOMIE?
TÄTER – OPFER: EINE HILFREICHE DICHOTOMIE?
TÄTER – OPFER: EINE HILFREICHE DICHOTOMIE?
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KINDESMISSBRAUCH ><br />
GERTRUDE KÖNIG<br />
<strong>TÄTER</strong> <strong>–</strong> <strong>OPFER</strong>:<br />
<strong>EINE</strong> <strong>HILFREICHE</strong> <strong>DICHOTOMIE</strong>?<br />
GEWALT GEGEN KINDER <strong>–</strong> und besonders<br />
sexuelle Gewalt <strong>–</strong> ist ein<br />
Thema, das aufregt, schockiert,<br />
erregt und in scheinbar unversöhnlich<br />
verfeindete Lager teilt,<br />
also spaltet, das <strong>–</strong> kurz gesagt <strong>–</strong><br />
keinen und keine kalt lässt. 1<br />
Wenn wir mit Fällen von Gewalt<br />
gegen Kinder konfrontiert werden, gehen die Emotionen<br />
hoch. Unterschiedliche Affekte wie Wut auf den Misshandler<br />
oder Missbraucher, Mitleid mit dem von Gewalt<br />
betroffenen Kind, Ekel, Angst, aber auch Erregung, Neugier<br />
oder Faszination, um auch einige weniger sozial<br />
akzeptierte Reaktionen zu erwähnen, werden mobilisiert<br />
und lösen Impulse aus wie z. B. den Impuls, das Kind zu<br />
retten, die Untat zu rächen, den Täter hinter Gitter zu<br />
bringen <strong>–</strong> um nur die naheliegendsten zu nennen.<br />
Das Aushalten dieser Affekte und die Balance dieser teils<br />
divergierenden Impulse ist schwierig und enorm belastend.<br />
Spaltungsphänomene haben in diesem Zusammenhang<br />
die Funktion, den emotionalen Druck des Betrachters<br />
zu reduzieren und sind daher als Schutzmechanismen zu<br />
verstehen. Sie machen es aber auch unmöglich, das<br />
Gesamtproblem im Auge zu behalten, falldynamische<br />
Prozesse zu verstehen und entsprechend zu handeln.<br />
Menschen, die in ihrem beruflichen Kontext mit Gewalt<br />
gegen Kinder konfrontiert sind (in der Folge kurz HelferInnen<br />
genannt), sind nicht gefeit gegen derartige<br />
Mechanismen. Trotz langjähriger Erfahrung und intensiver<br />
Fortbildung und Supervision sind derartige emotionale<br />
Reaktionen in besonders belastenden Fällen<br />
nicht völlig auszuschalten. Wenn es allerdings nicht<br />
1<br />
Dieser Artikel ist die schriftliche Zusammenfassung eines Vortrages,<br />
der im Oktober 2003 beim Fachkongress der deutschen Kinderschutzzentren<br />
„Beziehungshungrig und grenzenlos <strong>–</strong> Sexuell<br />
aggressive Jungen zwischen Hilfe und Sanktion“ gehalten wurde.<br />
Er beschreibt komplexitätsreduzierende Phänomene auf der<br />
Helferebene im Kontext „Sexuelle Gewalt gegen Kinder“, die als<br />
Spaltung, Polarisierung, Skandalisierung u. Ä. bezeichnet werden<br />
können, deren Hintergründe, Funktion und mögliche Auswege.<br />
gelingt, sie einer Reflexion zugänglich zu machen, kann<br />
dies problematische Auswirkungen auf die Arbeit und<br />
damit auf die Betroffenen haben.<br />
Eine spaltende, polarisierte Betrachtung der Interaktionen<br />
in einem System, in dem es zu sexuellen Übergriffen<br />
auf ein Kind gekommen ist, blendet vieles aus, simplifiziert<br />
die Dynamik und reduziert die beteiligten Personen<br />
auf oft klischeehafte Rollenbilder.<br />
Das Kind wird als schwaches, passives, unschuldiges,<br />
ohnmächtiges Opfer wahrgenommen, das gerettet werden<br />
muss. Andere Anteile des Kindes, die nicht ins Bild<br />
passen, wie z. B. Beteiligung an der Aufrechterhaltung<br />
des Missbrauchs oder ein Genießen der mit dem Missbrauch<br />
verbundenen Privilegien, werden ausgeblendet.<br />
Der missbrauchende Erwachsene erscheint als mächtiges,<br />
beängstigendes, durchtriebenes Monster, das verfolgt,<br />
kontrolliert und bestraft werden muss. Hier unterliegen<br />
andererseits jene Anteile des so genannten Täters<br />
der Zensur des Betrachters, die die Monsterhaftigkeit<br />
infrage stellen könnten, wie, z. B. Unsicherheit, Ängste<br />
oder Minderwertigkeitsgefühle.<br />
So entsteht ein klar abgegrenztes Schwarz-Weiß-Bild, in<br />
dem für Grautöne kein Platz ist. Dem Helfer ermöglicht<br />
dies für den Augenblick einen Ausweg aus einem verwirrenden<br />
Emotions-Cocktail. Die Fronten sind klar abgesteckt,<br />
die Handlungsperspektiven eindeutig.<br />
Die realen Personen sind aber eben nicht ausschließlich<br />
gut oder böse, nicht ausschließlich arme, hilflose Opfer,<br />
die darauf warten, gerettet zu werden, und brutale,<br />
gefährliche, abgebrühte Täter, denen mit entsprechender<br />
Wachsamkeit begegnet und vor denen die Welt<br />
geschützt werden muss.<br />
Es gibt keine eindeutigen Lösungen in Systemen, die<br />
geprägt sind durch Ambivalenz, Rollendiffusion, Widersprüchlichkeit<br />
und Unklarheit. Um effizient mit solchen<br />
Fällen arbeiten zu können ist es notwendig, den Blick<br />
genau auf diese Phänomene zu richten, sie auszuhalten<br />
und einer Reflexion zugänglich zu machen.<br />
Ich möchte jetzt auf die Problematik und die möglichen<br />
Auswirkungen eines spaltenden Umgangs mit so<br />
genannten Opfern und so genannten Tätern konkreter<br />
eingehen und die Hintergründe, Funktionen und Aus-<br />
18 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/05
wirkungen einer derartig verzerrten Wahrnehmung<br />
genauer beleuchten. Es geht mir dabei nicht darum,<br />
HelferInnen in ihren Bemühungen bloßzustellen und<br />
mich über sie lustig zu machen, auch wenn vielleicht<br />
manche Formulierung spitz oder sogar zynisch erscheinen<br />
mag. Viele der beschriebenen Impulse und Versuchungen<br />
sind mir aus der eigenen Praxis und aus diversen<br />
Helferberatungen wohl vertraut. Mir ist bewusst,<br />
wie schwierig es ist, sich nicht von einer drängenden<br />
Falldynamik mitreißen zu lassen, nicht im Chor der Retter,<br />
Rächer, Detektive und Kontrollore mitzusingen und<br />
nicht in die Fallen der eigenen Abwehr zu tappen.<br />
<strong>OPFER</strong><br />
Ich möchte mit den so genannten Opfern beginnen.<br />
Dabei verwende ich bewusst die Formulierung „so<br />
genannte“ Opfer, weil ich den Terminus an sich problematisch<br />
finde. Ich gehe davon aus, dass Menschen, die<br />
ES GIBT K<strong>EINE</strong> EINDEUTIGEN LÖSUNGEN IN SYSTE-<br />
MEN, DIE GEPRÄGT SIND DURCH AMBIVALENZ,<br />
ROLLENDIFFUSION, WIDERSPRÜCHLICHKEIT UND<br />
UNKLARHEIT. UM EFFIZIENT MIT SOLCHEN FÄLLEN<br />
ARBEITEN ZU KÖNNEN IST ES NOTWENDIG, DEN<br />
BLICK GENAU AUF DIESE PHÄNOMENE ZU RICHTEN,<br />
SIE AUSZUHALTEN UND <strong>EINE</strong>R REFLEXION<br />
ZUGÄNGLICH ZU MACHEN.<br />
sexuelle Übergriffe erlebt haben, egal, ob es sich um<br />
Kinder oder Erwachsene handelt, nicht ausschließlich<br />
„Opfer“ sind. Die Missbrauchserfahrung macht nur<br />
einen beschränkten Teil ihrer Gesamtpersönlichkeit aus,<br />
auch wenn die subjektive Wahrnehmung in der akuten<br />
Krisensituation dem zu widersprechen scheint. Verständlicherweise<br />
kommt es in der akuten Situation zu<br />
einer Einengung und Problemfokussierung bei den von<br />
Gewalt Betroffenen und deren sozialem Umfeld. Grundsätzlich<br />
ist aber davon auszugehen, dass Kinder, die<br />
sexuelle Gewalterfahrungen haben, Kinder mit indivi-<br />
duellen Stärken und Schwächen, mit spezifischen<br />
Ressourcen und Fähigkeiten sind, auch wenn es in<br />
ihrem Leben häufig einen Mangel an protektiven und<br />
einen Überhang an Belastungsfaktoren gibt.<br />
Es erscheint mir von enormer Wichtigkeit, Kinder trotz<br />
ihrer Belastung durch Gewalterfahrungen in ihrer<br />
gesamten Persönlichkeit wahrzunehmen und ihre<br />
gesunden, starken Anteile nicht auszublenden. Das<br />
bedeutet nicht, die traumatisierenden Auswirkungen<br />
von sexuellen Gewalterfahrungen zu bagatellisieren<br />
oder zu ignorieren. Das soll auch nicht dazu führen, die<br />
Augen vor Risikofaktoren und Rahmenbedingungen,<br />
die den sexuellen Übergriff begünstigt haben, zu verschließen.<br />
Vielmehr soll das Ziel sein, nach einer ausreichenden<br />
Beschäftigung mit dem Übergriff und daraus resultierenden<br />
Schwierigkeiten und Konflikten den Blick wieder<br />
auf problemfreie Bereiche zu richten, die Übergriffserfahrung<br />
zu integrieren<br />
und nicht in einer<br />
permanenten Opferrolle<br />
hängen zu bleiben.<br />
Die Voraussetzung<br />
dafür, Betroffene<br />
in diesem Prozess gut<br />
unterstützen zu können,<br />
ist, von sexueller<br />
Gewalt betroffene<br />
Kinder nicht als „für’s<br />
Leben gezeichnet“ zu<br />
sehen, sondern ihnen<br />
zuzutrauen und mit ihnen daran zu arbeiten, diese<br />
Erfahrung zu überwinden und neue Wege fernab einer<br />
fixierten Opfer-Identität zu gehen.<br />
Insofern gibt es für mich auch keine so genannte<br />
„Opfertherapie“. Die Verwendung eines solchen Begriffs<br />
impliziert Problemfokussierung und möglicher Weise<br />
Fixierung auf eine spezifische Rolle, die zu überwinden<br />
das eigentliche Ziel einer therapeutischen Bearbeitung<br />
sein sollte.<br />
Aus diesem Grund erscheint es mir auch wichtig, die<br />
landläufige Meinung, jedes von Gewalt betroffene Kind<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/05 19
KÖNIG ><br />
brauche Psychotherapie, um seine Gewalterfahrungen<br />
überwinden und integrieren zu können, in Frage zu<br />
stellen.<br />
Aus unserer Erfahrung ist nicht davon auszugehen, dass<br />
jedes Kind mit sexuellen Übergriffserfahrungen grundsätzlich<br />
psychotherapeutische Unterstützung braucht.<br />
Die Auswirkungen sexueller Übergriffe auf Kinder sind<br />
sehr individuell und hängen von Faktoren wie Art,<br />
Schwere und Dauer der Übergriffe, Alter des Kindes zum<br />
Zeitpunkt des Übergriffs und vom (Verwandtschafts-<br />
)Verhältnis zum Missbraucher ab. Alle Beeinträchtigungen<br />
eines Kindes, das sexuell traumatisiert ist, den Übergriffserfahrungen<br />
zuzuschreiben<br />
ist zwar nahe liegend,<br />
wird aber der Realität<br />
häufig nicht gerecht. Eine<br />
solche Sichtweise dient<br />
manchmal in erster Linie<br />
der Entlastung derer, die<br />
sich Schuld an schon vor<br />
dem Übergriff bestehenden<br />
Schwierigkeiten des missbrauchten<br />
Kindes zuschreiben.<br />
Hinsichtlich der Frage<br />
nach der Notwendigkeit<br />
einer therapeutischen Unterstützung erscheint es mir<br />
wichtig, Kinder in ihrer Gesamtpersönlichkeit wahrzunehmen<br />
und nicht auf ihren „Betroffenenstatus“ zu reduzieren.<br />
Durch ein aufgezwungenes oder für das Kind zu<br />
diesem Zeitpunkt nicht passendes therapeutisches Angebot<br />
könnte beim Kind der Eindruck entstehen oder verstärkt<br />
werden, durch den Übergriff so massiv geschädigt<br />
zu sein, dass ihm eine eigenständige Bewältigung dieser<br />
Erfahrung mit Unterstützung seines sozialen Bezugssystems<br />
nicht zugetraut werden kann. Abgesehen davon,<br />
dass dies unserer Erfahrung nach oft nicht stimmt, kann<br />
dadurch bei den betroffenen Kindern das Gefühl,<br />
schwach, machtlos ihren Erfahrungen ausgeliefert und<br />
„fürs Leben gezeichnet“ zu sein, verstärkt werden. Kriterium<br />
für eine Therapieindikation kann daher nicht das<br />
Vorliegen einer Übergriffserfahrung, sondern ausschließlich<br />
die Gesamtbefindlichkeit des Kindes sein.<br />
Was sind nun die möglichen Auswirkungen, wenn ein<br />
sexuell missbrauchtes Mädchen von der BeraterIn ausschließlich<br />
als armes, schutzbedürftiges Opfer gesehen<br />
wird und alle Anteile ausgeblendet werden, die nicht in<br />
dieses Schema passen?<br />
Dann bleiben wesentliche Aspekte aus der Behandlung<br />
ausgeklammert: Nämlich Ambivalenzen gegenüber der<br />
Mutter, der das von Inzest betroffene Kind vorgezogen<br />
wurde und der es sich überlegen fühlt, von der es sich<br />
aber auch im Stich gelassen und aus Konkurrenzgründen<br />
abgelehnt fühlt und nach deren liebevoller Unterstützung<br />
es sich vielleicht trotz allem sehnt. Ebenso<br />
ES IST FÜR VON GEWALT BETROFFENE KINDER<br />
UND JUGENDLICHE WICHTIG, DASS IHNEN GE-<br />
GLAUBT WIRD, WENN SIE MIT IHREN ERFAHRUN-<br />
GEN NACH AUSSEN GEHEN. EBENSO WICHTIG<br />
IST ES ABER AUCH, SIE MIT ALL IHREN WIDER-<br />
SPRÜCHEN ANZUNEHMEN UND SICH GERADE AN<br />
IHRE DUNKLE SEITE ZU STELLEN, DIE SIE SELBST<br />
NUR SCHWER AKZEPTIEREN KÖNNEN.<br />
Trauer über den Verlust der privilegierten Position in<br />
der Familie, die materielle Gratifikationen sicherstellte<br />
und enorme Macht gegenüber allen anderen Familienmitgliedern<br />
bedeutete, aber natürlich auch eine Überforderung<br />
darstellte und jetzt eine Quelle massiver<br />
Schuldgefühle sein kann. Es wird auch schwierig sein,<br />
Sehnsucht nach dem Missbraucher auszudrücken, von<br />
dem es nach der Aufdeckung getrennt wurde, der aber<br />
trotz der Übergriffe eine wichtige und möglicherweise<br />
die einzige wirkliche Bezugsperson war, wenn das Mädchen<br />
erlebt, dass dieser von der TherapeutIn abgelehnt<br />
und dämonisiert wird. Vor allem aber ist es undenkbar,<br />
allfällige Lustgefühle im Zusammenhang mit dem Übergriff<br />
zu thematisieren, die häufig heftigste Schuldgefühle<br />
auslösen und derartig ich-dyston sind, dass sie für die<br />
Betroffenen kaum erträglich sind.<br />
Die Abspaltung dieser sozial wenig akzeptierten Anteile<br />
20 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/05
durch die HelferIn fördert die Spaltungstendenzen der<br />
Betroffenen. Wenn diese Anteile einer bewussten Reflexion<br />
nicht zugänglich gemacht werden können besteht<br />
die Gefahr, dass sie sich in diversen Symptomen manifestieren,<br />
die eine zusätzliche und vermeidbare Belastung<br />
darstellen.<br />
Darüber hinaus ist die Tabuisierung dieser nicht opferrollenkompatiblen<br />
Anteile im Beratungsprozess meiner<br />
Meinung nach einer der häufigsten Gründe für Beratungs-<br />
bzw. Therapie-Abbrüche.<br />
Viele dieser bereits beschriebenen Phänomene bekommen<br />
eine zusätzliche Dimension, wenn es sich beim<br />
sexuell missbrauchten Kind um einen Jungen handelt.<br />
Für von sexueller Gewalt betroffene Buben ist es in<br />
besonderer Weise schwierig, von HelferInnen ausschließlich<br />
als Opfer wahrgenommen zu werden. Entspricht<br />
dieses Bild doch in keiner Weise dem gängigen Rollenverständnis<br />
eines Buben und zukünftigen Mannes, der<br />
stark, cool und in jeder Situation Herr der Lage zu sein<br />
hat, und der sich keinesfalls bei Schwäche, Hilflosigkeit<br />
oder Unterlegenheit ertappen lassen möchte.<br />
Wenn durch das Gegenüber der Opferanteil des Buben<br />
fokussiert und der Power-Anteil ausgeblendet wird,<br />
wird dies seine Tendenz, den Übergriff zu bagatellisieren,<br />
verstärken. Buben neigen in weit höherem Ausmaß<br />
dazu, das Erlebte abzuschwächen oder ein gewisses Maß<br />
an Einverständnis an den Übergriffshandlungen vorzugeben,<br />
um für sich ein Selbstbild aufrecht erhalten zu<br />
können, in dem sie noch ein Minimum an Kontrolle<br />
hatten und nicht völlig ohnmächtig und ausgeliefert<br />
waren. Eine Wahrnehmung des Geschehens ohne diese<br />
Verzerrung wäre eine Bedrohung für ihre Buben-Identität.<br />
So wahren sie für sich den Schein, es sei nicht so<br />
schlimm gewesen, sie hätten das Heft nicht aus der<br />
Hand gegeben und wären nicht in eine Situation passiven<br />
„Mit-sich-Geschehen-Lassens“ und „Dulden-Müssens“<br />
gekommen, aus der sie aus eigener Kraft keinen<br />
Ausweg fanden. Eine solche Selbstwahrnehmung wäre<br />
kaum erträglich, wäre sie doch gleichbedeutend mit der<br />
niederschmetternden Feststellung, kein ganzer Mann<br />
mehr zu sein. In diesem Sinn ist auch die Sorge vieler<br />
Buben mit sexuellen Missbrauchserfahrungen zu verste-<br />
hen, durch den Übergriff potenziell homosexuell zu<br />
sein.<br />
Um diesem Eingeständnis von Schwäche zu entgehen,<br />
identifizieren sich von sexueller Gewalt betroffene Jungen<br />
häufig mit dem Aggressor und versuchen, ihre<br />
Erfahrungen zu verarbeiten, indem sie ihrerseits Übergriffshandlungen<br />
setzen.<br />
Auf diese Weise versuchen sie mit untauglichen Mitteln,<br />
ihr angeknackstes männliches Ego durch zumindest<br />
kurzfristiges Erleben von Macht, Kontrolle und<br />
Dominanz wieder aufzubauen. In diesem Sinn produziert<br />
die Spaltung neue Täterschaft.<br />
Ein Weg, die Abspaltung des Opfer-Anteils durch den<br />
Jungen überflüssig zu machen, kann nun keinesfalls<br />
sein, in die gegenteilige Abspaltung zu verfallen und<br />
seine starken Seiten auszublenden, auf deren Wahrnehmung<br />
er in dieser Situation existenziell angewiesen ist,<br />
auch wenn seine starken, vielleicht gewalttätigen Anteile<br />
die Empathie nicht gerade fördern. Vielmehr kann es<br />
hilfreich sein, ihm ein integratives „Sowohl - als auch“<br />
an Stelle eines spaltenden „Entweder-Oder“ anzubieten<br />
und ihm zu vermitteln, dass es auch für richtige Männer<br />
erträglich ist, manchmal schwach und hilflos zu<br />
sein. Die Voraussetzung dafür ist, selbst die Koexistenz<br />
von Stärke und Schwäche, von Opfer- und Täteranteilen,<br />
von Gut und Böse in der eigenen Persönlichkeit<br />
und in der des Klienten zu ertragen. Ansonsten besteht<br />
die Gefahr, dass im Beratungsprozess genau die entscheidenden<br />
Themen nie zur Sprache kommen bzw.<br />
dass der Junge den Kontakt zum Helfer abbricht, weil<br />
er sich nicht verstanden fühlt.<br />
Es ist für von Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche<br />
wichtig, dass ihnen geglaubt wird und dass sich<br />
Erwachsene klar auf ihre Seite stellen, wenn sie mit<br />
ihren Erfahrungen nach außen gehen. Ebenso wichtig<br />
ist es allerdings auch, sie mit all ihren Widersprüchen<br />
und Ambivalenzen anzunehmen und sich gerade an ihre<br />
dunkle Seite zu stellen, die sie selbst nur schwer akzeptieren<br />
können.<br />
Nur dann werden sie sich verstanden fühlen und langsam<br />
Dinge entwickeln, die durch den Missbrauch verschüttet<br />
wurden: Vertrauen in das Gegenüber, Vertrau-<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/05 21
KÖNIG ><br />
en in sich selbst und in die eigenen Gefühle und nicht<br />
zuletzt die Sicherheit, der oder die sein zu dürfen, die<br />
man ist.<br />
WIR HABEN UNS JETZT mit den Auswirkungen eines kategorisierenden,<br />
auf die Opferrolle reduzierenden Umgangs<br />
auf Kinder mit sexuellen Gewalterfahrungen beschäftigt.<br />
Dabei ist deutlich geworden, dass sich diese Fokussierung<br />
des hilflosen Opferstatus auf die betroffenen Kinder<br />
höchst belastend auswirkt und der Komplexität der Sache<br />
in keiner Weise gerecht wird. Es stellt sich nun die Frage,<br />
welche Funktion diese auf den ersten Blick liebevoll<br />
anmutende, parteiische Simplifizierung einer vielschichtigen<br />
Dynamik für die HelferIn hat. Wie eingangs<br />
beschrieben, dienen solche vereinfachenden, kategorisierenden<br />
Verzerrungen dazu, den emotionalen Druck des<br />
Betrachters zu reduzieren und scheinbar leicht gangbare<br />
Auswege aus einem verwirrenden Gefühlschaos zu eröffnen,<br />
haben also eine psychohygienische Funktion.<br />
Daher sollte sich die HelferIn, wenn sie sich bei heftigem<br />
Simplifizieren, Kategorisieren oder Polarisieren<br />
ertappt, die Frage stellen, was es gerade bei diesem Fall,<br />
in dieser konkreten Situation so schwer macht, bei einer<br />
integrativen Betrachtung der vorliegenden Dynamik zu<br />
bleiben, welche Affekte so unaushaltbar, welche Impulse<br />
so drängend sind, dass das Böse vom Guten separiert<br />
und das Zusammenspiel aller Beteiligten ausgeblendet<br />
werden muss.<br />
Wenn wir uns die Weiterführung dieses Gedankens<br />
erlauben, ist seitens der HelferIn auch ein kritisches<br />
Hinterfragen der eigenen Helfer- bzw. Rettungsimpulse<br />
gefragt, die z. B. angesichts eines dramatischen Missbrauchsfalles<br />
mobilisiert werden und die sich mit Spaltungstendenzen<br />
überlagern können.<br />
Es kommt dem helferischen Ego natürlich sehr entgegen,<br />
sich selbst im Gegensatz zum armen Opfer als<br />
potent und kompetent zu erleben und die Auseinandersetzung<br />
mit eigenen hilflosen Anteilen zu vermeiden, die<br />
alte Ängste, Verletzungen und Ohnmachtsgefühle wieder<br />
zum Leben erwecken könnten. Das gelingt am leichtesten<br />
durch eine klare Abgrenzung von eigenen Opfer-<br />
Anteilen und durch die Vermeidung einer Identifikation<br />
mit der Opferseite der KlientIn (nach der Devise:“Die<br />
Opfer sind immer die anderen.“), aber auch durch die<br />
Vermeidung einer realistischen Wahrnehmung und echten<br />
Auseinandersetzung mit der Person des Täters.<br />
Außerdem ist es eine ehrenvolle Sache, die Schwachen<br />
zu schützen und das Böse zu bekämpfen. Dafür braucht<br />
es eine klare Trennung von Gut und Böse, von Macht<br />
und Ohnmacht und von Schuld und Unschuld:<br />
Die HelferIn ist die gute Macht, die das Opfer rettet<br />
und vor der bösen Welt und besonders vor missbrauchenden<br />
Männern schützt.<br />
Das von sexueller Gewalt betroffene Opfer ist schwach<br />
und in seiner Hilfsbedürftigkeit auf die HelferIn angewiesen,<br />
von der es sich retten lässt, und zwar in der von<br />
der HelferIn vorgesehenen Weise.<br />
Der missbrauchende Mann ist das Böse schlechthin, das<br />
bekämpft, überwältigt und dingfest gemacht werden<br />
muss.<br />
Um eigenen Rettungsfantasien langfristig frönen zu<br />
können, dürfen Opfer keineswegs aus ihrer Hilflosigkeit<br />
und Ohnmacht erwachen und Autonomietendenzen<br />
entwickeln. Eine Wegentwicklung aus der Opferrolle<br />
und Emanzipation seitens der KlientIn könnte eine so<br />
angelegte Helfer-Identität in ihren Grundfesten erschüttern<br />
und ins Wanken bringen, was um den Preis der<br />
Kleinhaltung des so genannten Opfers unbedingt vermieden<br />
werden muss.<br />
Eine Annäherung an die schwache Seite der KlientIn<br />
könnte eigene Omnipotenzfantasien gefährden und<br />
Ängste hoch kommen lassen, deren Abwehr gute Gründe<br />
hat.<br />
Eine Einfühlung in den Täter könnte gefährliche Grautöne<br />
in sicheres Schwarz-Weiß bringen. In solch einer<br />
einfachen Welt ist kein Platz für Differenzierung, für die<br />
Wahrnehmung von Ambivalenz, für die Auseinandersetzung<br />
mit widersprüchlichen Gefühlen und letztlich für<br />
eine Koexistenz und Integration von Gut und Böse, von<br />
Liebe und Hass, Schuld und Unschuld, Macht und<br />
Ohnmacht. Die Fähigkeit, diese Gegensätzlichkeiten<br />
auszuhalten und als Bestandteile der eigenen Psyche<br />
anzunehmen, ist eigentlich Merkmal einer reifen Persönlichkeit<br />
und Ziel so mancher Psychotherapie.<br />
22 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/05
Ein kritischer Blick in die Abgründe der eigenen<br />
Geschichte und Berufsmotivation kann möglicherweise<br />
den „Missbrauch“ von KlientInnen für die eigenen<br />
Bedürfnisse oder zur Vermeidung der Konfrontation mit<br />
eigenen abgespaltenen Anteilen verhindern.<br />
In einer Art Abwehrbündnis vermeiden damit sowohl<br />
der Täter als auch die HelferIn eine Nähe, die für beide<br />
in unterschiedlicher Weise gefährlich sein könnte.<br />
Die Abspaltung und Dämonisierung seitens der HelferIn<br />
hilft dem missbrauchenden Mann, seine verzerrte Selbstwahrnehmung<br />
aufrecht zu erhalten. Eine Haltung von<br />
(Berührungs-)Angst und Misstrauen seitens der HelferIn<br />
erspart ihm aber auch das Einlassen auf eine Form von<br />
Beziehung, die ihm fremd und höchst suspekt ist <strong>–</strong> eine<br />
Beziehung, in der er möglicherweise der Unterlegene und<br />
Bedürftige ist, und in der er über die Erfahrung, dass<br />
Machtlosigkeit, Schwäche und Angst aushaltbar sind, Auswege<br />
aus und Alternativen zu seinen missbräuchlichen Verhaltensmustern<br />
entwickeln könnte.<br />
Für die HelferIn gibt es ebenfalls gute Gründe für die<br />
Vermeidung einer (empathischen) Annäherung an den<br />
missbrauchenden Mann.<br />
Besteht doch die Gefahr, mit dem Täter in einen Topf<br />
geworfen oder als Sympathisant entlarvt zu werden,<br />
wenn man nicht klar und deutlich gegen ihn Position<br />
bezieht. In Zeiten, in denen politische Lager, die<br />
Unbarmherzigkeit und strengere Strafen gegenüber so<br />
EIN MANN, DER SEXUELLE ÜBERGRIFFE AN KINDERN<br />
BEGANGEN HAT, WIRD „FANTASIERT ALS SUBJEKT,<br />
DAS MIT ALLEN MITTELN KONTROLLIERT WERDEN<br />
MUSS. ER SEI ÜBERMÄCHTIG, GERISSEN UND UN-<br />
DURCHSCHAUBAR MANIPULATIV <strong>–</strong> ZUDEM KALT-<br />
BLÜTIG, SCHAMLOS, OHNE JEGLICHES SCHULD-<br />
GEFÜHL UND UNFÄHIG ZUR INTROSPEKTION“.<br />
<strong>TÄTER</strong><br />
Im Folgenden möchte ich mich den so genannten<br />
Tätern zuwenden, die ja die andere Seite, das „Böse“<br />
repräsentieren.<br />
Ein Mann, der sexuelle Übergriffe an Kindern begangen<br />
hat, wird, wie mein Kollege Holger Eich so treffend<br />
beschreibt, „fantasiert als Subjekt, das mit allen Mitteln<br />
und aus allen Richtungen kontrolliert werden muss. Er<br />
wird als übermächtig, ungemein gerissen und undurchschaubar<br />
manipulativ angesehen <strong>–</strong> zudem kaltblütig,<br />
schamlos, ohne jegliches Schuldgefühl und unfähig zur<br />
Introspektion“.<br />
In diesem Bild ist kein Platz für schwache Anteile des<br />
missbrauchenden Mannes, wie Ängste (z. B. vor altersadäquaten<br />
Sexualpartnern), Minderwertigkeitsgefühle<br />
oder Unsicherheit in seiner Geschlechtsidentität. Ebenso<br />
wie vom Täter, der diese Anteile abspaltet und in der<br />
Übergriffshandlung kompensatorisch ausgleicht, indem<br />
er Situationen schafft, in denen er sich <strong>–</strong> zumindest<br />
kurzfristig <strong>–</strong> als mächtig, kontrollierend und (omni)-<br />
potent erleben kann, werden auch vom Helfer genau<br />
diese Aspekte seiner Persönlichkeit ausgeblendet, die in<br />
vielen Fällen den Schlüssel zu seiner Störung und seinem<br />
Missbrauchsverhalten darstellen.<br />
genannten Tätern<br />
propagieren, hoch im<br />
Kurs stehen, bedeutet<br />
es ein gewisses Risiko,<br />
in der Öffentlichkeit<br />
Empathie gegenüber<br />
Männern oder auch<br />
Frauen zu zeigen, die<br />
sexuelle Übergriffe an<br />
Kindern begangen<br />
haben. Aber auch in<br />
manchen HelferInnenkreisen<br />
ist es nicht ganz ungefährlich, als „täterfreundlich“<br />
geoutet zu werden. Man setzt sich der Gefahr<br />
aus, stellvertretend für den Täter beschuldigt, verfolgt<br />
und verurteilt zu werden und all die negativen Affekte<br />
abzubekommen, die bei Konfrontation mit sexueller<br />
Gewalt gegen Kinder hoch kommen und die sich mehr<br />
oder weniger unkontrolliert entladen, wenn sie nicht<br />
einer Reflexion zugänglich gemacht werden können.<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/05 23
KÖNIG ><br />
Ein weiterer Aspekt ist, dass das Zulassen von Einfühlung<br />
und Nähe gegenüber Tätern eine Bedrohung für<br />
das eigene helferische Ego darstellen könnte. Wir können<br />
davon ausgehen, dass die Polarisierung gute HelferIn<br />
- böser Täter funktional im Hinblick auf allfällige<br />
Ängste der HelferIn ist, sich bei eventuellen Berührungspunkten,<br />
Sympathien oder Ähnlichkeiten mit<br />
Tätern zu ertappen. Offenbar muss um jeden Preis vermieden<br />
werden, an sich selbst Anteile wahrzunehmen,<br />
die an solche des Täters erinnern könnten.<br />
Mit den Mitteln der Dämonisierung bzw. Skandalisierung<br />
gelingt die Abgrenzung gegen möglicherweise nahe<br />
liegende Identifikationstendenzen perfekt. Die Täter<br />
sind immer die anderen, und die werden mit absoluter<br />
Härte verurteilt, kontrolliert und vom eigenen Ego<br />
abgegrenzt.<br />
Aus der in dieser Weise geschaffenen Distanz und verzerrten<br />
Perspektive ist es kaum möglich, den so genannten<br />
Täter, seine Strategien, Motive und auch seine Taten<br />
ES STELLT SICH DIE FRAGE, OB IN DER REALITÄT<br />
<strong>–</strong> ABGESEHEN VOM EINZELFALL <strong>–</strong> <strong>EINE</strong> SCHARFE<br />
ABGRENZUNG ZWISCHEN <strong>TÄTER</strong>N UND <strong>OPFER</strong>N<br />
ÜBERHAUPT MÖGLICH IST.<br />
wirklich wahrzunehmen. Wissen über den so genannten<br />
Täter und seine konkreten Handlungen und zumindest<br />
Hypothesen über die Art und Weise seiner Störung ist<br />
aber oft eine wesentliche Basis, Reaktionen des betroffenen<br />
Kindes zu verstehen und es gut unterstützen zu<br />
können, besonders wenn es sich um kleinere Kinder<br />
handelt, die viele Aspekte des Missbrauchs nur schwer<br />
einordnen, benennen und damit auch schwer verarbeiten<br />
können.<br />
Ein weiterer Grund, Annäherung an Menschen zu vermeiden,<br />
die sexuelle Übergriffe an Kindern verübt<br />
haben, sind Ängste vor dem Täter selbst. Wenn wir von<br />
dem vorher beschriebenen fantasierten Bild missbrauchender<br />
Männer ausgehen, ist eine angstvolle, misstrauische,<br />
gegenaggressive oder auch verurteilende Haltung<br />
nahe liegend. Im Umgang mit einem solchen „Monster“<br />
ist Wachsamkeit angesagt. Es muss unbedingt vermieden<br />
werden, ihm auf den Leim zu gehen, von ihm überwältigt<br />
oder in die Irre geführt zu werden. Diese Haltung<br />
fördert Separationswünsche, Kontrollbedürfnisse<br />
sowie Straf- bzw. Demütigungstendenzen. Abgesehen<br />
von der Gefahr, aus dieser Position heraus in wildes<br />
Agieren zu verfallen und gegenaggressive und machtdemonstrative<br />
Attacken gegen den Missbraucher zu reiten,<br />
wird es schwierig sein, Bereitschaft zu einer realistischen<br />
Auseinandersetzung mit der spezifischen Problematik<br />
des Mannes zu entwickeln, die zu verstehen letztlich<br />
Perspektiven, aus der Missbrauchsdynamik herauszukommen,<br />
eröffnen könnte und damit dem so genannten<br />
Opfer, aber auch dem Täter zugute käme.<br />
Das impliziert keineswegs die Forderung, jede HelferIn<br />
möge selbst mit „Tätern“ arbeiten, aber sehr wohl den<br />
Anspruch, im Sinn eines umfassenden Verstehenskonzepts<br />
die Täterseite nicht auszublenden.<br />
Wenn ich immer wieder von so genannten Tätern oder<br />
missbrauchenden Männern<br />
spreche, möchte ich die Verwendung<br />
mehr oder weniger<br />
adäquater Bezeichnungen<br />
für Menschen, die Übergriffshandlungen<br />
gesetzt<br />
haben, kritisch beleuchten.<br />
Eigentlich ist die Verwendung der Bezeichnung „Täter“<br />
durch HelferInnen problematisch, weil dadurch automatisch<br />
der kriminologisch-strafrechtliche Kontext<br />
fokussiert wird und damit Aspekte wie moralische<br />
Bewertung, Ermittlung, Schuldzuschreibung und letztlich<br />
Verurteilung in den Vordergrund rücken und Priorität<br />
vor einer Auseinandersetzung mit psychodynamischen<br />
Aspekten bekommen, die dem beraterisch-therapeutischen<br />
Kontext eher entsprechen würden. Der Terminus<br />
„Missbraucher“ induziert eine Fokussierung und<br />
Reduktion auf die Übergriffshandlung und suggeriert<br />
damit Ausschließlichkeit und Permanenz (die Person<br />
wird auf ihre Übergriffshandlungen reduziert und es<br />
entsteht der Eindruck einer permanenten Devianz, was<br />
in vielen Fällen nicht der Realität entspricht).<br />
Die englischen Begriffe „offender = Angreifer“, „abuser<br />
24 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/05
= Missbraucher“ oder „perpetrator = Täter“ fallen in die<br />
gleichen Kategorien.<br />
Besonders bei jugendlichen „Tätern“ finde ich diese<br />
Bezeichnung problematisch, weil es damit zu einer Rollenfixierung<br />
und Festschreibung problematischen Verhaltens<br />
kommen kann. Ich bestreite nicht, dass es Kinder<br />
und Jugendliche gibt, deren Geschichte und Problematik<br />
eine Weiterentwicklung in Richtung „Täterpersönlichkeit“<br />
nahe legt, wenn sie nicht rechtzeitig eine<br />
adäquate Behandlung erhalten. Sie aber aufgrund punktueller<br />
oder wiederholter Grenzverletzungen oder auch<br />
Übergriffshandlungen auf eine „Täterrolle“ festzulegen,<br />
finde ich aus ethischen und „kinderschützerischen“<br />
Gründen nicht akzeptabel.<br />
Adäquat fände ich eine möglichst präzise Beschreibung<br />
der gesetzten Handlung (z. B. ein Mann, der sich exhibiert<br />
hat, oder ein Junge, der versucht hat, andere Jungen<br />
anal zu penetrieren, etc.), was aber im alltäglichen<br />
Sprachgebrauch oft nicht durchzuhalten ist.<br />
Da es offenbar keine halbwegs neutrale Bezeichnung für<br />
Menschen, die sexuelle Übergriffe begangen haben, gibt,<br />
greife auch ich im vollen Bewusstsein der Problematik<br />
auf gängige Termini zurück.<br />
Wenn undifferenziert von „Tätern“ gesprochen wird<br />
(oder andere noch weniger schmeichelhafte Bezeichnungen<br />
verwendet werden), ohne das tatsächlich Vorgefallene<br />
zu benennen, oder auch, wenn von „Missbrauch“ die<br />
Rede ist, ohne die Termini wirklich mit Inhalten zu füllen,<br />
besteht die Gefahr, dass bezüglich der „Taten“ in<br />
der Fantasie des Betrachters ein wüstes Bild perversester<br />
Grausamkeiten entsteht, das die in der Realität passierten<br />
Übergriffe bei weitem übertrifft. Dadurch kann<br />
sowohl auf der Fall- als auch auf der Helferebene eine<br />
Eigendynamik ins Rollen kommen, die kaum mehr zu<br />
steuern ist. Ein präziser Blick auf das real Geschehene<br />
und konkretes Nachfragen bei der Weitergabe von fallspezifischen<br />
Informationen könnten solche Prozesse vermeiden,<br />
unterbleiben aber oft aus Gründen der Schonung<br />
der eigenen Psyche (man möchte nicht so genau<br />
wissen, was eigentlich passiert ist, um sich nicht wirklich<br />
auseinander setzen zu müssen und an vorgefassten,<br />
sicheren Positionen festhalten zu können).<br />
Obwohl bei sexueller Gewalt an Kindern von einem<br />
Tabuthema nicht mehr die Rede sein kann (das Thema<br />
ist sei gut 10 Jahren in aller Munde, TV-Serien, Talk-<br />
Shows etc. eingeschlossen), scheint der Aspekt der exakten<br />
Benennung und Betrachtung solcher Phänomene<br />
auf einer konkreten Ebene nach wie vor einer gewissen<br />
inneren und äußeren Zensur zu unterliegen.<br />
Es stellt sich die Frage, ob in der Realität <strong>–</strong> abgesehen<br />
vom Einzelfall <strong>–</strong> eine scharfe Abgrenzung zwischen<br />
Tätern und Opfern überhaupt möglich ist. Wie wir in<br />
unserer täglichen Arbeit sehen unterscheiden sich Täterund<br />
Opferbiografien oft nur marginal, und es ist<br />
manchmal nicht eindeutig zu beantworten, warum sich<br />
Menschen aus ähnlich defizitären Bedingungen heraus<br />
zu Tätern oder Opfern entwickeln. Sowohl in den<br />
Anamnesen von Opfern wie auch von Tätern finden sich<br />
gehäuft multiple Gewalterfahrungen, oft kombiniert<br />
mit einer massiven Vernachlässigungsproblematik, mit<br />
dem Fehlen elterlicher Schutzfunktionen, Beziehungsabbrüchen,<br />
mit Rollendiffusion und unsicheren Generationengrenzen<br />
im Herkunftssystem, etc. All dies sind<br />
Faktoren, die massive Störungen einer positiven Persönlichkeitsentwicklung<br />
bewirken können. Diese manifestieren<br />
sich in der Folge u. a. in Selbstwertproblemen,<br />
eingeschränkter Bindungsfähigkeit, Schwierigkeiten bei<br />
der Entwicklung einer funktionalen Geschlechtsidentität,<br />
sowie der Autonomieentwicklung, also Auffälligkeiten,<br />
die u. a. typisch sowohl für Täter- als auch<br />
Opferpersönlichkeiten sind.<br />
Außerdem sind die Übergänge in vielen Fällen fließend:<br />
Viele so genannte Täter haben eigene kindliche Missbrauchserfahrungen,<br />
die sie in keiner Weise verarbeiten<br />
konnten und die sich in der Folge in Übergriffshandlungen<br />
gegenüber Kindern manifestieren. Andererseits zeigen<br />
von sexueller Gewalt betroffene Kinder häufig ein<br />
sexuell aggressives, grenzverletzendes Verhalten gegenüber<br />
anderen Kindern oder auch gegenüber Erwachsenen<br />
und werden letztlich über dieses „Symptom“ als „Opfer“<br />
wahrgenommen. An solchen Kindern scheiden sich die<br />
Geister, und es ist oft nicht ganz nachvollziehbar, wovon<br />
es abhängt, dass das selbe Kind zum einen als Täter stigmatisiert<br />
oder zum anderen als Opfer bemitleidet wird.<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/05 25
KÖNIG ><br />
Ich denke, ein adäquater Umgang mit solchen Kindern<br />
ist weder das eine noch das andere. Hilfreich kann vielmehr<br />
sein, ihnen Verarbeitungsmöglichkeiten innerhalb<br />
eines sicheren Rahmens anzubieten, die ein Ausagieren<br />
ihrer Erfahrungen durch Identifikation mit dem Aggressor<br />
überflüssig machen.<br />
NEBEN <strong>EINE</strong>M DIFFERENZIERTEN UMGANG mit Täter- und<br />
Opfergeschichten erscheint es mir auch wichtig, Differenzierungen<br />
hinsichtlich verschiedener Tätertypen vorzunehmen.<br />
Es wird der Problematik nicht gerecht und<br />
nützt niemandem, z. B. so genannte Konflikttäter, die<br />
von ihrer Persönlichkeit her relativ gesund sind und die<br />
in speziellen Konfliktsituationen punktuelle Übergriffshandlungen<br />
gesetzt haben, mit Sexualstraftätern mit<br />
ausgeprägten Psychopathologien in einen Topf zu werfen.<br />
Dabei erscheint mir eine Differenzierung der<br />
„Taten“ ebenso sinnvoll wie eine Unterscheidung der<br />
dahinter liegenden Motive und des damit verbundenen<br />
Gefährdungspotenzials. So wird ein Exhibitionist, dem<br />
es beim Leben seiner<br />
Sexualität um die Vermeidung<br />
von Nähe<br />
und Berührung geht<br />
und der daher kaum<br />
sein „Opfer“ attackieren,<br />
berühren oder<br />
vergewaltigen wird,<br />
anders einzuschätzen<br />
sein als ein Pädophiler, der in der Entwicklung seiner<br />
sexuellen Identität in einer kindlich-jugendlichen Phase<br />
hängen geblieben ist und sich die dieser Fixierung entsprechenden<br />
„Partner“ suchen und mit ihnen spezifische<br />
sexuelle Handlungen setzen wird, oder ein Mann mit<br />
einer dissozial-sadistischen Persönlichkeit, der andere<br />
Menschen ausschließlich als Objekte wahr nimmt und<br />
entsprechend be- oder misshandelt. Die beschriebenen<br />
Beispiele fallen alle unter den Sammelbegriff „Täter“,<br />
sind aber hinsichtlich der Dynamik, der Auswirkungen<br />
der Übergriffshandlungen auf Betroffene, hinsichtlich<br />
der Behandlungsmöglichkeiten und -ansätze und hinsichtlich<br />
der Prognose nicht zu vergleichen.<br />
Beim Ruf nach differenzierter Betrachtung der Täterseite<br />
geht es mir nicht um Gerechtigkeit und auch nicht<br />
um die Schonung missbrauchender Männer (und Frauen)<br />
oder die Entschuldigung von „übergriffigem“ Verhalten.<br />
Zentral erscheint mir, den Blick auf die reale<br />
Falldynamik nicht durch Skandalisierung, Bagatellisierung<br />
oder auch Stellvertreterkriege im HelferInnen-<br />
System zu verstellen.<br />
WEIBLICHE <strong>TÄTER</strong><br />
Ich möchte mich noch kurz einer speziellen Kategorie<br />
von so genannten Tätern zuwenden, die in die vorangegangenen<br />
Überlegungen nur schwer hineinpassen, und<br />
zwar weiblichen. Ich habe bisher immer ausschließlich<br />
die männliche Form verwendet, wenn ich von Tätern<br />
gesprochen habe, weil ich erstens der Meinung bin, dass<br />
die überwiegende Zahl von sexuellen Übergriffshandlungen<br />
an Kindern durch Männer gesetzt wird und<br />
zweitens, weil die Psychodynamik männlicher und weiblicher<br />
Täter nicht in allen Punkten übereinstimmt.<br />
ES NÜTZT NIEMANDEM, SO GENANNTE KONFLIKT-<br />
<strong>TÄTER</strong> <strong>–</strong> DIE VON IHRER PERSÖNLICHKEIT HER<br />
RELATIV GESUND SIND <strong>–</strong> MIT SEXUALSTRAF<strong>TÄTER</strong>N<br />
MIT AUSGEPRÄGTEN PSYCHOPATHOLOGIEN IN<br />
<strong>EINE</strong>N TOPF ZU WERFEN.<br />
Zentrale Persönlichkeitsmerkmale sexuell missbrauchender<br />
Frauen sind - ebenso wie bei Männern <strong>–</strong> u. a. verschiedene<br />
Ängste (vor Alleinsein, vor Kontrollverlust,<br />
vor altersadäquaten Sexualpartnern), Selbstwertprobleme<br />
und eine unsichere bzw. unreife Geschlechtsidentität.<br />
Diese manifestieren sich allerdings zum Teil in<br />
anderer Weise, was im Hinblick auf die unterschiedliche<br />
männliche und weibliche Sozialisation und unterschiedliche<br />
persönliche und gesellschaftliche Rollenerwartungen,<br />
an denen sowohl missbrauchende Männer als auch<br />
Frauen aufgrund ihrer defizitären Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung<br />
in mancher Hinsicht scheitern,<br />
nicht verwunderlich ist. Ein weiterer Faktor ist natürlich<br />
26 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/05
die nach wie vor bestehende reale gesellschaftliche<br />
Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, die den<br />
Umgang der Geschlechter miteinander und mit ihrer<br />
Sexualität prägt.<br />
Obwohl missbrauchende Männer und Frauen das gleiche<br />
Delikt <strong>–</strong> wenn auch in diversen Spielarten - begangen<br />
haben, ist die Wahrnehmung von Täterinnen im Helfersystem<br />
eine völlig andere. Frauen als Täterinnen fallen<br />
aus dem Rahmen. Sie entsprechen nicht dem gesellschaftlich<br />
häufig überhöhten Bild der liebenden Mutter,<br />
der friedfertigen, fürsorglichen Frau, die von Natur aus<br />
dafür prädestiniert ist, Kinder zu versorgen, zu schützen<br />
und sich bis zur Selbstaufgabe für andere aufzuopfern. In<br />
diesem Bild von Weiblichkeit ist kein Platz für aktive,<br />
auf eigenen Lustgewinn ausgerichtete Sexualität und<br />
schon gar nicht für Gewalt und Missbrauch. Aufgrund<br />
dieses idealisierten Bildes werden Frauen in weit geringerem<br />
Ausmaß sexuelle Übergriffshandlungen zugetraut als<br />
Männern, die ja in manchen Kreisen schon allein aufgrund<br />
ihrer Männlichkeit als potenzielle Täter eingestuft<br />
werden. Besonders bei Müttern oder älteren Frauen<br />
erscheint der Verdacht von missbräuchlicher Sexualität<br />
total tabuisiert und geradezu absurd.<br />
Obwohl oder vielleicht gerade weil Täterinnen diesem<br />
Ideal in keiner Weise entsprechen, sondern den Mythos<br />
der Madonna, der schützenden, liebenden, nahezu heiligen<br />
Mutter in höchst schockierender Weise ad absurdum<br />
führen, werden sie in weitaus geringerem Maß als<br />
männliche Täter dämonisiert und als die beängstigenden<br />
Monster wahrgenommen, die von vornherein zu gegenaggressiven,<br />
kontrollierenden oder machtdemonstrativen<br />
Attacken verleiten.<br />
Vielmehr erlebe ich im Umgang mit Frauen, die sexuelle<br />
Übergriffe auf Kinder begangen haben, auf der Helferebene<br />
häufig die Abspaltung des Täter-Anteils. Es<br />
taucht sehr schnell die Frage auf, ob die Frau wirklich<br />
von sich aus den Übergriff betrieben habe oder ob sie<br />
nicht hilfloses Werkzeug eines Mannes, des eigentlichen<br />
Täters, sei; oder ob sie nicht vielleicht aufgrund eigener<br />
kindlicher Missbrauchserfahrungen eigentlich keinen<br />
anderen Weg habe beschreiten können als das selbst<br />
Erlittene an den eigenen oder fremden Kindern zu rein-<br />
szenieren. Es entspricht den Tatsachen, dass Frauen häufig<br />
Übergriffshandlungen gemeinsam mit oder unter<br />
dem Druck eines männlichen Mittäters begehen und<br />
dass viele so genannte Täterinnen eigene kindliche Missbrauchserfahrungen<br />
haben. Aufgrund dieser Faktoren<br />
aber von vornherein die Verantwortung der missbrauchenden<br />
Frau in Frage zu stellen, verblüfft insofern, als<br />
bei männlichen Tätern solche Argumente kaum auftauchen<br />
bzw. nicht entschuldigend oder verantwortungsmindernd<br />
verwendet werden.<br />
In vielen Fällen wird auch in Zweifel gezogen, ob der<br />
vom Kind geschilderte Übergriff wirklich stattgefunden<br />
hat, ob das Vorgefallene als Übergriff zu bewerten ist<br />
bzw. ob sich der Übergriff schädigend auf das Kind auswirkt.<br />
Die Verleugnungsphänomene, die ansonsten bei<br />
den Tätern zu beobachten sind, tauchen hier plötzlich<br />
auf der Helferebene auf. Offenbar ist die Gleichzeitigkeit<br />
von Weiblichkeit und Täterschaft für die Psyche der<br />
BetrachterIn so unfassbar oder auch so unerträglich,<br />
dass sie in dieser Form nicht wahrgenommen werden<br />
darf. Zur Aufrechterhaltung des eigenen Weltbildes wird<br />
Missbrauch durch Frauen minimalisiert, als übertriebene<br />
Zuneigung umgedeutet, entschuldigt, partiell oder<br />
auch total verleugnet und ausgeblendet.<br />
Das Bild einer Täterin wird daher dahingehend zurechtgeschnitzt,<br />
dass es beinahe in das Opfer-Schema passt. Der<br />
missbrauchenden Frau wird jede Verantwortung für ihre<br />
Handlungen abgesprochen, die Übergriffshandlung wird<br />
bagatellisiert oder negiert, damit die Welt wieder in Ordnung<br />
ist. Wenn weibliche Täter im Glaubenssystem der<br />
Helferinnen keinen Platz haben, werden sie, um sichere<br />
Positionen nicht infrage stellen zu müssen, zu Opfern<br />
ihrer Geschichte oder ihrer männlichen Partner gemacht.<br />
Wenn es nicht mehr möglich ist, die Abspaltung des<br />
Täteranteils an einer Frau aufrecht zu halten oder die<br />
Verantwortung jemand anderem in die Schuhe zu schieben,<br />
kippt die Situation häufig. Die volle Wut und Enttäuschung<br />
entlädt sich auf die missbrauchende Frau,<br />
und sie wird dafür bestraft, dass sie unser Weltbild<br />
erschüttert hat.<br />
Abgesehen von der Gefahr, dass HelferInnen aufgrund<br />
dieses blinden Flecks kaum hilfreich für missbrauchende<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/05 27
KÖNIG ><br />
Frauen sein und in Fällen von Missbrauch durch Frauen<br />
nur schwer effizient intervenieren können, sehe ich massive<br />
Auswirkungen dieser gesellschaftlichen und helfermäßigen<br />
Verleugnung bzw. Verzerrung weiblicher Übergriffe<br />
auf betroffene Kinder. Nicht nur, dass es für so<br />
genannte Opfer weiblicher Täter ungleich schwieriger<br />
ist, Gehör und Glauben zu finden, wenn sie mit ihren<br />
Erfahrungen nach außen gehen, ist auch zu befürchten,<br />
dass sie sich selbst als noch verworfener erleben als die<br />
Opfer männlicher Täter, wenn sie in derartig abartige<br />
Handlungen involviert waren und sich möglicher Weise<br />
auch in höherem Maß schuldig fühlen. Da auch Kinder<br />
diese gesellschaftlichen Bilder internalisiert haben, wird<br />
die emotionale Verwirrung größer sein, wenn der Übergriff<br />
durch eine Frau erfolgt ist. Verstärkt wird diese Verwirrung<br />
noch, wenn die Missbraucherin eine nahe Bezugsperson<br />
ist und wenn das Kind bei der Aufdeckung<br />
erlebt, dass seine Angaben oder auch die möglichen<br />
negativen Auswirkungen des Übergriffs in Zweifel gezogen,<br />
bagatellisiert oder ignoriert werden. Aus diesem<br />
Bagatellisieren bzw. Ignorieren resultiert natürlich auch<br />
die Gefahr, dass Kinder den Übergriffen der Täterin<br />
weiterhin oder bald wieder ausgesetzt werden und keinen<br />
oder keinen längerfristigen Schutz bekommen.<br />
Die Tabuisierung von sexuellen Übergriffen durch Frauen<br />
geht so weit, dass sie offenbar sogar auf meinen Computer<br />
übergegriffen hat. Während das Rechtschreibprogramm<br />
den Terminus Missbraucher akzeptiert, zeigt es<br />
bei Missbraucherin immer wieder einen Fehler an.<br />
KINDLICHE ODER JUGENDLICHE <strong>TÄTER</strong><br />
Ich möchte nun auf sexuell aggressive Kinder und<br />
Jugendliche zu sprechen kommen. Die Problematik einer<br />
adäquaten Bezeichnung für Kinder und Jugendliche, die<br />
sexuelle Übergriffshandlungen an anderen Kindern oder<br />
Jugendlichen gesetzt haben, wurde ja bereits thematisiert.<br />
Zu Beginn möchte ich mich der Frage zuwenden, wo<br />
Kinder anfangen, so genannte „Täter“ zu sein, oder mit<br />
anderen Worten, wo die Grenze zwischen sexuellem<br />
Experimentieren, das zu einer normalen Sexualentwikklung<br />
gehört, und nicht mehr tolerablen Grenzverletzungen<br />
zu ziehen ist.<br />
In der Praxis erlebe ich immer wieder, dass sexuelle<br />
Interaktionen zwischen Kindern oder Jugendlichen<br />
voreilig als sexueller Missbrauch bezeichnet werden.<br />
Manche Erwachsenen werden durch die Konfrontation<br />
mit kindlicher Sexualität und durchaus altersadäquatem<br />
sexuellem Experimentieren von Kindern offenbar derartig<br />
vor den Kopf gestoßen und irritiert, dass sie sexuell<br />
übergriffiges Verhalten annehmen, auch wenn es um<br />
von allen Beteiligten akzeptierte und gewünschte Handlungen<br />
geht.<br />
Die Existenz und die Manifestation von kindlicher<br />
Sexualität (z. B. in Doktorspielen oder anderen Formen<br />
sexuellen Experimentierens) ist sichtlich nach wie vor<br />
nicht selbstverständlich und für manchen Erwachsenen<br />
in hohem Maß schockierend. Speziell Mädchen können<br />
offenbar nur schwer als aktiv Beteiligte wahrgenommen<br />
werden und werden in manchen Situationen fälschlicherweise<br />
zu Opfern ihrer männlichen Spielpartner<br />
gestempelt, damit der Betrachter seinen Mythos von<br />
asexueller, kindlicher Unschuld aufrecht erhalten kann.<br />
Dies wäre nicht weiter problematisch, würden nicht als<br />
Folge einer derartig verzerrten Wahrnehmung Kinder<br />
durch situationsinadäquate Reaktionen der jeweiligen<br />
Erwachsenen (Beschimpfen, Bestrafen...) verstört und<br />
als Missbrauchstäter stigmatisiert.<br />
Es stellt sich die Frage, warum die Wahrnehmung kindlicher<br />
Sexualität so aufregt, warum die Aufrechterhaltung<br />
des Mythos des unschuldigen Kindes von so großer<br />
Bedeutung ist. Möglicherweise geht es hier um die<br />
Abwehr eines verbotenen Begehrens, das man angesichts<br />
doktorspielender Kinder an sich entdecken könnte.<br />
Aber zurück zum Thema. Ich gehe davon aus, dass man<br />
von sexuellen Übergriffen durch Kinder oder Jugendliche<br />
nur sprechen kann, wenn ein anderes Kind in<br />
sexuelle Handlungen involviert wird, die seinen<br />
Wunsch, seine Bereitschaft oder auch seine mehr oder<br />
weniger klar deklarierten Grenzen überschreiten. Dabei<br />
finde ich es notwendig, dass die konkreten Vorfälle differenziert<br />
betrachtet und im Hinblick auf Art und Weise<br />
der Grenzverletzung, deren Massivität, auf mögliche<br />
Auswirkungen auf die Beteiligten und geeignete Interventionen<br />
klar voneinander abgegrenzt werden. Es hilft<br />
28 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/05
niemandem, wenn Kinder oder Jugendliche, die minimale<br />
Grenzverletzungen begangen haben, mit Jugendlichen<br />
mit ausgeprägten dissozialen, gewalttätigen Verhaltensweisen<br />
in einen Topf geworfen und unter dem<br />
Sammelbegriff „jugendliche Missbraucher“ subsumiert<br />
werden.<br />
Um die Problematik undifferenzierter Wahrnehmung<br />
von Grenzverletzungen aufzuzeigen, ein kleines Beispiel<br />
aus der Praxis:<br />
In einem Kindergarten wurde ernsthaft überlegt, einen<br />
7-jährigen Jungen bei der Polizei anzuzeigen, der<br />
JUNGEN, DIE DURCH SEXUELLE ÜBERGRIFFE<br />
AN ANDEREN KINDERN ODER JUGENDLICHEN<br />
AUFFALLEN, SIND HÄUFIG BEREITS VORHER IN<br />
ANDERER WEISE SOZIAL AUFFÄLLIG GEWOR-<br />
DEN. AM HÄUFIGSTEN WERDEN IN DIESEM<br />
ZUSAMMENHANG AGGRESSIVES, ANTI-SOZI-<br />
ALES VERHALTEN ODER AUCH VERSCHIEDENE<br />
FORMEN VON DELINQUENZ (SEXUELLE UND<br />
NICHTSEXUELLE DELIKTE) GENANNT.<br />
gemeinsam mit einem gleichaltrigen Freund drei 5-jährige<br />
Mädchen aufgefordert hatte, die Unterhose auszuziehen<br />
und ihm ihren nackten Po und ihre Scheide zu<br />
zeigen, anderenfalls werde er sie nicht aus dem Holzschiff,<br />
in dem sie gespielt hatten, herauslassen und sie<br />
müssten dort übernachten. Weiters wurde überlegt, ob<br />
nicht eine Fremdunterbringung indiziert sei, besonders<br />
deshalb, weil die 3 1/2-jährige Schwester des Jungen seit<br />
einigen Wochen besonderes Interesse an ihrem Genitale<br />
zeige, was als Indiz für Übergriffshandlungen des Jungen<br />
an ihr gewertet wurde. Der Junge wurde jedenfalls vom<br />
weiteren Besuch des Tagesheims ausgeschlossen.<br />
Es ist keine Frage, dass auch minimale Grenzverletzungen,<br />
wenn sie passieren, ernst genommen und unbedingt<br />
mit allen aktiv und passiv beteiligten Kindern besprochen<br />
werden sollen. Ich finde es aber höchst problematisch,<br />
wenn in diesem Zusammenhang z. B. Kinder im<br />
Kindergarten- bzw. Volksschulalter als Täter bezeichnet,<br />
stigmatisiert und mit Ausschluss vom weiteren Kindergarten-<br />
oder Schulbesuch bedroht werden und sogar<br />
polizeiliche Anzeigen überlegt werden, um den Anfängen<br />
zu wehren und ausreichende Maßnahmen gegen das<br />
aufkeimende Böse zu ergreifen. So sehr das Bedürfnis<br />
nach einer klaren Festlegung von Grenzen zwischen normaler<br />
und pathologischer (Sexual-)Entwicklung verständlich<br />
ist, so problematisch erscheint mir die vorschnelle<br />
Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen<br />
als potenzielle Lustmörder, Triebverbrecher oder Kinderschänder<br />
aufgrund durchaus<br />
berechtigt als problematisch<br />
eingestufter Verhaltensweisen.<br />
Ein differenzierter Blick auf die<br />
Gesamtpersönlichkeit des Kindes<br />
ohne skandalisierende oder<br />
spaltende Verzerrungen und<br />
gegebenenfalls ein rechtzeitiges<br />
adäquates therapeutisches Angebot<br />
ist jedenfalls ein geeigneteres<br />
Mittel, problematischen<br />
Entwicklungen von Kindern zu<br />
begegnen als Stigmatisierung,<br />
Skandalisierung oder Rufe nach<br />
der Polizei oder Justiz. Nicht jedes grenzverletzende Verhalten<br />
von Kindern oder Jugendlicher trägt das Potenzial<br />
einer Perversion in sich.<br />
Jungen, die durch sexuelle Übergriffe an anderen Kindern<br />
oder Jugendlichen auffallen, sind häufig bereits<br />
vorher in anderer Weise sozial auffällig geworden. Am<br />
häufigsten werden in diesem Zusammenhang aggressives,<br />
anti-soziales Verhalten oder auch verschiedene Formen<br />
von Delinquenz (sexuelle und nichtsexuelle Delikte)<br />
genannt. Oft stammen sie aus Familien, die durch<br />
Vernachlässigung, Gewalt und Instabilität gekennzeichnet<br />
sind. Als typische Persönlichkeitsmerkmale sexuell<br />
aggressiver Kinder und Jugendliche gelten unter anderem<br />
ein Mangel an sozialer Kompetenz, Selbstwertprobleme<br />
und ein unsicheres oder negatives Selbstbild. Der<br />
Hintergrund dieser Schwierigkeiten ist, dass diese<br />
Jugendlichen in ihrem sozialen Bezugssystem häufig<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/05 29
KÖNIG ><br />
nicht genug emotionale Sicherheit erfahren und nicht<br />
die notwendige Unterstützung zur Entwicklung eines<br />
stabilen Selbst bekommen haben. Weiters haben sie im<br />
Rahmen ihrer Sozialisation oft nicht gelernt, ihre<br />
Bedürfnisse nach Anerkennung sowie nach emotionaler,<br />
körperlicher und psychischer Nähe anzuerkennen, auszudrücken<br />
und in adäquater Weise zu befriedigen. Aufgrund<br />
dieser Faktoren haben sie häufig bereits lange<br />
bevor sie sexuell auffällig wurden mehr oder weniger<br />
massive Symptome entwickelt bzw. Verhaltensauffälligkeiten<br />
gezeigt und sind aufgrund dessen im Helfersystem<br />
bekannt.<br />
In diesem Zusammenhang werden sie von HelferInnen<br />
primär in ihren Defiziten und in ihrer Hilfsbedürftigkeit<br />
wahrgenommen. Auch wenn sie gegen diverse Regeln<br />
verstoßen, etwa in Form von<br />
kriminellen Handlungen, werden<br />
sie in erster Linie als in<br />
ihrer Entwicklung beeinträchtigte<br />
Kinder und Jugendliche<br />
gesehen. Im Fokus der Aufmerksamkeit<br />
stehen die Art und<br />
Weise ihrer Beeinträchtigung,<br />
die Rahmenbedingungen, die<br />
dazu beigetragen haben und verändert<br />
werden müssen und die<br />
Möglichkeiten, Veränderungsprozesse<br />
einzuleiten. Als Produkte<br />
oder auch Opfer ihrer problematischen Sozialisationsbedingungen<br />
können diese Kinder und Jugendlichen<br />
mit Verständnis, Mitleid, empathischem Umgang<br />
und Engagement seitens der befassten HelferInnen rechnen.<br />
Diese Haltung des Helfersystems kippt häufig mit dem<br />
Bekanntwerden einer Übergriffshandlung. Plötzlich<br />
geht es nicht mehr darum, adäquate Hilfsangebote für<br />
den Jugendlichen bereitzustellen. Es ist nicht mehr relevant,<br />
welche Faktoren zu seiner problematischen Entwicklung<br />
beigetragen haben und was er braucht, um seine<br />
Defizite auszugleichen und seine Schwierigkeiten zu<br />
überwinden. Im Vordergrund steht nun das Gefährdungspotenzial,<br />
das von ihm ausgeht, die Bedrohung für<br />
andere und die Frage, wie er ausreichend kontrolliert<br />
und an der Fortsetzung seiner schändlichen Taten gehindert<br />
werden kann. Die Tat rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit<br />
und ruft aufgeregte Reaktionen hervor. Es<br />
geht nicht mehr um die Person des Jugendlichen mit<br />
ihren bedürftigen Anteilen auf der einen und ihren problematischen<br />
Verhaltensweisen auf der anderen Seite.<br />
Unter dem Druck der Situation, in der die Emotionen<br />
hochgehen, ist es offenbar kaum möglich, eine Balance<br />
zu finden zwischen der Wahrnehmung der Probleme des<br />
Jugendlichen und der Wahrnehmung der Tat. Damit<br />
geraten auch die Zusammenhänge zwischen der problematischen<br />
Sozialisation und Persönlichkeit des jugendlichen<br />
Missbrauchers und der Manifestation seiner<br />
Schwierigkeiten in der Übergriffshandlung aus dem<br />
DAS VERSTÄNDNIS DER HELFER/INNEN KIPPT<br />
HÄUFIG MIT DEM BEKANNTWERDEN <strong>EINE</strong>R<br />
ÜBERGRIFFSHANDLUNG. IM VORDERGRUND<br />
STEHT NUN DAS GEFÄHRDUNGSPOTENZIAL,<br />
DAS VOM <strong>TÄTER</strong> AUSGEHT, DIE BEDROHUNG<br />
FÜR ANDERE UND DIE FRAGE, WIE ER AN DER<br />
FORTSETZUNG S<strong>EINE</strong>R SCHÄNDLICHEN TATEN<br />
GEHINDERT WERDEN KANN.<br />
Blick. Die Tat wird aus ihrem Zusammenhang gerissen,<br />
und dadurch wird sie unbegreiflich, unvorhersehbar und<br />
skandalös.<br />
Dieser Effekt bewirkt, dass angesichts der Übergriffshandlung<br />
auftretende Straf- oder Kontrollimpulse der<br />
HelferIn nun nicht mehr durch Empathie oder auch nur<br />
Verständnis für die Hintergründe der Übergriffshandlung<br />
abgefedert werden, was wildem Agieren Tür und<br />
Tor öffnet. Interventionen, die primär durch Straf-,<br />
Rache- oder Kontrollimpulse motiviert sind, werden der<br />
Problematik sexuell aggressiver Jugendlicher in keiner<br />
Weise gerecht. Allerdings wird es auf der Basis einer derartig<br />
verzerrten Wahrnehmung schwierig sein, ein realistisches<br />
Bild darüber zu entwickeln, was es wirklich<br />
30 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/05
aucht, der problematischen Entwicklung des Jugendlichen<br />
gegenzusteuern.<br />
ZUR ILLUSTRATION der obgenannten Mechanismen möchte<br />
ich ein Fallbeispiel schildern:<br />
Nach dem Bekanntwerden der Tatsache, dass Markus,<br />
noch nicht ganz zwölf Jahre alt, in den letzten sechs<br />
Monaten bei ca. neun anderen Buben aus seinem<br />
Gemeindebau zwischen neun und zwölf Jahren anale<br />
Penetration versucht hatte, bricht ein Sturm der Entrüstung<br />
los. Diverse Nachbarn, aber auch die Schule und<br />
über die Medien informierte Unbeteiligte fordern, Maßnahmen<br />
gegen die von dem Jungen ausgehende Bedrohung<br />
zu setzen. Die Empörung erreicht ihren Höhepunkt,<br />
als klar wird, dass aufgrund von Markus´ Alter<br />
strafrechtliche Interventionen nicht möglich sind, und<br />
dass auch das Jugendamt sich weigert, Taten zu setzen.<br />
Die geforderte Fremdunterbringung scheitert daran,<br />
dass alle Krisenzentren und Wohngemeinschaften sich<br />
weigern, einen derart gefährlichen Jugendlichen aufzunehmen.<br />
Desgleichen ist es auch erst nach Wochen möglich,<br />
für ihn einen neuen Schulplatz zu finden, nachdem<br />
er unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Übergriffe<br />
vom Schulbesuch suspendiert worden war. Das Jugendamt<br />
spaltet sich unter dem Druck der Situation in zwei<br />
Lager, die unterschiedliche Ziele verfolgen. Der eine Teil<br />
der SozialarbeiterInnen, unter ihnen einige zuständig<br />
für die Familien der Opfer von Markus, fordert rasche<br />
Maßnahmen zum Schutz aller Kinder in der entsprechenden<br />
Siedlung, wie z. B. ein Ausgeh-, Hof- und<br />
Spielplatzverbot für Markus, eine Fremdunterbringung<br />
und ein sofortiges Therapieangebot für den Jungen, das<br />
allerdings eher kontrollierenden, strafenden Charakter<br />
haben soll. Der andere Teil des Teams wünscht sich von<br />
uns Hilfe dabei, die eskalierende Situation in der Siedlung<br />
und in der Schule in den Griff zu bekommen.<br />
Außerdem wünscht es ein therapeutisches Angebot für<br />
Markus, verbunden mit einer Abklärung, wer den<br />
Buben missbraucht haben könnte (einige Verdächtige<br />
werden genannt).<br />
Auch für die Mutter, die seit Jahren als mit der Betreuung<br />
der beiden Söhne stark belastet und mit Alkoholab-<br />
usus und psychischen Problemen kämpfend erlebt wird,<br />
wird ein Unterstützungsangebot gewünscht. Auch von<br />
dieser Seite wird eine Fremdunterbringung des Buben<br />
angedacht, allerdings angeblich, um ihn vor den wütenden<br />
Reaktionen einiger Nachbarn und auch vor den<br />
invasiven Methoden diverser Medienvertreter zu schützen.<br />
Aus der Vorgeschichte ist bekannt, dass Markus<br />
seit Jahren in der Schule durch Leistungsprobleme,<br />
Schwierigkeiten im sozialen Bereich (Isolation bzw.<br />
Anbiederung bei anderen Kindern), punktuelle Aggressionsausbrüche<br />
und fallweises Einkoten auffällt. Sowohl<br />
seitens der Schule als auch des Jugendamts wurde dafür<br />
die familiäre Situation verantwortlich gemacht und versucht,<br />
entsprechende Unterstützung zu bieten.<br />
Auf der Helferebene zeigen sich diverse Mechanismen,<br />
mit der offenbar sehr belastenden Konfrontation mit<br />
den Handlungen des jugendlichen Täters klar zu kommen,<br />
angefangen von Dämonisierung, Ausagieren von<br />
Ängsten, Straf- und Kontrollimpulsen, Wegsperrtendenzen,<br />
über Abspaltung seines Täter-Anteils, Etikettenschwindel<br />
(Therapie als Strafe, als getarnte Ermittlung),<br />
Verleugnung von Berührungsängsten (Separationswünsche<br />
werden als Rettungs- oder Hilfsangebote verkauft)<br />
bis zu dem klar deklarierten Wunsch, den belastenden<br />
Fall schnell loszuwerden. Ein Zusammenhang zwischen<br />
den aus der Vorgeschichte bekannten Auffälligkeiten<br />
und den Übergriffshandlungen wird nicht hergestellt. Es<br />
wird auch in keiner Weise hinterfragt, ob es in jedem<br />
der genannten Vorfälle wirklich um Übergriffshandlungen<br />
durch Markus geht, was insofern bemerkenswert ist,<br />
als mehrere angebliche Opfer älter und größer sind als er<br />
und zu Beginn angegeben haben, sie hätten sich wiederholt<br />
mit ihm getroffen, um Porno-Videos anzuschauen<br />
und weitere Experimente durchzuführen. Die klare<br />
Abgrenzung von Markus als identifiziertem Täter und<br />
den anderen Jungen als deklarierte Opfer scheint jedenfalls<br />
von enormer Bedeutung zu sein, um die heftige,<br />
ausufernde Dynamik dieses Falles aushalten zu können.<br />
ES STELLT SICH DIE FRAGE, was der Hintergrund dieser<br />
plötzlich veränderten Wahrnehmung des Jugendlichen<br />
angesichts seiner Übergriffshandlung ist, warum ein<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/05 31
KÖNIG ><br />
kindlicher oder jugendlicher Täter mit dem Bekanntwerden<br />
der Tat auf seine Täterschaft reduziert wird und das<br />
Wissen um seine persönliche Problematik, die mögliche<br />
Genese seiner Handlungen völlig aus dem Blick gerät.<br />
Ich denke, dass mehrere Faktoren an diesem Kippen<br />
eines vorher empathischen, reflektierten Umgangs beteiligt<br />
sind:<br />
<strong>–</strong> Ein Faktor ist sicher unser Bild von Kindheit oder<br />
Jugend, das von Mythen über Unschuld und Reinheit<br />
geprägt ist und mit Sexualität an sich und mit<br />
missbräuchlicher Sexualität im Besonderen kaum<br />
kompatibel ist. Der jugendliche Täter bricht ein<br />
Tabu, er konfrontiert uns mit etwas Unerwartetem,<br />
Unfassbarem. Ebenso wie weibliche Täter stellt er<br />
unser Glaubenssystem in Frage, was Bestrafungstendenzen<br />
nahe legt.<br />
<strong>–</strong> Zum anderen sind Reaktionen von Helfern oft eher<br />
verständlich, wenn man sie vor dem Hintergrund der<br />
Enttäuschung sieht, dass der jugendliche Klient, für<br />
den sie so viel getan haben, den sie vor Gott und der<br />
Welt geschützt haben und den sie angesichts seines<br />
defizitären Herkunftssystems möglicherweise ein bisschen<br />
adoptiert haben, jetzt so schreckliche Dinge tut<br />
und sich als undankbar hinsichtlich ihrer helferischen<br />
oder mütterlich-väterlichen Bemühungen erweist.<br />
<strong>–</strong> Eine zentrale Schwierigkeit ist sicher die vermeintliche<br />
Unvereinbarkeit von (Hilfs-)Bedürftigkeit und<br />
aggressiver Sexualität, von Opfer- und Täterschaft in<br />
den Augen der HelferIn. Durch das Bekanntwerden<br />
seiner Übergriffshandlung wird der Jugendliche zum<br />
so genannten Täter. Seine Täterschaft macht es<br />
schwer, ihn auch als Opfer - und zwar als Opfer seiner<br />
Sozialisation, als Opfer von früher erlittener<br />
Gewalt etc. - und damit als legitimierten Adressaten<br />
von Hilfe zu begreifen. Offenbar wird der jugendliche<br />
Täter mit Bekanntwerden der Missbrauchshandlung<br />
nicht mehr klar von einem erwachsenen Täter<br />
unterschieden, und es zeigen sich bei den befassten<br />
HelferInnen ähnliche Affekte und Impulse wie bei<br />
der Konfrontation mit den Taten erwachsener Täter.<br />
Wenn wir die vorher beschriebenen Bilder über<br />
männliche Missbraucher betrachten ist klar, dass darin<br />
der schwache, hilfsbedürftige Anteil abgespalten<br />
wird. Die Spaltung hat die Funktion, das helferische<br />
Selbst zu schützen. Es geht um die Wahrung einer<br />
sicheren Distanz und um die Abwehr verschiedener<br />
Ängste <strong>–</strong> vor allem der Angst vor zu viel Nähe, vor zu<br />
viel Sympathie und Verständnis und die Angst, von<br />
außen nicht mehr als klar vom Täter abgegrenzt gesehen<br />
und stellvertretend für ihn geprügelt zu werden;<br />
die Angst davor, sich selbst und eigene Anteile im<br />
Täter wiederzufinden, zu entdecken, dass viele seiner<br />
Konflikte, Wünsche und Schwierigkeiten nicht so<br />
weit von unseren entfernt sind. Diese Ängste auszuhalten<br />
und dabei noch kühlen Kopf zu bewahren,<br />
eine professionelle Haltung aufrecht zu erhalten und<br />
dem jugendlichen Missbraucher mit der vorher vorhandenen<br />
Empathie zu begegnen überfordert offenbar<br />
die Psyche der HelferIn.<br />
Diese Ängste bewusst zu machen und als Triebfeder<br />
eines spaltenden Umgangs auszuschalten wäre die Basis,<br />
Menschen, die sexuelle Übergriffshandlungen gesetzt<br />
haben, in ihrer Gesamtpersönlichkeit wahrnehmen zu<br />
können und weder die grenzüberschreitenden noch die<br />
bedürftigen Anteile ausblenden zu müssen.<br />
Dann wäre es möglich, missbrauchende Jugendliche<br />
zum einen ausreichend mit ihren Taten zu konfrontieren<br />
und ihnen klare Grenzen vorzugeben und andererseits<br />
die ihren Schwierigkeiten und Defiziten angemessene<br />
Hilfe zu bieten. Ein solcher Zugang könnte es dem<br />
Jugendlichen langfristig ermöglichen, mit entsprechender<br />
Unterstützung selbst einen Zusammenhang zwischen<br />
seiner Geschichte und Persönlichkeit und seinen<br />
Übergriffshandlungen herzustellen, seine Konflikte und<br />
Schwierigkeiten nicht mehr blind in grenzverletzendem<br />
Verhalten auszuagieren sondern reflektiertere, reifere<br />
Formen des Umgangs mit seinen persönlichen Problemen<br />
zu entwickeln.<br />
ZUSAMMENFASSUNG<br />
Ich denke, dass Achtsamkeit bezüglich diverser Abwehrmechanismen<br />
und entsprechende Reflexion derselben<br />
der Ausweg aus der Falle eines spaltenden, polarisierenden<br />
oder auch skandalisierenden Umgangs mit Men-<br />
32 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/05
schen im Zusammenhang mit sexueller Gewalt sein<br />
kann. Nur wenn die verschiedenen Abwehrformen<br />
wahrgenommen und dem Bewusstsein zugänglich<br />
gemacht werden können, ist es möglich, sich ihrem Sog<br />
zu entziehen und sie letztlich aufzulösen. Ich denke, es<br />
ist in den vorangegangenen Überlegungen ausreichend<br />
klar geworden, dass ein spaltender Umgang mit Fällen<br />
von sexueller Gewalt gegen Kinder bzw. mit betroffenen<br />
Kindern, missbrauchenden Erwachsenen und auch<br />
grenzverletzenden Jungen nicht der Böswilligkeit der<br />
HelferIn entspringt, sondern einen Schutz vor psychischer<br />
Überforderung darstellt.<br />
Daher stellt sich die Frage, was hilfreich sein könnte,<br />
dieser Überforderung gegenzusteuern und damit die<br />
Schutzfunktion der Abwehr obsolet zu machen <strong>–</strong> oder<br />
ICH DENKE, DASS ACHTSAMKEIT BEZÜGLICH DIVERSER<br />
ABWEHRMECHANISMEN UND REFLEXION DERSELBEN<br />
DER AUSWEG AUS DER FALLE <strong>EINE</strong>S SPALTENDEN,<br />
POLARISIERENDEN ODER AUCH SKANDALISIERENDEN<br />
UMGANGS MIT MENSCHEN IM ZUSAMMENHANG MIT<br />
SEXUELLER GEWALT SEIN KANN.<br />
konkreter, welche Formen von Unterstützung die HelferIn<br />
braucht, um die erforderliche Reflexionsarbeit leisten<br />
zu können und sich den abgespaltenen Anteilen in<br />
der Person der Klienten und in der eigenen Psyche annähern<br />
zu können bzw. was helfen könnte, im Vorfeld die<br />
Gefahr von emotionaler Überforderung und damit die<br />
Notwendigkeit der Mobilisierung von Abwehrmechanismen<br />
zu minimieren.<br />
<strong>–</strong> Zum einen denke ich, dass es wichtig ist, sich immer<br />
wieder vor Augen zu halten, wie schwer und belastend<br />
die Arbeit in diesem Problembereich sein kann<br />
und wie leicht im Zusammenhang mit einer Missbrauchsdynamik<br />
eigene Grenzen (hier die Grenzen<br />
der persönlichen Belastbarkeit) verletzt werden können.<br />
Die oben beschriebenen Formen der Abwehr<br />
sind ja als Schutzmechanismen zu verstehen, die eine<br />
Überforderung der eigenen Psyche verhindern sollen.<br />
Im Bewusstsein dieser Tatsache halte ich es für unverzichtbar,<br />
Formen der Unterstützung, im Rahmen<br />
derer die Reflexion falldynamischer, teamdynamischer<br />
und eigener psychodynamischer Prozesse<br />
ermöglicht wird, für in diesem Bereich tätige HelferInnen<br />
einzufordern. Diese Forderung richtet sich<br />
sowohl an die Träger aller Einrichtungen, die auf diesem<br />
Feld tätig sind, als auch an die einzelne HelferIn,<br />
die eigenverantwortlich dafür Sorge tragen muss, sich<br />
die Bedingungen für ein effektives Arbeiten mit von<br />
sexueller Gewalt Betroffenen, deren sozialem Umfeld<br />
oder auch mit Menschen, die sexuelle Übergriffshandlungen<br />
gesetzt haben, zu schaffen, die sie<br />
braucht. Was diese Bedingungen alles umfassen, wird<br />
individuell sehr verschieden sein und ein hohes Maß<br />
an Aufmerksamkeit<br />
für die eigene<br />
Psychodynamik<br />
und an<br />
Reflexionsbereitschaft<br />
erfordern.<br />
Im Sinn<br />
einer reflektierten<br />
Betrachtung<br />
der eigenen Rolle<br />
würde ich dafür plädieren, die Verantwortung für<br />
die eigenen beruflichen Ressourcen und Rahmenbedingungen<br />
selbst in die Hand zu nehmen und nicht<br />
in einer Art Identifikation mit einem großen Teil<br />
unserer Klientel in eine hilflose „Opferrolle“ zu<br />
flüchten und zu beklagen, dass niemand sich für die<br />
eigenen Bedürfnisse zuständig fühlt. Ebenso wie für<br />
die Klientinnen ist hier persönliches Empowerment<br />
und Emanzipation die Devise und das Ziel.<br />
<strong>–</strong> Für einen weiteren wichtigen Aspekt halte ich einen<br />
disziplinierten Umgang mit der Sprache. Meiner<br />
Meinung nach hat es einen Einfluss auf die eigene<br />
Haltung gegenüber KlientInnen, ob ich sie als Opfer,<br />
Überlebende, Betroffene oder eine Person bezeichne,<br />
die sexuelle Übergriffe erlebt hat. Ebenso macht es<br />
einen entscheidenden Unterschied, von Sexualstraftätern,<br />
Missbrauchern, Triebverbrechern oder Men-<br />
SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/05 33
KÖNIG ><br />
AMBULANTE<br />
SYSTEMISCHE THERAPIE<br />
Im Rahmen unserer in den Lehrbetrieb integrierten<br />
Beratungsstelle stehen ab Herbst wieder kostengünstige<br />
Therapieplätze zur Verfügung. Wir bitten<br />
bei Überweisung um telefonische Voranmeldung in<br />
der la:sf..<br />
schen zu sprechen, die sexuelle Übergriffshandlungen<br />
gesetzt haben. Abgesehen von den Auswirkungen von<br />
solchen „Labels“ im direkten KlientInnenkontakt<br />
bzw. in diversen HelferInnenzirkeln denke ich, dass<br />
bereits an diesem Punkt entscheidende Weichen<br />
gestellt werden, mit wie viel Offenheit an einen Fall<br />
herangegangen werden kann. Je wertfreier die<br />
Bezeichnungen der involvierten Personen und Sachverhalte,<br />
desto größer können die Spielräume im<br />
Hinblick auf eine oft ohnehin schon sehr mitreißende<br />
Fall- und Helferdynamik sein und umso eher<br />
kann es gelingen, in einer emotional sehr aufgeladenen<br />
Situation einen kühlen Kopf und einen Blick für<br />
das Wesentliche zu bewahren.<br />
<strong>–</strong> Als letzten Punkt möchte ich die Forderung erheben,<br />
dass Menschen, die mit Problemen arbeiten, die die<br />
„Abgründe des Menschseins“ berühren, sich hinreichend<br />
mit den Abgründen der eigenen Geschichte und<br />
der eigenen Persönlichkeit auseinander gesetzt haben.<br />
Eine entsprechende Selbsterfahrung schützt zwar keineswegs<br />
vor heftigen Affekten im Zusammenhang mit<br />
Gewaltfällen, hilft aber möglicherweise, sie nicht auszuagieren,<br />
sondern einer gezielten Reflexion zugänglich<br />
zu machen. Das Kennen und Annehmen der eigenen<br />
Abgründe, dunklen und wenig geliebten Anteile ist<br />
meiner Meinung nach der einzige Weg, diese nicht<br />
abzuspalten oder in KlientInnen bzw. Mit-HelferInnen<br />
zu bekämpfen, sollten sie daran rühren.<br />
Ich wünsche mir, dass diese Ausführungen ein Anstoß<br />
sind, in manchen Situationen ein spaltendes „Entweder-<br />
Oder“ zugunsten eines integrierenden „Sowohl-als<br />
auch“ aufgeben zu können und auf die Krücke der Spaltung<br />
oder anderer hilfreicher Mittel zur Komplexitätsreduktion<br />
im Kontext „Sexuelle Gewalt gegen Kinder“<br />
weniger zurückgreifen zu müssen.<br />
GERTRUDE KÖNIG<br />
ist Sozialarbeiterin, Psychotherapeutin,<br />
Mitarbeiterin des Kinderschutzzentrums Wien<br />
mail: gertrude.koenig@kinderschutz-wien.at<br />
UNSER ANGEBOT<br />
Wir PsychotherapeutInnen versuchen mittels<br />
einer ressourcen- und lösungsorientierten Haltung<br />
und Methode mit Ihnen gemeinsam Probleme<br />
aufzulösen, damit Sie (wieder) neue Lebensperspektiven<br />
entdecken und entwickeln und förderliche<br />
Beziehungen erleben und gestalten können.<br />
Die psychotherapeutischen Gespräche finden <strong>–</strong> je<br />
nach Erfordernis <strong>–</strong> mit Einzelpersonen, Paaren<br />
oder (Teil-)Familien statt.<br />
Ein Unkostenbeitrag von € 22,- pro Therapieeinheit<br />
wird erbeten <strong>–</strong> Refundierung über die Krankenkasse<br />
ist möglich.<br />
Vertraulichkeit und <strong>–</strong> nach Wunsch <strong>–</strong> Anonymität<br />
werden gewährleistet.<br />
WIR SUCHEN GEMEINSAM LÖSUNGEN<br />
■ bei Partnerschaftsproblemen<br />
■ bei Lebenskrisen (Verlust, Trennung, Geburt, ...)<br />
■ bei psychischen und psychosomatischen Beschwerden<br />
■ bei Erziehungsschwierigkeiten<br />
■ bei Konfliktsituationen (im privaten, familiären<br />
und beruflichen Umfeld)<br />
UNSERE THERAPEUT/INNEN<br />
HELGA TUCHACEK<br />
Psychotherapeutin<br />
SUSANNE KLINGAN<br />
Psychotherapeutin<br />
KONRAD GROSSMANN<br />
Psychotherapeut<br />
UNSERE THERAPIEZEITEN<br />
Dienstag und Donnerstag 15.30<strong>–</strong>21 Uhr<br />
Mittwoch 13<strong>–</strong>19 Uhr<br />
Telefonische Voranmeldung<br />
erforderlich<br />
AMBULANTE<br />
SYSTEMISCHE THERAPIE<br />
A-1130 Wien, Trauttmansdorffgasse 3A<br />
Tel.: +43-1 478 63 00, Fax: +43-1 478 63 00-63<br />
E-Mail: office@la-sf.at, www.la-sf.at<br />
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