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Heiko Kleve Der Horoskop-Effekt Systemischer Skulptur

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<strong>Heiko</strong> <strong>Kleve</strong><br />

<strong>Der</strong> <strong>Horoskop</strong>-<strong>Effekt</strong> systemischer <strong>Skulptur</strong>- und Aufstellungsarbeit<br />

Wer hat nicht schon einmal aus skeptischer, aber interessierter und offener Neugierde in einer<br />

Zeitung das aktuelle <strong>Horoskop</strong> für sein Sternzeichen gelesen und musste dann mit Erstaunen<br />

feststellen, dass es ja tatsächlich auf seine derzeitige Situation zutrifft? Im Folgenden vertrete<br />

ich die These, dass systemische <strong>Skulptur</strong>en und Aufstellungen genauso wirken wie<br />

<strong>Horoskop</strong>e: wenn ich sie mit interessierter Offenheit und Neugierde auf mich wirken lasse,<br />

werden sie mir mit Sicherheit etwas Sinnvolles über mein Leben, meine derzeitige<br />

Problemsituation und auch über mögliche Auswege aus den derzeitigen Schwierigkeiten<br />

sagen können.<br />

Ich will damit eine Antwort auf eine Frage zu geben versuchen, die sich viele verblüffte<br />

Teilnehmerinnen und Teilnehmer von familientherapeutischen Veranstaltungen stellen, wenn<br />

sie merken, dass die mit in der Regel fremden Personen aufgestellten Familienskulpturen<br />

etwas Sinnvolles und Passendes über sie aussagen: Wie kann das denn sein? Das kann sein, so<br />

meine Antwort, weil hier der <strong>Horoskop</strong>-<strong>Effekt</strong> wirkt.<br />

Wir benötigen für diese Erfahrungen mit <strong>Skulptur</strong>en und Aufstellungen nicht die Erklärung<br />

der großen Familienseele, die uns Bert Hellinger gibt, mit der alle verstorbenen und lebenden<br />

Familienmitglieder in Verbindung stehen würden und die auch Einfluss habe auf<br />

Aufstellungen und <strong>Skulptur</strong>en mit fremden Personen, die vom Klienten zur Aufstellung seiner<br />

Familie ausgesucht werden. Des Rätsels Lösung muss nicht spirituell sein, sondern könnte<br />

genauso gut etwas zu tun haben mit drei Voraussetzungen, die ich etwas ausführlicher<br />

erläutern will: (1) mit der Konstruktion und Unabschließbarkeit von Sinn und von<br />

Sinnverstehen, (2) mit der Beziehung des Klienten zum Therapeuten und schließlich (3) mit<br />

der Bereitschaft des Klienten, die Aussagen der teilnehmenden Personen im Rahmen seiner<br />

Familiensituation zu deuten.<br />

(1) Die Konstruktion und Unabschließbarkeit von Sinn und Sinnverstehen: Die klassische<br />

Lehre vom Verstehen, die Hermeneutik, geht davon aus, dass Verstehen wie das Übergeben<br />

von Botschaften abläuft, die abschließend, also ein für alle mal richtig gedeutet werden<br />

können. 1 Wenn wir uns den Begriff Hermeneutik anschauen, denn können wir bemerken, dass<br />

diese beiden Bedeutungen, die Botschaftsübergabe und die Abschließbarkeit der Botschaft im<br />

Begriff selbst enthalten sind. Zum einen können wir das Wort Hermeneutik auf Hermes, auf<br />

den Götterboten aus der griechischen Mythologie zurück führen; und zum anderen lässt sich<br />

Hermeneutik auch mit etwas in Verbindung bringen, das hermetisch, also abgeschlossen ist.<br />

Diese Auffassung von Hermeneutik als ein Sinnverstehen, das abschließbare Botschaften<br />

ernten will, löst sich spätestens mit der postmodernen Hermeneutik(kritik) Jacques <strong>Der</strong>ridas<br />

1 Vgl. Jochen Hörisch (1998): Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik. Frankfurt/M.: Suhrkamp.


2<br />

auf. Mit <strong>Der</strong>rida können wir sagen, dass Hermeneutik der Form der différance entspricht. 2<br />

Demnach ist Sinnverstehen ein permanentes Neuarrangieren von Unterschieden, und zwar in<br />

sozialer, zeitlicher und sachlicher Hinsicht. Verstehen ist in einem steten Fluss. Und wir<br />

wissen nicht nur aus den asiatischen Weisheitslehren, sondern auch von Heraklit, einem alten<br />

Griechen, dass wir in den selben Fluss niemals zweimal steigen können. Sinnverstehen ist<br />

davon abhängig, wer versteht (Sozialdimension), wann verstanden wird (Zeitdimension) und<br />

was in welchem Kontext verstanden wird (Sachdimension). Das Selbe (z.B. ein Buch, ein<br />

Wort etc.) kann daher – in Abhängigkeit von den verstehenden Personen, der Zeit und dem<br />

Verstehenskontext – immer wieder anders verstanden werden, so dass es genau genommen<br />

niemals das Selbe bleibt, sondern höchstens noch das Gleiche bleiben kann.<br />

Endgültiges Verstehen muss auf eine niemals erreichbare Zukunft hin aufgeschoben werden,<br />

bleibt also unmöglich. Wie der Horizont, der sich verschiebt, wenn wir ihn erreichen wollen,<br />

verschiebt sich das Verstehen in Richtung neuer Möglichkeiten, wenn wir es abschließen<br />

wollen. Verstehen ist möglich, aber immer nur unter der Prämisse der Kontingenz, d.h. dass es<br />

in Relation zu den Personen, die verstehen wollen, zu den Zeiten, in denen verstanden wird<br />

und zu den Verstehenskontexten und -motiven immer auch anders möglich wäre.<br />

Wenn wir dies konstatieren, annehmen und voraussetzen können, dann hängt Verstehen mehr<br />

mit denjenigen zusammen, die verstehen wollen, als mit dem Sachverhalt, der verstanden<br />

werden soll. Mit einer etwas technischeren Formulierung könnten wir auch sagen: Verstehen<br />

wird vom Empfänger und nicht vom Sender und schon gar nicht vom Referenten (vom<br />

„Objekt“ des Verstehens) bestimmt. Verstehen ist ein Akt der Selbstreferenz.<br />

Wenn wir dies wissen, dann wird schon verständlicher, warum <strong>Horoskop</strong>e „Wahrheiten“ über<br />

uns sagen können: Denn wir sind selbst die Konstrukteure dieser „Wahrheiten“. Wir benutzen<br />

das <strong>Horoskop</strong> als ein Medium, in das wir unsere Bedeutungen hinein schreiben. Als ein<br />

solches Medium, in das die Klienten ihre Bedeutungen hinein schreiben, hinein interpretieren,<br />

hinein tragen, hinein imaginieren, sehe ich auch systemische <strong>Skulptur</strong>en und<br />

Familienaufstellungen.<br />

(2) Therapeut-Klient-Beziehung: Damit der Klient für ihn sinnvolle Bedeutungen mit Hilfe<br />

des Mediums <strong>Skulptur</strong> oder Aufstellung konstruieren kann, muss zweifellos eine<br />

Grundvoraussetzung jeder therapeutischen und sozialarbeiterischen Beziehung erfüllt sein:<br />

die Beziehung zwischen Therapeut und Klient muss erstens von Sympathie, Offenheit und<br />

Akzeptanz sowie zweitens von Komplementarität gekennzeichnet sein.<br />

In diesem Zusammenhang klingt nicht nur Carl Rogers an, sondern kommt auch zweierlei<br />

zum Tragen, was wir bei Paul Watzlawick nachlesen können: zum einen, was mit der<br />

Unterscheidung von kommunikativen Beziehungs- und Inhaltsaspekten markiert und zum<br />

2 Vgl. Jacques <strong>Der</strong>rida (1988): Die différance, in: Engelmann, P. (Hrsg.): Postmoderne und Dekonstruktion.<br />

Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart: Reclam: S. 76-113.


3<br />

anderen, was als komplementäre Kommunikation bezeichnet werden kann. 3 Wir können<br />

demnach davon ausgehen, dass die Art und Weise, die Qualität der Beziehung der<br />

Kommunikationsteilnehmer zueinander bestimmt, ob und wie die Inhalte der<br />

Kommunikationen angenommen, ja gedeutet, interpretiert, kurz: verstanden werden können.<br />

Wenn die Beziehung von Sympathie, Offenheit und Akzeptanz gekennzeichnet ist, dann<br />

erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der Annahme der Kommunikationsangebote, es kommt zu<br />

wechselseitigen Bestätigungen der jeweiligen Kommunikationsinhalte, was wiederum zurück<br />

wirkt auf die Gestaltung der Beziehung; der sympathische, offene, akzeptierende Charakter<br />

der Beziehung kann bestätigt, bestärkt, weiter ausgebaut werden. Und ein Zweites kommt<br />

hinzu: Wenn neben den zuerst genannten Bedingungen die Beziehung von Klient und<br />

Therapeut von Komplementarität, also von der Annahme des Rollenunterschieds Laie<br />

(Klient) und Experte (Therapeut) gekennzeichnet ist, dann sind alle Türen geöffnet, damit der<br />

Klient das, was der Therapeut und die anderen „Mitspieler“ der <strong>Skulptur</strong> oder Aufstellung<br />

sagen, so verstehen kann, dass es etwas aussagt über sein Familienleben, seine Probleme und<br />

über eventuelle Auswege aus diesen.<br />

(3) Deutung der Therapeuten- und Beteiligten-Aussagen im Kontext der Familien- und<br />

Problemsituation: Schließlich ist es vielleicht fast überflüssig zu betonen, dass das<br />

erfolgreiche Verstehen der Ergebnisse der <strong>Skulptur</strong>- und Aufstellungsarbeit durch den<br />

Klienten von der Bereitschaft desselben abhängt, die Aussagen des Therapeuten und der<br />

anderen beteiligten Personen innerhalb des Rahmens, des Kontextes seiner eigenen Familienbzw.<br />

Problemsituation zu deuten. Wenn der Klient von vornherein oder im Laufe der<br />

therapeutischen Arbeit erwartet, dass ihm durch die <strong>Skulptur</strong> oder Aufstellung etwas<br />

Relevantes über sein Familienleben gesagt werden kann, dann erhöht sich die<br />

Wahrscheinlichkeit, dass er auch etwas hören, verstehen wird, das von ihm genau so gesehen<br />

werden kann. Auf der anderen Seite heißt das dann aber auch, dass Personen, die dieser<br />

Methode äußerst skeptisch gegenüberstehen, sie etwa nicht ernst nehmen können, sie<br />

innerlich vielleicht völlig ablehnen, aller Wahrscheinlichkeit nach kein oder kaum Verstehen<br />

aufbringen können, um die Aussagen der Teilnehmer so zu deuten, dass sie passend sind, um<br />

die Familien- oder Problemsituation konstruktiv anzugehen.<br />

Wenn es aber erst einmal erreicht wurde, dass der Klient seinen eigen Familien- oder<br />

Problemkontext in der <strong>Skulptur</strong> wieder erkennt, besser: dort hinein versteht, hinein<br />

interpretiert, dann ist das Medium <strong>Skulptur</strong> eine wunderbare und äußerst hilfreiche<br />

Möglichkeit, um Familien- oder Problemsituationen zu modellieren. Die besondere<br />

Brauchbarkeit der <strong>Skulptur</strong>arbeit kommt vor allem dadurch zum Tragen, dass etwas durch<br />

gefühlsbegabte Menschen, die lachen, weinen und wüten können, simuliert werden kann, was<br />

sonst gemeinhin lediglich sprachlich konstruiert wird: ein konkretes Familienleben mit seinen<br />

Problemen und Ressourcen. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit des Eintretens einer<br />

3 Paul Watzlawick u.a. (1969): Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern: Huber.


4<br />

wichtigen Voraussetzung für erfolgreiche Therapien und Beratungen, dass nämlich<br />

gefühlsbesetzte und gefühlsinduzierende Erfahrensräume entstehen, innerhalb derer Klienten<br />

an ihrem Erleben, genauer: an ihrem Fühlen, Denken und Verstehen „arbeiten“ können.

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