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Das politische Denken von John Taylor of Caroline - Universität St ...

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<strong>Das</strong> <strong>politische</strong> <strong>Denken</strong> <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> (1753-1824)<br />

- Republikanismus, Föderalismus und Marktgesellschaft<br />

in den frühen Vereinigten <strong>St</strong>aaten <strong>von</strong> Amerika<br />

DISSERTATION<br />

der <strong>Universität</strong> <strong>St</strong>. Gallen<br />

Hochschule für Wirtschafts-,<br />

Rechts- und Sozialwissenschaften (HSG)<br />

zur Erlangung der Würde eines<br />

Doktors der <strong>St</strong>aatswissenschaften<br />

vorgelegt <strong>von</strong><br />

Christopher Rühle<br />

aus<br />

Deutschland<br />

Genehmigt auf Antrag der Herren<br />

Pr<strong>of</strong>. Dr.Dr. Roland Kley<br />

und<br />

Pr<strong>of</strong>. Dr. Alois Riklin<br />

Dissertation Nr. 3309<br />

Gutenberg Druck, Schaan 2007


Die <strong>Universität</strong> <strong>St</strong>. Gallen, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften (HSG),<br />

gestattet hiermit die Drucklegung der vorliegenden Dissertation, ohne damit zu den darin ausgesprochenen<br />

Anschauungen <strong>St</strong>ellung zu nehmen.<br />

<strong>St</strong>. Gallen, den 22. Januar 2007<br />

Der Rektor:<br />

Pr<strong>of</strong>. Ernst Mohr, PhD


DANK<br />

Die vorliegende Doktorarbeit entstand in den Jahren 2002-2007. Sie ist zu einem grossen Teil das Resultat<br />

eines siebenmonatigen Forschungsaufenthaltes in Charlottesville, Virginia. Ich danke dem<br />

Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung für die finanzielle<br />

Unterstützung, die mir meinen Forschungsaufenthalt in den Vereinigten <strong>St</strong>aaten ermöglicht hat.<br />

Während der Planung und Ausarbeitung dieser Dissertation kam mir <strong>von</strong> verschiedener Seite fachliche<br />

Unterstützung zu. Mein Doktorvater Pr<strong>of</strong>. Dr. Dr. Roland Kley gewährte mir grosse Freiheiten, hat<br />

aber durch die zahlreichen Diskussionen, die daraus resultierenden Anregungen und seine wertvollen<br />

inhaltlichen und strukturellen Verbesserungsvorschläge die vorliegende Arbeit massgeblich mitgeprägt.<br />

Pr<strong>of</strong>. Dr. Alois Riklin, der sich spontan bereit erklärte, das Koreferat zu übernehmen, hat mich auf das<br />

<strong>politische</strong> <strong>Denken</strong> <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> aufmerksam gemacht, diese Arbeit angeregt und konstruktiv<br />

gefördert. Beiden Herren möchte ich aufrichtig danken! Ebenfalls herzlich danken möchte ich<br />

Pr<strong>of</strong>. Dr. Philippe Mastronardi für die äusserst lehrreiche und menschlich wertvolle Zeit, die ich bei<br />

ihm als Assistent am Lehrstuhl für öffentliches Recht an der <strong>Universität</strong> <strong>St</strong>.Gallen verbringen durfte.<br />

Ein Dankeschön geht auch an Dr. Andreas Künzle und Denis Taubert, die mit ihrer kritischen Lektüre<br />

zu dieser Arbeit beigetragen haben. Dr. Ralph Weber, Dr. Beat Habegger und Roland Portmann vom<br />

Institut für Politikwissenschaft an der <strong>Universität</strong> <strong>St</strong>.Gallen danke ich für Ihre Diskussionsbereitschaft<br />

und Unterstützung, Katrin Thalmann für die Übernahme des Lektorats <strong>von</strong> verschiedenen Kapiteln. In<br />

Charlottesville durfte ich auf die wissenschaftliche Betreuung <strong>von</strong> Pr<strong>of</strong>. Dr. Peter Onuf zählen, dem<br />

Thomas Jefferson Foundation Pr<strong>of</strong>essor am Corcoran Department <strong>of</strong> History der University <strong>of</strong> Virginia. Ihm<br />

verdanke ich den Zugang zu den Archiven und Bibliotheken vor Ort. Bei Fadilla Gessous und Christa<br />

Dierkscheide möchte ich mich für die nicht selbstverständliche Hilfsbereitschaft bedanken, die sie mir<br />

in Charlottesville zukommen liessen.<br />

Von Herzen danke ich meinen Eltern für den Rückhalt und die Unterstützung, die sie mir auf<br />

meinem langen und für sie <strong>of</strong>t fremden Weg des Lernens und <strong>St</strong>udierens gewährt haben. Sie haben<br />

massgeblich zum Gelingen dieser Dissertation beigetragen. Dir, Patricia, danke ich für die Zuneigung,<br />

Geduld und Liebe, mit der du mich auch in schwierigen Situationen unterstützt hast, ganz besonders<br />

aber für dein Verständnis, mit dem du meinen langen Ausflügen in die Welt der Early American Republic<br />

begegnet bist, und für dein Lachen, das mir immer wieder Kraft gegeben hat! Dir und Bastian-Maël sei<br />

diese Arbeit gewidmet.<br />

Wil, im Juli 2007<br />

Christopher Rühle


ZUSAMMENFASSUNG<br />

Die vorliegende Dissertation beschäftigt sich mit dem <strong>politische</strong>n <strong>Denken</strong> <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong><br />

(1753-1824). <strong>Taylor</strong> war Farmer, <strong>St</strong>aatsmann und Publizist im <strong>St</strong>aat Virginia während der frühen amerikanischen<br />

Republik. Er beteiligte sich an den zentralen <strong>politische</strong>n Debatten über die Republik und ihre<br />

Weiterentwicklung. Mit grossen Vorbehalten betrachtete er die Unionsverfassung <strong>von</strong> 1787 und verschiedene<br />

Entwicklungen im amerikanischen <strong>St</strong>aatswesen. Er kritisierte die quasi-monarchische <strong>St</strong>ellung<br />

des Präsidenten, die Machtverschiebung <strong>von</strong> den Einzelstaaten zum Bund und die Herausbildung<br />

eines militärisch und wirtschaftlich starken <strong>St</strong>aates, der <strong>von</strong> partikularen Interessengruppen und dabei<br />

namentlich <strong>von</strong> einer ihre eigenen Interessen bedienenden Finanzoligarchie gestützt wurde. <strong>Taylor</strong>s<br />

Ideal, das auf einer der ersten umfassenden Theorien der Machtteilung in der Ideengeschichte gründete,<br />

war das einer landwirtschaftlich und marktgesellschaftlich geprägten Konföderation <strong>von</strong> Republiken.<br />

<strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> wurde <strong>von</strong> der Geschichtsschreibung und Ideengeschichte vernachlässigt. Beide<br />

haben sich hauptsächlich jenen Leitgestalten - James Madison, Thomas Jefferson, Alexander Hamilton<br />

oder <strong>John</strong> Adams - zugewandt, die den amerikanischen Bundesstaat schufen und in den ersten Jahrzehnten<br />

seines Bestehens massgeblich mitprägten. <strong>Taylor</strong> wurde so zur Randfigur. Erklärungen finden<br />

sich einerseits in der wachsenden Kluft, die sich zwischen <strong>Taylor</strong>s radikal formulierten <strong>politische</strong>n und<br />

sozio-ökonomischen Ordnungsvorstellungen und der historischen Entwicklung auftat, andererseits in<br />

den höchst verschiedenen Interpretationen, die sein Werk erfahren hat, und in der lange vorherrschenden<br />

Ansicht, <strong>Taylor</strong> sei bloss der Fürsprecher des alten Virginia und seiner konservativen, landwirtschaftlich<br />

orientierten und die Sklavenwirtschaft verteidigenden Pflanzerelite gewesen.<br />

Verschiedene jüngere Beiträge haben neue Aspekte <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> herausgearbeitet und Korrekturen<br />

am Bild vom Apologeten der alten Ordnung Virginias vorgenommen. Vor diesem Hintergrund<br />

unternimmt die vorliegende Dissertation den Versuch einer neuen Gesamtdarstellung <strong>von</strong><br />

<strong>Taylor</strong>s <strong>politische</strong>m <strong>Denken</strong>. Sie fragt nach den <strong>politische</strong>n und politik-ökonomischen Ideen, die sich in<br />

<strong>Taylor</strong>s Werk finden und stellt diese in ihren real- und geistesgeschichtlichen Kontext. Zudem nimmt<br />

sie eine Einordnung <strong>Taylor</strong>s im Spannungsfeld <strong>von</strong> Republikanismus und Liberalismus vor. Sie zeigt<br />

auf, in welchem Verhältnis bei <strong>Taylor</strong> Marktgesellschaft und republikanische Ordnung stehen und welcher<br />

<strong>St</strong>ellenwert <strong>Taylor</strong>s Ideen in der Early Republic und deren <strong>politische</strong>n Auseinandersetzungen zukommt.<br />

Im Mittelpunkt stehen namentlich <strong>Taylor</strong>s Tugendethik und sein Freiheitsbegriff, sein Naturrechtsdenken,<br />

seine Gewaltenteilungslehre und Föderalismustheorie sowie sein Ideal einer natürlichen<br />

Marktgesellschaft. Die Arbeit liest <strong>Taylor</strong>s Ideen dabei vor dem Hintergrund eines <strong>von</strong> der neueren<br />

Geschichtsforschung für die Epoche der frühen Republik erkannten Transformationsprozesses, der die<br />

amerikanische Nation <strong>von</strong> einer vorkapitalistischen Kolonialgesellschaft zu einer hegemonialen, liberalen<br />

<strong>politische</strong>n Kultur und kapitalistischen Ordnung führte. Als einziger Vertreter der für diese Epoche<br />

prägenden Denkströmung der Jeffersonian Democracy hat <strong>Taylor</strong> eine umfassende systematische Darstellung<br />

seiner <strong>politische</strong>n und ökonomisch-sozialen Ordnungsvorstellungen hinterlassen.<br />

Indem sie einen der ersten und radikalsten Vertreter einer umfassenden Machtteilung in den Mittelpunkt<br />

ihrer Untersuchung rückt, leistet die vorliegende Arbeit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis<br />

der Early American Republic und der sie dominierenden ideologischen Konflikte sowie zur <strong>politische</strong>n<br />

Ideengeschichte im Allgemeinen.


ABSTRACT<br />

The dissertation analyses the political thought <strong>of</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> (1753-1824). <strong>Taylor</strong> was a<br />

farmer, politician and political writer in the state <strong>of</strong> Virginia during the early American Republic.<br />

Participating in the great political debates on the Republic and its future, he had great reservations<br />

about the United <strong>St</strong>ates Constitution <strong>of</strong> 1787 and various tendencies in the American political system.<br />

<strong>Taylor</strong> criticized the quasi-monarchical powers <strong>of</strong> the president, the shift <strong>of</strong> power from the states to<br />

the Union and the growth <strong>of</strong> a strong central government with extensive military and economic powers.<br />

He distrusted government that was supported by separate interest groups, in particular by a financial<br />

oligarchy that was satisfying its self-interest. <strong>Taylor</strong>’s ideal was a great Confederation <strong>of</strong> republics<br />

based on agriculture, on a market society and on one <strong>of</strong> the first comprehensive theories <strong>of</strong> the division<br />

<strong>of</strong> power ever in the history <strong>of</strong> political thought.<br />

<strong>Taylor</strong>’s thought has been neglected by historians. Research so far focused mainly upon the founding<br />

fathers - James Madison, Thomas Jefferson, Alexander Hamilton, and <strong>John</strong> Adams - who created<br />

the American federal state and formed it in its early years. For a number <strong>of</strong> reasons, <strong>Taylor</strong> became a<br />

marginalized character. A gap increasingly opened between his radical political and socio-economic<br />

principles and the political reality <strong>of</strong> his day. Also, his thought was interpreted in widely different ways.<br />

Moreover, the <strong>Taylor</strong> exegesis was dominated for a long time by the view that he was only an ideologist<br />

<strong>of</strong> the old Virginian social order and its conservative agricultural planter-elite, the gentry that was defending<br />

a slave-based economy.<br />

Various studies published since the late 1970’s allow for new perspectives and for a correction <strong>of</strong> the<br />

view that <strong>Taylor</strong> was merely an apologist <strong>of</strong> the Virginia gentry and its traditional aristocratic rule.<br />

These new perspectives form the background against which this study <strong>of</strong>fers a novel overall assessment<br />

<strong>of</strong> <strong>Taylor</strong>’s political thought. The dissertation examines his political and socio-economic ideas and their<br />

historical context and places them in the framework <strong>of</strong> the republicanism and liberalism <strong>of</strong> his time.<br />

Furthermore, it shows the connection between <strong>Taylor</strong>’s market society and republican order and his<br />

influence on the political conflicts <strong>of</strong> the early Republic. The focus thereby is on <strong>Taylor</strong>’s concept <strong>of</strong><br />

virtue, his notion <strong>of</strong> liberty, his thought on natural law, his theories <strong>of</strong> the division <strong>of</strong> power and <strong>of</strong><br />

federalism, as well as his ideal <strong>of</strong> a natural market society. The dissertation puts <strong>Taylor</strong>’s thought in the<br />

context <strong>of</strong> the multifaceted process that was gaining momentum in the early Republic, transforming the<br />

American Nation from a precapitalist colonial society into a hegemonic liberal political culture and<br />

capitalist order. The ideology <strong>of</strong> "Jeffersonian Democracy" had a formative influence on this transition.<br />

<strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> was the outstanding representative <strong>of</strong> this ideology, leaving a comprehensive<br />

and systematic account <strong>of</strong> its political and socio-economic principles.<br />

By focusing on one <strong>of</strong> the first and most radical advocates <strong>of</strong> a comprehensive division <strong>of</strong> power,<br />

the thesis makes a major contribution to a more nuanced understanding <strong>of</strong> the early American Republic<br />

and the ideological conflicts <strong>of</strong> its time and beyond.


I<br />

ÜBERSICHTSVERZEICHNIS<br />

INHALTSVERZEICHNIS........................................................................................................................................... II<br />

ABBILDUNGSVERZEICHNIS..................................................................................................................................VI<br />

1. EINLEITUNG: "JOHN TAYLOR’S FAME LIES BURIED WITH HIS CAUSE".................................................... 1<br />

ERSTER TEIL:<br />

GRUNDLAGEN<br />

2. MENSCH, GESELLSCHAFT UND NATURRECHTE....................................................................................... 29<br />

3. EINE THEORIE REPUBLIKANISCHER PRINZIPIEN .................................................................................... 99<br />

ZWEITER TEIL:<br />

DIE POLITISCHE ÖKONOMIE<br />

DER AMERIKANISCHEN REPUBLIK<br />

4. LEISTUNGSETHIK UND MARKTGESELLSCHAFT...................................................................................... 158<br />

5. AMERIKA ALS NATÜRLICHE AGRARREPUBLIK........................................................................................ 217<br />

DRITTER TEIL:<br />

DAS VERFASSUNGSSYSTEM<br />

DER VEREINIGTEN STAATEN<br />

6. DIE KONTROLLE DER BEHÖRDEN: MACHTTEILUNG VERSUS MACHTGLEICHGEWICHT ................ 255<br />

7. VERTIKALE MACHTTEILUNG ZWISCHEN VOLK UND BEHÖRDEN: VOLKSSOUVERÄNITÄT,<br />

REPRÄSENTATION UND VERANTWORTLICHKEIT .................................................................................. 325<br />

8. HORIZONTALE MACHTTEILUNG IN DER BUNDESVERFASSUNG VON 1787 ....................................... 358<br />

9. VERTIKALE MACHTTEILUNG: AMERIKA ALS KONFÖDERALE REPUBLIK........................................... 435<br />

SCHLUSSBEMERKUNGEN.................................................................................................................................... 518<br />

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS...................................................................................................... 539<br />

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS .............................................................................................................................. 561


II<br />

INHALTSVERZEICHNIS<br />

ABBILDUNGSVERZEICHNIS..................................................................................................................................VI<br />

1. EINLEITUNG: "JOHN TAYLOR’S FAME LIES BURIED WITH HIS CAUSE".................................................... 1<br />

1.1. Biographische Eckpfeiler.................................................................................................................... 5<br />

1.2. Forschungsstand ................................................................................................................................ 18<br />

1.3. Fragestellung und Gliederung der Arbeit....................................................................................... 25<br />

ERSTER TEIL:<br />

GRUNDLAGEN<br />

2. MENSCH, GESELLSCHAFT UND NATURRECHTE....................................................................................... 29<br />

2.1. Die Natur des Menschen.................................................................................................................. 31<br />

2.1.1. Moralische Natur und Selbsterhaltung.............................................................................................31<br />

2.1.2. Mässigung des Egoismus: Vernunftsinn und "Moral Sense" .......................................................33<br />

2.1.3. Soziale Natur, moralischer Fortschritt und Willensfreiheit...........................................................39<br />

2.2. Der Mensch in der Gesellschaft ...................................................................................................... 45<br />

2.2.1. Die natürliche Gesellschaft als "Moral-<strong>St</strong>eam Engine" .................................................................45<br />

2.2.2. Recht auf Selbstregierung, <strong>politische</strong> Gesellschaft und Gesellschaftsvertrag ............................48<br />

2.2.3. Einrichtung, Zweck und Wesen der Behörden ("government")..................................................55<br />

2.3. Der Mensch und seine natürlichen Rechte .................................................................................... 62<br />

2.3.1. Funktion und Wesen der Grundrechte bei <strong>Taylor</strong>.........................................................................64<br />

2.3.2. Die einzelnen Freiheitsrechte.............................................................................................................70<br />

2.3.3. Elementare Glieder in der "chain <strong>of</strong> rights": Meinungsäusserungsfreiheit und<br />

Eigentumsfreiheit.................................................................................................................................74<br />

2.4. Die Gefährdung der gesellschaftlichen Freiheit: Sonderinteressen, Faktionen,<br />

Aristokratie.......................................................................................................................................... 89<br />

2.4.1. Definition der Aristokratie .................................................................................................................90<br />

2.4.2. Drei Formen der Aristokratie: Priesteraristokratie, Militäraristokratie und<br />

Finanzaristokratie.................................................................................................................................92<br />

2.4.3. Gegenmittel: Beschränkung der Verfügungsgewalt über das Privateigentum ...........................94<br />

2.5. Zusammenfassung ............................................................................................................................. 96<br />

3. EINE THEORIE REPUBLIKANISCHER PRINZIPIEN .................................................................................... 99<br />

3.1. Die Revolution <strong>von</strong> 1800 - ein "change <strong>of</strong> principles"?............................................................... 99<br />

3.2. Regierungsformen und moralische Prinzipien............................................................................. 104<br />

3.2.1. Der Diskurs über die Grundlagen der amerikanischen Republik ............................................. 104<br />

3.2.2. Klassische und moderne Systeme der Politik............................................................................... 106<br />

3.2.3. Ungemischte <strong>St</strong>aatsformen: Monarchie, Aristokratie und Demokratie................................... 109


3.2.4. Klassifikation der <strong>St</strong>aatsformen bei Aristoteles und <strong>Taylor</strong>....................................................... 114<br />

3.2.5. Über Prinzipien, Formen und das Wesen der Behördenordnung ............................................ 119<br />

3.3. Die Theorie der moralischen Prinzipien ...................................................................................... 123<br />

3.3.1. Die Idee republikanischer Prinzipien im Frühwerk .................................................................... 123<br />

3.3.2. Ursprung und Wirkung moralischer Prinzipien........................................................................... 124<br />

3.3.3. Der Erkenntnisprozess zur Einrichtung des guten <strong>St</strong>aates........................................................ 127<br />

3.3.4. Die korrumpierende Wirkung <strong>von</strong> Macht und die Notwendigkeit ihrer Kontrolle .............. 133<br />

3.3.5. Ausprägungsformen und Klassifikation der guten und schlechten moralischen<br />

Prinzipien ........................................................................................................................................... 137<br />

3.4. Tugendhafte Prinzipien oder Bürgertugend?............................................................................... 140<br />

3.4.1. Montesquieu, Machiavelli und Prinzipien als Schule der Tugend............................................. 140<br />

3.4.2. Der Verfassungskreislauf und seine <strong>St</strong>abilisierung...................................................................... 146<br />

3.4.3. Die Herrschaft der Gesetze: political law und municipal law.......................................................... 149<br />

3.5. Zusammenfassung ........................................................................................................................... 154<br />

III<br />

ZWEITER TEIL:<br />

DIE POLITISCHE ÖKONOMIE<br />

DER AMERIKANISCHEN REPUBLIK<br />

4. LEISTUNGSETHIK UND MARKTGESELLSCHAFT...................................................................................... 158<br />

4.1. Die Wirtschaftsordnung der frühen Republik............................................................................. 159<br />

4.1.1. Die frühe Republik als Phase des Übergangs: <strong>von</strong> der kolonialen Wirtschaft zum<br />

liberalen Kapitalismus ...................................................................................................................... 159<br />

4.1.2. Visionen der <strong>politische</strong>n Ökonomie Amerikas: Federalists v. Republicans............................ 166<br />

4.2. Eigentum, Arbeit und Markt.......................................................................................................... 181<br />

4.3. Klassengegensätze der republikanischen Gesellschaft: freie Arbeiter und Kapitalisten ....... 192<br />

4.4. "The mother <strong>of</strong> wealth" in der "family <strong>of</strong> earth": die ökonomische Vorrangstellung<br />

der Landwirtschaft........................................................................................................................... 206<br />

4.5. Zusammenfassung ........................................................................................................................... 213<br />

5. AMERIKA ALS NATÜRLICHE AGRARREPUBLIK........................................................................................ 217<br />

5.1. Mehrheitsherrschaft, Eigentumsstreuung und Miliz .................................................................. 217<br />

5.2. <strong>Das</strong> Ideal des tugendhaften Farmers ............................................................................................ 227<br />

5.3. Sklaverei und Republikanismus ..................................................................................................... 238<br />

5.4. Zusammenfassung ........................................................................................................................... 251


IV<br />

DRITTER TEIL:<br />

DAS VERFASSUNGSSYSTEM<br />

DER VEREINIGTEN STAATEN<br />

6. DIE KONTROLLE DER BEHÖRDEN: MACHTTEILUNG VERSUS MACHTGLEICHGEWICHT ................ 255<br />

6.1. Theorien der Machtkontrolle in der frühen Republik................................................................ 257<br />

6.1.1. Definition der Mischverfassung ..................................................................................................... 257<br />

6.1.2. Mischverfassungsverständnis der frühen Republik..................................................................... 258<br />

6.1.3. Gewaltenteilung und strikte Gewaltentrennung .......................................................................... 260<br />

6.1.4. Gemässigte Gewaltenteilung........................................................................................................... 265<br />

6.1.5. Die gewaltenteilige Mischverfassung <strong>von</strong> <strong>John</strong> Adams.............................................................. 268<br />

6.2. Kritik der gleichgewichtigen Mischverfassung ............................................................................ 283<br />

6.2.1. Kritik am Mechanismus der Machtkontrolle: "the principle <strong>of</strong> a balance <strong>of</strong> power"............ 283<br />

6.2.2. Kritik am Gesellschaftsbild und an der Gesellschaftsstruktur .................................................. 292<br />

6.3. <strong>Taylor</strong>s Gegenmodell: ein System umfassender Machtteilung.................................................. 301<br />

6.3.1. Überblicksskizze über die verschiedenen Elemente <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Machtteilungssystem....... 301<br />

6.3.2. "Departmental theory" und "popular constitutionalism" .......................................................... 305<br />

6.4. Zusammenfassung ........................................................................................................................... 320<br />

7. VERTIKALE MACHTTEILUNG ZWISCHEN VOLK UND BEHÖRDEN: VOLKSSOUVERÄNITÄT,<br />

REPRÄSENTATION UND VERANTWORTLICHKEIT .................................................................................. 325<br />

7.1. Selbstherrschaft des Volkes............................................................................................................ 327<br />

7.2. Sicherung der Verantwortlichkeit und Repräsentationstheorie: die Regierungsgewalt<br />

als Trust .............................................................................................................................................. 336<br />

7.3. Wahlrecht.......................................................................................................................................... 347<br />

7.4. Zusammenfassung ........................................................................................................................... 352<br />

8. HORIZONTALE MACHTTEILUNG IN DER BUNDESVERFASSUNG VON 1787 ....................................... 358<br />

8.1. <strong>Das</strong> Präsidentenamt......................................................................................................................... 360<br />

8.1.1. "Republican magistrates": 1776 und 1787 .................................................................................... 360<br />

8.1.2. "The presidency, gilded with kingly powers": die monarchische Natur des<br />

Präsidentenamtes .............................................................................................................................. 368<br />

8.1.3. "Monarchical powers": antirepublikanische Machtbefugnisse des Präsidenten ..................... 374<br />

8.1.4. "The state mode <strong>of</strong> forming executive power": das Ideal der republikanischen<br />

Exekutive............................................................................................................................................ 384<br />

8.2. Der Kongress ................................................................................................................................... 387<br />

8.2.1. "The most powerful political department": die Vorrangstellung der Legislative im<br />

System der Gewalten........................................................................................................................ 387<br />

8.2.2. Legislative Patronage........................................................................................................................ 391<br />

8.2.3. <strong>Das</strong> Ideal des Verfassungskonvents............................................................................................... 395


8.3. <strong>Das</strong> Oberste Bundesgericht............................................................................................................ 397<br />

8.3.1. Die Einrichtung der rechtsprechenden Gewalt im Verfassungssystem................................... 398<br />

8.3.2. Horizontale Verfassungsgerichtsbarkeit: frühe H<strong>of</strong>fnungen und erste Kritik........................ 402<br />

8.3.3. Horizontale Verfassungsgerichtsbarkeit des Supreme Court und Verantwortlichkeit der<br />

Richter im Inquiry <strong>von</strong> 1814............................................................................................................. 408<br />

8.4. Modell der Gewaltenteilung ........................................................................................................... 416<br />

8.5. Exkurs: <strong>Das</strong> Ideal der Versammlungs-Regierung im Kentucky-<br />

Verfassungskommentar................................................................................................................... 425<br />

8.6. Zusammenfassung ........................................................................................................................... 429<br />

9. VERTIKALE MACHTTEILUNG: AMERIKA ALS KONFÖDERALE REPUBLIK........................................... 435<br />

9.1. <strong>Das</strong> Gespenst der Spaltung der Union ......................................................................................... 436<br />

9.2. Die Natur der Union....................................................................................................................... 442<br />

9.2.1. 1794 - 1814: "a Compact, both federal and popular" ................................................................. 442<br />

9.2.2. 1820er Jahre: Die Union als "League between Nations"............................................................ 450<br />

9.3. Konsolidierung oder Föderalismus? ............................................................................................. 457<br />

9.3.1. Die Gefahr einer Konsolidierung der Union ............................................................................... 457<br />

9.3.2. Die Bundesverfassung <strong>von</strong> 1787: Bundesstaat oder <strong>St</strong>aatenbund? .......................................... 469<br />

9.3.3. McCulloch v. Maryland: "a Question <strong>of</strong> Supremacy"................................................................. 477<br />

9.4. Die Sicherung der föderalen Machtteilung................................................................................... 483<br />

9.4.1. Die Legislativen der Einzelstaaten: Wächter der Volksrechte................................................... 483<br />

9.4.2. Der Amendment-Prozess als Verfahren der föderalen <strong>St</strong>reitschlichtung................................ 493<br />

9.4.3. Die Rolle des Obersten Bundesgerichts im System föderaler Machtteilung: Die<br />

Zurückweisung <strong>von</strong> föderaler Verfassungsgerichtsbarkeit und "judicial supremacy"........... 496<br />

9.5. Zusammenfassung ........................................................................................................................... 512<br />

SCHLUSSBEMERKUNGEN.................................................................................................................................... 518<br />

Ausgangslage: "Jeffersonian Democracy" und die frühe Republik als Phase des Übergangs ............................ 518<br />

"Republican Jeremiah" der frühen Republik .............................................................................................................. 519<br />

Theoretiker der umfassenden Machtteilung ............................................................................................................... 521<br />

Verknüpfung <strong>von</strong> institutionen- und personenorientierter Ethik........................................................................... 528<br />

Konstanten und Wandel ................................................................................................................................................ 530<br />

Schwachpunkte................................................................................................................................................................ 533<br />

Abschliessende Würdigung............................................................................................................................................ 537<br />

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS...................................................................................................... 539<br />

Primärquellen <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong>........................................................................................................................ 539<br />

Briefe <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong>.............................................................................................................................. 541<br />

Sonstige Primärquellen................................................................................................................................................... 541<br />

Sekundärliteratur ............................................................................................................................................................. 543<br />

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS .............................................................................................................................. 561<br />

V


VI<br />

ABBILDUNGSVERZEICHNIS<br />

Abbildung 1: Grundaufbau der <strong>politische</strong>n Ordnung des Verfassungssystems der<br />

Vereinigten <strong>St</strong>aaten <strong>von</strong> Amerika in <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong>s Inquiry....................54<br />

Abbildung 2: Die einzelnen Naturrechte bei <strong>Taylor</strong> und ihre Systematik ......................................73<br />

Abbildung 3: Klassifikation und Rangordnung der <strong>St</strong>aatsverfassungen in der ersten<br />

aristotelischen <strong>St</strong>aatsformenlehre................................................................................115<br />

Abbildung 4: Klassifikation und Rangordnung der <strong>St</strong>aatsformen bei <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> 117<br />

Abbildung 5: Gute und schlechte moralische Prinzipien in <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>s Inquiry........................139<br />

Abbildung 6: Gemässigte Gewaltenteilung der Verfassung der Vereinigten <strong>St</strong>aaten..................267<br />

Abbildung 7: Gewaltenteilige Mischverfassung nach <strong>John</strong> Adams ...............................................276<br />

Abbildung 8: Umfassende Machtteilung v. balanced constitution bei <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong>......305<br />

Abbildung 9: Vergleich der Machtteilung ungemischter und gemischter Regierungssysteme<br />

mit dem amerikanischen Verfassungssystem in Construction Construed ...................312<br />

Abbildung 10: Ideal der gemässigten Gewaltenteilung in der Verfassung der Vereinigten<br />

<strong>St</strong>aaten nach <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> .............................................................................................422<br />

Abbildung 11: Ideal der Gewaltenteilung im Kentucky-Verfassungskommentar <strong>von</strong> 1799........426<br />

Abbildung 12: Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit in der konföderativen Republik der<br />

Vereinigten <strong>St</strong>aaten nach <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>........................................................................500<br />

Abbildung 13: Verfassungsgerichtsbarkeit und departmental theory als Instrumente zum Schutz<br />

der Verfassung und der bürgerlichen Freiheit...........................................................507<br />

Abbildung 14: Zuständigkeitsbereiche der Gerichtsbarkeiten <strong>von</strong> Bund und Einzelstaaten<br />

nach <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> ...........................................................................................................508


1<br />

1. Einleitung: "<strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>’s fame lies buried with his cause"<br />

It is by travelling from the court to the cottage,<br />

that the effects <strong>of</strong> political principles upon<br />

human happiness, can be computed. Hence,<br />

existing nations, can only confide in existing<br />

cases. The cottager has no historian to commemorate<br />

his misery, and the historian <strong>of</strong> the<br />

prince is bribed to hide it. (Inquiry, 354)<br />

An adherence to men, is <strong>of</strong>ten a disloyalty to<br />

principles. (A Pamphlet, 12)<br />

Auch in der Welt der <strong>politische</strong>n Ideen ist die Geschichte in der Regel <strong>von</strong> den Siegern geschrieben<br />

worden. Ihre Ideen wurden zur herrschenden Lehre oder trugen zur orthodoxen Darstellung der<br />

Geschichte bei. Die Lesarten oder Ansichten der Verlierer hingegen werden meist ignoriert oder nur<br />

oberflächlich gewürdigt. Diese Beobachtung zeigt sich z.B. in der Rezeption des <strong>Denken</strong>s der Antifederalists,<br />

der Gegner des Entwurfes der amerikanischen Bundesverfassung <strong>von</strong> 1787. Die Ideen<br />

der Antifederalists wurden <strong>von</strong> der Forschung nur selten adäquat behandelt und lange Zeit vernachlässigt.<br />

Sie galten in der Regel als man <strong>of</strong> little faith, als engstirnige Lokalpolitiker, denen es an Imagination<br />

und intellektueller Kraft fehlte, um ihren föderalistischen Widersachern die <strong>St</strong>irn zu bieten. Erst<br />

in neuer Zeit hat ihr <strong>Denken</strong> ernsthafte Aufmerksamkeit erlangt, die einem echten Interesse an den<br />

eigentlichen Argumenten entspringt (und hat die Forschung ihren wertvollen Beitrag zum amerikanischen<br />

Verfassungsdenken herausgearbeitet). 1 <strong>Das</strong> wissenschaftliche Interesse am <strong>politische</strong>n <strong>Denken</strong><br />

der frühen amerikanischen Republik (Early Republic, 1789-1837) galt lange Zeit vordringlich den<br />

herausragenden Leistungen der Gründer- und Verfassungsväter (founding fathers), jener überragenden<br />

Generation führender <strong>St</strong>aatsmänner, welche den ersten modernen, grossflächigen, demokratischrepublikanischen<br />

Verfassungsstaat schufen und dessen Politik in den ersten Jahren seines Bestehens<br />

- und damit auch für die nachfolgenden Generationen - massgeblich prägten. Im Mittelpunkt des<br />

Interesses standen Namen wie <strong>John</strong> Adams, Benjamin Franklin, Alexander Hamilton, James Madison,<br />

Thomas Jefferson und George Washington. 2 Wer nicht zu dieser <strong>politische</strong>n und geistigen Elite<br />

zählte, vielleicht im zweiten oder dritten Glied und gar in Opposition zu ihr stand, der lief Gefahr,<br />

<strong>von</strong> der Forschung vernachlässigt, nicht ernst genommen oder missverstanden zu werden. <strong>John</strong><br />

<strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong>, Virginia, war in der Geschichte und Geschichtsschreibung des amerikanischen<br />

<strong>politische</strong>n <strong>Denken</strong>s einer der Vollendetsten und Herausragendsten unter diesen Verlierern. Er war<br />

einer, der es wagte, die Orthodoxien seiner Zeit zu hinterfragen. 3<br />

1 Für diese neue Perspektive auf das <strong>Denken</strong> der Antifederalists siehe Young (1985: 631) und Cornell (1999: 2f.).<br />

Typisch für das alte Bild der Antifederalists ist etwa Kenyon (1955: 3ff.).<br />

2 Einen Überblick über die Gründerväter der amerikanischen Republik gibt Ellis (2000: 3-15).<br />

3 Nach Baritz (1964: vii) zeichnet sich gerade die amerikanische Ideengeschichte (american intellectual history) - im Vergleich<br />

mit derjenigen in Europa - durch die Besonderheit aus, dass sie Ideengeschichte mit Sozialgeschichte verwechselt:<br />

"Criteria <strong>of</strong> intellecutal influence have usually been social criteria, and the importance <strong>of</strong> an idea is usually defined<br />

in terms <strong>of</strong> its popular influence."


2<br />

<strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> (1753-1824) gehörte zur Welt der Plantagenbesitzer Virginias. 4 Als junger<br />

Mann nahm er aktiv am Unabhängigkeitskrieg teil. Eine aussergewöhnlich erfolgreiche Laufbahn als<br />

Anwalt und eine in finanzieller Hinsicht günstige Heirat ermöglichten es ihm, seinen Anwaltsberuf<br />

niederzulegen und eine grosse Plantage namens Hazelwood an den Ufern des Rappahannock Rivers<br />

in <strong>Caroline</strong> County, Tidewater Virginia, zu erwerben und zu bewirtschaften. Dort widmete er sich<br />

während seines restlichen Lebens dem <strong>St</strong>udium landwirtschaftlicher und <strong>politische</strong>r Fragen. Hin und<br />

wieder war er bereit, sein geliebtes Hazelwood zu verlassen, um als Abgeordneter im Senat der<br />

Vereinigten <strong>St</strong>aaten oder im Virginia House <strong>of</strong> Delegates seinen Pflichten als republikanischer Politiker<br />

nachzukommen. Sein <strong>politische</strong>s Engagement war jeweils bloss sporadischer Natur und <strong>von</strong> kurzer<br />

Dauer, da <strong>Taylor</strong> das Leben auf dem Land, mit seiner Familie, die Arbeit in der Landwirtschaft und<br />

seine Bücher der Welt der Politik in Washington oder Richmond mit ihrem geschäftigen Treiben<br />

vorzog. <strong>Taylor</strong> hinterliess der Nachwelt ein ungewöhnlich umfangreiches Werk, mit einer Vielzahl<br />

<strong>von</strong> Gedanken zu <strong>politische</strong>n, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen rund um die frühe<br />

amerikanische Republik.<br />

<strong>Taylor</strong> genoss im Urteil seiner Zeitgenossen grossen Respekt und Anerkennung, ja teilweise gar<br />

Bewunderung. Thomas Jefferson, der Verfasser der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung,<br />

dritter Präsident der Vereinigten <strong>St</strong>aaten (1801-1809), der als einer der Väter der modernen Demokratie<br />

gilt, erklärte, dass <strong>Taylor</strong> und er, "have rarely, if ever differed in any political principle <strong>of</strong> importance.<br />

Every act <strong>of</strong> his life, and every word he ever wrote, satisfies me <strong>of</strong> this". Über Construction<br />

Construed and Constitutions Vindicated (1820), eines <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Spätwerken, schrieb Jefferson in einer<br />

öffentlichen Empfehlung, dass es den "true political faith" enthalte, "to which every catholic republican<br />

should steadfastly hold. It should be put in the hands <strong>of</strong> our functionaries, as a standing instruction,<br />

and the true exposition <strong>of</strong> our constitution, as understood at the time we agreed to it". 5<br />

Selbst <strong>John</strong> Adams, der zweite Präsident der Vereinigten <strong>St</strong>aaten (1797-1801) und Verfasser des<br />

Defence <strong>of</strong> the Constitutions <strong>of</strong> the Government <strong>of</strong> the United <strong>St</strong>ates (1786-1787), dessen Ideen und Konzepte<br />

<strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> heftig kritisiert worden waren, einer <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Hauptgegnern also, sprach voller<br />

Respekt vom Virginier und nannte ihn einen "gentleman <strong>of</strong> [...] high rank, ample fortune, learned<br />

education and powerful connections" 6 . Thomas Hart Benton, ein junger Senator aus Missouri (später<br />

ein bedeutender Gefolgsmann <strong>von</strong> Präsident Andrew Jackson [1829-1837]), der <strong>Taylor</strong> 1822 im<br />

Senat kennenlernte, sich mit ihm anfreundete und seinen Charakter und seine Prinzipientreue bewunderte,<br />

beschrieb den Politiker und <strong>St</strong>aatsdenker aus <strong>Caroline</strong>, Virginia, in seinen Erinnerungen<br />

als den idealen republikanischen <strong>St</strong>aatsmann:<br />

All my observations <strong>of</strong> him, and his whole appearance and deportment, went to confirm the reputation <strong>of</strong> his<br />

individuality <strong>of</strong> character, and high qualities <strong>of</strong> the head and heart. I can hardly figure to myself the ideal <strong>of</strong> a<br />

republican statesman more perfect and complete than he was in reality; plain and solid, a wise counsellor, a<br />

ready and vigorous debater, acute and comprehensive, ripe in all historical and political knowledge, innately<br />

republican - modest, courteous, benevolent, hospitable - a skillful, practical farmer, giving his time to his farm<br />

4 Eine ausführlichere biographische Einführung findet sich im ersten Abschnitt dieses Kapitels (vgl. Ziff. 1.1 unten).<br />

5 Brief <strong>von</strong> Thomas Jefferson an Thomas Ritchie, 25. Dezember 1820, in: Jefferson (1984: 1145); Brief <strong>von</strong> Thomas<br />

Jefferson an Spencer Roane, 27. Juni 1821, zitiert nach: Mayer (1994: 280f.).<br />

6 Adams (1814 u.a.), Letters to <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong>, 368.


3<br />

and his books when not called by an emergency to the publick service - and returning to his books and his<br />

farm when emergency was over [...]. He belonged to that constellation <strong>of</strong> great men which shone so brightly<br />

in Virginia in his day. 7<br />

Thomas Ritchie, ein Zeitgenosse <strong>Taylor</strong>s und Jeffersons, Herausgeber des Richmond Enquirer und<br />

bedeutender konservativer Republikaner, erklärte im Vorwort zu einem <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Werken:<br />

The period is, indeed, by no means an agreeable one. It borrows new gloom from the apathy which seems to<br />

reign over so many <strong>of</strong> our sister states. The very sound <strong>of</strong> <strong>St</strong>ate Rights is scarcely ever heard among them;<br />

and by many <strong>of</strong> their eminent politicians, it is only heard to be mocked at. But a good citizen will never despair<br />

<strong>of</strong> the republick. Among these good citizens, is <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong>. 8<br />

Auch bei <strong>John</strong> C. Calhoun (1782-1850), dem einflussreichen Politiker aus den Südstaaten und späteren<br />

Propagandist des Südstaatenseparatismus, hat <strong>Taylor</strong> nachweislich einen prägenden Eindruck<br />

hinterlassen. Calhoun besuchte <strong>Taylor</strong> im April 1823 auf Hazelwood und berichtete einem Briefpartner:<br />

"I have no more decided friend than Colo. <strong>Taylor</strong>, who I was happy to find knew accurately<br />

the course <strong>of</strong> political events for the last two years. His differing with me on constitutional opinion<br />

will only add to the weight <strong>of</strong> his opinion." Einen anderen Freund liess er wissen, dass ihn sein Besuch<br />

bei <strong>Taylor</strong> sehr erfreut habe: "He is my decided friend, tho’ we differ on constitutional points.<br />

No man except Mr. Jefferson has more weight in Virginia [...]." 9<br />

Diese Haltung der Bewunderung und des Respekts scheint dann im Laufe der Jahrzehnte in Ablehnung<br />

und Desinteresse umgeschlagen zu haben. Henry Adams, der Vater der amerikanischen<br />

Geschichtswissenschaft, begegnete <strong>Taylor</strong> mit Ablehnung und beschrieb ihn als "vox clamantis, the<br />

voice <strong>of</strong> one crying in the wilderness" 10 . <strong>Taylor</strong> sei zwar <strong>von</strong> Thomas Jefferson, James Monroe (dem<br />

fünften Präsidenten der Vereinigten <strong>St</strong>aaten, 1817-1825), <strong>John</strong> Randolph und der Virginia school als<br />

ein "political thinker <strong>of</strong> the first rank" bewundert worden, "with the geniality <strong>of</strong> the class to which<br />

he belonged", seine Bewunderer seien aber in der Praxis immer <strong>von</strong> den Regeln abgefallen, die sie in<br />

seinen Schriften so geschätzt hätten; "but he continued to teach, and the further scholars drifted<br />

from him the more publicly and pr<strong>of</strong>usely he wrote". In seinem grossen, 1814 publizierten Werk<br />

Inquiry into the Principles and Policy <strong>of</strong> the Government <strong>of</strong> the United <strong>St</strong>ates habe sich <strong>Taylor</strong> - zu einem Zeitpunkt,<br />

wo "the character <strong>of</strong> people and government was formed; and the lines <strong>of</strong> their activity fixed"<br />

- Spekulationen hingegeben und die Diskussionen <strong>von</strong> 1787 wieder aufgegriffen, "as though the<br />

intervall were a blank". 11 Nach Henry Adams hatte es zu jeder Zeit <strong>politische</strong> Philosophen gegeben,<br />

die vernarrt darauf waren, Systeme für "imaginary Republics, Utopias" zu entwerfen. <strong>Taylor</strong> war für<br />

7 Thomas Hart Benton (1854), Thirty Years’ View; or, a History <strong>of</strong> the Working <strong>of</strong> the American Government for Thirty Years,<br />

from 1820-1850, New York, I: 45, zitiert nach McClellan (2000: xx).<br />

8 Thomas Ritchie, "To the Publick", in: <strong>Taylor</strong> (1820), Construction Construed, iii.<br />

9 <strong>John</strong> C. Calhoun an V. Maxcy, 24. April 1823, in: Papers <strong>of</strong> <strong>John</strong> C. Calhoun, Columbia 1975, VIII: 28; <strong>John</strong> C. Calhoun<br />

an Ogden Edwards, 2. Mai 1823, ibd., 45. Beide zitiert nach McClellan (2000: liv). 20 Jahre nach seinem Treffen mit<br />

<strong>Taylor</strong> beschloss Calhoun seine <strong>politische</strong>n Ideen in systematischer Form darzustellen und ein Buch über das amerikanische<br />

Regierungssystem zu schreiben. Mittlerweile hatte er eine Wandlung vom Nationalist (einem Befürwoter<br />

einer starken Bundesregierung) zum <strong>St</strong>ates’ rightist (einem Befürworter der Rechte der Gliedstaaten) durchgemacht.<br />

Auf die Frage nach der Natur seines geplanten Traktats gab er zu Antwort: "<strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> with metaphysical<br />

variations." Siehe McClellan (ibd.) und zu Calhoun Fn. 87 in Ziff. 1.2 unten.<br />

10 Adams (1889-1891: 1314).<br />

11 Ibd., 1314f.


4<br />

Adams ein solcher Utopist, ein "political philosopher <strong>of</strong> the same school [as Thomas Morus, Francis<br />

Bacon and James Harrington], and his Oceana on the banks <strong>of</strong> the Rappahannock was a reflection<br />

<strong>of</strong> his own virtues". 12<br />

Henry Adams’ Einschätzung wurde <strong>von</strong> der älteren amerikanischen Geschichtsschreibung aufgegriffen<br />

und um den Vorwurf ergänzt, <strong>Taylor</strong>s Schriften seien aussergewöhnlich schwerfällig, langweilig,<br />

dumpf, geistlos und darüberhinaus ein <strong>St</strong>ück commonplace gewesen, voll <strong>von</strong> Banalitäten und<br />

Phrasen. 13 Ablehnung und Gleichgültigkeit führten dazu, dass <strong>Taylor</strong>s umfangreiches Werk mit den<br />

Jahren an den Rand gedrängt, nur selten adäquat behandelt und <strong>Taylor</strong> als reaktionärer Schwachkopf<br />

oder realitätsfremder Träumer abgetan wurde. Die Frage nach den Ursachen sei erlaubt. War sein<br />

<strong>politische</strong>s <strong>Denken</strong> wirklich so reaktionär und geisttötend, so voller Gemeinplätze und für nachfolgende<br />

Generationen ohne Nutzen? Oder hatte sein allmähliches Verschwinden <strong>von</strong> der Bildfläche<br />

nicht doch eher mit einem Umstand zu tun, auf den James McClellan hinweist, der vermutet, dass<br />

<strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>s Ruhm zusammen mit dem Gegenstand seines <strong>Denken</strong>s zu Grabe getragen worden sei<br />

("<strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>’s fame lies buried with his cause.")? 14<br />

In der im Laufe der Jahre stetig, aber nur langsam wachsenden Forschung zur Person <strong>Taylor</strong>s<br />

dominierten in den 1940er Jahren einerseits und den 1950er und 1960er Jahren andererseits zwei<br />

Meinungsstränge, die das <strong>Denken</strong> des Virginiers auf die Seite der Verlierer gestellt haben. Eine Position<br />

sieht <strong>Taylor</strong>s Sache (his cause) in der Verteidigung des alten Virginia und der konservativen,<br />

landwirtschaftlich orientierten, Sklaven besitzenden Pflanzerelite des Old Dominion. Mit dem Untergang<br />

des alten Südens und seiner Lebensform habe die Sache <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>s - und folglich auch<br />

das Nachdenken über diese Sache - ihre Bedeutung verloren. Die zweite Position vertritt die Meinung,<br />

dass <strong>Taylor</strong>s Sache die Verteidigung der Einzelstaatenrechte (<strong>St</strong>ates’ Rights) im Rahmen der<br />

amerikanischen Verfassung und <strong>Taylor</strong> der Prophet <strong>von</strong> Sezession und Bürgerkrieg gewesen sei. Die<br />

<strong>von</strong> ihm heraufbeschworenen Geister hätten letztendlich zur grossen amerikanischen Tragödie, zum<br />

Sezessions- und Bürgerkrieg (1861-1865), geführt. 15<br />

Bei solchen Einschätzungen ist es wenig verwunderlich, dass man <strong>Taylor</strong>s Werk in einer Schublade<br />

verstauben liess. Zu Recht? Der erste, der Henry Adams’ Urteil zurückwies, war Charles Beard.<br />

Beard stellte die Frage in den Raum, "whether, with the possible execption <strong>of</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>’s monumental<br />

Inquiry, a single immortal work in political science has been written in America since Hamilton,<br />

Jay, and Madison struck <strong>of</strong>f from the flaming forge <strong>of</strong> controversy the enduring philippic that<br />

bears the title <strong>of</strong> the Federalist". 16 Einflussreiche Forschungsarbeiten, die in den 1970er und 1980er<br />

Jahren erschienen sind, griffen Beards Fingerzeig auf. Beispielsweise setzte der bedeutende amerikanische<br />

Historiker Gordon S. Wood ein Fragezeichen hinter <strong>Taylor</strong>s so vermeintlich klare Sache:<br />

Wood widerspricht der Einschätzung, <strong>Taylor</strong> sei bloss der Vertreter der Virginia landed gentry gewe-<br />

12 Ibd., 1315f. Für Adams war <strong>Taylor</strong> ein <strong>von</strong> den <strong>politische</strong>n Realitäten weit entfernter Träumer, die Konsistenz seiner<br />

Ideen das Resultat seines unregelmässigen Kontaktes mit den Problemen der Wirklichkeit.<br />

13 Siehe dazu Mudge (1939: 2f.).<br />

14 McClellan (2000: xv).<br />

15 Siehe die eingehende Abhandlung zum Forschungsstand auf den folgenden Seiten (Ziff. 1.2 unten).<br />

16 Beard (1927: 9). Hier ist erwähnenswert, dass Henry Adams der Urenkel <strong>von</strong> <strong>John</strong> Adams war und sein immer noch<br />

lesenswerter Klassiker History <strong>of</strong> the United <strong>St</strong>ates <strong>of</strong> America eine historiographische Abrechnung mit Jefferson und<br />

Madison war, den Rivalen seines Urgrossvaters. Siehe dazu Adams (1999: 172).


5<br />

sen, und weist darauf hin, dass sein Inquiry auf brillante Art und Weise das Konzept amerikanischer<br />

Politik, wie es aus der Revolutionsära hervorgegangen sei, zum Ausdruck gebracht habe. 17 Ein Kommentar<br />

<strong>von</strong> M. J. C. Vile weckt ebenfalls das Interesse für <strong>Taylor</strong>. <strong>Taylor</strong> ist im Urteil Viles in mancher<br />

Hinsicht der eindrücklichste <strong>politische</strong> Theoretiker gewesen ("the most impressive political<br />

theorist"), den Amerika jemals hervorgebracht habe. 18 Und <strong>St</strong>even Watts weist darauf hin, dass <strong>Taylor</strong><br />

viel zu sagen gehabt habe. <strong>Taylor</strong>, so Watts, "was a more penetrating observer <strong>of</strong> the emerging<br />

liberal world than many <strong>of</strong> its hard-nosed advocates and visionary boosters. He perceived the dawning<br />

<strong>of</strong> a new age in the era <strong>of</strong> the early republic". 19<br />

1.1. Biographische Eckpfeiler<br />

<strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> wurde am 19. Dezember 1753 in <strong>Caroline</strong> County, Virginia, geboren. Wie sein Freund,<br />

<strong>John</strong> Randolph, der seinem Namen den Kürzel <strong>of</strong> Roanoke hinzufügte, um nicht mit den anderen<br />

Mitgliedern der weitverzweigten Randolph-Familie verwechselt zu werden, bezeichnete sich <strong>Taylor</strong><br />

später selber als <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> und fügte seinen Büchern und Pamphleten stolz den Namen<br />

der Grafschaft (county) hinzu, in der er geboren worden war und beinahe die gesamte Zeit seines<br />

Lebens verbrachte. <strong>Taylor</strong>s Vater starb, als der kleine <strong>John</strong> drei Jahre alt war, und <strong>Taylor</strong>s Onkel, ein<br />

berühmter Anwalt und führender <strong>St</strong>aatsmann Virginias, Edmund Pendleton übernahm die Erziehung<br />

<strong>Taylor</strong>s. Pendleton war Richter am county court in <strong>Caroline</strong> County und liess dem jungen <strong>John</strong><br />

eine für die Tidewater gentry seiner Zeit typische Ausbildung zukommen. 20 <strong>Taylor</strong> besuchte für eine<br />

längere Zeit eine hoch angesehene, etwa fünfzehn Meilen <strong>von</strong> <strong>Caroline</strong> entfernte Privatschule, die<br />

<strong>von</strong> Donald Robertson, einem gebildeten Schotten, geleitet wurde. Dort wurde <strong>Taylor</strong>, zusammen<br />

mit seinem Klassenkameraden James Madison (ein entfernter Cousin <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>), in den Fächern<br />

Griechisch, Latein, Französisch, Spanisch, Mathematik, Geographie und englische Literatur unterrichtet.<br />

1763 verliess <strong>Taylor</strong> Robertsons Privatschule. Von nun an wurde er <strong>von</strong> privaten Tutoren<br />

unterrichtet, später besuchte er das College <strong>of</strong> William and Mary in Williamsburg, Virginia. Sein <strong>St</strong>udium<br />

schloss er 1770 ab. Anschliessend erhielt <strong>Taylor</strong> eine juristische Ausbildung in der Kanzlei<br />

seines Onkels Pendleton. Diese beendete er 1774. Noch im gleichen Jahr wurde er als Anwalt zu<br />

den Gerichten seines Heimatstaates zugelassen. 21<br />

Der 1775 ausbrechende Amerikanische Unabhängigkeitskrieg, der sich bis zur Kapitulation der<br />

Engländer unter Lord Cornwallis in Yorktown 1781 hinzog, hatte dann einen prägenden Einfluss<br />

auf den gerade erwachsen gewordenen <strong>John</strong>. Begeistert schloss er sich einem virginischen Regiment<br />

der Kontinentalarmee an, stieg bis in den Rang eines Hauptmannes (major) auf und verliess die Ar-<br />

17 Wood (1969: 589).<br />

18 Vile (1967: 183).<br />

19 Watts (1987: 17f.).<br />

20 Edmund Pendleton (1721-1803) war vor der Revolution zudem Mitglied des House <strong>of</strong> Burgess (dem kolonialen Unterhaus),<br />

des Kontinentalkongresses (der die amerikanischen Kolonien in die Unabhängigkeit führte), Vorsteher des<br />

Committee <strong>of</strong> Public Safety des virginischen Revolutionsparlaments (dem machtvollsten Exekutivausschuss in Virginia<br />

während der Zeit des Unabhängigkeitskrieges), ein Anhänger der neuen Bundesverfassung, für deren Annahme er<br />

sich im Ratifikationskonvent <strong>von</strong> Richmond aussprach und schliesslich Präsident des Virginia Court <strong>of</strong> Appeals. Siehe<br />

dazu Shalhope (1980a: 20f., 112) und Simms (1932: 34).<br />

21 Zu <strong>Taylor</strong>s Jugend siehe Simms (1932: 1-8), Shalhope (1980a: 13-19), Tate (2001: 196) und McClellan (2000: xv-xvi).


6<br />

mee 1779, nachdem er auf verschiedenen Schlachtfeldern des Nordens gekämpft hatte. 22 Seine im<br />

Krieg gemachten Erfahrungen und die in der Kontinentalarmee angetr<strong>of</strong>fene Korruption liessen<br />

erstmals die Überzeugung in ihm aufkommen, dass ernsthafte Differenzen zwischen den nördlichen<br />

und südlichen Teilen der Union bestanden. In einem Brief an Pendleton aus dem Jahr 1777 beschwerte<br />

er sich, dass "the armies <strong>of</strong> the northern states are really mercenaries, and being foreigners<br />

have no attachment to the country". Zu seiner Enttäuschung stellte er fest, dass "enlistments are<br />

rare in the provinces north <strong>of</strong> Maryland, especially in North England; all the stories <strong>of</strong> regiments<br />

complete in New York and New Jersey are utterly false; ours is the fullest regiment in service". 23<br />

Nach seiner Rückkehr nach Virginia wurde <strong>Taylor</strong> 1779 in die Virginia General Assembly, das Abgeordnetenhaus<br />

des <strong>St</strong>aates gewählt, in der er - mit Ausnahme des Jahres 1782 - bis 1785 als<br />

Abgeordneter Einsitz nahm. <strong>Taylor</strong> unterstützte Jeffersons grosses Projekt für die Etablierung der<br />

Religionsfreiheit in Virginia und stimmte - gegen den Protest seines Onkels Edmund Pendleton - für<br />

die Trennung <strong>von</strong> Kirche und <strong>St</strong>aat. 1779 präsentierte <strong>Taylor</strong> der General Assembly einen Gesetzesentwurf,<br />

der die Einrichtung eines land <strong>of</strong>fice in Virginia vorschlug. Zweck des Gesetzes war es, durch<br />

den Verkauf <strong>von</strong> qualitativ schlechtem Land im Westen an Ausländer Virginias <strong>St</strong>aatskasse zu füllen,<br />

um damit die <strong>St</strong>aatsschuld abzutragen. In letzterer erblickte <strong>Taylor</strong> eine Quelle der <strong>politische</strong>n Korruption.<br />

24 1781 wurde <strong>Taylor</strong> dann zum lieutenant colonel der Miliz <strong>von</strong> Virginia ernannt, ein Titel, der<br />

seinen Patriotismus symbolisierte und den der Bürgersoldat <strong>Taylor</strong> während seines ganzen restlichen<br />

Lebens stolz trug. Im Sommer desselben Jahres griff die britische Armee unter Lord Cornwallis und<br />

Benedict Arnold Virginia an, das bloss <strong>von</strong> einer kleinen Zahl <strong>von</strong> regulären Truppen unter Lafayette<br />

verteidigt wurde. Frustiert über die mangelnde Unterstützung aus dem Norden setzte die General<br />

Assembly einen Sonderausschuss mit <strong>Taylor</strong>, Patrick Henry und <strong>John</strong> Tyler Sr. ein, um sich beim<br />

Kontinentalkongress über das Fernbleiben der Hilfe aus Neu England zu beschweren. Die Eingabe<br />

des Komitees wurde <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> verfasst und <strong>von</strong> ihm der General Assembly präsentiert. "Ere the war<br />

begun", erinnerte <strong>Taylor</strong> die <strong>St</strong>aaten des Nordens, "we heard the cries <strong>of</strong> our brethren at Boston and<br />

paid the tax due to their distress. When we [...] look for our Northern allies", beschwerte er sich<br />

dann bitterlich, "after we had thus exhausted our powers in their defense [...] they are not to be<br />

found [...]." Für <strong>Taylor</strong> war Virginia das Herzstück der neuen Nation: "Virginia then impoverished<br />

by defending the Northern department, exhausted by the Southern War, now finds the whole weight<br />

upon her shoulders." 25 Obwohl sie nicht veröffentlicht wurde, kann <strong>Taylor</strong>s Anklage als "one <strong>of</strong> the<br />

22 Siehe dazu Simms (1932: 11) und McClellan (2000: xvi). Tate (2001: 197) weist darauf hin, dass <strong>Taylor</strong> zwecks Finanzierung<br />

seines Militärdienstes sein gesamtes Land, das er geerbt hatte, verkaufte. Dieses in Papiergeld angelegte kleinere<br />

Vermögen verlor er dann im Laufe des Krieges aufgrund der horrenden Kriegsinflation.<br />

23 Zitiert nach Simms (1932: 11, 12). Siehe dazu auch Tate (2001: 197): "[...] <strong>Taylor</strong> believed that the South had protected<br />

the nation’s honor and had borne the brunt <strong>of</strong> the war effort. After failing to be promoted despite his good<br />

performance in battle, <strong>Taylor</strong> resigned in 1779 and returned to Virginia."<br />

24 Tate (2001: 198). Tate verweist auf ein weiteres Projekt <strong>Taylor</strong>s, das im Widerspruch zu den <strong>von</strong> ihm später geltend<br />

gemachten Prinzipien stand: "[<strong>Taylor</strong>] took also the lead in settling a border dispute between Virginia and North Carolina<br />

[...]. Both <strong>Taylor</strong> and Edmund Pendleton had financial interests in the case, for they owned land in the disputed<br />

territory. In this instance, <strong>Taylor</strong> seemed to have forgotten his principle that private interests should not determine<br />

government policy." Hinweise auf derartige Geschäfte finden sich auch bei Shalhope (1980a: 29ff.).<br />

25 <strong>Taylor</strong> (1781), Remonstrance to the Congress Regarding the Indifference to the South’s Plight, 40f. Die General Assembly nahm das<br />

Eingabeschreiben dann nicht an. Siehe dazu Tate (2001: 199).


7<br />

first formal expressions <strong>of</strong> a schism between the northern and southern states in American history"<br />

bezeichnet werden. 26<br />

Nach der Kapitulation der Briten bei Yorktown (Oktober 1781) und dem Ende des Unabhängigkeitskrieges<br />

wendete sich <strong>Taylor</strong> verstärkt seiner Tätigkeit als Anwalt und der Politik zu. 1783 heiratete<br />

er Lucy Penn, die Tochter des wohlhabenden Anwalts und Pflanzers <strong>John</strong> Penn, eines Unterzeichners<br />

der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Mit Lucy hatte <strong>Taylor</strong> sechs Söhne und<br />

zwei Töchter. Auch im beruflichen Bereich war ihm das Glück hold: <strong>Taylor</strong> war ein erfolgreicher<br />

junger Anwalt und begann sich ab Mitte der 1780er Jahre - nachdem ihm <strong>John</strong> Penn 15 Sklaven<br />

vermacht hatte - als Pflanzer und Sklavenhalter einzurichten. 1784 besass <strong>Taylor</strong> bereits 27 Sklaven,<br />

die er alle jeweils bar bezahlte, um so dem Verschuldungskreislauf zu entgehen, dem so viele Pflanzer<br />

in Virginia zum Opfer fielen. 27 Anders etwa als andere grosse Sklavenhalter in Virginia, z.B.<br />

Thomas Jefferson oder <strong>John</strong> Randolph <strong>of</strong> Roanoke, hatte <strong>Taylor</strong> seinen Pflanzerstatus nicht geerbt,<br />

sondern sich diesen <strong>St</strong>atus - begünstigt zwar durch die stattliche Mitgift seiner Frau Lucy - durch<br />

harte Arbeit selber erworben. Dieser <strong>St</strong>atus des self-made man beeinflusste sein Gesellschaftsideal und<br />

sein Ideal einer republikanischen Arbeitsethik. 28 <strong>Taylor</strong> verdiente jährlich etwa 10'000 Dollar - für die<br />

damalige Zeit, in der ein Angehöriger der Mittelklasse komfortabel mit einem Betrag <strong>von</strong> 1'000 Dollar<br />

pro Jahr leben konnte, eine grosse Summe - und konnte nach zehn Jahren Anwaltstätigkeit in den<br />

Ruhestand treten. Die 1780er Jahre waren damit für <strong>Taylor</strong> - im wortwörtlichen Sinne - ein goldenes<br />

Jahrzehnt gewesen. 29<br />

1792 kaufte <strong>Taylor</strong> Hazelwood, eine Plantage am Rappahannock River in der Nähe <strong>von</strong> Port<br />

Royal, wo er sich während seines restlichen Lebens der Landwirtschaft, der Politik, seinen Büchern<br />

26 Baritz (1969: xii). <strong>Taylor</strong> übernahm anschliessend das Kommando über Miliztruppen an der Ostküste und schloss<br />

sich in den Wochen vor Cornwallis’ Kapitulation bei Yorktown (17. Oktober 1781) den Truppen unter Lafayette an.<br />

27 Zum Problem der Verschuldung in Virginia siehe Sloane (1995: 13-49).<br />

28 <strong>Taylor</strong> schrieb über seinen Schwiegervater <strong>John</strong> Penn eine kurze, undatierte und nicht publizierte Lebensbeschreibung<br />

(Sketch <strong>of</strong> the Life <strong>of</strong> <strong>John</strong> Penn), die sein Biograph Robert Shalhope (1980a: 34) "as self-reavealing as anything<br />

<strong>Taylor</strong> ever wrote" bezeichnet hat. Nach Tate (2001: 320) <strong>of</strong>fenbart <strong>Taylor</strong>s Skizze bündig und klar formuliert "<strong>Taylor</strong>’s<br />

libertarian, laissez faire social vision". <strong>Taylor</strong> feiert Penns Leben als eine Mischung aus Gemeinwohlorientierung,<br />

Freiheitsliebe und Leistungsethik und Penn als Verkörperung des Ideals des self-made man. Tate (2001: 324)<br />

schreibt dazu: "<strong>Taylor</strong>’s Life <strong>of</strong> <strong>John</strong> Penn described the American Ideal to which <strong>Taylor</strong> aspired. In many ways, <strong>Taylor</strong><br />

was a self made man. Though well connected through his kinship to Edmund Pendleton, <strong>Taylor</strong>’s patrimony, which<br />

he sold on credit, did not make him an extremely wealthy man by the standards <strong>of</strong> the Virginia gentry."<br />

29 Bei Baritz (1969: xiv) findet sich auch der Hinweis darauf, dass die Jahre unter den Konföderationsartikeln <strong>von</strong> 1781,<br />

der ersten Verfassung der Vereinigten <strong>St</strong>aaten, für <strong>Taylor</strong> ein golden age darstellten. Zu <strong>Taylor</strong>s Anwaltstätigkeit siehe<br />

Tate (2001: 199ff.) und Baritz (1969: xii). In seinen Prozessen traf <strong>Taylor</strong> häufig auf seinen späteren Widersacher<br />

<strong>John</strong> Marshall. In einigen dieser Prozesse sind bereits die Wurzeln ihrer späteren Positionen erkennbar. So argumentierte<br />

<strong>Taylor</strong> im Prozess Bracken vs. William and Mary, wo es um eine Auslegung der Natur der College-Charter ging, für<br />

eine strikte, eng am Wortlaut orientierte Auslegung, wohingegen Marshall für eine breite Auslegung eintrat. <strong>Taylor</strong>s<br />

berühmtester Fall wurde 1795 vor dem circuit court der Vereinigten <strong>St</strong>aaten in Richmond verhandelt, wobei es um die<br />

Verfassungsmässigkeit der vom Kongress erhobenen Kutschensteuer (carriage tax) ging. <strong>Taylor</strong>s Argumente wurden<br />

1795 publiziert (unter dem Titel An Argument respecting the Constitutionality <strong>of</strong> the Carriage Tax), nicht weil er den Prozess<br />

für seinen Mandanten entscheiden konnte (er verlor ihn vielmehr), sondern weil er eine antiföderalistische Interpretation<br />

der Verfassung präsentierte und eine solche bei vielen Konservativen des Südens auf Interesse stiess. Nach<br />

<strong>Taylor</strong> verletzte die Kutschensteuer das Gleichbehandlungsgebot der Einzelstaaten - das zentrale Prinzip in einem<br />

<strong>St</strong>aatenbund - und erlaubte den <strong>St</strong>aaten des Nordens, eine <strong>St</strong>euer auf Kosten der Südstaaten zu erheben. Eine solche<br />

<strong>St</strong>euer schuf einen gefährlichen Präzedenzfall für eine Politik, die es einem Teil der <strong>St</strong>aaten erlaubte, Herrschaft über<br />

den anderen Teil auszuüben. Siehe dazu Tate (2001: 200) und Gutzman (2000: 479f.).


8<br />

und der Verteidigung der republikanischen Sache widmete. 30 Hazelwood wurde zu <strong>Taylor</strong>s Lebzeiten<br />

bei manchem Politiker aus den Südstaaten zu einem bevorzugten Zwischenhalt auf der beschwerlichen<br />

Reise nach Washington oder zurück. Ein Besucher aus dem Jahre 1814 berichtet, dass<br />

er dort einen "old grey-headed gentleman in an old fashion’d dress, plain in manners, full <strong>of</strong> politics;<br />

and fond <strong>of</strong> conversational debate" angetr<strong>of</strong>fen habe. "He lives [...] on the finest farm I have ever<br />

seen. In front <strong>of</strong> his door he has 800 acres in clover, 300 acres in corn, 2 or 300 acres in wheat and<br />

rye all in perfect plain." 31 <strong>Taylor</strong> investierte all sein Vermögen in Sklaven und Land und war zum<br />

Zeitpunkt seines Rückzugs <strong>von</strong> seiner Anwaltstätigkeit Eigentümer <strong>von</strong> Ländereien im Wert <strong>von</strong><br />

über 100’000 Dollar. Seine drei Plantagen, neben Hazelwood besass er noch zwei Plantagen namens<br />

Hayfield und Mill Hill, prosperierten unter seiner sorgfältigen Verwaltung, und schliesslich gehörte<br />

<strong>Taylor</strong> mit 34 Jahren zu den 100 reichsten Bürgern Virginias. Sein Besitz an Sklaven und Land sollte<br />

auch in Zukunft weiter wachsen. Im Jahr 1810 war er schliesslich Herr über 145 Sklaven und Besitzer<br />

<strong>von</strong> drei Plantagen in Virginia, <strong>von</strong> Ländereien im westlichen Teil Kentuckys und <strong>von</strong> mehr als<br />

5'000 acres an Land, die er für seinen Dienst in der Kontinentalarmee erhalten hatte. 32 <strong>Taylor</strong> scheint<br />

an landwirtschaftlichen Fragen und Problemen ebenso interessiert gewesen zu sein wie an verfassungsrechtlichen,<br />

<strong>politische</strong>n und ökonomischen Fragestellungen. So erklärte er in einem Brief an<br />

Jefferson, "a spice <strong>of</strong> fanaticism [is] in my nature upon two subjects - agriculture and republicanism,<br />

which all who set in motion, are sure to suffer by". 33 Auf Hazelwood wurde <strong>Taylor</strong> schliesslich zur<br />

klassischen Figur der republikanischen Tradition: "The example <strong>of</strong> an almost Roman virtus, the Virginia<br />

Cato, who soldiers, enforces the law, writes in its defence and <strong>of</strong> the life it secures, and serves<br />

the state well when called to <strong>of</strong>fice because he has something better to do - because there are lands<br />

and people <strong>of</strong> whose good he is a faithful steward." 34<br />

Und <strong>Taylor</strong> wurde häufig in ein Amt gerufen. In der Zeit <strong>von</strong> 1792 bis 1794 nahm er für eine<br />

zweijährige Amtszeit als Ersatz für Richard Henry Lee im US-Senat Einsitz, lehnte dann aber 1794<br />

das ihm für eine sechsjährige Amtszeit angebotene Senatorenamt ab. 35 Zwei Jahre später wurde <strong>Taylor</strong><br />

erneut in die General Assembly seines Heimatstaates gewählt, in der er bis 1800 Einsitz nahm. Drei<br />

Jahre später (1803) wurde er dann ein zweites Mal in den Senat berufen, um nochmals als Ersatzmann<br />

einzuspringen. Er diente <strong>von</strong> Juni bis Dezember 1803 im Senat und lehnte es dann - zur grossen<br />

Konsternation der Virginia Republicans - wiederum ab, zur Wiederwahl anzutreten. Anschliessend<br />

vergingen 20 Jahre, bis <strong>Taylor</strong> ein weiteres Mal als Vertreter Virginias in den Senat geschickt<br />

30 <strong>Taylor</strong> besass nachweislich eine umfangreiche Bibliothek. Da er sie jedoch per Testament auf vier seiner Söhne verteilte<br />

und diese sie wiederum auf verschiedene Erben aufteilten, hat sich ihr Bestand weit verstreut. Der Inhalt <strong>von</strong><br />

<strong>Taylor</strong>s Bibliothek bleibt bis heute im Dunkeln. Siehe dazu Hill (1977: 311), Davis (1979: 6) und Simms (1932: 224).<br />

31 Zitiert nach Baritz (1969: xii).<br />

32 Baritz (1969: xii).<br />

33 Brief <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> an Thomas Jefferson, 5. März 1795, zitiert nach: Shalhope (1980a: 108).<br />

34 Bradford (1977: 15).<br />

35 Richard Henry Lee war einer der führenden <strong>politische</strong>n Köpfe Virginias, Unterzeichner der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung,<br />

langjähriger Freund <strong>von</strong> <strong>John</strong> und Samuel Adams. Lee lehnte es ab, am Verfassungskonvent<br />

<strong>von</strong> Philadelphia teilzunehmen, und opponierte gegen die Ratifikation der Bundesverfassung <strong>von</strong> 1787. Gemäss der<br />

Bundesverfassung <strong>von</strong> 1787 waren die Senatoren <strong>von</strong> der Legislative des jeweiligen Einzelstaates zu wählen (Art. 1<br />

Sec. 3 [1] Cst.), in Virginia wurden sie durch den Wahlentscheid der General Assembly bestimmt.


9<br />

wurde, auch hier wieder, um die verbleibende Amtszeit eines zurückgetretenen Senators zu erfüllen.<br />

Dieses letzte Mal übte er sein Amt bis zu seinem Tod am 21. August 1824 aus.<br />

<strong>Taylor</strong> opponierte 1789, wie viele andere Virginier auch, gegen die Annahme der neuen Bundesverfassung,<br />

wurde dann aber 1792 vom Parlament Virginias in den US-Senat gewählt. 36 Im Senat<br />

attackierte er die Finanzpolitik <strong>von</strong> Schatzkanzler Alexander Hamilton mit ihren Programmen zur<br />

Übernahme und Fundierung der Einzelstaatenschulden, ihren Vorhaben zur Errichtung einer Nationalbank<br />

und zur Förderung des inländischen Manufaktursektors aufs Schärfste. Trotz der Kürze<br />

und Unregelmässigkeit, die <strong>Taylor</strong>s Auftritte als Parlamentarier auf Bundesebene auszeichnen, wird<br />

im Allgemeinen anerkannt, dass er eine beherrschende Präsenz im Senat ausübte, ein fähiger Debattierer<br />

und talentierter Redner war und im Parlament ebenso wirkungsvoll agierte wie im Gerichtssaal.<br />

37 James Madison schrieb etwa nach <strong>Taylor</strong>s Ankündigung, nach Ablauf seiner Amtszeit zurücktreten<br />

zu wollen, an dessen Onkel Pendleton: "We have been charmed with the successor to Col.<br />

R[ichard] H[enry] L[ee] & [I want] to entreat your co-operation with a number <strong>of</strong> his other friends in<br />

overcoming his repugnance to his present station. His talents during the fraction <strong>of</strong> time he has been<br />

on the federal theatre have been <strong>of</strong> such infinite service to the republican cause, and such a terror to<br />

its adversaries, that his sudden retirement, on which he is strongly bent, ought to be regarded as a<br />

public calamity." 38 Noch mehr als seine Reden legten aber seine Schriften das Fundament für die<br />

Opposition der Jeffersonian Republicans gegen den <strong>von</strong> Schatzkanzler Alexander Hamilton angestrebten<br />

militärisch-fiskalisch mächtigen <strong>St</strong>aat, der <strong>von</strong> einer staatlich geförderten Finanzoligarchie<br />

gestützt werden sollte. Im Jahr 1794 publizierte <strong>Taylor</strong> zwei einflussreiche Pamphlete, die Hamilton<br />

und seinen finance capitalism attackierten: An Enquiry into the Principles and Tendency <strong>of</strong> Certain Public<br />

Measures und Definition <strong>of</strong> Parties; or, the Political Effects <strong>of</strong> the Paper System Considered. Zumindest auf lokaler<br />

Ebene lösten diese Schriften beträchtlichen Wirbel aus und blieben nicht ohne Einfluss. So<br />

schrieb Edmund Randolph, ein Mitglied <strong>von</strong> Präsident George Washingtons damaligem Kabinett:<br />

"Fredericksburg is inflamed by the doctrines <strong>of</strong> Col. <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> [...]. It would astonish you,<br />

sir, to learn the success which has attended his efforts to rouse the cool and substantial planters." 39<br />

<strong>Taylor</strong> kritisierte eine breite Auslegung der Verfassung, die <strong>von</strong> impliziten Verfassungsbefugnissen<br />

ausging, die Errichtung einer Nationalbank, die Einführung einer Umsatzsteuer, den Aufbau einer<br />

regulären Armee, Schutzzölle und alle weiteren Punkte <strong>von</strong> Hamiltons Politik. Er fürchtete die Folgen<br />

eines starken Zentralstaates und der Schaffung einer künstlichen Finanzaristokratie. Die Wur-<br />

36 Für <strong>Taylor</strong>s Zuordnung zu den Antifederalists siehe Tate (2001: 201), Simms (1932: 47ff.) und Baritz (1969: xiii-xiv).<br />

Pendleton, <strong>Taylor</strong>s Onkel und Oheim, schrieb über <strong>Taylor</strong>s antifederalism: "He had objections to the Federal Constitution,<br />

as who had not [der Ratifizierungskonvent <strong>von</strong> Virginia nahm die Bundesverfassung nur mit einer äusserst<br />

knappen <strong>St</strong>immenmehrheit <strong>von</strong> 52 gegen 48 Prozent an, a.d.V.]? But when ratified, he has ever considered it as a fix<br />

rule <strong>of</strong> conduct to the whole society, governors and governed; and holds it to be a sacred duty in himself and every<br />

other citizen to watch over and guard it from violations by their several agents in the administration. Being wisely<br />

hostile to the project <strong>of</strong> one general government for the whole United <strong>St</strong>ates, he has been particularly attentive to the<br />

strides <strong>of</strong> the Federal government, which encroached upon the reserved rights <strong>of</strong> the state governments, and tended<br />

to their annihilation." Pendleton (n.d.), The History <strong>of</strong> Col. <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> County.<br />

37 McClellan (2000: xix); Tate (2001: 201).<br />

38 Brief <strong>von</strong> James Madison an Edmund Pendleton, 23. Februar 1793, Writings, VI: 123, zitiert nach Baritz (1969: xiv).<br />

39 Brief <strong>von</strong> Edmund Randolph an George Washington, 24. Juni 1793, zitiert nach: Baritz (1969: xv). Siehe zu <strong>Taylor</strong>s<br />

Einfluss auch Gutzman (2000: S. 478f.).


10<br />

zeln der Macht der neuen Finanzoligarchie lokalisierte er in der Geldpolitik der neuen Administration,<br />

die mit einer Vielzahl <strong>von</strong> Besteuerungsinstrumenten Wohlstand <strong>von</strong> bestimmten gesellschaftlichen<br />

Klassen zur monied aristocracy transferieren konnte. 40<br />

1794 erklärte <strong>Taylor</strong>, angewidert vom Fehlen jeglicher Prinzipientreue seitens der Federalists, seinen<br />

Rücktritt aus dem Kongress. 1796 agierte er in den Präsidentschaftswahlen als Elektor für<br />

Thomas Jefferson und im selben Jahr wurde er in das Abgeordnetenhaus Virginias gewählt, in dem<br />

er bis 1800 Einsitz nahm. In dieser Zeit sass <strong>Taylor</strong> in verschiedenen wichtigen Ausschüssen. Einer<br />

seiner bedeutendsten intellektuellen Beiträge zur amerikanischen Verfassungsgeschichte war der <strong>von</strong><br />

ihm erbrachte Anteil zur Ausarbeitung und Verteidigung der Virginia-Resolutionen <strong>von</strong> 1798.<br />

Vorangegangen war den Resolutionen (die <strong>von</strong> ähnlichen Resolutionen in Kentucky unterstützt<br />

wurden) der Erlass der Fremden- und Aufruhrgesetze (Alien- and Sedition Acts) durch die Administration<br />

<strong>von</strong> Präsident <strong>John</strong> Adams. Die Erlasse verletzten aus dem Blickwinkel der Jeffersonian<br />

Republicans die Bundesverfassung (u.a. die föderale Kompetenzordnung und die Meinungsäusserungs-<br />

und Pressefreiheit). Die gesetzgebenden Parlamente <strong>von</strong> Virginia und Kentucky erklärten<br />

daraufhin die Gesetze für verfassungswidrig und nahmen für die <strong>St</strong>aaten das Recht in Anspruch, das<br />

Veto gegen Verfassungsübertretungen des Bundes einlegen zu dürfen und sich vor ihre Bürger zu<br />

stellen und deren Rechte zu verteidigen. Der Verfasser der Virginia-Resolutionen war James Madison,<br />

derjenige der Kentucky-Resolutionen Thomas Jefferson. <strong>Taylor</strong> trug die Hauptlast ihrer Einbringung<br />

und Verteidigung in der Legislative Virginias und war damit massgeblich an ihrer erfolgreichen<br />

Verabschiedung beteiligt. Er beabsichtigte, den Gegensatz auf einen <strong>of</strong>fenen Konflikt zwischen<br />

den Bundesbehörden und dem Gliedstaat Virginia hin zu steuern, zog sein Ansinnen dann<br />

aber aufgrund <strong>von</strong> Jeffersons fehlender Unterstützung zurück. 41<br />

<strong>Taylor</strong>s Vertrauen in die Fähigkeit seiner Landsleute, ein republikanisches Regierungssystem aufrechtzuerhalten,<br />

verflüchtigte sich in diesen Jahren der Herrschaft der Federalists mehr und mehr.<br />

So heisst es in einem Brief an Jefferson vom Februar 1799: "I hope I have mistaken our national<br />

40 Beard (1915: 205f.); Banning (1978: 193-204). Weitere Pamphlete, die <strong>Taylor</strong> in dieser Periode zugeordnet werden,<br />

bei denen aber wegen ihrer anonym erfolgten Publikation <strong>Taylor</strong>s Autorschaft nicht mit Sicherheit bestätigt werden<br />

kann, sind erstens Paradox (1792), zweitens An Examination <strong>of</strong> the Late Proceedings in Congress, respecting the Official Conduct<br />

<strong>of</strong> the Secretary <strong>of</strong> the Treasury (1793) und drittens Reflections on Several Subjects (1793). Auf die zweifelhafte Autorschaft<br />

<strong>Taylor</strong>s betreffend der ersten und dritten <strong>St</strong>reitschrift verweist Banning (1978: 182f., Fn. 10 und Fn. 12; 200, Fn. 55),<br />

auf die des zweiten Pamphlets verweisen Shalhope (1980a: 218), Lloyd (1973: 381) und Hill (1977: 24, Fn. 34). Als<br />

möglicher Autor <strong>von</strong> An Examination (1793) wird <strong>Taylor</strong>s langjähriger Freund und Briefpartner, James Monroe, angeführt.<br />

Siehe dazu insb. Smith & Smith (1967: 174-180). Die in An Examination enthaltenen Ideen entsprechen aber,<br />

was ein Vergleich mit Definition <strong>of</strong> Parties (1794) und An Enquiry (1794) zeigt, denen <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>, so dass das Werk<br />

auch gut <strong>von</strong> ihm stammen könnte. Diese Einsicht teilt etwa MacLoed (1980: 388, Fn. 3).<br />

41 Tate (2001: 204f.); Baritz (1969: xvi-xvii). <strong>Taylor</strong>s Sorgen gegenüber der antirepublikanischen Politik der Federalists<br />

gingen so weit, dass er <strong>von</strong> 1797 bis 1798 sogar mit dem Gedanken einer Abspaltung Virginias <strong>von</strong> der Union spielte<br />

(als letztes Mittel der Opposition). <strong>Das</strong>s <strong>Taylor</strong> aber nicht grundsätzlich gegen die Union war, hatte ein Ereignis im<br />

Jahr 1794 gezeigt. <strong>Taylor</strong> war damals im Senat in einer geheimen Unterredung <strong>von</strong> zwei föderalistischen Senatoren,<br />

Rufus King und Oliver Ellsworth, der Vorschlag unterbreitet worden, die Union einvernehmlich aufzulösen, da der<br />

Süden und der Norden <strong>of</strong>fensichtlich zu verschiedene Interessen vertreten würden. <strong>Taylor</strong> antwortete ihnen darauf,<br />

dass er die Union grundsätzlich unterstütze und dass der Gegensatz zwischen Nord und Süd seiner Meinung nach<br />

ein künstlicher sei, den Hamiltons Finanzpolitik zu verantworten habe. <strong>Taylor</strong> erklärte, dass man vor einer friedlichen<br />

Auflösung der Union versuchen müsse, die Ursachen dieses künstlichen Gegensatzes zu beseitigen. Siehe dazu<br />

<strong>Taylor</strong> (1794), Disunion Sentiment in Congress, 21ff.


11<br />

character, but it appears to unfold itself by an insensibility to the efforts [<strong>of</strong>] tyranny and despotism,<br />

exhibiting in the background sordid avarice and skulking fear." Und im Herbst des selben Jahres: "I<br />

give up all for lost. The malady <strong>of</strong> government is monopoly. This is creeping and creeping into<br />

ours." 42 Solange kein wirklicher Wechsel zu <strong>St</strong>ande kam, solange wollte <strong>Taylor</strong> das öffentliche Leben<br />

<strong>von</strong> nun an meiden und sich ausschliesslich seinen landwirtschaftlichen Tätigkeiten auf Hazelwood<br />

widmen: "If the republicans fail [...] I will bid adieu to politics, and only endeavour to raise and eat<br />

my cabbages and potatoes, 'whatever king shall reign'." 43<br />

Nach der "Revolution <strong>von</strong> 1800", dem Wahlsieg der Jeffersonian Republicans in den Präsidentschafts-<br />

und Kongresswahlen des Jahres 1800, war <strong>Taylor</strong> während der ersten Administration <strong>von</strong><br />

Thomas Jefferson ein verlässlicher Parteigänger der Republicans. <strong>Taylor</strong> begrüsste den Wahlsieg<br />

zwar enthusiastisch, warnte aber gleichwohl, dass Regierungen nicht bloss <strong>von</strong> Individuen, sondern<br />

auch <strong>von</strong> den Verfassungsprinzipien abhängen, auf denen sie gründen. Vom Machtwechsel <strong>von</strong><br />

1801 und der Verdrängung der Federalists erwartete <strong>Taylor</strong>, wie andere radikale southernors auch, eine<br />

Rückkehr zu einer Politik gesunder republikanischer Prinzipien mittels weitgehender Verfassungsänderungen.<br />

Ihre H<strong>of</strong>fnungen ruhten dabei auf ihrem Parteiführer Jefferson. 44 In seiner Funktion als<br />

Volksvertreter in Virginias General Assembly beteiligte sich <strong>Taylor</strong> an der Ausarbeitung einer Wahlrechtsreform,<br />

welche die Wahl der Präsidentenelektoren seines Heimatstaates auf eine stärker demokratische<br />

Grundlage stellte und so Jeffersons Chancen auf eine Wiederwahl - der einfache Mann<br />

(common man) unterstützte in der Regel die Jeffersonians - verbessern sollte. In seiner kurzen Zeit im<br />

Senat (Oktober 1803) verteidigte <strong>Taylor</strong> den Louisiana Purchase der Jefferson Administration, d.h. den<br />

Kauf eines riesigen Gebietes, das sich vom Mississippi bis zur Westküste des nordamerikanischen<br />

Kontinents erstreckte und vormals den Franzosen gehörte. <strong>Taylor</strong> behauptete, dass der Bund die<br />

Kompetenz besitzt, mittels Krieg und Vertragsabschluss Land zu akquirieren, obwohl sich diesbezüglich<br />

keine explizite Bestimmung in der Verfassung findet. Die <strong>St</strong>aaten, so seine Begründung, hätten<br />

dieses Recht mit der Ratifikation der Bundesverfassung an die Bundesbehörden übertragen.<br />

Darüber hinaus unterstützte er die Verabschiedung des zwölften Verfassungsamendments durch<br />

den Kongress, das seiner Ansicht nach helfen sollte, die Korrumpierung der Legislative in zukünftigen<br />

Präsidentenwahlen zu verhindern. Als Höhepunkt seiner Unterstützung der Politik der Democratic<br />

Republicans veröffentlichte <strong>Taylor</strong> ein Pamphlet, indem er die Politikergebnisse <strong>von</strong> Präsident<br />

Jeffersons erster Amtszeit verteidigte und heftig für die Wiederwahl seines Landsmannes plädierte. 45<br />

Zudem agierte er als Elektor für Jefferson in den Präsidentenwahlen <strong>von</strong> 1804. 46<br />

42 Brief <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> an Thomas Jefferson, 15. Februar 1799; Brief <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> an Thomas Jefferson, 14.<br />

Oktober 1799, beide in: <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> Correspondence, 279.<br />

43 Zitiert nach Simms (1932: 73).<br />

44 Baritz (1969: xvii-xviii).<br />

45 <strong>Taylor</strong> [Curtius] (1804/5), A Defence <strong>of</strong> the Measures <strong>of</strong> the Administration <strong>of</strong> Thomas Jefferson. Auch bei diesem Pamphlet<br />

ist <strong>Taylor</strong>s Autorschaft nicht ganz geklärt. Als ein möglicher Autor wird auch James Monroe genannt. Siehe dazu<br />

Shalhope (1980a: 220) und Lloyd (1973: 165, 381). Ein Vergleich mit anderen Schriften <strong>Taylor</strong>s zeigt aber wiederum,<br />

dass <strong>Taylor</strong> durchaus (mit Ausnahme vielleicht der positiven Beurteilung <strong>von</strong> James Madison) der Verfasser <strong>von</strong> Defence<br />

<strong>of</strong> Jefferson sein kann.<br />

46 Siehe Tate (2001: 206) und Baritz (1969: xviii).


12<br />

Trotz seiner Zufriedenheit mit Jeffersons erster Amtszeit sorgte sich <strong>Taylor</strong>, der sich nur schlecht<br />

mit den Kompromissen und Widersprüchen des daily political business abfinden konnte, zunehmend<br />

um die Preisgabe republikanischer Prinzipien seitens der Republicans. Vor allem aber sorgte er sich<br />

um Jeffersons Prinzipien. 1803 warnte <strong>Taylor</strong> vor einer new sect <strong>of</strong> republicans, die im Kongress auftauchte<br />

und die er drei Jahre später als diejenigen Kongressmitglieder identifizierte, die sich durch<br />

Geldinteressen korrumpieren und durch den Köder <strong>politische</strong>r Patronage locken liessen. <strong>Taylor</strong> war<br />

fest da<strong>von</strong> überzeugt, dass sich die Jeffersonian Republicans zwecks Beförderung ihrer Sonderinteressen<br />

mit den Federalists verbünden würden. Da er seine ganzen H<strong>of</strong>fnungen in Jefferson und dessen<br />

Fähigkeiten setzte, der zunehmenden Korruption Einhalt zu gebieten, drängte er ihn zur Einleitung<br />

<strong>von</strong> Verfassungsreformen wie der Einführung <strong>von</strong> kürzeren Amtszeiten (Präsident und Senat)<br />

oder einer Ämterrotation. Als Jefferson aber keine Anstalten machte, Reformen einzuleiten, und den<br />

<strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> misstrauisch beäugten James Madison als seinen Nachfolger akzeptierte, wandte sich<br />

<strong>Taylor</strong> in zunehmendem Masse der Bewegung der Tertium Quids zu, einer oppositionellen Splittergruppe<br />

der Republicans. 47 Schuld daran war die <strong>von</strong> Jefferson propagierte Politik der Versöhnung,<br />

die den Kompromiss zwischen Republicans und Federalists suchte:<br />

There were a number <strong>of</strong> people who soon thought, and said to one another, that Mr. Jefferson did many<br />

good things, but neglected some better things; and who now view his policy, as very like a compromise with<br />

Mr. Hamilton’s [...]. This mixture <strong>of</strong> federal and republican policy gained no federalists and disgusted many<br />

republicans [...] Federalism, indeed having been defeated, has gained a new footing, by being taken into partnership<br />

with republicanism. It was this project which divided the republican party by changing its principles<br />

from real to nominal; and it ought to be met and opposed in all its pernicious consequences. 48<br />

1803 begann <strong>Taylor</strong>, eine Serie <strong>von</strong> Artikeln für eine lokale Zeitung zu schreiben, die er dann 1813<br />

in einer Sammlung unter dem Titel Arator: Being a Series <strong>of</strong> Agricultural Essays, Practical and Political publizierte.<br />

49 M. E. Bradford schreibt über <strong>Taylor</strong>s Arator-Essays: "<strong>Taylor</strong> is like Cato [...] in treating<br />

advice on farming as a species <strong>of</strong> moral instruction [...] [for] Arator is about the social order <strong>of</strong> an<br />

agricultural republic, and not just about farming." 50 Ein erster, grösserer Teil des Buches beschäftigte<br />

47 Siehe dazu Jeffersons First Inaugural Address vom 4. März 1801 ("We are all Republicans, we are all Federalists"), in:<br />

Jefferson (1984: 492-496, insb. 493). Durch Jeffersons Kompromissbereitschaft, so <strong>Taylor</strong>s Vorwurf, seien die Federalists<br />

als verkappte Republikaner wieder an die Futtertröge der Macht zurückgekehrt. Er liess Monroe, den er als<br />

Nachfolger <strong>von</strong> Jefferson gegenüber Madison vorzog, wissen, dass Jeffersons "fame would have been greater except<br />

for his goodness [...] [which] has in some cases kept him in the beaten track, and in other exposed him to the influence<br />

<strong>of</strong> advisors". <strong>Taylor</strong> war überzeugt, dass Jefferson letztendlich all seine "former opinions" aufgeben würde,<br />

"none <strong>of</strong> which I have yet seen satisfactorily exploded even by himself". Brief <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> and James Monroe, 8.<br />

November 1809, in: <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> Correspondence, 303.<br />

48 Brief <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> an James Monroe, 26. Oktober 1810, <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> Correspondence, 310. Zu <strong>Taylor</strong>s Unterstützung<br />

des Quids Schism, der ihm heftigste Kritik <strong>von</strong> Seiten der Republicans einbrachte, siehe Tate (2001: 207-209), Baritz<br />

(1969: xviii-xix), Ammon (1963: 33ff.), Risjord (1965: 37f., 70f., 96f.) und Cunningham (1963: 262ff.). Siehe auch den<br />

Brief <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> an James Madison vom 15. Januar 1808: "Does Thomas Jefferson think an army <strong>of</strong> 32'000 men,<br />

less dangerous than an English invasion. Does he think our carrying trade, beneficial to a few capitalists only, a sufficient<br />

recompense for ingrafting a perpetual funding system in our policy?" Zitiert nach Gutzman (1999: 329).<br />

49 Der Arator war <strong>Taylor</strong>s erfolgreichstes Buch. Insgesamt erfuhr das Werk sieben Auflagen: 1813: 1. Auflage, anonym<br />

publiziert; 1814: 2. Auflage, ab nun publiziert unter <strong>Taylor</strong>s Name. 1817: 3. Auflage; 1818: 4., 5. und 6. Auflage, alle<br />

bei Whitworth & Yancey, Petersburg, Virginia; 1840: 7. Auflage, Edmund Raffin (ed.), Farmers Register. Zur Publikationsgeschichte<br />

siehe Shalhope (1980b: 283-286), Bradford (1977: 47f.) und <strong>St</strong>ohrer (1980: 442-445).<br />

50 Bradford (1977: 37f.).


13<br />

sich mit Fragen zu landwirtschaftlichen Reformen und Techniken sowie mit Problemen der Verwaltung<br />

einer Plantage, ein zweiter, kleinerer Teil widmete sich dem political state <strong>of</strong> agriculture. <strong>Taylor</strong> betrachtete<br />

die Farmer und Pflanzer Amerikas als die "Wächter der Freiheit" und die Landwirtschaft<br />

als die "Mutter des Wohlstandes". Er beklagte den Niedergang des ländlichen Amerikas, die erbärmliche<br />

Lage seiner Farmer, den Verfall kleiner <strong>St</strong>ädte und den Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion.<br />

Zur Behebung dieser Missstände schlug er eine Reihe <strong>von</strong> landwirtschaftlichen und <strong>politische</strong>n<br />

Reformen vor. <strong>Taylor</strong>s Kritik galt auch den einzelstaatlichen Legislativen und deren gleichgültiger<br />

Haltung gegenüber dem Elend der Landbevölkerung: "Legislatures must begin to notice and<br />

discuss the state <strong>of</strong> agriculture before they can discover or remove the causes <strong>of</strong> the cadaverous<br />

countenance exhibited by the soil." 51 Darüber hinaus forderte er eine Reihe <strong>von</strong> Reformen auf Bundesebene<br />

(Reduktion <strong>von</strong> Zöllen und <strong>St</strong>euern, Abschaffung der die Landwirtschaft diskriminierenden<br />

Patronage und der Banken). Sein Ziel war die Kräftigung der ländlichen Gemeinschaft und die<br />

Wiederherstellung eines Gleichgewichts zwischen der städtischen und der ländlichen Welt Amerikas.<br />

52<br />

<strong>Taylor</strong>s Sorge um den Wohlstand der Landwirtschaft und die republikanische Freiheit kommt jedoch<br />

nicht bloss im Arator zum Ausdruck, sondern auch in seinem eigentlichen Hauptwerk, seinem<br />

"opus magnum", dem 1814 publizierten An Inquiry into the Principles and Policy <strong>of</strong> the Government <strong>of</strong> the<br />

United <strong>St</strong>ates. Arator und Inquiry bildeten für <strong>Taylor</strong> einander ergänzende Werke: "Arator is chiefly<br />

confined to agriculture, but it contains a few political observations. The Enquiry, to politics; but it<br />

labours to explain the true interest <strong>of</strong> the agricultural class. The affinity between the subjects, caused<br />

them to be intermingled." 53 <strong>Taylor</strong> hatte die Arbeit am Inquiry 1791 begonnen und schrieb 20 Jahre<br />

lang am seinem grossen Werk - wann immer seine Musse es ihm erlaubte. <strong>Das</strong> Buch enthält eine der<br />

heftigsten, aber auch scharfsinnigsten Attacken auf <strong>John</strong> Adams’ Defence <strong>of</strong> the Constitutions <strong>of</strong> the United<br />

<strong>St</strong>ates (1786-1787), die je geschrieben wurden. Der Inquiry nimmt vor allem aus zwei Gründen<br />

eine Randposition in der amerikanischen <strong>politische</strong>n Ideengeschichte ein. Erstens war <strong>Taylor</strong>s Kritik<br />

an Adams - für Adams glücklicherweise - lange verspätet, und als das Buch 1814 endlich publiziert<br />

wurde, interessierten sich nur noch wenige Leser für <strong>Taylor</strong>s Ideen. <strong>Taylor</strong> hatte die Publikation<br />

immer wieder verschoben, auch um seiner Auseinandersetzung mit Adams die polemische Natur zu<br />

nehmen, ein Vorgehen, das sich letztendlich als tragischer Fehler herausstellte, und das nach Gordon<br />

Wood die seltsame <strong>St</strong>ellung des Werkes in der amerikanischen <strong>politische</strong>n Literatur zu erklären<br />

hilft. <strong>Taylor</strong>s Widerlegungen <strong>von</strong> Adams’ <strong>politische</strong>n Ideen hatten im Jahr 1814 an Schlagkraft eingebüsst<br />

und erschienen - wie <strong>Taylor</strong> es formulierte - "beinahe wie Briefe <strong>von</strong> den Toten" (almost<br />

letters from the dead). 54 Der zweite Grund, der den seltsamen <strong>St</strong>ellenwert des Inquiry miterklären kann,<br />

ist <strong>Taylor</strong>s schwülstiger, weitschweifiger und gewundener Schreibstil. <strong>Taylor</strong> schreibt im Inquiry vol-<br />

51 <strong>Taylor</strong> (1813), Arator, 54. Zum Niedergang der Landwirtschaft und zur Untätigkeit der Gesetzgeber auf Bundes- und<br />

Gliedstaatenebene bemerkt <strong>Taylor</strong> an einer anderen <strong>St</strong>elle: "I do not recollect a single law, state or continental,<br />

passed in favour <strong>of</strong> agriculture, nor a single good house built since the revolution; but I know many built before,<br />

which have fallen into decay." Zitiert nach Baritz (1969: xx).<br />

52 McClellan (2000: xl-xli).<br />

53 <strong>Taylor</strong> (1813), Arator, 50.<br />

54 Wood (1969: 588) und <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 34.


14<br />

ler Leidenschaft und nur selten in einem eleganten <strong>St</strong>il. Zudem enthält das Werk zahlreiche Wiederholungen.<br />

Häufig schweift <strong>Taylor</strong> mit seinem Gedankengang ab oder kommt mit seinen Überlegungen<br />

nur in einem langsamen, mühsamen Prozess vorwärts. 55 In einem Brief an Aron Burr beschreibt<br />

<strong>Taylor</strong> seinen eigenen Schreibstil treffend: "writing is one <strong>of</strong> my amusements, but in a wild, careless,<br />

and desultory way." 56 <strong>John</strong> Randolph <strong>of</strong> Roanoke wird die Anekdote zugeschrieben, er habe - nachdem<br />

er einen Blick in den Inquiry geworfen hatte - verzweifelt ausgerufen: "For heaven’s sake, get<br />

some worthy person [...] to do a second edition into English. [...] It is a monument <strong>of</strong> the force and<br />

weakness <strong>of</strong> the human mind: forcible, concise, perspicious, feeble, tedious, obscure, unintelligible."<br />

57 Thomas Hart Benton sah <strong>Taylor</strong>s Schriften "in a quaint Sir Edward Coke style" daherkommen.<br />

58 <strong>Taylor</strong> fand seinen <strong>St</strong>il für die <strong>von</strong> ihm angestrebte Klarheit und Präzision angemessen<br />

und war bereit, auf eine Leserschaft zu verzichten, die nach treffenden Ausdrücken und einer "glänzenden<br />

Oberfläche" verlangte, einem "dish <strong>of</strong> perfume", wie er später einmal erklärte. Gleichwohl<br />

war <strong>Taylor</strong> fähig, sich intensiv und nachhaltig mit Themen auseinanderzusetzen, konnte kurze, meisterhaft<br />

treffende Analogien formulieren und zeigte gelegentlich auch Witz und Humor. 59<br />

Im Inquiry attackierte <strong>Taylor</strong> die Idee der gleichgewichtigen Mischverfassung (balanced constitution)<br />

und Hamiltons finanzkapitalistisches System auf der Grundlage einer republikanischen Prinzipienlehre<br />

(good and evil moral principles), die Grundsätze wie Freiheitsrechte, Volkssouveränität, Verantwortlichkeit<br />

der Behörden, Gewaltenteilung, Föderalismus und eine republikanische Arbeitsethik<br />

sowie eine laissez-faire-Ordnung vertrat. <strong>Taylor</strong> wollte mit dem Inquiry die Notwendigkeit einer Reform<br />

der Bundesinstitutionen beweisen, konkret forderte er eine Reform des Präsidentenamts, des<br />

Senats und der Bundesgerichtsbarkeit sowie die Beseitigung der staatlich gestützten Finanzoligarchie.<br />

Nicht nur Hamiltons Finanzprogramm war <strong>Taylor</strong> ein Dorn im Auge, sondern auch Adams’<br />

Fremden- und Aufruhrgesetze <strong>von</strong> 1798, die Aussicht auf einen Krieg mit England (der 1812 dann<br />

Realität wurde) und auf die Einrichtung einer mächtigen staatlichen Zentralgewalt nach englischem<br />

55 Baritz (1969: xxiv) beschreibt <strong>Taylor</strong>s <strong>St</strong>il etwa wie folgt: "The literary style <strong>of</strong> the Inquiry is prolix, sometimes repetitive,<br />

passionate rather than elegant, and unfortunately turgid." Vile (1967: 183) schätzt <strong>Taylor</strong>s Schreibstil ähnlich ein,<br />

kommt am Ende aber zu einem positiven Urteil: "His style was loose and undisciplined, and the length and repetitiveness<br />

<strong>of</strong> his work was hardly designed to make him a truly popular author. Yet if the initial effort is made to overcome<br />

the barrier <strong>of</strong> his prose style, the ultimate impression is one <strong>of</strong> great clarity and consistency, together with a<br />

certain charm." Zur Charakterisierung <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Schreibstil siehe auch Dangerfield (1952: 192): "His great Inquiry<br />

[...] was calculated to baffle even his warmest admirers. Like a master <strong>of</strong> classical siegecraft, <strong>Taylor</strong> drew the object <strong>of</strong><br />

his attack slowly and meticulously into the embrace <strong>of</strong> his parallels and trenches. He bombarded it with explosive<br />

metaphors, with fiercy conceits, with hard iron phrases. It is a extraordinary prose, hiding its almost painful originality<br />

under the appearance <strong>of</strong> prolixity, and advancing all the time, in a peculiarly relentless manner, towards the inevitable<br />

conclusion. It is prose in the high style; for though <strong>Taylor</strong> hated, he hated like a gentleman [...]." Nach<br />

O’Brien (2004: 797) ist der Inquiry ein "turbulent and passionate book <strong>of</strong> Jacobean vividness. <strong>Taylor</strong> stated and restated,<br />

circled and fumed, excoriated and praised, chopped <strong>of</strong>f the Hydra’s head <strong>of</strong> aristocracy in a plenitude <strong>of</strong> ways<br />

[...] and always wore his heart on his sleeve". Für weitere, ähnliche Einschätzungen siehe Nichols (1950: 25) und<br />

Schlesinger (1945: 308).<br />

56 <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> an Aron Burr, 25. März 1803, in: Aron Burr, "Memoirs", M. L. Davis (ed.), New York (1837-1838), II:<br />

236, zitiert nach Baritz (1969: xxiv).<br />

57 Zitiert nach Bramhall (1999: 36).<br />

58 Zitiert nach Parrington (1927: 15)<br />

59 Ebenso urteilt Baritz (1969: xxiv). Für die wortwörtlichen Zitate siehe <strong>Taylor</strong>, (1822), Tyranny Unmasked, xxix.


15<br />

Vorbild. 60 Darüber hinaus handelte es sich beim Inquiry um eine verspätete Anklage der Politik der<br />

Republicans während Jeffersons zweiter Präsidentschaft (1805-1809). <strong>Taylor</strong> kritisierte Jeffersons<br />

Handelsembargo <strong>von</strong> 1807/1809, das die Ausfuhr jeglicher amerikanischer Erzeugnisse verbot, den<br />

(informellen) Ausbau der Machtfülle der Exekutivgewalt unter Jeffersons Federführung sowie die<br />

unter dem Eindruck der zunehmenden Spannungen mit dem einstigen Mutterland unternommenen<br />

Aufrüstungsanstrengungen der Administration, die schliesslich 1812 in die Kriegserklärung an<br />

Grossbritannien mündeten. 61<br />

Wer aber las den Inquiry? Henry Adams’ Urteil, dass der Inquiry "was probably never read - or if<br />

read, certainly never understood, - north <strong>of</strong> Baltimore by any but curious and somewhat deep students<br />

[...]." 62 , entspricht wohl kaum der ganzen Wahrheit, denn verschiedene prominente Zeitgenossen<br />

<strong>Taylor</strong>s (etwa Jefferson oder <strong>John</strong> Randolph <strong>of</strong> Roanoke) haben ihn nachweislich gelesen. 63<br />

Thomas Jefferson äusserte sich in ambivalenter Weise zu <strong>Taylor</strong>s grossem Werk. Gegenüber <strong>Taylor</strong><br />

selber erklärte er:<br />

[C]ertain that you and I could not think differently on the fundamentals <strong>of</strong> rightful government, I was impatient,<br />

and availed myself <strong>of</strong> the intervals <strong>of</strong> repose from the writing table, to obtain a cursory idea <strong>of</strong> the body<br />

<strong>of</strong> the work. I see in it much matter for pr<strong>of</strong>ound reflection; much should conform our adhesion, in practice,<br />

to the good principles <strong>of</strong> our constitution, and fix our attention on what is yet to be made good. The sixth<br />

section on the good moral principles <strong>of</strong> our government, I found so interesting and replete with sound principles,<br />

as to postpone my letter-writing to its thorough perusal and consideration. [...] You have completely<br />

pulverized Mr. Adams’ system <strong>of</strong> orders, and his opening the mantle <strong>of</strong> republicanism to every government<br />

<strong>of</strong> laws, whether consistent or not with natural right. 64<br />

In einem Brief an <strong>John</strong> Adams sprach Jefferson dann da<strong>von</strong>, dass <strong>Taylor</strong> für seine "quaint, mystical<br />

and hyperbolic ideas [...] [and] affected, new fangled and pedantic terms" bekannt sei. 65 Adams, dem<br />

<strong>Taylor</strong> Teile des Manuskripts - ohne Autorennamen, Absender oder irgendwelche Erklärungen -<br />

zukommen liess, stellte (treffende) Mutmassungen über seinen Autor an, und machte sich über des-<br />

60 Nach O’Brien (2004: 785) war der Inquiry <strong>von</strong> seiner konzeptionellen Ausrichtung her einerseits "an intervention into<br />

the debate <strong>of</strong> the 1790s over the implications <strong>of</strong> the French Revolution", andererseits "a longer and adverse retrospect<br />

upon the growth <strong>of</strong> state power in England during the eighteenth Century".<br />

61 Zu den Ereignissen <strong>von</strong> Jeffersons zweiter Präsidentschaft siehe Adams (1999: 60). Wasser (2004: 194ff.) beschreibt<br />

Jeffersons wirkungsvolle und geschickte Handhabung der Exekutivgewalt eindrücklich. Jefferson verabschiedete sich<br />

erstmals vom althergebrachten republikanischen Ideal des über den Gruppeninteressen stehenden, unparteiischen<br />

Bürgerkönigs (nach dem Muster <strong>von</strong> Bolingbrokes patriot king), das <strong>von</strong> George Washington gepflegt wurde, und<br />

schuf ein starkes, mit einer bisher unbekannten Machtfülle ausgestattetes Präsidentamt, das sich der Ämterpatronage,<br />

der Republikanischen Partei (deren de facto-Vorsitzender Jefferson war) und informeller Mittel bediente, um die <strong>von</strong><br />

der Verfassung geschaffenen Hemmnisse für die Kooperation zwischen den Gewalten zu überwinden. Auf die gegen<br />

Jefferson gerichtete <strong>St</strong>ossrichtung des Inquiry wird auch bei Scribner (1997: 205) hingewiesen.<br />

62 Adams (1889-1891: 194f.).<br />

63 Siehe dazu McClellan (2000: xlvi-xlvii). Nichols (1950: 27) weist auf die Schwierigkeit hin, den Inquiry nach 1830 in<br />

die Hände zu bekommen, da dieser nie eine Neuauflage oder einen Nachdruck erfahren habe: "The Inquiry was lost<br />

<strong>of</strong> sight for many years." Siehe auch die Nachweise zu <strong>Taylor</strong>s Wirkung nach 1820 bei O’Brien (2004: 796).<br />

64 Brief <strong>von</strong> Thomas Jefferson an <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>, 28. Mai 1816, in: Jefferson (1984: 1391). Nach Mayer (1994: 144) enthielt<br />

der Inquiry keine bedeutenden Ideen, die Jefferson nicht schon gekannt hätte. Der Inquiry habe Jefferson jedoch<br />

zweifellos dabei geholfen, die eigenen Überzeugungen zu stärken und klarer zu formulieren, und zur Synthese seiner<br />

eigenen, späteren (nach 1776 entwickelten) Verfassungstheorie beigetragen. Zum positiven Einfluss <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> auf<br />

Jeffersons Gewaltenteilungsideen siehe auch Vile (1967: 166).<br />

65 Brief <strong>von</strong> Thomas Jefferson an <strong>John</strong> Adams, 28. Oktober 1813, in: Jefferson (1984: 1310).


16<br />

sen Schreibstil lustig: "I gravely composed my risible muscles, and read it through." 66 Nachdem<br />

Adams dann <strong>Taylor</strong>s Arator erhalten hatte, war für ihn der Fall klar: "they must spring from the<br />

same brain, as Minerva issued from the same head <strong>of</strong> Jove, or rather as Venus rose from the froth <strong>of</strong><br />

the sea. There is, however a great deal <strong>of</strong> good sense in Arator, and there is some in his Aristocracy<br />

[das erste Kapitel des Inquiry, A.d.V.]." 67 Adams erinnerte sich an seine Zeit als Vizepräsident im<br />

Senat, wo er auf den Senator <strong>Taylor</strong> getr<strong>of</strong>fen war (1792-1794): "<strong>Taylor</strong> was an eternal talker, the<br />

greatest talker I ever knew, excepting George the Third". <strong>Das</strong> ihm zugestellte Manuskript sei "full <strong>of</strong><br />

fire and fluency" und verliere sich allmählich in "geheimnisvollen Abstraktionen". 68<br />

Im letzten Jahrzehnt seines Lebens verfasste <strong>Taylor</strong> verschiedene kleinere Arbeiten über landwirtschaftliche<br />

Fragestellungen und drei letzte grössere Werke, die sich kritisch mit verfassungsrechtlichen<br />

und wirtschaftlichen Entwicklungen in den Vereinigten <strong>St</strong>aaten auseinandersetzten. 69<br />

Den drei grossen Arbeiten lag die drängende Sorge vor einer Wiederkehr der nationalistischen Konsolidierungsideen<br />

der Federalists zugrunde, entweder versteckt unter der Maske der National Republicans<br />

oder - nicht weniger versteckt - in Gestalt der nationalistischen Rechtsprechung des Obersten<br />

Bundesgerichts unter chief justice <strong>John</strong> Marshall. In Construction Construed and Constitutions Vindicated<br />

(1820) wies <strong>Taylor</strong> auf die Verfassungswidrigkeit des Missouri-Kompromisses hin, lehnte die<br />

Schutzzollpolitik der Madison- und Monroe-Administrationen ab, brandmarkte die Einrichtung der<br />

zweiten Nationalbank (Second Bank <strong>of</strong> the United <strong>St</strong>ates) und eine Reihe <strong>von</strong> Urteilen des Obersten<br />

Bundesgerichts, im Besonderen Martin v. Hunter Lessee (1816) und McCulloch v. Maryland (1819), welche<br />

die Kompetenzen des Kongresses und der Bundesgerichtsbarkeit gegenüber den Einzelstaaten<br />

ausdehnten. 70 In Tyranny Unmasked (1822) setzte sich <strong>Taylor</strong> kritisch mit einem 1821 verabschiedeten<br />

Bericht des Kongressausschusses zur Manufakturindustrie (Report <strong>of</strong> the House Committee on Manufactures)<br />

auseinander, bei dessen Ausarbeitung Henry Clay eine bestimmende Rolle gespielt hatte. 71 <strong>Das</strong><br />

Werk wurde zu einer Zeit publiziert, in der Alexander Hamiltons Report on Manufactures (1791) wiederentdeckt<br />

wurde und ein verstärktes Interesse fand, und attackierte über weite <strong>St</strong>recken die vom<br />

66 Brief <strong>von</strong> <strong>John</strong> Adams an Thomas Jefferson, 15. September 1813, in: <strong>John</strong> Adams, "Works <strong>of</strong> <strong>John</strong> Adams", Vol. X<br />

zitiert nach Simms (1932: 140). Im Weiteren erklärte Adams: "It is from the beginning to end, an attack upon me, by<br />

name, for the doctrines <strong>of</strong> aristocracy in my three volumes <strong>of</strong> Defense. [...] I most assuredly will not controvert this<br />

point, with this man. Who he is, I cannot conjecture. The Honorable <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>, <strong>of</strong> Virginia, <strong>of</strong> all men living or<br />

dead first occurred to me." Ibd., 140. Entgegen dieser Ankündigung begann Adams dann aber am 15. April 1814<br />

einen langen Briefwechsel mit <strong>Taylor</strong>, in dem er seine Positionen erklärte. Für Adams’ Briefe siehe Adams (1814<br />

u.a.), Letter to <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong>, 368-444.<br />

67 Brief <strong>von</strong> <strong>John</strong> Adams an Thomas Jefferson, 12. November 1813, in: <strong>John</strong> Adams, "Works <strong>of</strong> <strong>John</strong> Adams", Vol. X,<br />

zitiert nach Simms (1932: 141).<br />

68 Zitiert nach Ellis (1993: 145). Adams gestand später ein, dass er das Buch nie vollständig gelesen habe ("[I] never<br />

read the book"), und nur an der einen oder anderen <strong>St</strong>elle einen Blick hineingeworfen habe ("dipped here and<br />

there"). Gleichwohl fühlte sich Adams <strong>von</strong> der Tatsache, dass seine Bücher noch immer ernst genommen wurden,<br />

geehrt und geschmeichelt. "I thought my Books, as well as myself were forgotten", scherzte er gegenüber Jefferson:<br />

"But behold! I am to become a great Man in my expiring moments". Brief <strong>von</strong> <strong>John</strong> Adams an Thomas Jefferson,<br />

12. November 1813, "Adams-Jefferson-Correspondence", II: 376, zitiert nach Ellis (1993: 145).<br />

69 Die landwirtschaftlichen Arbeiten waren On Artificial Grasses (1818), The Necessities, Competency, and Pr<strong>of</strong>it <strong>of</strong> Agriculture<br />

(1818), Memorial <strong>of</strong> the Merchants and Agriculturalists (1818) und Defending the Rights and Interests <strong>of</strong> Agriculture (1821).<br />

70 Siehe zusammenfassend McClellan (2000: xlix-l), Baritz (1969: xxviii) und Tate (2001: 213ff.).<br />

71 Henry Clay, später Aussenminister in der Administration <strong>von</strong> <strong>John</strong> Quincy Adams (1825-1829), vertrat eine nationale<br />

Entwicklungspolitik mit gestaffelten Einfuhrzöllen zum Schutz der amerikanischen Manufakturindustrie. Siehe<br />

dazu Adams (1999: 65, 175).


17<br />

Kongressausschuss verlangten Schutzzölle. An <strong>St</strong>elle einer merkantilistischen Wirtschaftspolitik forderte<br />

<strong>Taylor</strong> eine Bundespolitik, die <strong>von</strong> den Prinzipien des klassischen Liberalismus (Adam Smith)<br />

und eines agrarisch gefärbten Republikanismus geprägt sein sollte. Der dritte Teil des Buches enthielt<br />

eine heftige Attacke auf den judicial activism des Obersten Bundesgerichts, der in den Augen<br />

<strong>Taylor</strong>s das <strong>von</strong> der Bundesverfassung errichtete System der Machtteilung aushebelte. 72 In New<br />

Views <strong>of</strong> the Constitution <strong>of</strong> the United <strong>St</strong>ates (1823) führte <strong>Taylor</strong> diese Argumentation weiter und verteidigte<br />

den föderalen Charakter der Union gegen die Tendenzen zur Herausbildung einer konsolidierten,<br />

"nationalen" Republik, eines amerikanischen Einheitsstaates. Ausgehend <strong>von</strong> einer Analyse<br />

der Ereignisse am Verfassungskonvent <strong>von</strong> Philadelphia (1787) vertrat <strong>Taylor</strong> die Ansicht, dass am<br />

Konvent die Vertreter einer nationalistischen, monarchistischen und konsolidierten Union den Vertretern<br />

einer föderalen Ordnung unterlegen seien. Nach dem Konvent hätten die Verlierer dann aber<br />

mit Hilfe einer weiten Verfassungsauslegung und Hamiltons Finanzsystem die Union unterwandert<br />

und langsam eine stetige Machtkonsolidierung zugunsten der Bundesebene betrieben. <strong>Taylor</strong> kritisierte<br />

insbesondere James Madison und Alexander Hamilton, die als Autoren der Federalist-Artikel<br />

das Ergebnis des Konvents bewusst verfälscht hätten, um so ihre eigenen, zentralistischeren Visionen<br />

zu befördern. Hamilton habe am Verfassungskonvent nachweislich das Ideal der britischen<br />

Monarchie vertreten und deren Parlamentssouveränität auf den Kongress übertragen wollen. Madison<br />

habe zwar für sich in Anspruch genommen, eine föderale Ordnung zu verteidigen, dann aber<br />

das Oberste Bundesgericht zum souveränen Verfassungstribunal erklärt und damit das <strong>von</strong> der<br />

Bundesverfassung errichtete System der Machtteilung umgestossen. 73<br />

1823 kehrte <strong>Taylor</strong>, mittlerweile alt und gebrechlich, nochmals als Ersatzmann <strong>von</strong> James Pleasants<br />

Jr., der zum Gouverneur des <strong>St</strong>aates Virginia gewählt worden war, in den Senat der Vereinigten<br />

<strong>St</strong>aaten zurück. Diesem gehörte er bis zu seinem Tod an. Nach seiner Wahl schrieb er Präsident<br />

James Monroe einen Brief, indem er seine Überzeugung darlegte, dass der Kongress <strong>von</strong> einer<br />

Geldaristokratie beherrscht sei: "The assumption <strong>of</strong> state debts, the creation <strong>of</strong> a bank, bounties to<br />

factory owners, and the pension law, whether they were usurpations or not, united with other<br />

causes, have had the effect <strong>of</strong> transferring from a vast majority, many millions annually, to a capitalist<br />

and geographical minority, but little interested in the soil." 74 Seine letzten Monate im Senat waren<br />

<strong>von</strong> seiner Opposition gegen Henry Clays American System geprägt. <strong>Taylor</strong>s Kritik richtete sich gegen<br />

Clays Vorschlag, Infrastrukturprojekte wie <strong>St</strong>rassen und Kanäle (internal improvements) vom Bund finanzieren<br />

zu lassen, und gegen den Plan, mit gestaffelten Einfuhrzöllen die inländischen Märkte für<br />

einheimische Fabrikerzeugnisse gegen ausländische Konkurrenz abzuschotten. <strong>Taylor</strong> beschwerte<br />

sich darüber, dass Schutzzölle stets parteiisch sind, bestimmte <strong>St</strong>aaten auf Kosten anderer <strong>St</strong>aaten<br />

begünstigen und damit das in einer föderalen Ordnung so elementare Prinzip der Gleichheit der<br />

<strong>St</strong>aaten verletzen. 75 Doch <strong>Taylor</strong> war zu einem Relikt aus einer anderen, längst vergangenen Zeit<br />

geworden. Der Eindruck, den er zusammen mit Nathaniel Macon, einem weiteren Old Republican, bei<br />

72 Siehe McClellan (2000: l-li), Baritz (1969: xxviii) und ausführlich Miller (1992: xviii-xxi). Miller (ibd.) bezeichnet<br />

Tyranny Unmasked als "the first extensive argument against protectionist theory in the United <strong>St</strong>ates".<br />

73 Tate (2001: 215f.); McClellan (2000: xlvii-lvi).<br />

74 Zitiert nach Simms (1932: 201f.).<br />

75 Tate (2001: S. 218f.); Simms (1932: S. 201-208).


18<br />

den jüngeren Kongressabgeordneten hinterliess, war gleichwohl nachhaltig. Benton sah <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong>t<br />

mit Macon in ernste Gespräche vertieft, "[both] looking like two Grecian sages, and showing that<br />

regard for each other which every one felt for them both". 76 Als eine der letzten Handlungen vor<br />

seinem Tod verfasste <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> einen langen Abschiedsbrief an seinen alten Widersacher <strong>John</strong><br />

Adams, in dem er diesem Respekt zollte und Zeugnis für die Nachwelt ablegen wollte, betreffend<br />

Adams’ Patriotismus und Integrität:<br />

During a long illness, from which I am not yet recovered, the reveries which usually amuse sick people visited<br />

me; and among them the idea <strong>of</strong> writing a farewell letter to you presented itself so <strong>of</strong>ten as to leave an impression,<br />

which I have not been able to subdue [...]. [I]ts chief motive [is], namely, to make you an humble<br />

addition to the multitude <strong>of</strong> testimonials which exist <strong>of</strong> your patriotism and integrity, from one who has been<br />

a spectator <strong>of</strong> political scenes, from a period some years anterior to the revolutionary war; from one who has<br />

<strong>of</strong>ten differed with you in opinion, but has never ceased to be impressed with a conviction <strong>of</strong> your exalted<br />

merit. [...] My design is to file among your archives some facts, which may meet the eye <strong>of</strong> a historian, as well<br />

as to give some pleasure to a patriot, who I believe has served his country faithfully, and has done what man<br />

can do to please his God. 77<br />

Am 21. August 1824 starb <strong>Taylor</strong> auf seinem Landsitz Hazelwood in <strong>Caroline</strong> County. Drei Tage<br />

später schrieb Thomas Ritchie in seinem Nachruf im Richmond Enquirer: "The death <strong>of</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong><br />

<strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> is confirmed. The great lawyer - the pr<strong>of</strong>ound politician - the friend <strong>of</strong> the Constitution in its<br />

original purity [...] who by precept and example has scattered a flood <strong>of</strong> light over agriculture [...]. Let<br />

Virginia weep over the ashes <strong>of</strong> the illustrious patriot." 78<br />

1.2. Forschungsstand<br />

Eine Ursache für die geringe Beachtung, die <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> heute zuteil wird, findet sich<br />

wohl in seiner wiederholten Deutung als Verteidiger der Pflanzeraristokratie und der republikanischen<br />

Welt des alten Virginia. Diese Leseart aber, die <strong>Taylor</strong> als Fürsprecher einer bedrohten lokalen<br />

Elite wahrnimmt, kann, auch wenn der Ruf <strong>Taylor</strong>s wohl merklich unter ihr gelitten haben mag,<br />

nicht die alleinige Erklärung für das seinem Werk und Leben über weite <strong>St</strong>recken entgegengebrachte<br />

Desinteresse sein. 79 Ein weiterer Grund findet sich vielleicht in der Tatsache, dass unter der oberflächlichen<br />

Fixierung <strong>Taylor</strong>s auf den aristokratischen Pflanzer eine Vielzahl unterschiedlicher, teils<br />

widersprüchlicher Deutungen kursieren. Ein Kommentator des <strong>Taylor</strong>schen Werkes umschreibt<br />

diesen Sachverhalt mit den folgenden Worten: "The truth is that his reputation has suffered very<br />

nearly as much at the hands <strong>of</strong> his friends as those <strong>of</strong> his detractors." 80 Die, die sein <strong>Denken</strong> bewundert<br />

haben, begründeten diese Bewunderung unterschiedlich; diejenigen, die für seine Ideen kein<br />

76 Thomas Hart Benton (1854), Thirty Years’ View; or, a History <strong>of</strong> the Working <strong>of</strong> the American Government for Thirty Years,<br />

from 1820-1850, New York, I: 45, zitiert nach: Schlesinger (1945: 26f.).<br />

77 <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> an <strong>John</strong> Adams, 8. April 1824, in: Adams (1850-56), X: 411f.<br />

78 Zitiert nach Simms (1932: 210).<br />

79 <strong>Taylor</strong> wäre nicht der einzige gewesen, der die Interessen seines "<strong>St</strong>andes" im Auge behalten hätte. Auch der Baron<br />

de la Brède - Charles de Montesquieu (1689-1755) - hat sich in seinem monumentalen Hauptwerk De l’Esprit des lois<br />

(dt. Vom Geist der Gesetze) Sorgen um die Privilegien seines <strong>St</strong>andes gemacht. Seinem Nachruhm aber hat dies<br />

keinen Abbruch getan. Siehe dazu Riklin (1989: 434).<br />

80 McConnell (1951: 19).


19<br />

gutes Wort übrig gehabt haben, legten ihrer ablehnenden Haltung unterschiedliche Erklärungen<br />

zugrunde. Im Folgenden werden die verschiedenen Deutungen, die <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> zuteil<br />

geworden sind, vorgestellt. 81 Die Darstellung wird zeigen, dass man kaum <strong>von</strong> einem homogenen<br />

Porträt sprechen kann, das die Forschung <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> gezeichnet hat.<br />

Eine erste, frühe Gruppe <strong>von</strong> Kommentatoren betonte <strong>Taylor</strong>s Nähe zum Agrarianism <strong>von</strong><br />

Thomas Jefferson und zu einer ökonomischen Deutung der Politik. 82 Dieser vom US-Historiker<br />

Charles Beard begründete Interpretationsstrang sieht in <strong>Taylor</strong> einen anti-aristokratischen Verteidiger<br />

des benachteiligten "gewöhnlichen Volkes" gegen unverantwortliche Eliten und ihre ökonomischen<br />

Interessen. Der Inquiry galt den sogenannten Beardits als herausragender Versuch, eine egalitäre<br />

Demokratie auf einer gesunden wirtschaftlichen Grundlage zu errichten. <strong>Taylor</strong> sei der Philosoph der<br />

Jeffersonian Democracy gewesen. 83 Im Grunde aber - konstatierte diese <strong>St</strong>römung am Ende resignierend<br />

- sei <strong>Taylor</strong>s Werk immer ein Anachronismus geblieben, da es vom Lauf der Geschichte pausenlos<br />

widerlegt worden sei.<br />

Kritiker dieser Einordnung haben darauf hingewiesen, dass <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> ausserordentlich wohlhabend<br />

und Angehöriger einer Sklaven besitzenden Elite war. Damit belasteten sie sein <strong>Denken</strong> mit<br />

dem Verdacht, möglicherweise nur eine Apologetik zugunsten der grossen Pflanzerklasse Virginias<br />

gewesen zu sein. 84 Indem sie <strong>Taylor</strong> im gesellschaftlichen und ökonomischen Umfeld <strong>Caroline</strong><br />

Countys verorteten, kamen die Vertreter dieses Interpretationsstranges zum Schluss, dass er lediglich<br />

der Verteidiger einer konservativen sozialen Ordnung gewesen sei, die zwar in <strong>Caroline</strong> County und<br />

im alten Süden dominierend war, mit dem Rest der USA aber wenig gemeinsam hatte. Im Grunde<br />

sei <strong>Taylor</strong> nur Anwalt <strong>von</strong> Massnahmen gewesen, die im Falle ihrer Realisierung den grossen Landbesitzern<br />

geholfen hätten. Als "apologist <strong>of</strong> the tidewater landed gentry" sei er seltsamerweise gegenüber<br />

der Aristokratie im eigenen Hinterh<strong>of</strong> blind geblieben. Seine Ideen seien zudem durch die<br />

Industrialisierung obsolet geworden. 85<br />

81 Die Darstellung der verschiedenen Interpretationsstränge folgt bis in die 1970er Jahre hinein der Arbeit <strong>von</strong> Hill<br />

(1977: 9-15). Die Systematisierung der im Anschluss an Hill publizierten Arbeiten ist das Resultat eigener Textanalysen.<br />

82 Zu dieser Gruppe (welche die Forschungsliteratur in den 1930er und frühen 1940er Jahren dominierte) gehören<br />

neben ihrem Begründer Beard (1915: 332), Wright (1928: 870-892), Parrington (1927: 14-19), Schlesinger (1945: 21-<br />

26), Wiltse (1935: 218-223) und Current (1943: 223-234).<br />

83 Die Jeffersonian Democracy beschreibt das <strong>von</strong> Thomas Jefferson (1743-1826) vertretene Ideal einer agrarisch geprägten<br />

Republik freier und unabhängiger Eigentümer. Dieses Ideal gründet auf zwei Annahmen über die menschliche Natur<br />

und das soziale Verhalten: (1) Die Mehrheit des Wahlvolkes urteilt vernünftig und verdient Vertrauen; (2) Landbewohner<br />

sind weniger als <strong>St</strong>adtbewohner gefährdet, durch Korruption (Wohlleben, Luxus, Intrigen usw.) vom<br />

Gebrauch ihrer natürlichen Vernunft abgelenkt zu werden. Agrarier aller Grössenordnungen, vom Plantagenbesitzer<br />

Jefferson mit 200 Sklaven, der den Lebensstil des englischen Landedelmannes imitierte, bis hin zum kleinen Familienbetrieb<br />

ohne Sklaven (yeomen farmer), priesen das tugendhafte Leben des Farmers auf eigener Scholle als beste<br />

Voraussetzung für den selbstverantwortlichen Bürger einer Republik und als ideale Grundlage der amerikanischen<br />

Kultur und Gesellschaft (Jeffersonian agrarianism). Siehe dazu Adams (1999: 60f.) und Adair (1964: 1f., 153-162).<br />

84 Die Einordnung <strong>Taylor</strong>s als Verteidiger der Pflanzeraristokratie Virginias - eine Position, die im Laufe der Zeit immer<br />

wieder ihre Anhänger gefunden hat - wurde erstmals vertreten durch Drell (1938: 285-298) und weiterentwickelt<br />

<strong>von</strong> Mudge (1939: 5ff., 151f.), Dauer & Hammond (1944: 381-403), Griswold (1946: 659f.) sowie Dangerfield (1952:<br />

190-196; 1996: 97-100). Sie dominierte die <strong>Taylor</strong>-Forschung in den 1940er Jahren.<br />

85 Hill (1977: 12). Dangerfield (1952: 190f., 195f.) weist eindrücklich auf <strong>Taylor</strong>s Blindheit gegenüber der Aristokratie<br />

im eigenen Hinterh<strong>of</strong> und auf die zunehmende Kluft zwischen der historischen Entwicklung und seinen ökono-


20<br />

Während sich die Anti-Beardits mit den Beardits über die richtige Interpretation stritten, entwickelte<br />

eine dritte Gruppe die Position, dass <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> im Grunde auf eine Verteidigung der Einzelstaatenrechte<br />

(states’ rights) im Rahmen der amerikanischen Verfassung hinauslaufe. 86 Für sie war<br />

<strong>Taylor</strong> der "Prophet der Sezession" und der Vorgänger <strong>John</strong> C. Calhouns 87 , für dessen Concurrent<br />

Majority-Theorie seine Ideen die Grundlagen geliefert hätten. <strong>Taylor</strong> schrieben sie die erstmalige<br />

Ausformulierung der Doktrin zu, die behauptet, dass die Bundesverfassung ein Vertrag zwischen<br />

den einzelnen Gliedstaaten sei. Die Deutung <strong>Taylor</strong>s als Verteidiger <strong>von</strong> Einzelstaatenrechten, Nullifikation<br />

und Sezession dauert nach wie vor an. Ihre Schwäche gründet in der Annahme, <strong>Taylor</strong> habe<br />

eine eigene, monolithisch geschlossene <strong>St</strong>ates’ Rights-Theorie ausgearbeitet. Da dieser den Begriff<br />

<strong>St</strong>ates’ Rights nur am Rande gebraucht hat, liegt die Vermutung nahe, dass die Vertreter dieser<br />

<strong>St</strong>römung sein <strong>Denken</strong> bloss ins<strong>of</strong>ern berücksichtigt haben, wie es in ihre im 20. Jahrhundert formulierten<br />

<strong>St</strong>ates’-Rights-Ansätze passte.<br />

In den 1960er und 1970er Jahren wurden dann vermehrte Anstrengungen unternommen, die<br />

Deutung des <strong>politische</strong>n <strong>Denken</strong>s <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>s aus den bisherigen, in mancherlei Hinsicht einengenden<br />

Mustern zu befreien und weniger einseitige Perspektiven zu eröffnen. Für Loren Baritz<br />

war <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> ganz einfach einer der wenigen amerikanischen Denker des 19. Jahrhunderts,<br />

dessen besseres Amerika nicht in der Zukunft des Landes, sondern in der Vergangenheit<br />

gelegen habe. <strong>Taylor</strong> sei der Philosoph eines vergangenen "goldenen Zeitalters" gewesen und habe<br />

all seine Talente der Verteidigung einer untergehenden Gesellschaft und ihrer Lebensform gewidmet.<br />

Viele Südstaatler seien <strong>von</strong> seinen Ideen beeinflusst und in ihren Werten bestärkt worden. 88<br />

Louis Hartz hingegen ordnete <strong>Taylor</strong> an der Spitze einer langen Reihe <strong>von</strong> agrarian protestors ein, die<br />

den Kapitalismus denuzierten, während sie ihn selbst praktizierten; die das Gemeinwohl predigten,<br />

während sie den gemeinen Mob und einfachen Arbeiter fürchteten. 89 Yehoshua Arieli wies auf die<br />

Ähnlichkeiten hin, die zwischen <strong>Taylor</strong>s Positionen zu ökonomischen Klassen und denjenigen des<br />

französischen Ideologen, Destutt de Tracy (1754-1836), bestehen. De Tracys Ideen zur Homogenität<br />

aller ökonomischen Interessen hätten <strong>Taylor</strong> erlaubt, das Ideal der amerikanischen Revolution,<br />

misch-sozialen Ordnungsvorstellungen hin. Abschliessend beschreibt er (ibid., 193) <strong>Taylor</strong> als einen Anachronismus<br />

seiner Zeit: "Was he not a forerunner who succeeded the Messiah, a prophet who foretold the past?"<br />

86 Angestossen wurde diese Leseart <strong>Taylor</strong>s durch Hunt (1905), ausgearbeitet <strong>von</strong> Dodd (1905: 214), Carpenter (1930:<br />

72, 202) und Simms (1932). In den 1950er und 1960er Jahren dominierte die <strong>St</strong>ates’ Rights-Interpretation dann die<br />

<strong>Taylor</strong>exegese. Siehe Spain (1951: 54, 170f.), Grimes (1955: 167), Mason & Leach (1959: 223), Padover (1960: 116)<br />

und Davis (1964: 403). <strong>Taylor</strong>s herausragende Rolle bei der Ausformulierung der <strong>St</strong>ates’ Rights-Doktrin wird auch <strong>von</strong><br />

neueren Arbeiten wie Scribner (1997: 204-222) betont.<br />

87 <strong>John</strong> C. Calhoun (1782-1850) - einflussreicher Politiker aus South Carolina, <strong>politische</strong>r Philosoph und Propagandist<br />

des Südstaatenseparatismus, Verfasser <strong>von</strong> A Disquisition on Government und A Discourse on the Government <strong>of</strong> the United<br />

<strong>St</strong>ates - formulierte die Doktrin der Nullifikation (doctrin <strong>of</strong> nullification), die besagte, dass ein besonders gewählter Einzelstaatenkonvent<br />

Bundesgesetze für die gesamte Union ausser Kraft setzen (nullify) kann. Solche Einzelstaatenkonvente<br />

hätten 1788 der Bundesverfassung zugestimmt und sie in Kraft gesetzt, also könnten sie auch die Verletzung<br />

der Übereinkunft beurteilen und gegebenenfalls die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes feststellen. <strong>Das</strong> oberste<br />

Bundesgericht sei dazu nicht befugt, da es selbst eine Kreatur der Übereinkunft <strong>von</strong> 1787und damit parteiisch zugunsten<br />

des Bundes sei. South Carolina drohte 1832-1833 mit dem Einzelstaatsveto gegen ein Zollgesetz des Bundes,<br />

falls die Bundesregierung die Zölle mit Gewalt eintreiben würde. Siehe dazu Adams (1999: 83f., 185).<br />

88 Baritz (1964: 202f.; 1969: ix)<br />

89 Hartz (1955: 124f.).


21<br />

den pursuit <strong>of</strong> happiness, mit den selbst-regulierenden Kräften des Marktes zu verknüpfen. Arieli wies<br />

im Weiteren darauf hin, dass der Jeffersonianism vom sozialistischen <strong>Denken</strong> unterschieden werden<br />

müsse, da er sich erstens nicht für den Klassenkampf interessiere und zweitens die Ursachen <strong>von</strong><br />

ökonomischer Ausbeutung primär im <strong>St</strong>aat sehe. 90 Grant McConnell verteidigte <strong>Taylor</strong> schliesslich<br />

gegen den Vorwurf der Irrelevanz und machte seine grundsätzlich demokratische Ausrichtung geltend,<br />

gestand aber ein, dass <strong>Taylor</strong> den "value <strong>of</strong> diversity in democratic life" verneinte und es eine<br />

derart sozial homogene Demokratie, wie sie <strong>Taylor</strong> vorschwebte, in Amerika nie gegeben habe. 91<br />

In den späten 1960er Jahren wies dann M. J. C. Vile auf einen bis dahin vernachlässigten Aspekt<br />

hin: <strong>Taylor</strong> habe im Inquiry ein phantastisches Bild eines fragmentierten, machtteiligen Regierungssystems<br />

gemäss der Doktrin der strikten Gewaltentrennung entworfen. Sein <strong>Denken</strong> über strikte<br />

Gewaltentrennung und über das mit dieser Form der Machtteilung konkurrierende System der checks<br />

and balances habe aber nur wenig Beachtung erfahren. Dies obwohl der Inquiry die gründlichste und<br />

umfassendste Verteidigung der strikten Gewaltentrennung darstelle, die jemals in französischer oder<br />

englischer Sprache geschrieben worden sei. Ende des 18. Jahrhunderts sei diese Regierungsdoktrin<br />

in Frankreich <strong>von</strong> Emmanuel Joseph Sieyes und in England <strong>von</strong> <strong>John</strong> Cartwright vertreten worden.<br />

In Amerika aber habe sie <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> bis an ihre Grenzen getrieben. 92<br />

Lance Banning präsentierte in seiner 1978 veröffentlichten Arbeit über Entstehung und Grundlagen<br />

der Ideologie der Jeffersonian Republicans neue Erkenntnisse, die eine prägende Rolle der englischen<br />

Country-Ideologie für das amerikanische <strong>politische</strong> <strong>Denken</strong> der Early Republic konstatierten.<br />

Banning kam zum Schluss, dass <strong>Taylor</strong> in seiner Sozialphilosophie und seiner <strong>politische</strong>n Kritik an<br />

Alexander Hamiltons Finanzpolitik und an der neuen Geldaristokratie ein "amerikanischer Bolingbroke"<br />

gewesen sei, der im Sinne des klassischen Republikanismus für eine amerikanische<br />

Country-Partei gesprochen habe. 93 In seiner Attacke auf Hamilton habe er sich der traditionellen<br />

Formen bedient, mit deren Hilfe im 17. und 18. Jahrhundert in der angelsächsischen Welt Regierun-<br />

90 Arieli (1964: 177). Die Ähnlichkeiten, die zwischen den Ideen Destutt de Tracys und denjenigen <strong>Taylor</strong>s bestehen,<br />

sind in der Tat verblüffend. Doch <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> hat sich - zumindest bis und mit dem Inquiry <strong>von</strong> 1814 - weitgehend<br />

unabhängig <strong>von</strong> den Positionen Destutt de Tracys entwickelt. Zum Zeitpunkt, wo die zwei Hauptwerke <strong>von</strong> de<br />

De Tracy erschienen, der Commentaire sur l’esprit de lois de Montesquieu (Philadelphia 1811, in der engl. Übersetzung <strong>von</strong><br />

Thomas Jefferson; Lüttich 1817) und der Traite D’Economie Politique (Paris 1815; englische Übersetzung <strong>von</strong> Jefferson:<br />

Georgetown 1817), hatte <strong>Taylor</strong> seine Arbeit am Inquiry, an dem er gemäss eigenen Angaben zwischen 1791 und<br />

November 1811 geschrieben hatte, mehr oder weniger abgeschlossen. Siehe zu Destutt de Tracys <strong>politische</strong>m und<br />

politisch-ökonomischem <strong>Denken</strong> Mayer (1994: 135-141) und Appleby (1982: 297-301).<br />

91 McConnell (1951: 30f.).<br />

92 Vile (1967: 183-189, 183).<br />

93 Henry <strong>St</strong>. <strong>John</strong> Viscount Bolingbroke (1678-1751) war neben Cato [<strong>John</strong> Trenchard und Thomas Gordon] und<br />

James Burgh der führende Vertreter der englischen Country-Opposition des frühen 18. Jahrhunderts. <strong>Das</strong> Court-<br />

Country-<strong>Denken</strong> hatte seinen Ursprung in einem ländlichen Blick auf die Hauptstadt London und im Dualismus des<br />

einfachen und tugendhaften freien Bauern bzw. Landedelmannes einerseits und des wohlhabenden und adligen Höflings<br />

am H<strong>of</strong> des Königs andererseits. Während der tugendhafte und einfache Farmer das Gemeinwohl im Auge<br />

habe - so die <strong>von</strong> dieser Richtung vertretene Ansicht - denke der Höfling, korrumpiert durch Macht und Wohlstand,<br />

nur an seine eigenen Interessen. Die <strong>von</strong> ihm praktizierte Korruption verletze die Prinzipien der alten englischen<br />

Mischverfassung und setze der englischen Freiheit so ein Ende. Siehe dazu Banning (1978 : 42-49) und Kramnick<br />

(1968 : 137-187).


22<br />

gen kritisiert worden seien. 94 M. E. Bradford, Andrew W. Foshee und <strong>John</strong> M. Grammer griffen<br />

diese klassisch-republikanische Lesart auf. Bradford und Foshee bezeichneten <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> als den<br />

Virginia Cato. <strong>Taylor</strong> sei eine klassische Figur der alten republikanischen Theorie und ein Beispiel an<br />

römischer virtus gewesen. Wie bei Marcus Cato, dem Zensor 95 , veranschauliche das Leben <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong><br />

das, was er gelehrt habe: "[He] soldiers, enforces the law, writes in its defense and <strong>of</strong> the life it<br />

secures, and serves the state well when called to <strong>of</strong>fice because he has something better to do - because<br />

there are lands and people <strong>of</strong> whose good he is a faithful stewart." Diese Haltung habe ihre<br />

Wurzeln im klassischen Republikanismus, in der Whig-Theorie, in den Ideen und in der Sprache des<br />

englischen Oppositions-<strong>Denken</strong>s, vor allem aber in der Liebe <strong>Taylor</strong>s zum klassischen Modell der<br />

Agrarrepublik. 96 Eben diese auch emotionale Verwurzelung <strong>Taylor</strong>s in der Agrarrepublik wurde <strong>von</strong><br />

Grammer herausgestrichen, nach welchem <strong>Taylor</strong> die letzte Generation <strong>von</strong> Amerikanern vertrat,<br />

"for whom the pastoral republican dream <strong>of</strong> the founding remained a simple and attainable reality". 97<br />

Neuere Forschungsarbeiten charakterisierten <strong>Taylor</strong> hingegen als einen früh-libertären Republikaner<br />

und Weiterführer des <strong>politische</strong>n <strong>Denken</strong>s der Antifederalists. Der anti-föderalistische Gesichtspunkt<br />

wurde <strong>von</strong> Saul Cornell herausgearbeitet. <strong>Taylor</strong>s <strong>politische</strong> Vision wurzle in einer<br />

"Anti-Federalist conception <strong>of</strong> federalism". Seine Idee des federalism gründe auf der Annahme, dass<br />

nur wechselseitig aufeinander abgestimmte, letztendlich jedoch <strong>von</strong>einander unabhängige Inhaber<br />

der <strong>St</strong>aatsgewalt gegenseitige Mässigung erzeugen können. Im Gegensatz zu diesem wahrhaft föderalistischen<br />

Geist hätten die Anhänger einer konsolidierten Union die Idee unkontrollierter Regierungsmacht<br />

vertreten, was am Ende Arroganz und Unterdrückung heraufbeschworen habe. 98 Auf<br />

die Ähnlichkeiten <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> mit dem klassischen Liberalismus in der Tradition <strong>von</strong> Adam<br />

Smith und David Hume wiesen Joseph <strong>St</strong>romberg, <strong>St</strong>even Watts, Adam Tate und Martin J. Burke<br />

hin. 99 Burke fasst die Lesart dieser Interpretationsströmung prägnant zusammen, wenn er erklärt,<br />

dass sich <strong>Taylor</strong> nicht über "the development <strong>of</strong> a commercial republic or the flourishing <strong>of</strong> 'manufacturing'<br />

capitalists" Sorgen gemacht habe, sondern über "the political subversion <strong>of</strong> the marketplace".<br />

100<br />

94 Banning (1978: 192-201); siehe daneben auch Pocock (1975: 531; 1985: 273) und die einzige nicht aus dem angloamerikanischen<br />

Raum stammende Arbeit über <strong>Taylor</strong> <strong>von</strong> Bottaro (1998: 181-225). Bannings <strong>St</strong>udie weist zwar eindrücklich<br />

auf das Fortbestehen der Ideen der englischen Country-Opposition im <strong>Denken</strong> des Virginiers hin, greift<br />

aber trotzdem zu kurz, da ihr als Primärquellen lediglich drei Frühschriften <strong>Taylor</strong>s zugrunde liegen. Auf den voluminösen<br />

Inquiry verweist Banning lediglich zwei bis drei Mal, die späten Werke erwähnt er überhaupt nicht.<br />

95 Marcus Porcius Cato Censorius (234-149 v.Chr.) verfasste die Schrift De agri cultura, in der er das Modell einer landwirtschaftlich<br />

geprägten <strong>politische</strong>n Ökonomie pries. Cato sah in der Landwirtschaft ein Instrument zur Erzeugung<br />

eines moderaten Wohlstandes - was Korruption verhindere - und eine Voraussetzung für Freiheit - Freiheit <strong>von</strong> der<br />

Tyrannei der eigenen Leidenschaften wie auch <strong>von</strong> dem ungerechten Zwang anderer Menschen. Landwirtschaft<br />

lehre Frömmigkeit und Pflichterfüllung, den Respekt vor den Göttern und Beistand gegenüber Freunden, die Ehrung<br />

<strong>von</strong> Vater und Mutter und den eigenen Vorfahren, sowie die Bereitschaft, für das eigene Land zu sterben, wenn<br />

es einen braucht. Cato sei der Held der "alten Whigs" gewesen. Siehe dazu Foshee (1985: 527-530).<br />

96 Bradford (1977: 15, 41); Foshee (1985: 535f., 542f.); Grammer (1996: 20-45).<br />

97 Grammer (1996: 45)<br />

98 Cornell (1999: 172, 178, 290).<br />

99 <strong>St</strong>romberg (1982: 35-48); Watts (1987: 17-28); Tate (2001: 192-325); Burke (1995: 45-52).<br />

100 Burke (1995: 50).


23<br />

<strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> über die <strong>politische</strong> Ökonomie der amerikanischen Republik hat ebenfalls höchst<br />

unterschiedliche, teilweise sogar widersprüchliche Interpretationen hervorgerufen, wobei dieser Teil<br />

seines <strong>Denken</strong>s <strong>von</strong> der Forschung weit weniger berücksichtigt worden ist. In der Sekundärliteratur<br />

finden sich in etwa die folgenden, teils disparaten Einschätzungen zu <strong>Taylor</strong>s wirtschaftlichen Ideen:<br />

<strong>Taylor</strong> wird in zeitlicher Abfolge charakterisiert (1) als laissez-faire-agrarian, landwirtschaftlicher<br />

Reformer, Anhänger des Freihandels und Gegner des Kapitalismus; 101 (2) als Anhänger der Physiokraten<br />

und realitätsfremder Theoretiker; 102 (3) als vorkapitalistischer Denker mit merkantilistischen<br />

Einflüssen und Sprecher all jener, die Zweifel an der stetig wachsenden Kommerzialisierung<br />

des gesellschaftlichen Lebens der frühen Republik hegten, zudem als Anwalt einer Arbeitswerttheorie,<br />

welche die Grundlage für die <strong>St</strong>abilität der zeitgenössischen herrschenden Ordnung bilden<br />

sollte; 103 schliesslich (4) als derjenige, der die Ideen Adam Smiths an die amerikanischen Umstände<br />

angepasst habe, als Verteidiger des Idealbildes vom individuellen Eigentümer, als Warner vor den<br />

Gefahren <strong>von</strong> Kapitalmobilität, vor speziellen Privilegien partikulärer Interessen und vor einer<br />

aktiven Rolle der Behörden bei der Lenkung der Wirtschaft. 104<br />

Insgesamt gibt es sechs Arbeiten, die ausschliesslich <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>s Person und <strong>Denken</strong> zum<br />

Thema haben. Die einzige eigentliche Biographie ist diejenige <strong>von</strong> Simms aus dem Jahr 1932. Die<br />

erste Abhandlung, die sich vollständig <strong>Taylor</strong>s <strong>politische</strong>n und ökonomischen Ideen widmet, diese<br />

sorgfältig zusammenfasst und darstellt, ist diejenige <strong>von</strong> Mudge aus dem Jahr 1939. 105 Erstaunlicherweise<br />

mussten dann nahezu 40 Jahre vergehen, bis <strong>Taylor</strong> wieder im Mittelpunkt des Interesses<br />

einer grösseren wissenschaftlichen Abhandlung stand. In den 1970er Jahren erschienen in kurzen<br />

Abständen die Arbeiten <strong>von</strong> Thomas Gordon Lloyd, Charles William Hill und Robert Shalhope.<br />

Alle drei Untersuchungen sind <strong>von</strong> bemerkenswerter Natur. Ihnen ist gemeinsam, dass sie viel zum<br />

Verständnis <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> beigetragen haben. Zugleich haben alle drei Arbeiten auch ihre<br />

Schwächen, auf welche die Forschung kritisch hingewiesen hat. 106 Die aus dem Jahre 1999 stam-<br />

101 Siehe Ford (1929: 221-235), Craven (1928: 314; 1938: 137-147) und Hite & Hall (1972: 477-479).<br />

102 Moore (1976: 351-361).<br />

103 MacLeod (1980: 387-406).<br />

104 Conkin (1980: 43-76).<br />

105 Siehe Simms (1932) und Mudge (1939). Die Arbeit <strong>von</strong> Simms beschäftigt sich in erster Linie mit <strong>Taylor</strong>s Wirken als<br />

<strong>St</strong>aatsmann und stellt seine Ideen bloss am Rande und im Lichte der <strong>St</strong>ates’ Rights-Doktrin vor. Mudges Arbeit ist<br />

hingegen eine sorgfältige Wiedergabe und Darstellung der <strong>Taylor</strong>schen <strong>politische</strong>n Ideen, berücksichtigt dabei aber<br />

die vor 1800 verfassten Werke zu wenig.<br />

106 Nach Lloyd (1973) sorgte sich <strong>Taylor</strong> in erster Linie um die Bewahrung einer natürlichen, föderal strukturierten<br />

Handelsrepublik in Amerika. Lloyds Problem ist, dass er nicht definiert, was er oder was <strong>Taylor</strong> genau unter einer natural<br />

commercial federal republic versteht oder verstanden hat. Lloyds Anregungen und Einsichten wurden dann in der<br />

Folge <strong>von</strong> der Forschung auch kaum aufgegriffen. Für Hill (1977) war <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> in erster Linie der Idee der<br />

Machtteilung und gemeinsamen moralischen Werte als Voraussetzung einer föderalen Republik verpflichtet. Hill interpretierte<br />

<strong>Taylor</strong> als Vertreter der amerikanischen Aufklärung und konstatierte eine zentrale Bedeutung der Begriffe<br />

Unabhängigkeit, Freiheit, Vernunft und Individualismus für sein Werk. Die Schwäche der Arbeit liegt darin, dass Hill<br />

die Frage unbeantwortet lässt, was die Besonderheit <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Machtteilungskonzept gegenüber anderen solchen<br />

Modellen ausmacht und warum diese Idee überhaupt so wichtig für sein <strong>Denken</strong> war. Shalhope (1980) unternahm in<br />

seiner Arbeit, die <strong>von</strong> der Forschung noch heute als das <strong>St</strong>andardwerk über <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> angesehen wird, vorsichtige<br />

Versuche, <strong>Taylor</strong> wieder als Vertreter einer demokratisch-egalitären Gesellschaftsordnung zu lesen. Am<br />

Ende las er <strong>Taylor</strong> dann doch wieder als Sprecher der konservativen Elite Virginias, die landwirtschaftliche Interessen<br />

vertrat, Sklaven besass und sich langsam bewusst wurde, dass ihre Welt dem Untergang geweiht war. <strong>Taylor</strong> sei


24<br />

mende Dissertation <strong>von</strong> David Bramhall ist die zuletzt erschienene Arbeit aus dem angelsächsischen<br />

Raum, die sich über weite Teile, aber nicht ausschliesslich, mit dem <strong>Denken</strong> <strong>Taylor</strong>s beschäftigt. Sie<br />

stellt daher keine eigentliche Monographie über <strong>Taylor</strong> dar, sondern vielmehr eine Abhandlung zur<br />

<strong>Taylor</strong>-Adams Debatte, die sich an <strong>Taylor</strong>s Publikation seines Inquiry im Jahre 1814 anschloss. 107<br />

Eine zweite neuere Dissertation, die <strong>Taylor</strong>s <strong>politische</strong>n Ideen ein breites Interesse einräumt, ist<br />

Constantine Gutzmans breit angelegte <strong>St</strong>udie über den Republikanismus in Virginia im Zeitraum<br />

<strong>von</strong> 1776 bis 1814. Gutzman kommt in ihr immer wieder auf <strong>Taylor</strong>s republikanische Schriften und<br />

auf den Senator und Parlamentarier <strong>Taylor</strong> zu sprechen und ordnete diesen in Virginias republikanische<br />

Denktradition ein. 108 Da auch Gutzman sich für <strong>Taylor</strong> nur als Teil eines weiter formulierten<br />

Forschungsthemas interessiert, vergingen im Anschluss an die Arbeit <strong>von</strong> Shalhope ganze 22 Jahre,<br />

bis die nächste eigentliche Monographie zu <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> erschien. Sie stammt vom italienischen Politikwissenschaftler<br />

Giuseppe Bottaro und wurde 2002 in italienischer Sprache publiziert. 109<br />

Die Ausführungen zur Rezeptionsgeschichte <strong>Taylor</strong>s machen folgende Punkte deutlich: (1) Im<br />

Laufe des 20. Jahrhunderts hat es immer wieder bestimmte, <strong>von</strong>einander klar unterscheidbare Interpretationsrichtungen<br />

- <strong>von</strong> Schulen kann nicht gesprochen werden - gegeben, die in einer bestimmten<br />

Zeitspanne die Auslegung und Einordnung <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Ideen dominiert haben. In den 1930er<br />

Jahren herrschte die demokratische Auslegung vor, in den 1940er und 1950er Jahren die These,<br />

<strong>Taylor</strong> sei ein Apologet seiner Klasse, der Gentry Virginias, gewesen. Darauf folgte in den 1950er und<br />

1960er Jahren die <strong>St</strong>ates’ Rights-These. In den 1970er und teilweise noch in den 1980er Jahren überwog<br />

die Ansicht, bei <strong>Taylor</strong> handle es sich um einen klassischen, pastoralen Republikaner und im Laufe<br />

der 1980er und dann auch in den 1990er Jahren wurden vermehrt klassisch liberale bis libertäre<br />

sowie moderne Züge in <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> wahrgenommen. (2) Die letzten zwei massgeblichen Arbeiten,<br />

diejenigen <strong>von</strong> Hill und Shalhope, stamen beide aus den 1970er Jahren. Seit ihrer Publikation<br />

sind schon über 25 Jahre vergangen. (3) Die Forschungsergebnisse <strong>von</strong> Gordon Wood oder M. J. C.<br />

Vile und <strong>St</strong>even Watts, die auf <strong>Taylor</strong> als wichtigen <strong>politische</strong>n Denker im Zeitalter der Early Republic<br />

hinweisen, wurden <strong>von</strong> der Forschungsgemeinde in Übersee und Europa nur ungenügend zur<br />

Kenntnis genommen, geschweige denn aufgegriffen und weiterverarbeitet. In der nicht-angelsächsischen<br />

Forschung ist <strong>Taylor</strong> kaum präsent, in der deutschsprachigen Ideen- und Verfassungsgeschichte<br />

haben seine Ideen bis anhin keine Beachtung gefunden. 110<br />

in diesem Sinne ein "pastoraler Republikaner" gewesen. Für die Kritik an diesen Arbeiten siehe Dawid<strong>of</strong>f (1982:<br />

141f.), Hobson (1981: 537ff.), Howe (1981: 350-353), Lloyd (1979: 1130f.) und Shalhope (1978: 109f.).<br />

107 Bramhall (1999) geht es dabei wesentlich um die Verteidigung der festen demokratischen Grundüberzeugungen <strong>von</strong><br />

<strong>John</strong> Adams und um den Nachweis der aristokratischen Natur der Jeffersonian Democray, weniger um ein echtes Interesse<br />

an <strong>Taylor</strong>s Ideen. Diese interpretiert er primär vor dem Hintergrund <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Zugehörigkeit zur herrschenden<br />

Klasse Virginias. <strong>Taylor</strong> sei kein Philosoph oder Denker, sondern ein Ideologe gewesen, der die Interessen und<br />

die Macht seiner Klasse verteidigt habe. Diese Interpretation, die die Ideen eines Denkers ausschliesslich auf dessen<br />

sozialen <strong>St</strong>andpunkt zurückführt, dominierte bereits die <strong>Taylor</strong>-Interpretation der 1950er Jahre.<br />

108 Gutzman (1999: 276ff., 287ff., 297ff., 317-337, 373ff., 383ff., 391ff.).<br />

109 Bottaro (2002). Bottaro nimmt <strong>Taylor</strong> v.a. aus der Perspektive der <strong>St</strong>ates’ Rights-Tradition und als klassischen Republikaner<br />

wahr. Siehe dazu auch ders. (1998: 181-205).<br />

110 Im fünfbändigen "Pipers Handbuch der <strong>politische</strong>n Ideen" wird lediglich an einer <strong>St</strong>elle beiläufig auf <strong>Taylor</strong> verwiesen,<br />

dies im Zusammenhang mit einem Brief Jeffersons an <strong>Taylor</strong>, indem Jefferson darlegte, dass die beste Regierung


25<br />

1.3. Fragestellung und Gliederung der Arbeit<br />

Wie oben dargelegt, wurde das <strong>politische</strong> <strong>Denken</strong> <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> bis anhin im Rahmen<br />

der <strong>politische</strong>n Ideengeschichte höchst unterschiedlich eingeordnet und - mit wenigen Ausnahmen -<br />

nur am Rande berücksichtigt. <strong>Das</strong> Forschungsinteresse an <strong>Taylor</strong> hat in den letzten 25 Jahren merklich<br />

nachgelassen, ohne dass es bei den Interpretationen seines Werkes zu einer wesentlichen Übereinstimmung<br />

gekommen wäre. Im Gegenteil, wesentliche Fragen sind nach wie vor ohne Antwort.<br />

Zudem haben die wenigen Arbeiten der letzten zwei Jahrzehnte neue, bis anhin vernachlässigte<br />

Aspekte in <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> herausgestrichen und so frische, anregende Perspektiven für eine Neubeurteilung<br />

seines Gesamtwerkes eröffnet. Folgende Fragen warten noch immer (oder wieder neu)<br />

auf eine Antwort:<br />

1. Wie sieht <strong>Taylor</strong>s Vorstellung <strong>von</strong> der menschlichen Natur (Anthropologie) sowie sein<br />

Moral- und Naturrechtsdenken aus, und auf welchen Vorläufern gründen diese Ideen?<br />

2. Wie ist bei <strong>Taylor</strong> das Verhältnis <strong>von</strong> Naturzustand, bürgerlicher Gesellschaft und<br />

<strong>St</strong>aatsgewalt (government) ausgestaltet?<br />

3. Was beinhaltet <strong>Taylor</strong>s republikanische Prinzipienlehre (seine Lehre <strong>von</strong> den guten<br />

und schlechten moralischen Prinzipien)? Wo liegen ihre (auch ideellen) Ursprünge und<br />

wie begründet <strong>Taylor</strong> seine republikanischen Grundsätze?<br />

4. Welche Grundprinzipien charakterisieren gemäss <strong>Taylor</strong> eine republikanische Ökonomie?<br />

Was für eine Rolle spielt insbesondere das Konzept des laissez-faire, und welche<br />

Rolle bzw. Aufgaben ordnet <strong>Taylor</strong> dem <strong>St</strong>aat im Bereich der Wirtschaft zu?<br />

5. Wie definiert <strong>Taylor</strong> die Ordnung einer guten Gesellschaft? Wie stehen in <strong>Taylor</strong>s idealer<br />

Wirtschaftsordnung die einzelnen Wirtschaftszweige zueinander und in welchem<br />

Verhältnis stehen sie zur <strong>St</strong>aatsgewalt? Welche Rolle spielt hier inbesondere die Landwirtschaft?<br />

6. Warum sieht <strong>Taylor</strong> im finance capitalism eine Bedrohung der gesellschaftlichen und<br />

republikanischen Freiheit?<br />

7. Welche Rolle spielen die Konzepte der Volkssouveränität, der Verantwortlichkeit der<br />

Behörden (responsible government) und das Repräsentationsprinzip bei <strong>Taylor</strong>? Ist er ein<br />

Demokrat?<br />

8. Wie charakterisiert sich <strong>Taylor</strong>s Machtteilungsmodell? Was macht sein Gewaltenteilungsmodell<br />

so besonders und was unterscheidet es <strong>von</strong> anderen Modellen? Handelt es<br />

sich bei <strong>Taylor</strong>s Entwurf um ein Modell strikter Gewaltentrennung? Wie kritisiert er<br />

die Idee der Mischverfassung und den der amerikanischen Bundesverfassung zugrunde<br />

liegenden Mechanismus der Gewaltenteilung (die Kombination <strong>von</strong> Gewaltentrennung<br />

und checks and balances)?<br />

seiner Meinung nach eine repräsentative Regierung sei, in der die Bürger Delegierte mittels Wahlen beauftragen und<br />

kontrollieren können. Siehe Young (1985: 639) und Thomas Jefferson an <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>, 28. März 1816, in: Jefferson<br />

(1984: 1391-1395).


26<br />

9. Wie beurteilt <strong>Taylor</strong> die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit im Allgemeinen und die<br />

Rolle des Supreme Court (unter chief justice <strong>John</strong> Marshall) im Besonderen, sich zum<br />

Hüter der Bundesverfassung und zur abschliessend entscheidenden Instanz betreffend<br />

der Verfassungsmässigkeit <strong>von</strong> Bundesgesetzen einerseits und Einzelstaatsgesetzen<br />

und letztinstanzlichen Einzelstaatsurteilen andererseits aufzuschwingen?<br />

10. Wie sieht <strong>Taylor</strong>s Ideal einer föderalen Republik aus, und welche Mängel kritisiert er an<br />

der Bundesverfassung der Vereinigten <strong>St</strong>aaten und deren Entwicklung?<br />

11. Was für eine Rolle spielen personen- und institutionenorientierte Ansätze <strong>politische</strong>r<br />

Ethik in <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong>, insbesondere die Gemeinwohl- und die Leistungsorientierung<br />

des einfachen Bürgers? In welchem Verhältnis stehen diese Konzepte zueinander?<br />

Diese Forschungsfragen widerspiegeln die zentrale Grundthematik in <strong>Taylor</strong>s Werk: den Versuch,<br />

diejenigen gesellschaftlichen, ökonomischen und <strong>politische</strong>n Grundprinzipien zu identifizieren, die<br />

ein freiheitliches Gemeinwesen auszeichnen und bewahren. <strong>Das</strong> vorliegende Forschungsprojekt<br />

knüpft an diese <strong>of</strong>fen gebliebenen Fragen an, greift die jüngeren Forschungsergebnisse zu <strong>Taylor</strong> auf<br />

und beurteilt sein Werk im Lichte der in den letzten Jahren neu gewonnenen wissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse zum <strong>politische</strong>n <strong>Denken</strong> der Early Republic. Im Zentrum der Arbeit stehen die Fragen<br />

nach den <strong>politische</strong>n und politisch-ökonomischen Ideen, die sich im <strong>Denken</strong> <strong>Taylor</strong>s finden, sowie<br />

nach dem real- und geistesgeschichtlichen Kontext, in dem diese Ideen stehen. Ziel der Arbeit ist es,<br />

<strong>Taylor</strong>s Position und den <strong>St</strong>ellenwert seiner Ideen im Hinblick auf den zeitgenössischen Kontext<br />

und die zeitgenössischen <strong>St</strong>rukturen und Entwicklungen der frühen Republik zu beurteilen. Ebenfalls<br />

<strong>von</strong> Interesse ist die Frage, wo <strong>Taylor</strong> als Denker in die Denktraditionen der <strong>politische</strong>n Ideengeschichte<br />

eingeordnet werden kann (klassischer Republikanismus, moderner Republikanismus oder<br />

klassischer Liberalismus)? 111 Darüber hinaus soll die Frage beantwortet werden, wie <strong>Taylor</strong> das Verhältnis<br />

<strong>von</strong> Wirtschaftsordnung und Marktgesellschaft einerseits und republikanischer <strong>St</strong>aatsordnung<br />

andererseits wahrgenommen hat. <strong>Taylor</strong> war Augenzeuge und Beobachter einer für die<br />

Zukunft der Vereinigten <strong>St</strong>aaten massgeblichen Epoche, einer Epoche, die sich <strong>von</strong> der amerikanischen<br />

Revolution in den 1770er Jahren bis zur allmählichen Festigung der jungen Republik in den<br />

1820er Jahren erstreckte und in der es ganz allmählich zur Herausbildung einer Marktgesellschaft<br />

und einer liberalen kapitalistischen Wirtschaftsordnung kam.<br />

Der Aufbau der Arbeit ist bewusst nicht chronologisch gehalten. Eine diachrone Behandlung <strong>von</strong><br />

<strong>Taylor</strong>s Texten ist möglich, weil sein Werk betreffend der <strong>von</strong> ihm vertretenen Grundpositionen<br />

keine grösseren Brüche aufweist. In der Forschung hat sich eine Position durchgesetzt, die <strong>Taylor</strong>s<br />

<strong>Denken</strong> Konsistenz zugesteht. 112 <strong>Das</strong> heisst aber nicht, dass <strong>Taylor</strong> über 30 Jahre hinweg stets die<br />

gleichen, bereits in den 1790er Jahren formulierten Argumente vertreten hat. <strong>Taylor</strong>s Grundthema<br />

111 Zur Renaissance des Republikbegriffs in der amerikanischen Geschichtsschreibung siehe Shalhope (1980c: 334ff.),<br />

Appleby (1992: 1-33) und Schloss (2003: 27-45). Zum klassischen Republikanismus siehe Pocock (1975), Banning<br />

(1986: 3-19), Schloss (2003: 49-55), Sheldon (1991: 5-7) und Pettit (1997: insb. Part 1). Zum klassischen Liberalismus<br />

siehe Meek (1976), Kopp (1995: 99ff.), Sheldon (1991: 3-5) und Schloss (2003: 55-59). Für republikanische Synthesen<br />

im Sinne eines modernen Republikanismus siehe Pangle (1988: 41-127).<br />

112 Siehe etwa Vile (1967: 183), MacLeod (1980: 388) und Hill (1977: 285).


27<br />

ist, wie im Laufe der Arbeit gezeigt wird, immer dasselbe: Die Selbstregierung der Nation und der<br />

Schutz der natürlichen Rechte müssen garantiert werden. Letzeres heisst für <strong>Taylor</strong> vor allem, dass<br />

eine Faktionen und Sonderinteressen begünstigende Umverteilung <strong>von</strong> Eigentum unterbunden werden<br />

muss. <strong>Das</strong> war der doppelte Zweck. Um ihn zu erreichen, bediente sich <strong>Taylor</strong> verschiedener<br />

Instrumente und Konzepte: in den 1790er Jahren der Ideologie des britischen Oppositionsdenkens,<br />

mit der er die Unterwanderung der repräsentativen Regierungsform brandmarkte; in seinem Inquiry<br />

<strong>von</strong> 1814 einer Theorie der moralischen Prinzipien, welche die Ideale des revolutionären Republikanismus<br />

hochhielt; in den 1820er Jahren einer Theorie fragmentierter Regierungsgewalt, die das<br />

Hauptgewicht auf die föderale Ebene der Machtteilung legte. Von einer chronologischen Darstellung<br />

wurde auch darum abgesehen, weil mit der vorliegenden Arbeit gerade der Versuch unternommen<br />

wird, <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> systematisch zu ordnen und zu strukturieren. <strong>Taylor</strong>s Werk ist wenig<br />

strukturiert, sein Schreibstil war - darauf wurde oben hingewiesen - abschweifend, gewunden und<br />

häufig wenig klar. Seine Ideen und seine Schriften sind daher nur schwer zugänglich. Die vorliegende<br />

Arbeit möchte hier Abhilfe schaffen.<br />

Inhaltlich gliedert sich die Dissertation in drei Teile: einen Grundlagenteil (erster Teil), einen Teil<br />

über die <strong>politische</strong> Ökonomie der Amerikanischen Republik (zweiter Teil) und einen Teil über das<br />

Verfassungssystem der Vereinigten <strong>St</strong>aaten (dritter Teil). 113 Der Grundlagenteil behandelt in einem<br />

ersten Schritt (2. Kapitel) das in der Forschung vernachlässigte Menschen- und Gesellschaftsbild<br />

<strong>Taylor</strong>s sowie die <strong>von</strong> ihm verteidigten natürlichen individuellen Rechte und deren Bedrohung<br />

durch die <strong>St</strong>aatsgewalt und Finanzoligarchie der frühen Republik. Die <strong>Taylor</strong>sche Anthropologie<br />

bildet das Fundament, auf dem das gesamte <strong>politische</strong> Ideengebäude des Virginiers ruht. Ihre<br />

Kenntnis ist für ein Verständnis seiner Verteidigung <strong>von</strong> Selbstregierung und Machtteilung sowie<br />

seines Gesellschaftsideals unerlässlich, denn im Grunde sind die Regierungsbehörden bei <strong>Taylor</strong><br />

nichts anderes als ein "künstlicher" Mensch und ist die Gesellschaft eine blosse Gruppierung <strong>von</strong><br />

Individuen. 114 Im daran anschliessenden Kapitel (3. Kapitel) wird die <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> im Inquiry formulierte<br />

Theorie der republikanischen Prinzipien interpretiert, mit der er sich <strong>von</strong> den klassischen, antiken<br />

und europäischen Modellen der Politikanalyse lösen und eine eigenständige, amerikanische Regierungslehre<br />

formulieren wollte. Auf das Fundament dieser Regierungslehre stellte <strong>Taylor</strong> seine<br />

gute Republik. Im Rahmen der Darstellung <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s republikanischer Prinzipienlehre findet die<br />

Frage nach dem <strong>von</strong> ihm vertretenen Ansatz <strong>politische</strong>r Ethik eine erste Antwort.<br />

Der zweite Teil der Arbeit ("Die <strong>politische</strong> Ökonomie der amerikanischen Republik") befasst<br />

sich mit <strong>Taylor</strong>s gesellschaftlichem Ideal und mit seinem Ideal der <strong>politische</strong>n Ökonomie der Early<br />

Republic. In einem ersten Schritt (4. Kapitel) werden <strong>Taylor</strong>s Vorstellungen <strong>von</strong> einer modernen republikanischen<br />

<strong>politische</strong>n Ökonomie erläutert und in den zeitlichen Kontext der frühen Republik<br />

113 Nach MacLeod (1980: 389) gründet <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> auf zwei sich wechselseitig ergänzenden und miteinander interagierenden<br />

Säulen oder Grundlagen (twin foundations), <strong>von</strong> denen das Glück der Vereinigten <strong>St</strong>aaten (national happiness)<br />

abhängt: "agricultural prosperity and [...] republican liberty". Die vorliegende Arbeit greift diese Unterscheidung auf,<br />

indem sie den zweiten Teil der <strong>politische</strong>n Ökonomie der amerikanischen Republik (und ihren moralischen und <strong>politische</strong>n<br />

Unteraspekten) und den dritten Teil dem Verfassungssystem der Vereinigten <strong>St</strong>aaten mit seinen die republikanische<br />

Freiheit sichernden Institutionen widmet.<br />

114 Auf diese Besonderheit weist etwa Tate (2001: 221) hin.


28<br />

eingeordnet. Wie sich zeigen wird, bildete die frühe Republik eine Phase des Übergangs <strong>von</strong> einer<br />

kolonialen zu einer liberal kapitalistischen Wirtschaftsordnung. <strong>Taylor</strong>s Modell der guten Ökonomie<br />

gründete dabei auf den Pfeilern des freien Marktes, einer republikanischen Arbeitsethik und dem<br />

Prinzip des laissez-faire. Darüber hinaus setzt sich dieser Teil der Arbeit mit dem <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> in der<br />

frühen Republik wahrgenommenen Klassengegensatz sowie dem Platz auseinander, den die Landwirtschaft<br />

in der <strong>politische</strong>n Ökonomie Amerikas einnehmen sollte. In einem nächsten Schritt (5.<br />

Kapitel) werden die <strong>politische</strong>n und moralischen Gründe untersucht, die <strong>Taylor</strong> für sein Ideal der<br />

Agrarrepublik anführte. Neben der Behandlung der Milizidee und seines Ideals des tugendhaften<br />

Farmers erfährt hier auch <strong>Taylor</strong>s Position zur Sklaverei eine eingehende Analyse. Im Fokus der<br />

Untersuchung steht die Erläuterung der Bedeutung, die <strong>Taylor</strong> der Landwirtschaft für die <strong>St</strong>abilität<br />

der jungen Republik zuwies.<br />

Der dritte Teil der Arbeit ("<strong>Das</strong> Verfassungssystem der Vereinigten <strong>St</strong>aaten") untersucht die <strong>politische</strong>n<br />

<strong>St</strong>rukturen und Institutionen, auf denen gemäss <strong>Taylor</strong> die Freiheit der amerikanischen Republik<br />

gründet. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht <strong>Taylor</strong>s Verfassungstheorie und vor allem<br />

seine Machtteilungskonzeption. In einem ersten Schritt (6. Kapitel) wird der für das <strong>politische</strong> <strong>Denken</strong><br />

der Neuzeit so bedeutende Paradigmenwechsel <strong>von</strong> der Mischverfassung hin zur gewaltenteiligen,<br />

föderativen Repräsentativrepublik, zu dem es im Gefolge der Amerikanischen Revolution kam,<br />

aus der Perspektive <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> dargestellt. In wahrscheinlich keinem Werk der<br />

<strong>politische</strong>n Ideengeschichte kommt dieser Wechsel so deutlich zum Ausdruck wie in <strong>Taylor</strong>s Inquiry<br />

(1814) oder in Construction Construed (1820). <strong>Taylor</strong> setzte an die <strong>St</strong>elle des Machtgleichgewichts der<br />

Mischverfassung eine strikte Trennung sämtlicher Machtträger einer konföderalen Republik und<br />

entwirft ein Konzept umfassender Machtteilung. In einem ersten Schritt (Ziff. 6.1) wird ein Analyseund<br />

Referenzrahmen zu den in der frühen Republik bekannten Theorien der Machtteilung skizziert,<br />

anschliessend (Ziff. 6.2) <strong>Taylor</strong>s Kritik der gleichgewichtigen britischen Mischverfassung präsentiert<br />

und schliesslich das <strong>von</strong> ihm vertretene Gegenmodell einer umfassenden Machtteilung mit der Verfassungstheorie<br />

(departmental theory und des popular constitutionalism) vorgestellt, die diesem Modell<br />

zugrunde liegt. In den folgenden Kapiteln werden die Bestandteile <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s konföderaler, machtteiliger<br />

Repräsentativrepublik ausgelegt. Es sind dies: die vertikale Machtteilung zwischen Volk und<br />

Behörden: Volkssouveränität, Verantwortlichkeit und Repräsentation (7. Kapitel); die horizontale<br />

Machtteilung der Bundesbehörden (8. Kapitel) sowie die vertikale Machtteilung zwischen den <strong>von</strong><br />

der Unionsverfassung <strong>von</strong> 1787 errichteten Bundesbehörden und den Einzelstaaten (9. Kapitel).<br />

Schwerpunkte der Darstellungen werden auf <strong>Taylor</strong>s Kritik am <strong>von</strong> den Verfassungsvätern errichteten<br />

Präsidentenamt liegen (Ziff. 8.1), auf seiner Auseinandersetzung mit dem Obersten Bundesgericht<br />

(supreme court), das in den Jahren nach 1800 schrittweise die Befugnis für sich in Anspruch<br />

nahm, letztinstanzlich über alle Fragen der Bundesverfassung im Verfahren der Verfassungsgerichtsbarkeit<br />

zu entscheiden (Ziff. 8.3 und 9.4.3), und auf <strong>Taylor</strong>s Föderalismuskonzept und dessen<br />

Bedrohung durch Machtkonsolidierung (Ziff. 9.2 und 9.3). Die Arbeit abschliessen wird eine<br />

kurze Zusammenfassung der gewonnenen Einsichten (Schlussbemerkungen). Darüber hinaus wird<br />

jedem Kapitel (mit Ausnahme des 1. Kapitel) eine kurze Zusamenfassung mit den wichtigsten Erkenntnissen<br />

hintangestellt.


29<br />

ERSTER TEIL<br />

GRUNDLAGEN<br />

2. Mensch, Gesellschaft und Naturrechte<br />

Die Frage nach Wesen und Natur des Menschen ("Was ist der Mensch?") bildet die Grundlage jeder<br />

Rechts- und <strong>St</strong>aatsphilosophie. 1 Besonders in den Mittelpunkt trat sie im Zeitalter der Aufklärung.<br />

Die Zurückweisung traditioneller kirchlicher Weltbilder (in England bspw. des protestantischreformatorischen<br />

Menschenbildes vom gefallenen, sich durch niedrige Leidenschaften auszeichnenden,<br />

sündhaften Menschen) verlangte eine umfassende Neudefinition des menschlichen Charakters<br />

und Schicksals. 2 So erklärte der grosse englische Aufklärungsphilosoph David Hume, dass es<br />

"evident" sei, "that all sciences have a relation, greater or less, to human nature" 3 , und Alexander<br />

Pope wies den Menschen darauf hin, dass nicht das <strong>St</strong>udium Gottes, sondern das <strong>St</strong>udium der<br />

Menschheit, die ihm angemessene Aufgabe sei: "Know then thyself, presume not God to scan; the<br />

proper study <strong>of</strong> Mankind is Man." 4<br />

Diese Einsicht gilt auch für die <strong>St</strong>aatsphilosophie: <strong>St</strong>aat, Recht, Gesellschaft und Mensch hängen<br />

wechselseitig <strong>von</strong>einander ab. Nur wer das Menschenbild und darauf aufbauend das Bild der<br />

menschlichen Gesellschaft kennt, das <strong>von</strong> einem bestimmten Autor vertreten wird, ist letztendlich in<br />

der Lage, seine konkreten staatstheoretischen Positionen zu verstehen. 5<br />

Bei <strong>Taylor</strong> ist ein solches Vorhaben mit Schwierigkeiten verbunden. Eine konzise, knappe und<br />

systematische Darstellung seines Menschen- und Gesellschaftsbildes findet sich nirgendwo in seinem<br />

umfangreichen Werk. Seine Behandlung dieser Fragen ist vielmehr stets bruchstückhaft und<br />

vom Zufall des jeweiligen Gedankengangs bedingt. Wer <strong>Taylor</strong>s Menschen- und Gesellschaftsbild<br />

verstehen möchte, ist gezwungen, die über sein gesamtes Werk verstreuten Bemerkungen und Hinweise<br />

zusammenzutragen und zu ordnen. Von einer eigentlichen Theorie der human nature oder einer<br />

eigentlichen Gesellschaftstheorie kann bei <strong>Taylor</strong> nicht gesprochen werden. <strong>Taylor</strong> war kein grosser<br />

Begründer <strong>von</strong> abstrakten philosophischen Modellen, sein <strong>Denken</strong> bewegte sich vielmehr im Rahmen<br />

vorgedachter philosophischer Systeme, nicht aber, ohne dabei an der einen oder anderen <strong>St</strong>elle<br />

den einen oder anderen entscheidenden Akzent zu setzen (und damit dem Vorwurf des Epigonentums<br />

an Gewicht zu nehmen). Häufig sind nur die Umrisse, nicht aber die eigentlichen Inhalte seiner<br />

Gedanken erkennbar. Vieles bleibt an der Oberfläche und bruchstückhaft. Wer diese unbefriedigende<br />

Situation nicht hinnehmen möchte, muss sich nach Leitplanken - bspw. in Form intellektueller<br />

1 Siehe dazu Bredow & Mayer (2001: 1ff., 10) und Mastronardi (2007: 26-31).<br />

2 Siehe dazu Höffe (2001: 169); Porter (2000: 156ff.).<br />

3 David Hume, "A Treatise <strong>of</strong> Human Nature" (1739-40), xv, zitiert nach: Porter (2000: 156). Nach Hume war eine<br />

Verankerung der Wissenschaften in der menschlichen Natur <strong>von</strong> unschätzbarem Nutzen: "It is impossible to tell<br />

what changes and improvements we might make in these sciences were we thoroughly acquainted with the extent<br />

and force <strong>of</strong> human understanding" (ibd., 528).<br />

4 Alexander Pope, "An Essay <strong>of</strong> Man" (1733-34), epistle ii, ll., 1-2, zitiert nach: Porter (2000: 156).<br />

5 <strong>St</strong>rauss & Cropsey (1963: 4f.).


30<br />

Einflüsse und nachweislich zitierter Quellen umschauen -, die imstande sind, Orientierungshilfe zu<br />

leisten. Doch auch hier ist der Weg voller Hindernisse. <strong>Taylor</strong> besass eine ausgeprägte Abneigung<br />

gegenüber Autoritäten (so lehnte er es ab, sich ständig auf andere Denker zu berufen) und strebte<br />

nach Originalität. Beide Neigungen erschweren es, die ihn beeinflussenden Vordenker und Quellen<br />

aufzuspüren. 6 Wo eindeutige Hinweise auf intellektuelle Einflüsse fehlen, muss der Versuch, sie aus<br />

den Ideen eines Denkers abzuleiten, immer Spekulation bleiben. Wenn nachfolgend - vor dem Hintergrund<br />

eines vertieften Verständnisses <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Menschen- und Gesellschaftsbild - verschiedene<br />

Leitplanken beigezogen werden, d.h. auf mögliche "Vordenker" <strong>Taylor</strong>s verwiesen wird - etwa<br />

auf <strong>John</strong> Locke, David Hume, Thomas Paine oder William Godwin 7 - dann erfolgt dies immer im<br />

Bewusstsein um die unsichere Natur solcher Vergleiche. Mit ihnen wird nicht der Anspruch erhoben,<br />

bis anhin unentdeckte intellektuelle Einflüsse <strong>of</strong>fen zu legen. Idee der Vergleiche ist vielmehr,<br />

ausgehend <strong>von</strong> vorhandenen Ähnlichkeiten Analogieschlüsse zu ziehen und damit Licht auf verschiedene<br />

weisse Flecken in <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> zu werfen.<br />

Im Folgenden wird in einem ersten Schritt (Ziff. 2.1) das anthropologische Fundament des <strong>politische</strong>n<br />

<strong>Denken</strong>s <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> herausgearbeitet. Im Mittelpunkt der Darstellung steht<br />

sein Konzept der moralischen Natur des Menschen, die Frage nach den Kräften, die den <strong>Taylor</strong>schen<br />

Menschen antreiben sowie die Einordnung seines Menschenbildes in die Denktraditionen der<br />

<strong>politische</strong>n Ideengeschichte. Anschliessend wird in einem zweiten Schritt (Ziff. 2.2) <strong>Taylor</strong>s Gesellschafts-<br />

und <strong>St</strong>aatsbild vorgestellt. Die Untersuchung konzentriert sich dabei auf seine drei unterschiedlichen<br />

Begriffe <strong>von</strong> "Gesellschaft" (natürliche Gesellschaft, Nation, bürgerliche oder <strong>politische</strong><br />

Gesellschaft) und seine Ideen zur Einrichtung sowie zum Zweck und Wesen des <strong>St</strong>aates. In einem<br />

dritten Schritt (Ziff. 2.3) werden die <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> dem Menschen zuerkannten natürlichen Rechte<br />

untersucht. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Behandlung zweier Naturrechte gelegt,<br />

die <strong>von</strong> grundlegender Bedeutung sind für <strong>Taylor</strong>s <strong>politische</strong> Philosophie: die Eigentumsfreiheit und<br />

die Meinungsäusserungsfreiheit. In einem letzten Schritt (Ziff. 2.4.) werden die Elemente in <strong>Taylor</strong>s<br />

<strong>Denken</strong> vorgestellt, welche die individuelle und gesellschaftliche Freiheit am stärksten bedrohen:<br />

künstliche Sonderinteressen und Faktionen, in <strong>Taylor</strong>s Terminologie, Formen der Aristokratie.<br />

6 Auf diese Problematik haben bereits Hill (1977: 39) und Mudge (1939: 8) nachdrücklich hingewiesen. In der vorliegenden<br />

Arbeit wird versucht, immer wieder den Bezug zu den intellektuellen Einflüssen herzustellen, die auf <strong>Taylor</strong><br />

wirkten. Zu <strong>Taylor</strong>s Ablehnung <strong>von</strong> Autoritäten siehe <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 447, 476: "Confidence is a substitution<br />

<strong>of</strong> the understanding and honesty <strong>of</strong> others for our own; authority, the understanding and honesty so substituted. [...]<br />

the common sense and common honesty <strong>of</strong> a nation, [are] both a wiser and honester source <strong>of</strong> government than the<br />

authority <strong>of</strong> saints, kings, philosophers, heroes, orators, parties, factions or separate interests in any form."<br />

7 Burke (1995: 45, 48) und Harp (1985: 112) verweisen auf den Einfluss Lockes, Shalhope (1980a: 176) und Mudge<br />

(1939: 9) auf den Einfluss Humes, O'Brien (2004: 791) und Genovese (1994: 45f., 115 Fn. 13) auf Godwins und<br />

Paines Einfluss. Für <strong>Taylor</strong>s Vertrautheit mit Paines <strong>Denken</strong> siehe auch Harp (1985: 112) und <strong>St</strong>romberg (1982: 43).


31<br />

2.1. Die Natur des Menschen<br />

2.1.1. Moralische Natur und Selbsterhaltung<br />

<strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> verankerte sein <strong>politische</strong>s System in der Natur des Menschen, wie er sie<br />

verstand. Politische Weisheit, so seine Einsicht, ist ohne ein Verständnis der human nature nicht möglich.<br />

Am Anfang allen Nachdenkens über den <strong>St</strong>aat, seine Politik und seine Gesetze hat daher die<br />

Kenntnis der menschlichen Natur zu stehen. Der <strong>St</strong>aatsmann, schreibt <strong>Taylor</strong> im Inquiry, habe sein<br />

Handeln <strong>von</strong> den <strong>of</strong>fensichtlichen und tatsächlichen Eigenschaften der menschlichen Natur leiten<br />

zu lassen. Die Bedeutung dieser Aussage wird erst ersichtlich, wenn man sich <strong>Taylor</strong>s Grundannahme<br />

vor Augen führt, dass menschliches (moralisches) Handeln sich mit Hilfe <strong>von</strong> Triebkräften, über<br />

die wiederum die Menschen gebieten können, regulieren lässt. Da der <strong>St</strong>aat sich aus Menschen zusammensetzt,<br />

so seine Überlegung, müssen all seine Tugenden und Laster menschlichen Ursprungs<br />

und damit steuerbar sein. Die Beschäftigung mit der Natur des Menschen war für <strong>Taylor</strong> damit<br />

mehr als ein angenehmer Zeitvertreib zur blossen Unterhaltung <strong>von</strong> Gelehrten. Vielmehr steht das<br />

Wissen um die menschliche Natur in direkter Verbindung mit der Einrichtung eines guten, die Freiheit<br />

und das Glück der Menschen befördernden Regierungssystems. 8 <strong>Taylor</strong>s Nachdenken über den<br />

<strong>St</strong>aat, seine Verfassung und Gesetze gründet damit auf einem bestimmten Bild der human nature. Im<br />

Folgenden soll dieses untersucht und dargestellt werden. 9<br />

Ein vertieftes Verständnis <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Menschenbild verlangt dessen Betrachtung aus zwei verschiedenen<br />

Perspektiven: In einem ersten Schritt stellt sich die Frage nach der moralischen Natur<br />

der human nature bei <strong>Taylor</strong>. Es geht mithin um die Frage der Tugend- oder Lasterhaftigkeit des<br />

Menschen. In einem zweiten Schritt muss nach der Leidenschaft gefragt werden, die den Menschen<br />

primär antreibt. Beide Aspekte sind, wie weiter unten klar werden wird, bei <strong>Taylor</strong> eng miteinander<br />

verknüpft. (1) Auf die Frage nach der moralischen Natur des Menschen gibt <strong>Taylor</strong> eine, wie es<br />

scheint, zwiespältige Antwort: Die menschliche Natur sei weder völlig verdorben (evil) noch vollkommen<br />

gut (good), sondern zeichne sich vielmehr durch beide, d.h. durch moralisch gute wie auch<br />

moralisch schlechte Eigenschaften aus. Der Mensch sei - und diese Einsicht liegt seinem gesamten<br />

8 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 167: "But however metaphysicians may amuse the learned, by arguments in relation to fate and<br />

free will, politicians ought to be guided by the obvious and active qualities <strong>of</strong> human nature. In supposing moral<br />

events to be capable <strong>of</strong> regulation by causes which men can govern, [...] and in supposing the moral qualities <strong>of</strong> man to<br />

be good and evil, and that either one or the other may be excited; there is no deviation from the ostensible phenomena <strong>of</strong><br />

human nature. And as government is exercised by man, all its virtues and vices must be human" (meine Hervorhebung).<br />

Siehe zur Bedeutung der Kenntnis der human nature für die Wissenschaft der Politik auch ibd., 95. Zur <strong>St</strong>euerbarkeit<br />

menschlichen Handelns siehe auch Ziff. 2.1.3 hinten.<br />

9 Die umfangreichen Monographien <strong>von</strong> Lloyd (1973), Hill (1977) und Shalhope (1980) behandeln <strong>Taylor</strong>s Anthropologie<br />

nur am Rande. Eingehender mit seinem Menschenbild beschäftigen sich Wharton (1980: 15f.), Tate (2001: 219-<br />

224), Mudge (1939: 10-18) und Baritz (1964: 165f.), wobei die letzten beiden den bislang grössten Beitrag zu einem<br />

vertieften Verständnis geleistet haben. Keiner der genannten Autoren hat <strong>Taylor</strong>s Menschenbild bisher aus der<br />

Perspektive der klassisch-republikanischen ("der Mensch als soziales und <strong>politische</strong>s Wesen") und der klassischliberalen<br />

("der Mensch als isoliertes, unabhängiges, auf sich selbst gestelltes Wesen") Denktradition analysiert.<br />

Zudem konzentrieren sich ihre Untersuchungen grossteils auf das im Inquiry formulierte Menschenbild. Im Folgenden<br />

wird <strong>Taylor</strong>s human nature im Lichte der klassisch-republikanischen und der liberalen Denktradition beleuchtet.<br />

Die Untersuchung stützt sich dabei nicht nur auf den Inquiry, sondern auch auf <strong>Taylor</strong>s frühere (z.B. den Enquiry)<br />

und spätere Werke (z.B. Construction Construed).


32<br />

<strong>politische</strong>n <strong>Denken</strong> zugrunde - sowohl zu tugendhaftem Verhalten fähig, wie auch dem Laster zugänglich.<br />

10 Der hier zum Ausdruck kommende Dualismus <strong>von</strong> Gut und Böse - <strong>von</strong> good und evil -<br />

liegt nicht nur <strong>Taylor</strong>s Menschenbild zugrunde, sondern prägt auf umfassende Weise sein Bild der<br />

Weltordnung und seinen Denkkosmos. Der Dualismus <strong>von</strong> Gut und Böse ist nach <strong>Taylor</strong> im Leben<br />

und in der Idee der Moral selber angelegt. Ohne das Gute kann das Schlechte nicht gedacht werden<br />

(ebenso umgekehrt). Wenn dem Menschen eine der beiden Eigenschaften fehlt, dann kann er die<br />

andere ebenfalls nicht besitzen. Gleiches gilt für all das, was <strong>von</strong> Menschen erschaffen wird. 11 <strong>Taylor</strong><br />

vertritt damit eine dualistische und moralisch stark aufgeladene Anthropologie.<br />

Um <strong>Taylor</strong>s Idee des tugend- und zugleich lasterhaften Menschen verstehen zu können, muss<br />

zuerst die Frage nach dem Ursprung <strong>von</strong> Gut und Böse, <strong>von</strong> laster- und tugendhaftem Handeln,<br />

anschliessend die Frage nach der Definition des moralisch Guten und des moralisch Schlechten<br />

(Wann ist eine Handlung moralisch gut, wann ist sie moralisch schlecht?) gestellt werden. Für die<br />

Beantwortung beider Fragen muss die oben bereits angesprochene zweite Perspektive, aus der<br />

<strong>Taylor</strong>s Menschenbild betrachtet werden soll, ins Spiel gebracht werden: (2) die Frage nach dem<br />

stärksten menschlichen Grundantrieb bzw. der stärksten, den Menschen antreibenden Neigung, der<br />

ihn beherrschenden Leidenschaft. Dazu heisst es im Inquiry: "The strongest moral propensity <strong>of</strong><br />

man, is to do good to himself. This begets a propensity to do evil to others, for the sake <strong>of</strong> doing<br />

good to himself." 12 <strong>Taylor</strong> war der Ansicht, dass das menschliche <strong>St</strong>reben primär durch die Verfolgung<br />

des Eigeninteresses (self interest), durch das <strong>St</strong>reben nach Selbsterhaltung, durch Egoismus und<br />

Selbstliebe (self love) gekennzeichnet ist. Der Mensch strebe infolge eines unveränderlichen Naturgesetzes<br />

(unalterable law) nach Befriedigung des eigenen Nutzens und nach Selbsterhaltung. Dieses<br />

individualistische und egoistische Menschenbild hat seine Vorbilder im liberalen Menschenbild der<br />

modernen Naturrechtsphilosophie und in der Lehre des Gesellschaftsvertrages. Deren Lehren betrachten<br />

den Menschen als ein <strong>von</strong> Natur aus individualistisches, unabhängiges und materiell orien-<br />

10 Siehe dazu <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 62: "Now the moral qualities <strong>of</strong> man, being good and evil [...]."; ibd., 95: "The<br />

moral qualities <strong>of</strong> human nature are good and evil"; ibd., 161: "[...] that human nature is compounded <strong>of</strong> good and<br />

evil qualities [...]."; ibd., 166: "[...] that men are naturally both virtuous and vicious [...]." O'Brien (2004: 789f.)<br />

beschreibt die gespaltene Natur dieses Menschenbilds wie folgt: "[M]en had a bundle <strong>of</strong> instincts and potentialities,<br />

for both good and evil. Free, they made the world and its institutions, but these having been made in turn structured<br />

how those potentialities were realized. Men might be drawn to evil, but also to good, according as they and other<br />

men had invented a world that helped to shape them."<br />

11 <strong>Taylor</strong> (1813), Arator, 124: "Virtue and vice are naturally unavoidably coexistent in the moral world, as beauty and<br />

deformity are in the animal; one is only the mirror in which the other can be seen, and therefore, in the present state<br />

<strong>of</strong> man, cannot be destroyed without the other." Die philosophische Lehre des Dualismus setzt die Existenz <strong>von</strong><br />

zwei sich ergänzenden oder gegensätzlichen Seinsprinzipien voraus, bei <strong>Taylor</strong> der moralische Gegensatz <strong>von</strong> Gut<br />

und Böse bzw. Tugend und Laster. Für <strong>Taylor</strong> sind das Gute und das Böse natürliche Feinde. Folglich muss in der<br />

moralischen Welt ewiger Krieg (eternal warfare) herrschen. In diesem Kampf unterliege diejenige Kraft, die diese natürliche<br />

Feindschaft zu verdrängen versuche. Siehe <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 420, 523, 305; ders. (1820), Construction<br />

Construed, 77.<br />

12 <strong>Taylor</strong>, (1814), Inquiry, 95. Wenig später (ibd., 95) heisst es ähnlich: "Self love, being the strongest moral motive to do<br />

evil to others, as well as good to ourselves". Siehe auch ibd., 545: "It is an unalterable law, that man shall be guided<br />

by self interest"; ibd., 284: "If it is a moral truth, that mankind prefer themselves to others, then it is a moral<br />

certainty, that members, both <strong>of</strong> the government and <strong>of</strong> the corporation, will prefer the interest <strong>of</strong> the corporation to<br />

the interest <strong>of</strong> the nation". Acht Jahre später wiederholte <strong>Taylor</strong> diesen <strong>St</strong>andpunkt in Tyranny Unmasked, 9: "Ethics<br />

informs us that human nature is guided by self-interest. History proclaims in every page that governments exhibit<br />

conclusive pro<strong>of</strong>s <strong>of</strong> this truth."


33<br />

tiertes Wesen, als ein Wesen, das <strong>von</strong> seinen individuellen Neigungen und Sinneseindrücken beherrscht<br />

wird. Sein Verhalten wird <strong>von</strong> Eindrücken wie Schmerz und Wohlbefinden sowie der Sorge<br />

um den Fortbestand der eigenen Existenz geleitet. Im Vordergrund dieser Perspektive steht der<br />

Einzelne und sein egoistisches Interesse. <strong>Taylor</strong>s Bild der human nature teilt diese Annahmen. Es ist<br />

im Ursprung individualistisch, asozial und apolitisch und damit liberaler Natur. 13<br />

Ausgehend <strong>von</strong> diesem liberalen Menschenbild, genauer <strong>von</strong> dem dieses Bild bestimmenden natürlichen,<br />

moralisch aber noch neutralen Antrieb - der Verfolgung des Eigeninteresses - leitet <strong>Taylor</strong><br />

nun in einem zweiten Schritt das ab, was er als moralisches bzw. soziales Übel (moral evil) bezeichnet.<br />

14 Zum schlechten moralischen Handeln wird die Verfolgung des Eigeninteresses nach <strong>Taylor</strong>s<br />

Beurteilung nämlich erst, wenn Dritten dabei Schaden zugefügt wird (to do evil to others). Moralisch<br />

schlechtes Handeln zeichnet sich dementsprechend durch eine ungezügelte Verfolgung des Eigeninteresses<br />

aus; es setzt einen intersubjektiven, einen gesellschaftlichen Kontext sowie die Existenz <strong>von</strong><br />

Schranken voraus, die den Schutzbereich der anderen und dessen Verletzung definieren. Gute moralische<br />

Handlungen im Sinne <strong>Taylor</strong>s lassen sich als Befriedigung des eigenen Wohls verstehen, ohne<br />

dass es zu einer Schädigung dritter Personen kommt. 15 Der Mensch folgt seinem natürlichen Grundantrieb,<br />

ohne dass andere dabei zu Schaden kommen. Schlechte moralische Handlungen sind dagegen<br />

durch intersubjektive Schadenszufügung definiert, nicht aber durch Leidenschaft oder Unvernunft.<br />

2.1.2. Mässigung des Egoismus: Vernunftsinn und "Moral Sense"<br />

Im weiteren Verlauf seiner Überlegungen schwächt <strong>Taylor</strong> dieses egoistische, hedonistische und<br />

liberale Menschenbild mit einer Reihe <strong>von</strong> ergänzenden Annahmen ab. Die Bedeutung, die <strong>Taylor</strong><br />

dem Begriff "moralisch" (moral) gibt, zeigt, dass beim Menschen mehr zu finden ist als nacktes<br />

Eigeninteresse und Eigenliebe. In Anlehnung an David Hume bezeichnete <strong>Taylor</strong> "the human agencies,<br />

arising from the mind’s power <strong>of</strong> abstraction", mit dem Adjektiv moral, während er dem "direct<br />

and immediate effect <strong>of</strong> matter, independent <strong>of</strong> abstraction", die Ausdrücke natural or physical zuweist.<br />

16 "Moralisch" ist das Handeln, Wirken und Tätigwerden des Menschen also immer dann,<br />

13 Diese Einschätzung teilt insb. Hill (1977: 39), der <strong>Taylor</strong>s Menschenbild als "intensely individualistic, apolitical, if not<br />

'a-social'" beschreibt. Siehe dazu auch ders. (1976: 79f.). Einen Überblick über das neuzeitliche liberale Menschenbild<br />

geben Schapiro (1976: 22ff.), Sheldon (1991: 9f.), Mastronardi (1998: 388f.) und Schloss (2003: 34-39).<br />

14 Baritz (1964: 165).<br />

15 <strong>Das</strong> <strong>von</strong> Mudge (1939: 11f.) formulierte Kriterium für <strong>Taylor</strong>s Definition <strong>von</strong> gutem und schlechtem moralischen<br />

Handeln geht zwar in eine ganz ähnliche Richtung, greift aber zu kurz. Mudge behauptet, dass gutes und schlechtes<br />

Handeln bei <strong>Taylor</strong> durch die Art und Weise bestimmt wird, wie Privateigentum erworben wird (also durch den Gegensatz<br />

<strong>von</strong> gerechten und ungerechten Formen des Erwerbs <strong>von</strong> Privateigentum), und <strong>politische</strong> Moral mithin "a<br />

matter <strong>of</strong> economics" sei. Dieser Position wird hier widersprochen. Zwar stellt das Recht auf Privateigentum bei<br />

<strong>Taylor</strong> ein Naturrecht dar und ist damit <strong>von</strong> den Behörden zu respektieren und zu schützen. Andere Rechte, die dem<br />

Einzelnen eine geschützte Sphäre privater Freiheit garantierten (so das Recht auf freie Meinungsäusserung, das Recht<br />

auf Gewissensfreiheit oder das Recht auf Leben), hält er aber ebenfalls für bedeutsam. Siehe dazu Ziff. 2.3 unten.<br />

16 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 35. Zur Unterscheidung bei Hume siehe Hume (1748), Of National Characters, 78f.: "By moral<br />

causes, I mean all circumstances which are fitted to work on the mind as motives or reasons, and which render a peculiar<br />

set <strong>of</strong> manners habitual to us. [...] By physical causes, I mean those qualities <strong>of</strong> the air and climate, which are<br />

supposed to work insensibly on temper, by altering the tone and habit <strong>of</strong> the body, and giving a particular complex-


34<br />

wenn es in der Fähigkeit des menschlichen Verstandes wurzelt, zu abstrahieren und zu denken,<br />

Alternativen zu formulieren und zwischen diesen auszuwählen. 17<br />

<strong>Taylor</strong> war der Überzeugung, dass der Mensch trotz seiner polarisierenden moralischen Natur einen<br />

natürlichen Instinkt für das Richtige und Vernünftige besitzt. Dieser Umstand alleine bedeutet<br />

jedoch noch nicht, dass der Einzelne sich auch für das moralisch Gute entscheidet, denn bei <strong>Taylor</strong><br />

ist das Vernünftige nicht zwingend gleichbedeutend mit dem moralisch Guten. Nach Hume, dessen<br />

Moralphilosophie <strong>Taylor</strong> mit grosser Wahrscheinlichkeit bekannt war, ist der Verstand nicht in der<br />

Lage, moralische Unterschiede zu begreifen. Darüber hinaus ist der Verstand gänzlich träge und<br />

unfähig, den Einzelnen zum Handeln zu motivieren. Hume geht sogar soweit, die Vernunft zur<br />

"Sklavin der Leidenschaften" zu degradieren. Gleichwohl spielt die Vernunft im Hinblick auf die<br />

Moral seiner Meinung nach eine wichtige Rolle. Während unsere Wünsche und Leidenschaften bestimmte<br />

Ziele vorgeben, kommt der Vernunft - nur sie ist imstande, uns über die Verbindungen <strong>von</strong><br />

Ursache und Wirkung zu informieren - die Aufgabe zu, unsere Wünsche auf diese Ziele hinzusteuern.<br />

Die Vernunft sorgt somit für die erforderlichen Mittel und achtet auf die Folgen. Sie ist es<br />

auch, die - sollte das Ziel nicht erreichbar sein oder sich als schädlich herausstellen - den Handelnden<br />

informiert und die Leidenschaften zum nachgeben zwingt. 18<br />

Nach <strong>Taylor</strong> neigen die Menschen also stärker zu vernünftigem als zu unvernünftigem Handeln.<br />

Ungeachtet dessen, erklärte er weiter, bestehe für jeden Menschen, wie weise und vernünftig dieser<br />

auch sei, stets die Möglichkeit, einem Irrtum zu unterliegen und ein solcher gelegentlicher Irrtum sei<br />

in der Lage, eine ganze Nation zu ruinieren. 19 Trotz seines Vertrauens in die Vernunftneigung der<br />

Menschen im Allgemeinen misstraute <strong>Taylor</strong> der Vernunft des Einzelnen. Dieser unterliegt weit eher<br />

einem Irrtum in der Wahl der Mittel und Instrumente, mit denen ausgewählte Ziele erreicht werden<br />

sollen, oder schätzt die Folgen seines Handelns eher falsch ein als eine Gemeinschaft <strong>von</strong> Individuen.<br />

Aufgrund der natürlichen menschlichen Neigung hin zur Vernunft werde die Neigung der<br />

Allgemeinheit zweifellos weniger einem Irrtum unterliegen als die Schlussfolgerungen eines Einzelnen.<br />

20 <strong>Das</strong> heisst nichts anderes, als dass <strong>Taylor</strong> bereit war, dem Entscheid des Volkes bzw. des<br />

gesamten Körpers, der mit grösserer Wahrscheinlichkeit ein vernünftiger und richtiger Entscheid ist<br />

als ein Entscheid, der <strong>von</strong> einigen wenigen (etwa <strong>von</strong> einer Aristokratie) oder einer Einzelperson<br />

(z.B. <strong>von</strong> einem Monarchen) gefällt wird, weit eher zu vertrauen, als dem Entscheid einer kleinen<br />

ion, which, though reflexion and reason may sometimes overcome it, will yet prevail among the generality <strong>of</strong> mankind,<br />

and have influence on their manners."<br />

17 Siehe Hill (1976: 80, Fn. 16) und O'Brien (2004: 790).<br />

18 Zur Rolle der Vernunft in David Humes Moralphilosophie siehe Norton (1993b: 163) und Höffe (2001: 186). Norton<br />

spricht <strong>von</strong> der Vernunft als "instrumental reason", Höffe <strong>von</strong> einer "pragmatischen Vernunft".<br />

19 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 389: "First [...] man is more prone to reason than to errour. Secondly, [...] he is more prone to<br />

self love than to self enmity. Notwithstanding the first propensity, every man, however wise, is liable to err; and an<br />

occasional errour <strong>of</strong> a wise man may ruin a nation."<br />

20 Ibd., 389: "The general propensity <strong>of</strong> the whole species, will usually impress its own character, upon a general opinion,<br />

and is undoubtedly less liable to errour, than the conclusions <strong>of</strong> an individual. It is safer to confide in this propensity,<br />

than in individual infallibility. One exists, the other does not. One is ever honest, the other knavish." Entscheidet<br />

die Gemeinschaft mit der Mehrheitsregel, wird sie nach der Logik der Wahrscheinlichkeitsrechnung eher<br />

richtig und vernünftig entscheiden! Im Vergleich dazu erscheinen die Entscheidungen eines Einzelnen nun - trotz<br />

seines natürlichen Instinkts für das Rechte - alles andere als unfehlbar.


35<br />

Gruppe oder einer Einzelperson. Mit anderen Worten: Sein Vertrauen in die Vernunft der Allgemeinheit<br />

und damit der general opinion ist einer der Gründe für sein Vertrauen in die Selbstregierung<br />

des Volkes (also in ein popular government), sein Misstrauen gegenüber der Vernunft des Einzelnen<br />

einer der Gründe für seine Ablehnung <strong>von</strong> Monarchie und Aristokratie.<br />

Oben wurde der Gedanke formuliert, dass sich der Vernunftsinn mässigend auf die primär egoistische<br />

Natur des Menschen auswirkt. Auf den ersten Blick ist diese These wenig nachvollziehbar,<br />

denn nach der ebenfalls oben beschriebenen Logik Humes ist die Vernunft lediglich das Mittel zur<br />

Erreichung eines vorgegebenen Zwecks oder zur Abschätzung der Folgen der dabei unternommenen<br />

Anstrengungen. Wenn also die Vernunft unsere Handlungen zu unserem Vorteil auf diese Ziele<br />

hinsteuert, scheint es vielmehr so, dass sie unsere egoistischen Neigungen unterstützt, anstatt mässigend<br />

auf sie einzuwirken. <strong>Taylor</strong> teilt diesen Gedanken. Nicht auf den Einzelnen (oder eine kleine<br />

Gruppe) wirkt seiner Meinung nach der Vernunftsinn mässigend, sondern lediglich auf die<br />

Mehrheit! Zwar sei die Eigenliebe bei Mehrheiten gleich stark ausgeprägt wie beim Einzelnen, ihre<br />

Wirkung sei jedoch gerade umgekehrt: Den Einzelnen treibe sie dazu an, Unrecht zu begehen, da es<br />

um ihn herum nur so <strong>von</strong> Unterdrückungsobjekten wimmle, die Mehrheit aber treibe die Eigenliebe<br />

dazu, sich gerecht zu verhalten, da sie keine solche Objekte der Unterdrückung finden könne. Zwar<br />

könne sich auch die Mehrheit irren, aber früher oder später bemerke sie ihren Irrtum, während der<br />

Despotismus eines Einzelnen versuche, sich noch stärker in seinem Unrecht zu verschanzen. 21<br />

<strong>Taylor</strong> ist daher nicht bloss bereit, nur dem Vernunftsinn der Mehrheit zu vertrauen, sondern ist<br />

auch der Ansicht, dass die Vernunft lediglich die Mehrheit dazu bringt, die Rechte der Minderheit -<br />

sprich die Rechte Dritter - zu achten bzw. moralisch gut zu handeln. Nach <strong>Taylor</strong> kann die Mehrheit<br />

keinen Nutzen aus der Minderheit ziehen, da sie ihre Ziele nicht auf Kosten der Minderheit erreichen<br />

kann. Aufgabe der Vernunft ist in einem solchen Fall, die Mehrheit zu informieren und die<br />

Leidenschaften in die Schranken zu weisen.<br />

Mit einer zweiten Annahme schwächt <strong>Taylor</strong> den individualistischen und egoistischen Zug seines<br />

Menschenbildes weiter ab: Neben seinem natürlichen Instinkt für vernünftige und richtige Entscheidungen<br />

besitzt der Mensch auch eine natürliche Sympathie für das Gute und Tugendhafte. Der<br />

Mensch zeige eine weit grössere Zahl tugendhafter wie lasterhafter Gefühle. So schrecke die<br />

menschliche Natur spontan vor Wutausbrüchen zurück und fühle sich zu einem Ausdruck der<br />

Freude hingezogen. 22 Nach <strong>Taylor</strong>s Menschbild ist der einzelne Mensch also in der Lage, zwischen<br />

tugendhaftem und lasterhaftem Handeln zu unterscheiden. Er besitzt einen moralischen Sinn, einen<br />

moral sense: einerseits eine natürliche Sympathie für das Gute und Tugendhafte, andererseits eine<br />

21 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 389: "The force <strong>of</strong> self love, is as strong in majorities, as in an individual, but its effect is<br />

precisely contrary. It excites one man to do wrong, because he is surrounded with objects <strong>of</strong> oppression; and majorities<br />

to do right, because they can find none. Their errours <strong>of</strong> judgment are abandoned, so soon as they are seen,<br />

whilst the despotism <strong>of</strong> one man is more strongly fortified for being discovered." Zur Problematik der Mehrheitstyrannei<br />

bei <strong>Taylor</strong> siehe Ziff 3.2 unten.<br />

22 Ibd., 384: "Estimated by its sympathies, human nature discloses a vast preponderance <strong>of</strong> virtuous sensations. It<br />

spontaneously shrinks from an expression <strong>of</strong> rage, and is drawn towards one <strong>of</strong> joy; whilst ignorant <strong>of</strong> the cause <strong>of</strong><br />

either; because one is an emblem <strong>of</strong> vice, and the other <strong>of</strong> virtue". Siehe für weitere Hinweise ibd., 349.


36<br />

natürliche Abneigung gegen Laster und Ungerechtigkeit, immer vorausgesetzt, seine Wahrnehmung<br />

wird nicht <strong>von</strong> aussen mittels Unwahrheiten, Lügen und Irreführung verfälscht. 23<br />

Die Idee eines natürlichen moral sense war zentraler Bestandteil der moralphilosophischen Systeme<br />

der grossen Denker der schottischen Aufklärung, allen voran <strong>von</strong> David Hume, Adam Smith und<br />

Francis Hutcheson. 24 Da nach Hume die Vernunft alleine nicht in der Lage ist, Laster oder Tugend<br />

zu lokalisieren und <strong>von</strong>einander zu unterscheiden, müssen die Eindrücke oder Gefühle, welche die<br />

beiden hervorrufen, dafür verantwortlich sein, dass wir den Unterschied zwischen ihnen angeben<br />

können. 25 Unsere Neigung, Beifall und Gutheissung als Antwort auf Güte und Wohltätigkeit zu fühlen,<br />

liefert nach Hume den rudimentären Rahmen, auf dem die Moral gründet. Diese Moral kann<br />

schwach sein, möglicherweise gar zu schwach, um uns zum Handeln anzutreiben. Ungeachtet dessen<br />

rufe sie eine Präferenz für das hervor, was nützlich sei für die Menschheit, mehr noch: "A moral<br />

distinction, therefore, immediately arises; a general sentiment <strong>of</strong> blame and approbation; a tendency<br />

however faint, to the objects <strong>of</strong> the one, and a proportionable aversion to those <strong>of</strong> the other". 26<br />

Nach Hume gibt tugendhaftes Verhalten - ungeachtet der mentalen Eigenschaften des Handelnden -<br />

einem Beobachter das angenehme Gefühl der Gutheissung (the pleasing sentiment <strong>of</strong> approbation),<br />

wohingegen lasterhaftes Verhalten den gegenteiligen Effekt bewirkt. 27<br />

Damit werden bei <strong>Taylor</strong> Eigenschaften oder Handlungen nicht nur aufgrund ihrer Wirkung auf<br />

das eigene Wohl (Prinzip der Selbstliebe), sondern auch aufgrund des Prinzips der Sympathie bzw.<br />

der Menschlichkeit - Hume spricht <strong>von</strong> einem Gefühl des Verbundenseins - beurteilt. Gleichwohl<br />

gilt es, die Hierarchie dieser Prinzipien zu beachten. Trotz der Existenz des Moralsinnes ist der Handelnde<br />

nach <strong>Taylor</strong> nicht in der Lage, sich stets tugendhaft zu verhalten, denn sein Eigeninteresse<br />

und sein <strong>St</strong>reben nach Selbsterhaltung stellen in der Regel stärkere Antriebe dar. Gegen sie steht das<br />

Prinzip der Menschlichkeit häufig auf verlorenem Posten. Genauso, wie der Vernunftsinn im Gemeinwillen<br />

stärker zum Ausdruck kommt als in einer kleinen Gruppe (z.B. einer Aristokratie) oder<br />

einem Einzelnen (etwa in einer Monarchie), ist der Moralsinn nach <strong>Taylor</strong> in einer Nation stärker<br />

ausgeprägt als in einem Einzelnen oder in Amtspersonen. Bei letzteren sei der moral sense besonders<br />

23 Der moral sense wurde mit Ausnahme <strong>von</strong> Baritz (1964: 165), Hill (1977: 268) und Burke (1995: 47) bislang nicht als<br />

Bestandteil <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Menschenbild erkannt.<br />

24 Zu Smith siehe Ballestrem (2001: 57-94), zu Hutcheson siehe Haakonssen (1996: 63ff.) und Ogose (2003: 39ff.), zu<br />

Hume siehe Norton (1993a: 13-16; 1993b: 62f.) und Höffe (2001: 186). Eine gute Einführung in die Moralphilosophie<br />

der Aufklärung gibt Wills (1978: 181-217).<br />

25 Siehe zum Folgenden Norton (1993b: 162f.) und Höffe (2001: 186).<br />

26 David Hume, "An Enquiry concerning the Principles <strong>of</strong> Morals" (1751), 271, zitiert nach: Norton (1993b: 162).<br />

27 Norton (1993b: 162f.). Hume fasst die Rolle <strong>von</strong> Vernunft und Moralsinn und ihr Zusammenwirken wie folgt<br />

zusammen: "One principal foundation <strong>of</strong> moral praise being supposed to lie in the usefulness <strong>of</strong> any quality or<br />

action, it is evident that reason must enter for a considerable share in all decisions <strong>of</strong> this kind; since nothing but that<br />

faculty can instruct us in the tendency <strong>of</strong> qualities and actions, and point out their beneficial consequences to society<br />

and to their possessor [...]. But though reason, when fully assisted and improved, be sufficient to instruct us in the<br />

pernicious or useful tendency <strong>of</strong> qualities and actions; it is not alone sufficient to produce any moral blame or approbation.<br />

[...] [R]eason instructs us in the several tendencies <strong>of</strong> actions, and [the sentiment <strong>of</strong>] humanity makes the distinction<br />

in favour <strong>of</strong> those which are useful and beneficial." David Hume, "An Enquiry concerning the Principles <strong>of</strong><br />

Morals" (1751), 285f., zitiert nach Norton (1993b: 163).


37<br />

gefährdet. Der Grund dafür liegt in den starken Versuchungen in Form <strong>von</strong> Wohlstand und Macht,<br />

denen die Träger der <strong>St</strong>aatsgewalt ausgesetzt sind. 28<br />

Da jeder Mensch einen, wenn auch unterschiedlich ausgeprägten, Moralsinn besitzt, bildet dieser<br />

bei <strong>Taylor</strong> zusammen mit der gleichen moralischen Natur der Menschen die Grundlage für die Idee<br />

der menschlichen Gleichheit (human equality). Mit der Idee der Gleichheit, wie sie <strong>von</strong> den Verfassungen<br />

der Einzelstaaten verkündet werde - lässt <strong>Taylor</strong> im Inquiry seine Leser wissen -, sei nicht die<br />

Gleichheit des Menschen hinsichtlich Gestalt, <strong>St</strong>ärke, Verstand und Intelligenz gemeint, sondern<br />

Gleichheit hinsichtlich seiner moralischen Rechte und Pflichten (moral rights and duties). 29 Jeder<br />

Mensch besitzt in <strong>Taylor</strong>s System das gleiche Recht, sein eigenes Wohl zu befördern und ebenso die<br />

gleiche Pflicht, dabei keinem anderen Schaden zuzufügen. Jeder Mensch besitzt die gleiche Freiheit,<br />

sich in einer bestimmten Situation so oder anders zu verhalten, eine Handlung zu begehen und dadurch<br />

das eigene Wohl auf Kosten anderer zu steigern oder diese Handlung zu unterlassen. In dieser<br />

Fähigkeit, zwischen zwei Handlungen frei wählen zu können, sind alle Menschen gleich. 30 Für <strong>Taylor</strong><br />

stellt diese moralische Gleichheit ein allgemeines Naturgesetz dar, auf dem die Gleichheit des Menschen<br />

vor dem Recht gründet. 31 Aufgrund dieser Gleichheit ist der einzelne Mensch für sein Handeln<br />

verantwortlich. 32<br />

28 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 425: "Imperfect man’s best prospect, must be confided to a preponderance <strong>of</strong> good thoughts,<br />

in respect to sovereignties, governments and individuals. [...] Governments must have infinitely more bad thoughts<br />

than nations, because they can acquire wealth and power by their bad thoughts; whereas nations, by theirs, can only<br />

gain misfortune and despotism. Nations err undesignedly. Governments are liable to the same source <strong>of</strong> errour, and<br />

it also pours in upon them through the sluices opened by ambition, avarice, and a great variety <strong>of</strong> human vices,<br />

which sleep least under the strongest incitements to awake."<br />

29 Ibd., 101. Die menschliche Gleichheit im Hinblick auf die moralischen Rechte und Pflichten ist nach <strong>Taylor</strong> sowohl<br />

Grundlage wie auch Zweck und Ziel der zivilen Behörden der Vereinigten <strong>St</strong>aaten: "The constitutions build their<br />

policy upon the basis <strong>of</strong> human equality - 'all men are born free and equal'; and erect [...] civil government, with a<br />

view <strong>of</strong> preserving and defending the natural equality <strong>of</strong> individuals" (ibd., 101). Nach Wharton (1980: 111, Fn. 13)<br />

haben Thomas Jefferson und <strong>Taylor</strong> (und die Mehrheit der <strong>politische</strong>n Denker des 18. Jahrhunderts) darin übereingestimmt,<br />

dass nicht eine Gleichheit in Verstand und Fähigkeiten, sondern der gleiche Besitz eines natürlichen moral<br />

sense die Grundlage der menschlichen Gleichheit bildet.<br />

30 Wharton (1980: 15f.) hat darauf hingewiesen, dass <strong>Taylor</strong> Freiheit im Sinne <strong>von</strong> Wahlfreiheit verstanden hat. Diese<br />

bewegt sich immer im Rahmen der <strong>von</strong> der Natur vorgegebenen Handlungsmuster und der zur Wahl stehenden Alternativen.<br />

31 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 358. Zur Idee des Ursprung der menschlichen Gleichheit im moral sense, siehe ferner Wills<br />

(1978: 207-217, hier 211, 213): "To say that men are equal in their exercise <strong>of</strong> this faculty [i.e the moral sense] is to<br />

define them as essentially equal, for the moral sense is what makes man accountable to himself and others, selfgoverning<br />

and consenting to social obligation. This separate faculty, equal in all, makes differences in other capacities<br />

comparatively minor, unable to reach the right <strong>of</strong> self-regulation. [...] Since the moral sense was considered man's<br />

highest faculty, the basis <strong>of</strong> his moral accountability, and the bond with other men, it had to be the basis for man's<br />

politics and political right."<br />

32 Tate (2001: 257). Um die Bedeutung <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s moral sense-Ansatz erkennen zu können, scheint mir ein kurzer<br />

Vergleich mit demjenigen <strong>von</strong> Thomas Jefferson angebracht. (a) Nach Sheldon (1991: 55-56) begründet Jefferson die<br />

soziale Natur des Menschen, - die er in seiner späteren, stärker dem klassischen Republikanismus verpflichteten <strong>politische</strong>n<br />

Theorie vertrat - mit einem angeborenen Moralsinn. Dieser zeichnet sich durch drei Eigenschaften aus: (1)<br />

die menschliche Fähigkeit, moralische Entscheidungen treffen zu können, d.h. das Wissen um Gut und Böse und die<br />

Freiheit, sich für das Gute entscheiden zu können; (2) die angeborene Fähigkeit, sich mit dem Schicksal anderer zu<br />

identifizieren; das Interesse für die Sorgen und das Leid anderer; die Fähigkeit, am Nachlassen ihres Schmerzes und<br />

an ihrem Glück Anteil zu nehmen. (3) Aus den ersten beiden Eigenschaften folgt eine angeborene und damit natürliche<br />

Sympathie für Gerechtigkeit, aus der die Sorge für das Wohl anderer und das Wohl der ganzen Gemeinschaft<br />

fliesst. (b) Der Moralsinn in <strong>Taylor</strong>s Menschenbild ist im Vergleich dazu nur unvollständig ausgebildet, sein Mensch


38<br />

Die dominierende <strong>St</strong>ellung des Eigeninteresses in <strong>Taylor</strong>s Menschenbild und die daraus folgende<br />

Neigung des <strong>Taylor</strong>schen Menschen, anderen Schaden zuzufügen (to do evil to others), lassen die<br />

menschliche Natur aus dem Blickwinkel der Vorgaben der Tugend schwach erscheinen. Sobald<br />

dieser Mensch in Versuchung geführt wird, besteht die Gefahr, dass er die Vorgaben der Moral über<br />

den Haufen wirft und dem Drang nachgibt, das eigene Wohl vorzuziehen, ungeachtet dessen, dass<br />

sein Verhalten andere schädigt und damit moralisch schlecht ist. Die Schwäche und Verführbarkeit<br />

der menschlichen Natur ist in den Augen <strong>Taylor</strong>s problematisch, aber natürlich. 33 Sie ist verantwortlich<br />

dafür, dass der Mensch häufig blind seinen Leidenschaften folgt und die Vorgaben der Tugend<br />

missachtet. So lasse sich eine Nation, bemerkt <strong>Taylor</strong>, häufig <strong>von</strong> ihren Leidenschaften (Ruhmsucht,<br />

Ehrsucht) verführen und befriedige ihre kurzfristigen auf Kosten ihrer langfristigen Interessen. Der<br />

Krieg mit England <strong>von</strong> 1812 war für <strong>Taylor</strong> ein typisches Beispiel: Vom Wunsch beseelt, die "nationale<br />

Ehre" zu verteidigen, sei im amerikanischen Volk eine Kriegseuphorie ausgebrochen, mit der<br />

Konsequenz, dass die mit Kriegen einhergehenden langfristigen Gefahren und Kosten in Vergessenheit<br />

gerieten. 34<br />

Hume und Godwin folgend, vertrat <strong>Taylor</strong> die Ansicht, dass der Mensch durch die Vermehrung<br />

<strong>von</strong> Wissen mittels Bildung, Erziehung und Aufklärung lernen kann, tugendhafter und vernünftiger<br />

zu handeln. 35 Gleichwohl war er bereit, sich mit dem Gedanken abzufinden, dass der Mensch aufist<br />

dementsprechend <strong>von</strong> Natur aus weniger ein soziales als ein individuelles Wesen: (1) <strong>Taylor</strong>s Mensch besitzt zwar<br />

die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, ist aber weniger in der Lage, moralische Entscheidungen<br />

zu treffen, (sich für das Gute zu entscheiden). <strong>Taylor</strong>s Mensch entscheidet sich in erster Linie für das Nützliche<br />

bzw. das, was sein Wohl befördert. (2) Zudem ist die Fähigkeit, sich mit dem Schicksal anderer Personen zu<br />

identifizieren, schwächer ausgeprägt. <strong>Taylor</strong>s Mensch empfindet weniger Mitgefühl mit dem Leid anderer als er sich<br />

zu tugendhaftem Verhalten hingezogen fühlt bzw. <strong>von</strong> lasterhaftem Verhalten abgestossen wird. <strong>Taylor</strong>s Mensch ist<br />

damit im Vergleich zu dem <strong>von</strong> Jefferson weniger ein soziales Wesen, sein Menschenbild weniger klassischrepublikani-schen<br />

Ideen verpflichtet.<br />

33 Tate (2001: 258f.). Sie auch <strong>Taylor</strong> (1809), A Pamphlet, 14: "The history <strong>of</strong> republics demonstrate, that human nature<br />

does not produce men, too wise and good, to be intoxicated by the flattery <strong>of</strong> party, and goaded into error by the<br />

avarice <strong>of</strong> partisans"; ders., Brief an James Monroe, 25. März 1798, in: <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> Correspondence, 269: "And is it not<br />

unreasonable, not to say unnatural, to expect that men, thus exposed to temptations which have almost universally<br />

proved irresistible, should heroically resist them, and not confine their endeavours to the pure object <strong>of</strong> public<br />

good?"<br />

34 <strong>Taylor</strong> (1809), A Pamphlet, 19: "If it [i.e. the nation] embarks upon the tempestuous ocean <strong>of</strong> passion, it will become<br />

the victim <strong>of</strong> its own folly; and for a momentary gratification <strong>of</strong> its feelings, destined to nature soon to change or<br />

subside, it will destroy that system <strong>of</strong> division <strong>of</strong> power, upon the preservation <strong>of</strong> which its permanent happiness depends."<br />

35 <strong>Taylor</strong> (1804), Inquiry, 45f., 532f.. Zum Einfluss <strong>von</strong> Bildung und Erziehung siehe auch Tate (2001: 259). Nach<br />

Hume wirkt Bildung und Erziehung auf zweifachem Weg auf die moralische Natur des Menschen. Einerseits wirken<br />

beide auf die künstlichen Tugenden ein, die Hume <strong>von</strong> den natürlichen Tugenden unterscheidet. Natürliche Tugenden<br />

(wie etwa Grosszügigkeit, Nachsicht, Mässigung, Sparsamkeit oder die Liebe zu den eigenen Kindern) stellen<br />

fundamentale Neigungen dar, die der menschlichen Natur <strong>von</strong> Geburt an innewohnen. Künstliche Tugenden (z.B.<br />

Gerechtigkeit, Treue oder Gehorsam) sind dem Menschen hingegen nicht <strong>von</strong> Natur aus gegeben. Sie entwickeln<br />

sich graduell über eine längere Zeitspanne hinweg, wenn Menschen miteinander und ihrem Umfeld interagieren.<br />

Bildung und Erziehung können somit vorteilhaft auf die Herausbildung künstlicher Tugenden einwirken, nicht aber<br />

auf die natürlichen Tugenden. Bildung und Erziehung wirken andererseits aber auch direkt auf die Vernunft (d.h. auf<br />

die Fähigkeit geeignete Mittel zur Zielerreichung auszuwählen oder die Folgen <strong>von</strong> Eigenschaften oder Handlungen<br />

abzuschätzen) ein und diese entscheidet wiederum über eine der Hauptgrundlagen moralischer Billigung, die Nütz-


39<br />

grund seiner Natur und seinem dominierenden Eigeninteresse ein schwaches Wesen bleibt.<br />

Nüchtern erklärte <strong>Taylor</strong>: "All men cannot subdue the force <strong>of</strong> passion by the strength <strong>of</strong> reason." 36<br />

<strong>Das</strong> Bild der human nature, wie es <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> im Inquiry formuliert wurde, zeichnet sich damit<br />

durch drei hierarchisch <strong>von</strong>einander abgestufte Grundmerkmale aus, die folgendermassen zusammengefasst<br />

werden können: (1) Neben einem dominierenden selbstbezogenen "Ich", das sein eigenes<br />

Wohl (definiert als Mehrung <strong>von</strong> Genuss und Freude und Vermeidung <strong>von</strong> Schmerz) in den<br />

Mittelpunkt stellt (Menschenbild des klassischen Liberalismus), (2) existiert ein stärker auf uneigennütziges<br />

Verhalten ausgerichtetes, <strong>von</strong> einem angeborenen moral sense gesteuertes "Ich", welches das<br />

moralisch Gute und Tugendhafte erkennt und sich zu ihm hingezogen fühlt (Menschenbild der<br />

schottischen Moralphilosophie). (3) Daneben operiert im Weiteren ein rationales, aufgeklärtes "Ich",<br />

das zum Vernünftigen und Richtigen neigt (Menschenbild der Aufklärung). Die Grundüberlegung<br />

dieses liberalen Menschenbildes (der Mensch als hedonistisches Wesen), das sich mit Elementen der<br />

Aufklärung (die pragmatische Vernunft) und Elementen der schottischen Moralphilosophie (der<br />

Moralsinn) verbindet, kann wie folgt zusammengefasst werden: 37 Der einzelne Mensch strebt nach<br />

Befriedigung seiner Leidenschaften und realisiert diese mit Hilfe der Vernunft. Gleichzeitig erkennt<br />

er das Tugendhafte und Gute und damit die lasterhafte Natur seiner ungezügelten, die Rechte<br />

Dritter verletzenden Bedürfnisbefriedigung. Er bleibt jedoch schwach gegenüber Versuchungen und<br />

ist damit häufig nicht in der Lage, das Gute zu realisieren. Sein Verhalten schwankt zwischen gut<br />

und böse, und seine natürliche Neigung zum Guten bleibt fragil und stets gefährdet. Die Gemeinschaft<br />

neigt nach <strong>Taylor</strong> jedoch weit stärker als der Einzelne zum Vernünftigen und Richtigen sowie<br />

zum Tugendhaften und Guten. Sie besitzt ein Interesse am Schutz ihrer Rechte gegenüber dem<br />

Übergriff partikularer Interessen und richtet daher tugendhafte und gute moralische Prinzipien ein,<br />

welche die Beziehungen der Gemeinschaftsmitglieder ordnen. 38<br />

2.1.3. Soziale Natur, moralischer Fortschritt und Willensfreiheit<br />

Gerade wegen seines ursprünglich individualistischen und egoistischen Wesens ist der Mensch im<br />

<strong>Taylor</strong>schen <strong>Denken</strong> - ähnlich wie bei Locke und Paine - auch ein <strong>von</strong> Natur aus soziales Wesen<br />

und nicht - wie zu erwarten wäre - ein isolierter, asozialer Einzelgänger. So heisst es in Construction<br />

Construed: "The capacities for reasoning and labouring beget among men a relation founded in<br />

desires and wants, which designates them as constituted by nature, for society." 39 Die Gründe dafür<br />

lichkeit einer jeden Eigenschaft oder Handlung. Siehe Norton (1993b: 163, 164ff.). Godwin sah in Bildung und Erziehung<br />

zwei der drei Hauptursachen moralischer Vervollkommnung; Godwin (1793), Political Justice, 36-44.<br />

36 <strong>Taylor</strong> (1809), A Pamphlet, 9.<br />

37 Zur Ähnlichkeit mit Adam Smiths Menschenbild siehe Recktenwald (1978: xli).<br />

38 Siehe dazu unter Ziff. 3.4 den <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> vertretenen institutionenorientierten Ansatz <strong>politische</strong>r Ethik.<br />

39 <strong>Taylor</strong> (1820), Construction Construed, 207. Siehe bei Locke (1690), Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, § 77: "Gott<br />

hat den Menschen so geschaffen, dass es nach seinem eigenen Urteil nicht gut für ihn war, allein zu sein. Er stellte<br />

ihn unter den starken Zwang <strong>von</strong> Bedürfnis, Zweckmässigkeit und Neigung, um ihn in die Gesellschaft zu lenken,<br />

und stattete ihn zugleich mit Verstand und Sprache aus, um in ihr zu verbleiben und sie zu geniessen." Bei Paine<br />

(1792), Rights <strong>of</strong> Man, II, 187, heisst es: "As Nature created him [i.e. man] for social life, she fitted him for the station<br />

she intended. In all cases she made his natural wants greater than his individual powers. No one man is capable


40<br />

liegen allerdings nicht wie bei Jefferson im Besitz eines moral sense, sondern primär in seinen egoistischen<br />

Bedürfnissen und Wünschen und einem in dieser Hinsicht empfundenen Mangel. Der Ursprung<br />

der gesellschaftlichen Natur des Menschen ist im Eigeninteresse zu suchen, gleichzeitig aber<br />

auch in positiv konnotierten menschlichen Eigenschaften wie der Fähigkeit, sich des eigenen Verstandes<br />

zu bedienen, und der menschlichen Schaffens- und Arbeitskraft. Die gesellschaftlichen Prozesse,<br />

die <strong>Taylor</strong> hier beschreibt, sind nichts anderes als ökonomische und ausserökonomische<br />

Tausch- und Marktprozesse. Der Mensch hat natürliche Bedürfnisse und Wünsche. Als isoliertes<br />

Wesen ist er allerdings nicht befähigt, alle seine Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen, und empfindet<br />

daher Mangel. Freilich hat ihm die Natur zwei Anlagen gegeben, die ihm ermöglichen, dieser<br />

Mangelsituation zu entkommen, nämlich die Fähigkeiten zu geistiger und zu körperlicher Arbeit.<br />

Durch den Tausch der Produkte dieser Arbeit gegen diejenigen seiner Mitmenschen - d.h. durch<br />

gesellschaftliche Austauschprozesse - ist er in der Lage, seine Bedürfnisse zu befriedigen und somit<br />

den empfundenen Mangel zu beseitigen. Damit ist der Mensch gemäss <strong>Taylor</strong> aufgrund seiner unbefriedigten<br />

natürlichen Bedürfnisse (aus einem Zustand der Not also) und seiner natürlichen Fähigkeit<br />

zu geistiger und körperlicher Arbeit in der Lage, ein Leben in Isolation durch die Knüpfung<br />

gesellschaftlicher Kontakte zu vermeiden. 40<br />

Auf der Grundlage dieses komplexen Menschenbildes, das einerseits <strong>von</strong> einem eigennützigen<br />

und aus egoistischen Motiven den sozialen Austausch suchenden, andererseits aber auch <strong>von</strong> einem<br />

zum Tugendhaften und Guten hingezogenen vernünftigen Menschen ausgeht, lehnt <strong>Taylor</strong> zwei in<br />

der damaligen zeitgenössischen Philosophie weit verbreitete Vorstellungen der menschlichen Natur<br />

ab: erstens das Bild vom Menschen als einem vereinzelten und isolierten Wesen und zweitens das<br />

Bild vom Menschen als einem <strong>von</strong> Natur aus verdorbenen, lasterhaften und schlechten Wesen.<br />

Horrible or impious, as the atomical philosophy may be, it cannot be more so, than the idea <strong>of</strong> a natural depravity<br />

in man, rendering him unfit for self government. One doctrine assails the existence <strong>of</strong> a God; the<br />

other, his power <strong>of</strong> goodness. If man, the noblest creature <strong>of</strong> this world, if mind, the noblest attribute <strong>of</strong> this<br />

creature; are both incorrigibly imperfect; the inference that the world itself is a bad work, is unavoidable.<br />

Man’s case is hopeless. If he is the creature <strong>of</strong> malignity or imbecility, and doomed to be governed by fiends,<br />

naturally as bad, and artificially made worse than himself, where is the refuge? Shall he fly to the hereditary<br />

system, which teaches him to despair; or adhere to one, which inspires him with hope? 41<br />

Die atomistische Philosophie, in <strong>Taylor</strong>s Verständnis vermutlich die Philosophie <strong>von</strong> Thomas Hobbes,<br />

lehnte der Virginier sowohl aufgrund ihrer atheistischen Natur als auch aufgrund ihres Konzepts<br />

eines <strong>von</strong> Natur aus isolierten und einzelgängerischen Menschen ab. 42 Der atomistische Ansatz<br />

without the aid <strong>of</strong> society, <strong>of</strong> supplying his own wants, and those wants, acting upon every individual, impel the<br />

whole <strong>of</strong> them into society, as naturally as gravitation acts to a centre. [...] She has [...] forced man into society by a<br />

diversity <strong>of</strong> wants which the reciprocal aid <strong>of</strong> each other can supply [...]."<br />

40 Sheldon (1991: 57) weist darauf hin, dass eine solche Begründung des civil or social intercourse typisch sei für liberale<br />

Gesellschaftsmodelle. Für die <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> häufig verwendete Analogie auf privatrechtliche Rechtsgeschäfte zur Begründung<br />

guter moralischer Prinzipien, siehe Ziff. 3.4 unten.<br />

41 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 384f.<br />

42 Kein Ablehnungsgrund war die primär egoistische Natur des Menschen und die Vorstellung, dass eine Gesellschaft<br />

sich grundsätzlich aus Individuen zusammensetzt (und nicht etwa aus Gruppen, <strong>St</strong>änden, Klassen). Grundsätzlich<br />

vertrat <strong>Taylor</strong> ja eine ganz ähnliche Philosophie der menschlichen Natur wie Hobbes. Der Mensch war seiner Mei-


41<br />

war seiner Meinung nach aber weit weniger abscheulich und frevelhaft als die bei vielen seiner Vordenker<br />

und Zeitgenossen verbreitete Idee einer natürlichen moralischen Verderbtheit und Schlechtigkeit<br />

des Menschen. Sie wurde <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> aus vier Gründen abgelehnt: (1) Da sie die nobelste<br />

Schöpfung Gottes - den Menschen - und dessen nobelstes Attribut - seinen Verstand - als unheilbar<br />

fehlerhaft betrachtet, impliziert die atomistische Position, dass die Welt eine schlechte Schöpfung<br />

Gottes darstellt. Damit aber werde an der Güte und Reinheit Gottes selber gezweifelt. 43 (2) Die<br />

menschliche Zukunft erscheint unter einem solchen Konzept elend und h<strong>of</strong>fnungslos. Wenn seine<br />

Natur immer gleich verdorben bleibe und es keine Aussicht auf ihre moralische Besserung gebe,<br />

bestehe für den Menschen keine Möglichkeit, seinem Elend zu entfliehen. Er sei in diesem Fall gezwungen,<br />

sich <strong>von</strong> "Teufeln" regieren zu lassen, die ebenso schlecht oder - aufgrund ihres Regierungsamtes<br />

und dessen Macht - noch schlechter seien als er selbst. (3) Daraus folgt, dass mit einem<br />

solchen Menschenbild <strong>Taylor</strong>s Ideal der Selbstregierung nicht zu verwirklichen ist. (4) Der Umstand,<br />

dass dieses Menschenbild <strong>von</strong> Anhängern der aristokratischen und monarchischen Regierungsform<br />

vertreten wurde und deren Theorien <strong>von</strong> einem starken <strong>St</strong>aat zugrunde liegt, ist ein letzter Grund<br />

für seine ablehnende Haltung. 44 <strong>Taylor</strong> fand die Quintessenz dieses Menschenbildes, nämlich dass<br />

der Mensch nearly a devil und seine Sache hopeless sei, unerträglich und war aus diesem Grund besorgt<br />

darum, dass man die Geschehnisse der Französischen Revolution, die den Anhängern der aristokratischen<br />

oder monarchischen Regierungsform in die Hände zu spielen schienen, missdeuten würde. 45<br />

Einer, der das Lied vom Menschen als einem schlechten Wesen mitsang und daher einen starken<br />

<strong>St</strong>aat forderte, damit dieses zügellose und verdorbene Wesen in die Schranken gewiesen werden<br />

konnte, war in <strong>Taylor</strong>s Augen <strong>John</strong> Adams. <strong>Das</strong> Menschenbild <strong>von</strong> Adams wurde <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> aus<br />

zwei Gründen abgelehnt: Erstens war <strong>Taylor</strong> der Ansicht, dass der Mensch eine natürliche Sympathie<br />

für das Gute besitzt und damit nicht der "Teufel" sein konnte, wie <strong>von</strong> Adams implizit angenommen.<br />

Ein zweiter Punkt war im Urteil <strong>Taylor</strong>s der eigentliche Schwachpunkt <strong>von</strong> Adams’ Anthropologie:<br />

die seinen Ausführungen unterliegende Annahme, die menschliche Natur sei, auch in<br />

nung nach ebenfalls ein sein eigenes Wohl in den Vordergrund stellendes, egoistisches Wesen. <strong>Taylor</strong> hat sich folglich<br />

wohl nicht so sehr an Hobbes’ Materialismus und Hedonismus gestört (wie <strong>von</strong> Baritz [1964: 384] behauptet),<br />

als vielmehr an seinem vermeintlichen Atheismus, seinem Bild eines <strong>von</strong> Natur aus isolierten Menschen sowie seiner<br />

relativistischen Moralphilosophie. Einen Überblick über Hobbes’ Menschenbild geben Chwaszcza (1996: 84-106)<br />

und Fetscher (1984: xix-xxiii), für sein Religionsverständnis siehe Grossheim (1996: 283-314).<br />

43 <strong>Taylor</strong> greift mit der Idee einer guten Schöpfung und Welt eine der zentralen Vorstellungen der Aufklärung auf.<br />

Siehe dazu Jefferson in einem Brief an <strong>John</strong> Adams: "Im ganzen ist die Welt gut, sie gründet sich auf ein wohlwollendes<br />

Prinzip, uns wird mehr Freude zuteil als Leid" (Jefferson an Adams, 8. April 1816, zitiert nach: Nicolaisen<br />

(1995: 128).<br />

44 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 38, 525ff. Siehe auch ibd., 526: "'Man is man', exclaim they [aristokratische Interessengruppen,<br />

A.d.V.]; slyly insinuating, by the manner <strong>of</strong> the exclamation, that he is nearly a devil. To keep this devil in order, hierarchy<br />

contends that he ought to be cheated by superstition, monarchy, that he ought to be lashed by despotism; and<br />

parties <strong>of</strong> interest, that he is a fair game for all fraudulent laws. And forsooth, because man is man". Siehe ebenso<br />

ibd., 522: "Improvement, the best evidence <strong>of</strong> man’s imperfection, is suppressed, whilst that imperfection is exaggerated,<br />

for the purposes <strong>of</strong> taking advantage <strong>of</strong> his oversights, and subjecting him to hard government, under pretence<br />

<strong>of</strong> restraining his vicious nature, but really to defend these vicious advantages."<br />

45 Ibd., 33: "The human mind, buoyed up to the zenith <strong>of</strong> hope upon the billows <strong>of</strong> the French revolution, sunk with<br />

its wreck into the gloom <strong>of</strong> despair; and philosophers seem inclined to abandon a successful experiment, because<br />

they have been obliged to disgorge extravagant theories." Siehe hierzu die Hinweise bei O'Brien (2004: 789).


42<br />

moralischer Hinsicht, konstant und weder wandelbar noch vervollkommnungsfähig. 46 Für <strong>Taylor</strong><br />

hingegen verkörperte die Wandelbarkeit und Perfektibilität der moralischen Natur des Menschen<br />

eines der zentralen Merkmale der Spezies Mensch. Im nachfolgenden, aus dem Inquiry stammenden<br />

Auszug, stellt <strong>Taylor</strong> seinem <strong>St</strong>andpunkt, der <strong>von</strong> der Wandelbarkeit der human nature ausgeht und<br />

die Fähigkeit zur Vervollkommnung betont, die (vermeintliche) Position <strong>von</strong> Adams gegenüber, die<br />

den Menschen als statisches und unwandelbares Wesen wahrnimmt:<br />

Mr. Adams’s System promises nothing. It tells us that human nature is always the same: that the art <strong>of</strong> government<br />

can never change; [...]. It is admitted, that man, physically, is 'always the same'; but denied that he is<br />

so, morally. Upon the truth or error <strong>of</strong> this distinction, the truth or error <strong>of</strong> Mr. Adams’s mode <strong>of</strong> reasoning<br />

and <strong>of</strong> this essay, will somewhat depend. If it is untrue, then the cloud <strong>of</strong> authorities collected by him from all<br />

ages, are irrefutable evidence, to establish the fact, that political misery is unavoidable; because man is always<br />

the same. But if moral qualities <strong>of</strong> human nature are not always the same, but are different both in nations<br />

and individuals; and if government ought to be constructed in relation to these moral qualities [...]; these authorities<br />

do not produce a conclusion so deplorable. The variety in the kinds and degrees <strong>of</strong> political misery,<br />

is alone conclusive evidence <strong>of</strong> distinct degrees <strong>of</strong> moral character, capable <strong>of</strong> unknown moral effects. 47<br />

Für <strong>Taylor</strong> sind die sein Menschenbild auszeichnenden Abstraktionen zwar universeller Natur,<br />

gleichwohl war er der Meinung, dass sie sich in zeitlicher und räumlicher Hinsicht unterschiedlich<br />

manifestieren. 48 Die räumlichen und zeitlichen Umstände üben gemäss <strong>Taylor</strong> einen prägenden Einfluss<br />

darauf aus, wie ein bestimmter Mensch in einer bestimmten Situation in moralischer Hinsicht<br />

handelt und reagiert. 49 Als ausschlaggebende Einflussfaktoren versteht er den <strong>St</strong>and der Aufklärung,<br />

der Erziehung und des Wissens, die vorherrschenden Sitten und Gebräuche sowie die natürlichen<br />

geographischen Umstände. Die moralischen Eigenschaften eines Amerikaners im aufgeklärten Zeitalter<br />

des ausgehenden 18. Jahrhunderts seien daher verschieden <strong>von</strong> denjenigen der Goten, Van-<br />

46 Im Hinblick auf den ersten Punkt hat <strong>Taylor</strong> Adams falsch gelesen. Wie Thompson (1998: 148-173) zeigt, war Adams<br />

kein Calvinist und akzeptierte die calvinistische Sichtweise der menschlichen Natur nicht: "[H]e never thought<br />

man evil, wicked, sinful, or even bad by nature, nor could he go as far as some ancient and modern writers who had<br />

seen 'human nature through a more gloomy medium'" (ibd., 149). Adams’ Menschenbild habe sich durch vier<br />

Hauptmerkmale ausgezeichnet (ibd. 151, 153f.): (1) durch zwei fundamentale Naturgesetze, die das menschliche<br />

Handeln antreiben, nämlich Selbsterhaltung und Anerkennung der eigenen und der Rechte Dritter; (2) durch drei die<br />

menschliche Natur antreibende Kräfte, die Leidenschaften, die Vernunft und den moral sense; (3) der moral sense macht<br />

den Menschen zu einem sozialen Wesen; (4) da der moral sense und die Fähigkeit zu vernünftigem Handeln die gesellschaftlich<br />

schädlichen Leidenschaften alleine nicht kontrollieren können, braucht es eine unterstützende Eigenschaft,<br />

die Adams im <strong>St</strong>reben nach Ruhm (desire for reputation) lokalisiert. Dieses lässt den Menschen zu einem guten Mitglied<br />

der Gemeinschaft werden. Adams betrachtete dieses <strong>St</strong>reben als eine universale Neigung, als spectemur agendo, als bestimmende<br />

Grösse der human nature und als Grundlage des sozialen Zusammenhalts. <strong>Taylor</strong>s und Adams’ Menschenbild<br />

weisen somit durchaus Gemeinsamkeiten auf (z.B. die dominierende Rolle des Selbsterhaltungsstrebens<br />

sowie das Ungenügen des moral sense, sozial schädliches Verhalten zu kontrollieren). Die Unterschiede sind jedoch<br />

ebenfalls gewichtig. So lehnt Adams die für <strong>Taylor</strong>s System unverzichtbare Annahme ab, dass der Mensch qua seiner<br />

Vernunft in der Lage sei, rationale Regeln zur Respektierung der Rechte Dritter herzuleiten und diese Regeln dann so<br />

anerkennt und befolgt, wie er seine eigenen Rechte anerkannt haben möchte. "He [i.e. Adams] rejected the Hobbesian-Lockean<br />

position that man can rationally deduce and then follow the dictates <strong>of</strong> reason by respecting the rights<br />

<strong>of</strong> others as he would have them respected his own." Ibd., 152.<br />

47 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 38.<br />

48 Siehe neben Baritz (1964: 166) auch O'Brien (2004: 787f.).<br />

49 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 39: "[The whole <strong>of</strong> Mr. Adams quotations] would have depended upon the similarity <strong>of</strong> moral<br />

circumstances, between the people <strong>of</strong> America, and those <strong>of</strong> Greece, Italy, Switzerland, England, and a multitude <strong>of</strong><br />

countries, collected from all ages into our modern theatre". Siehe ebenfalls <strong>Taylor</strong> (1823), New Views, 322.


43<br />

dalen, Italiener, Türken und Chinesen. Die zahlreichen zivilisationsbedingten und länderspezifischen<br />

Ungleichheiten im menschlichen Intellekt und Charakter, "the shades and novelties <strong>of</strong> the human<br />

character, between the philosopher and the savages", <strong>of</strong>fenbaren für <strong>Taylor</strong> eine komplexe, intellektuelle<br />

Vielfalt. 50 Es war ihm daher ein Rätsel, wie man das aus dem Mittelalter stammende Bild<br />

menschlicher Verdorbenheit und Unwissenheit für das zeitgenössische Menschenbild halten konnte.<br />

51 Aus der festgestellten Vielfalt der moralischen Natur des Menschen zieht <strong>Taylor</strong> die Schlussfolgerung,<br />

dass die moralische Natur des Menschen wandelbar und perfektibel ist. Daraus folgt, dass es<br />

keine, für alle Nationen geltende beste Regierungsform gibt: "Out <strong>of</strong> this intellectual variety, arises<br />

the impossibility <strong>of</strong> contriving one form <strong>of</strong> government, suitable to every nation." 52 <strong>Taylor</strong> kann<br />

damit als Kontextualist bezeichnet werden. Er bevorzugte jene Regierungsform, die in einem bestimmten<br />

zeitlichen, örtlichen, gesellschaftlichen und historischen Kontext am besten der jeweils<br />

vorherrschenden moralischen Natur des Menschen entspricht. Für <strong>Taylor</strong> war es daher Wahnsinn<br />

anzunehmen, dass eine einzige Regierungsform existiert, die ungeachtet der Wandelbarkeit der moralischen<br />

Natur der Menschen den Anspruch erheben konnte, die beste aller Verfassungen darzustellen.<br />

Diesen Anspruch hatten über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende hinweg die Mischverfassung<br />

und ihre Verteidiger - unter ihnen <strong>John</strong> Adams - erhoben. Nach <strong>Taylor</strong> ist dies ein verrückter<br />

Anspruch, da die moralische Natur der Amerikaner <strong>von</strong> der anderer Völker verschieden ist. War<br />

die Mischverfassung auch die passende Regierungsform für die Gemeinwesen der Antike oder die<br />

italienischen <strong>St</strong>adtrepubliken der Renaissance, so war sie doch nicht mehr angemessen für eine Zeit<br />

und für Männer mit unterschiedlichem Charakter und in ungleichen Umständen. Indem er die Wandelbarkeit<br />

und Perfektibilität der moralischen Natur des Menschen hochhielt, hinterfragte <strong>Taylor</strong><br />

nichts anderes als den zeitlosen Charakter der Mischverfassung und deren über zweitausend Jahre<br />

alten Anspruch, die beste aller Verfassungen zu sein. 53<br />

Was also war der Nutzen <strong>von</strong> Adams' zahllosen Analogien und <strong>von</strong> seinen zahlreichen Verweisen<br />

auf die Lehren Machiavellis, auf unterschiedliche Kulturen und Epochen, auf die Gemeinwesen des<br />

antiken Griechenlands, auf die römische Republik, auf die italienischen <strong>St</strong>adtrepubliken des Mittelalters<br />

und auf die Schweizer Kantone? Für Amerika keiner, hätte <strong>Taylor</strong> geantwortet, oder bestenfalls<br />

Unterhaltung für den geschichtlich interessierten Leser. 54 Wie O’Brien anschaulich zeigt, glaubte<br />

50 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 39. Siehe auch ibd., 525: "Would an entire nation, as accomplished as Mr. Adams, require the<br />

same form <strong>of</strong> government as a nation <strong>of</strong> savages? [...] Is not a capacity for improvement inconsistent with the attribute<br />

<strong>of</strong> constancy?" Die Wandelbarkeit der menschlichen Natur bezieht sich jedoch nicht auf seine physische Natur:<br />

"It is admitted, that man, physically, is 'always the same'; but denied that he is so, morally." Ibd., 38.<br />

51 Ibd., 129.<br />

52 Ibd., 39. Vgl hier: "If man is not always morally the same, it is not true that he requires the same political regimen.<br />

[...] Out <strong>of</strong> this intellectual variety, arises [...] also the fact, that human nature, instead <strong>of</strong> begetting one form constantly,<br />

demonstrates its moral capacity, in the vast variety <strong>of</strong> its productions."<br />

53 Ibd., 39, 138. Bei der ersten der beiden <strong>St</strong>ellen schreibt <strong>Taylor</strong>: "And thence a conclusion <strong>of</strong> considerable weight<br />

follows, to overthrow the groundwork <strong>of</strong> Mr. Adams’s System; for by proving, [...] that his system was proper for<br />

those men, and those times, resorted to by him for its illustration, he proves that it is not proper for men and times<br />

<strong>of</strong> dissimilar moral characters and circumstances." Zur Idee der Mischverfassung siehe Ziff. 6.1 unten.<br />

54 Ibd., 129: "Mr. Adams affects to despise theory, and to prove all his conclusions by experience. Without estimating<br />

the difference between the savage and the civilized; the superstitious and the enlightened; a city and a great country;<br />

he reasons as if every situation and all circumstances, moral and physical, demanded the same political regimen. The


44<br />

<strong>Taylor</strong> an die Form- und Wandelbarkeit der menschlichen Natur und damit an die Möglichkeit, dass<br />

die Vereinigten <strong>St</strong>aaten ein neues säkulares Zeitalter (novos ordo seclorum) eingeläutet hätten. All die<br />

Monster, die Machiavellis Auge entdeckt hatte, beschrieben, was in der Vergangenheit geschehen<br />

war und vielleicht auch einmal in Amerika geschehen konnte. <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> aber sei nicht nachvollziehbar,<br />

wenn man ausser Acht lasse, "that he felt the United <strong>St</strong>ates had learned genuinely new<br />

in the history <strong>of</strong> political thought" 55 .<br />

Eine letzte bedeutsame Eigenschaft des <strong>Taylor</strong>schen Menschen ist dessen - zumindest partielle -<br />

Willensfreiheit. <strong>Taylor</strong> lehnte die Ansicht ab, dass der Mensch überhaupt keine Willensfreiheit<br />

besitzt und bloss ein zu passivem Gehorsam verdammter, seinen Motiven folgender Automat ist. 56<br />

Seiner Meinung nach ist die menschliche Natur in der Freiheit ihres Willens wiederum gespalten.<br />

Einerseits besitze der Mensch die Fähigkeit, Handlungsmotive zu regulieren, und damit einen Willen,<br />

der es ihm erlaube, zwischen tugend- und lasterhaften Prinzipien zu wählen. 57 Andererseits<br />

zeichne sich der Mensch auch dadurch aus, dass er ein blosser Automat sei, der natürlichen und<br />

vorgegebenen Antriebsmotiven folge (wie dem Eigeninteresse in Form der Befriedigung des Hunger-<br />

oder Durstgefühls oder dem <strong>St</strong>reben nach Einfluss und Macht). Durch die Regulierung der <strong>von</strong><br />

der Natur vorgegebenen Antriebsmotive, folgerte <strong>Taylor</strong>, könne der Mensch das Verhalten anderer<br />

Menschen steuern. So würden Machtteilung und Verantwortlichkeit den Menschen tugendhaft<br />

machen, konzentrierte und ungeteilte Macht hingegen ins Laster treiben. 58 Es sei fragwürdig, gestand<br />

<strong>Taylor</strong> ein, dass der einzelne Mensch seine eigenen Handlungsmotive regulieren und kontrollieren<br />

könne. Unbestritten sei hingegen die Tatsache, dass Dritte in der Lage seien, ihn mit Motiven, die<br />

<strong>von</strong> ihnen reguliert werden können, zu beeinflussen. <strong>Das</strong> sei eine Einsicht, die insbesondere für<br />

<strong>St</strong>aatsmänner und Verfassungsgeber bedeutend sei. 59<br />

manners, the colour, and the social qualities, <strong>of</strong> the brute creation, are changed by education; is reason condemned to<br />

persist in errours, from which instinct has in some degree escaped? His examples are extracted [...] from the Italian<br />

republicks. To be guided by these, we must shut our eyes upon the day light shinning around, and dive after our<br />

character and capacity into the caverns <strong>of</strong> antiquity."<br />

55 O'Brien (2004: 788). Baritz (1964: 166) weist darauf hin, dass <strong>Taylor</strong>, indem er Adams’ Analogien zwischen verschiedenen<br />

Kulturen und Epochen abgelehnt habe, die Position vertreten habe, dass sich Menschen in unterschiedlichen<br />

Gesellschaften aufgrund umweltbedingter Faktoren <strong>von</strong>einander unterscheiden, "even though their essential natures,<br />

in general and therefore less significant terms, were more alike than not".<br />

56 Diese Position lag gemäss <strong>Taylor</strong> der <strong>politische</strong>n Philosophie <strong>von</strong> William Godwin in dessen Political Justice (1793)<br />

zugrunde. Wie O'Brien (2004: 791) richtig bemerkt, folgte <strong>Taylor</strong> Godwin jedoch in der Betonung der Wichtigkeit<br />

der <strong>St</strong>euerung mittels Motiven.<br />

57 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 166: "This essay proceeds upon an opinion, that man can regulate motives, and enjoys a volition,<br />

adequate to the election <strong>of</strong> virtue, and the rejection <strong>of</strong> vice". Siehe auch ibd., 166: "[...] that they possess a<br />

power <strong>of</strong> regulating motives, or electing principles, which will cultivate either virtue or vice."<br />

58 Ibd, 167: "If a man is merely the automaton <strong>of</strong> motives, a nation may operate upon the individuals who are publick<br />

agents, by a set <strong>of</strong> motives calculated to impel to virtue or to vice. Division and responsibility will impel to virtue;<br />

aggregated or undivided power will impel to vice."<br />

59 Ibd., 167: "It is certainly true, that man is invariably guided by motives; and though it may be questioned, whether an<br />

individual has a power <strong>of</strong> creating or controlling his own motives, yet it cannot be denied, that others are able to influence<br />

him by motives which they can regulate. Those who compose governments or laws, may infuse into them<br />

motives to excite avarice and ambition, or liberality and patriotism."


45<br />

2.2. Der Mensch in der Gesellschaft<br />

Der Begriff der "Gesellschaft" (society) nahm, wie im vorliegenden Abschnitt deutlich werden wird,<br />

im <strong>politische</strong>n <strong>Denken</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>s einen wichtigen Platz ein. Wie die Untersuchung aber auch<br />

zeigen wird, sind seine diesbezüglichen Gedankengänge nicht immer die klarsten. Der Vorwurf, sein<br />

Gesellschaftsbegriff sei sowohl unscharf als auch mehrdeutig und damit nur schwer zugänglich, ist<br />

daher häufig zu hören. 60 Nicht zu Unrecht, denn <strong>Taylor</strong> gebraucht den Begriff society <strong>of</strong>t zur<br />

Beschreibung unterschiedlicher Inhalte, freilich ohne seine Leser darüber aufzuklären, <strong>von</strong> welchem<br />

Gesellschaftstyp er gerade spricht. Wie im Folgenden gezeigt wird, liegen <strong>Taylor</strong>s Gesellschaftstheorie<br />

drei unterschiedliche Gesellschaftsbegriffe zugrunde: (1) ein Begriff der Gesellschaft verstanden<br />

als "natürliche" Gesellschaft, d.h. als Gesellschaft in einem natürlichen, vorstaatlichen Zustand; (2)<br />

ein Begriff <strong>von</strong> Gesellschaft, verstanden als Zusammenschluss verschiedener, das Recht auf Selbstbestimmung<br />

besitzender Individuen zu einer das Recht auf Selbstregierung ausübenden, souveränen<br />

Nation; (3) der Begriff der Gesellschaft, verstanden als "<strong>politische</strong>" oder "bürgerliche" Gesellschaft.<br />

Alle drei Gesellschaftstypen unterscheiden sich hinsichtlich ihres Ursprungs und der <strong>von</strong> ihnen zu<br />

erfüllenden Aufgaben <strong>von</strong>einander. Im Folgenden werden die drei Gesellschaftstypen vorgestellt.<br />

2.2.1. Die natürliche Gesellschaft als "Moral-<strong>St</strong>eam Engine"<br />

<strong>Das</strong> oben beschriebene liberale, um einen natürlichen moral sense ergänzte Menschenbild bildete eine<br />

natürliche Basis für ein Leben des Menschen in der Gesellschaft. <strong>Taylor</strong> vertritt - wie oben gezeigt<br />

wurde - die Ansicht, dass das Leben in der Gesellschaft einen natürlichen Zustand verkörpert. Da er<br />

den Menschen als ein Wesen betrachtet, das <strong>von</strong> Natur aus mit den für den Austausch mit seinen<br />

Mitmenschen erforderlichen Voraussetzungen (Sprache und Vernunft) ausgestattet ist, und da der<br />

Mensch aufgrund seiner egoistischen Bedürfnisse und Wünsche auf eine tatsächliche Realisierung<br />

dieser Austauschprozesse hinstrebt, stellt die Gesellschaft einen natürlichen Zustand dar. 61 Die natürliche<br />

Gesellschaft verfolgt dabei einen ganz bestimmten Zweck. <strong>Taylor</strong> lokalisiert ihn in der Kontrolle<br />

der unbeständigen und schwachen Natur des Menschen, in der Kontrolle und Verminderung<br />

ihrer Mängel und Schwächen. In einem vorgesellschaftlichen Zustand isolierter und vereinzelter<br />

Individuen, in dem eine gesellschaftliche Kontrolle der menschlichen Natur fehlt, schrieb <strong>Taylor</strong>,<br />

wäre die Menschheit zu einem Leben verdammt, dass sich durch Unwissenheit, Grausamkeit und<br />

Schlechtigkeit der Sitten auszeichnen würde: "Societies are instituted to control and diminish the<br />

imperfections <strong>of</strong> human nature, because without them it generates ignorance, savageness and depravity<br />

<strong>of</strong> manners." 62 Den Blick stärker auf das eigentliche Schutzobjekt gerichtet, beschrieb <strong>Taylor</strong><br />

den Zweck der Gesellschaft damit, jedes Individuum bei der Ausübung und im Genuss seiner<br />

ursprünglichen und natürlichen Arbeits- und Verstandeskraft zu schützen: "Its [societies] end and<br />

design is to protect each individual <strong>of</strong> which it is composed, in the enjoyment and exercise <strong>of</strong> his<br />

60 Siehe etwa Mudge (1939: 58). Genovese (1994: 115, Fn. 13) beschreibt <strong>Taylor</strong> gar als "Wirrkopf".<br />

61 Für Hinweise auf den natürlichen Ursprung der Gesellschaft bei <strong>Taylor</strong> siehe Tate (2001: 259) und Mudge (1939: 32).<br />

Zur sozialen Natur des Menschen und ihren Ursprüngen im stark hedonistischen Menschenbild <strong>Taylor</strong>s siehe Ziff.<br />

2.1.3 oben.<br />

62 <strong>Taylor</strong> (1813), Arator, 119.


46<br />

primitive and natural faculties <strong>of</strong> labour and free will." 63 Der Zweck der Gesellschaft ist damit<br />

gemäss <strong>Taylor</strong> der Schutz der natürlichen Rechte eines jeden Individuums. 64<br />

Mit <strong>Taylor</strong>s liberalem Menschenbild, das den Menschen als primär selbstbezogenes, das eigene<br />

Wohl in den Vordergrund rückendes Wesen wahrnimmt, geht die ständige Bedrohung und Verletzung<br />

der natürlichen Rechte Dritter einher. Mit der natürlichen Gesellschaft hatte die Vorsehung<br />

bzw. die Natur nach <strong>Taylor</strong> jedoch einen grossartigen Hilfsmechanismus - der Virginier sprach <strong>von</strong><br />

einer moral steam engine - bereitgestellt, der den Menschen dabei hilft, die natürlichen Rechte Dritter<br />

zu akzeptieren und die begangenen Übergriffe gegen deren Naturrechte zu minimieren. Die Zauberwörter<br />

<strong>Taylor</strong>s heissen Austausch und Handel (exchange). 65 Austauschprozesse - diese Einsicht<br />

bildete eine seiner fundamentalen Überzeugungen - verbessern die moralische Natur des Menschen.<br />

Die Gesellschaft kontrolliert den Menschen nicht nur mittels negativer (Zwangsmechanismen),<br />

sondern auch mittels positiver Anreize (Chancen der Bedürfnisbefriedigung auf friedlichem Weg),<br />

die sie setzt. 66 <strong>Taylor</strong> vertritt damit die These des doux commerce, wenn auch in einer leicht abgewandelten<br />

und zur Hauptsache auf die innergesellschaftlichen Beziehungen ausgerichteten Spielart. 67 Er<br />

nimmt - ähnlich wie David Hume, Adam Smith oder James <strong>St</strong>euart - eine Mittelposition ein zwischen<br />

traditionellen Moralisten wie Jean-Jacques Rousseau einerseits und Denkern wie Voltaire,<br />

Jean-François Melon oder Bernard de Mandeville anderseits. Die traditionellen Moralisten prangerten<br />

den Luxus mit klassisch-republikanischen Begriffen an und machten die moderne Handelsgesellschaft<br />

für zahlreiche Laster des Menschen verantwortlich, die zweite Gruppe verkündete mit<br />

ihren Schriften, die den Luxus feierten, einen neuen Menschen und eine neue Gesellschaft.<br />

Der gesellschaftliche Austausch und Handel wirkt sich für <strong>Taylor</strong> auf zwei Ebenen vorteilhaft auf<br />

die menschliche Zivilisation aus: einerseits auf der Ebene des ökonomischen Nutzens, andererseits<br />

auf einer Wissens- und Werteebene. <strong>Taylor</strong>s Überlegungen, die sich auf den wirtschaftlichen Aspekt<br />

63 <strong>Taylor</strong> (1820), Construction Construed, 206. Siehe ebenso ders. (1813), Arator, 319: "The use <strong>of</strong> society, is to secure the<br />

fruits <strong>of</strong> his own industry and talents to each associator".<br />

64 Lockes bekanntes Dreier-Schema, bestehend aus den Rechten auf Leben, Freiheit und Eigentum (life, liberty, and<br />

property), bildet die Grundlage für <strong>Taylor</strong>s Naturrechtsdenken. Siehe dazu Ziff. 2.3.2 unten.<br />

65 <strong>Taylor</strong> (1821), Tyranny Unmasked, 188f.: "Exchanges <strong>of</strong> necessaries, conveniences, and especially luxuries, and not<br />

mere acquisitions <strong>of</strong> money, constitute the great impulse, which has caused human nature to make those exertions by<br />

which civilizations has been extended, knowledge produced, refinements discovered, wealth obtained, and a love <strong>of</strong><br />

liberty inspired. Leave this impulse undiminished; this moral steam-engine to operate [...]. But take away from us this<br />

moral discovery, destined to be our glory or our shame, and we sink into the mob <strong>of</strong> tyrannies [...]."<br />

66 Mit exchange meint <strong>Taylor</strong> nicht den Austausch (Handel) zwischen verschiedenen Nationen, sondern den zwischen<br />

autonomen Individuen. Siehe dazu Wharton (1980: 16) und Mudge (1939: 32f.), die <strong>Taylor</strong>s Position allerdings auf<br />

den rein ökonomischen Aspekt des Handels reduzieren. Ansonsten hat es die Forschung meines Erachtens mit Ausnahme<br />

<strong>von</strong> Feller (1995: 57f.) versäumt, diese Thematik zu diskutieren. Siehe z.B. Tate (2001: 257), Baritz (1963:<br />

167) und Shalhope (1980a: 137).<br />

67 Die doux commerce-These vertritt die Idee, dass sich der Handel - zumeist der Handel zwischen den Nationen - vorteilhaft<br />

auf die Sitten und Moral eines Volkes auswirkt. Siehe Hirschman (1977: 65ff.) und McCoy (1980: 77f., 86f.).<br />

Einen Überblick über die kontroverse Natur der These des doux commerce und die <strong>von</strong> den Gelehrten des 18. Jahrhunderts<br />

vertretenen Position, dass sich Handel und Kommerzialisierung in einer Gesellschaft - zum Guten oder<br />

zum Schlechten - auf die Gewohnheiten, Sitten und die Moral der Menschen auswirkt, gibt McCoy (1980: 23-40).<br />

Die Idee, dass Tauschprozesse zur Sozialisation des Menschen beitragen (aus der Erkenntnis, dass das Respektieren<br />

anderer Menschen als gleichberechtigter Individuen im eigenen Interesse liegt), geht auf die Denker des klassischen<br />

Liberalismus, v.a. auf David Hume, aber auch auf Adam Smith zurück. Siehe dazu Kopp (1995: 388ff., 396-401).


47<br />

der Austauschbeziehung beziehen, können folgendermassen zusammengefasst werden: 68 Getrieben<br />

<strong>von</strong> seinen Bedürfnissen und seinem Wunsch nach physischem Überleben tritt der einzelne Mensch<br />

in die Gesellschaft ein, da ihm diese die Befriedigung seiner Bedürfnisse durch wechselseitigen Austausch<br />

und Arbeitsteilung ermöglicht. Die Gesellschaft wirkt aus zwei Gründen positiv: Erstens<br />

erlauben Austauschprozesse den Menschen, ihre Bedürfnisse auf friedliche Art und Weise zu befriedigen.<br />

Zweitens ermöglicht Handel gesellschaftliche Arbeitsteilung. Diese gestattet durch Spezialisierung<br />

die Befriedigung einer grösseren Anzahl <strong>von</strong> Bedürfnissen und schafft wechselseitige Abhängigkeiten.<br />

Dadurch wird der Anreiz erhöht, dem Handel als friedlicher Variante der Bedürfnisbefriedigung<br />

den Vorzug vor Raub, Diebstahl oder Betrug zu geben. Demzufolge wird eine, möglicherweise<br />

gewaltsame, Verletzung der natürlichen Rechte Dritter unnötig und verliert an Attraktivität.<br />

Austausch und Handel verbessern die moralische Natur des Menschen: Die Wahrscheinlichkeit, dass<br />

dieser sich in der oben beschriebenen Wahlsituation gegen eine Schädigung Dritter entscheidet,<br />

erhöht sich durch die Alternative "Austauschbeziehungen". Handel und Austausch, verkündete<br />

<strong>Taylor</strong> euphorisch, sind der "Keim einer zivilisierten Gesellschaft" und verantwortlich für das<br />

"Glück des Menschen". 69 <strong>Taylor</strong> teilte damit die <strong>von</strong> Paine und anderen Denkern vertretene Überzeugung,<br />

dass die mit dem Handel verbundenen ökonomischen Vorteile die Sitten und die Moral<br />

der Menschen verfeinern. 70<br />

Austausch und Handel (exchange <strong>of</strong> necessaries, conveniences and especially luxuries) sind noch aus anderen<br />

wie nur ökonomischen Nutzenüberlegungen <strong>von</strong> Bedeutung. Handel und Austausch verkörpern<br />

für <strong>Taylor</strong> die "grossen Antriebskräfte, welche in der menschlichen Natur die Anstrengungen hervorgerufen<br />

haben, durch welche die Zivilisation ausgebreitet, Wissen geschaffen, Vornehmheiten<br />

und Kultiviertheit entdeckt" und "die Liebe zur Freiheit eingeflösst" worden sei. 71 Die Gesellschaft<br />

hat damit bei <strong>Taylor</strong>, wie bereits kurz angesprochen, nebst einer negativen (einschränkenden, kontrollierenden)<br />

auch eine positive Funktion auf die menschliche Natur: Die Anreize, die gesellschaftlicher<br />

Austausch setzt, treiben den einzelnen Menschen dazu an, sich seiner Verstandes- und seiner<br />

Arbeitskraft zu bedienen, sich geistig und körperlich anzustrengen, um auf diese Weise seine Interessen<br />

zu befriedigen. Die Gesellschaft stachelt den "Arbeitsfleiss" an und macht den Menschen zu<br />

68 Siehe zum Folgenden Wharton (1980: 16).<br />

69 <strong>Taylor</strong> (1822), Tyranny Unmasked, 40: "Have the people lost their appetites, or the power <strong>of</strong> gratifying them? How can<br />

they be gratified, except by exchanging the fruits <strong>of</strong> their own labours for the fruits <strong>of</strong> the labours <strong>of</strong> others?". Siehe<br />

auch ibd., 23f.: "[T]he known effect <strong>of</strong> the division <strong>of</strong> labour, to beget mutual markets [...] by creating additional skill<br />

and facility, [...] vastly increases necessaries, comforts, and luxuries; the exchange <strong>of</strong> which is the basis <strong>of</strong> political<br />

economy, and the sower <strong>of</strong> civilized society". Ebenso ibd., 95: "[W]e must only to recollect, that human happiness<br />

must consist <strong>of</strong> temporal gratifications."<br />

70 Thomas Paine begründet die doux commerce-Wirkung des Handels wie folgt: "Great part <strong>of</strong> that order which reigns<br />

among mankind is not the effect <strong>of</strong> government. It has its origin in the principles <strong>of</strong> society and not in the natural<br />

constitution <strong>of</strong> man. [...] The mutual dependence and reciprocal interest which man has upon man, and all the parts<br />

<strong>of</strong> civilised community upon each other, create the great chain <strong>of</strong> connection which holds it together. The landholder,<br />

the farmer, the manufacturer, the merchant, the tradesman, and every occupation, prospers by the aid which<br />

each receives from the other, and from the whole. Common interest regulates their concerns, and forms their law;<br />

and the laws which common usage ordains, have greater influence than the laws <strong>of</strong> government. In fine society performs<br />

for itself almost everything which ascribed to government." Paine (1792), Rights <strong>of</strong> Man, II, 187.<br />

71 <strong>Taylor</strong> (1822), Tyranny Unmasked, 188f.


48<br />

einem tätigen, aktiven und produktiven Wesen. 72 Darüber hinaus wächst neben seinem Wissen und<br />

seiner Kultiviertheit gemäss <strong>Taylor</strong> auch des Menschen Liebe zur Freiheit.<br />

Von der natürlichen Gesellschaft verstanden als Ansammlung verschiedener, untereinander<br />

Handel und Austausch treibender Individuen, müssen in einem nächsten Schritt zwei andere Gesellschaftskonzepte<br />

unterschieden werden, die <strong>Taylor</strong>s political science zugrunde liegen: einerseits die<br />

Gesellschaftsform der Nation und andererseits eine Gesellschaftsform, die künstlichen Ursprungs ist<br />

und <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> verschiedentlich mit den Begriffen "bürgerliche" oder "<strong>politische</strong> Gesellschaft" bezeichnet<br />

wird.<br />

2.2.2. Recht auf Selbstregierung, <strong>politische</strong> Gesellschaft und Gesellschaftsvertrag<br />

<strong>Taylor</strong> ist nicht den Sozialvertragstheoretikern zuzuordnen. Eine legitime Herrschaftsordnung<br />

beruht seiner Meinung nach nicht auf einem vertraglich begründeten Verhältnis <strong>von</strong> Regierenden<br />

und Regierten, d.h. einem Gesellschaftsvertrag, sondern auf dem natürlichen und unveräusserlichen<br />

Recht auf Selbstregierung, das jedes Individuum und - in kollektiver Form - jede Nation <strong>von</strong> Natur<br />

aus besitzt. 73 Die Nation verkörpert in <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> die oberste Herrschaftsinstanz. Sie ist der<br />

Souverän, ihr steht die souveräne Herrschaftsgewalt zu. Aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechtes<br />

ist sie zuständig für die Einrichtung der <strong>politische</strong>n Gesellschaft (political society) oder bürgerlichen<br />

Gesellschaft (civil society). Die <strong>politische</strong> Gesellschaft, die nicht mit der oben beschriebenen natürlichen<br />

Gesellschaft verwechselt werden darf, ist der Herrscher (master) über die Behörden. Sie übt die<br />

Rolle der Aktivbürgerschaft in der Nation aus. Im Folgenden werden die mit den Begriffen Nation,<br />

<strong>politische</strong> Gesellschaft und Gesellschaftsvertrag verbundenen Ideen <strong>Taylor</strong>s vorgestellt.<br />

<strong>Taylor</strong>s individualistisches Menschenbild kommt auch in seinem Verständnis dessen zum Ausdruck,<br />

was eine Nation ist. Menschenbild wie Nation veranschaulichen in eindrücklicher Weise sein<br />

stark individualistisch geprägtes <strong>Denken</strong>. 74 Nationen setzen sich, wie <strong>Taylor</strong> betont, - wie andere<br />

Formen <strong>von</strong> Gesellschaft auch - aus Individuen zusammen. Eine Nation ist für den Virginier somit<br />

im Grundsatz nichts anderes als ein Zusammenschluss <strong>von</strong> Individuen. Individuen schaffen Natio-<br />

72 Die Rolle, welche das Konzept des "Arbeitsfleisses" (industry) in <strong>Taylor</strong>s republikanischer Tugendethik spielt, wird im<br />

zweiten Teil dieser Arbeit, insbesondere unter Ziff 5.2 diskutiert.<br />

73 Zur Lehre des Gesellschaftsvertrags siehe Schmidt (1995b: 358), Kersting (1994: 1ff.) und Euchner et al. (1985:<br />

353ff.). Siehe zu <strong>Taylor</strong>s Ablehnung des Gesellschaftsvertrags als Mittel zur Begründung einer legitimen Herrschaftsordnung<br />

die in diesem Abschnitt weiter hinten folgenden Bemerkungen.<br />

74 Für O'Brien (2004: 791) war kein Denker des amerikanischen Südens "more radically invested with the idea <strong>of</strong> individualism"<br />

als <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>. <strong>Taylor</strong> habe die Menschen primär als Individuen wahrgenommen, als individuell agierende<br />

Subjekte ("In <strong>Taylor</strong>'s worldview, men [...] were alone, freely choosing and acting"), und Klassen, Gruppen oder<br />

Schichten abgelehnt, da sie das dem Menschen innewohnende natürliche Machtstreben und seine Habgier befördern.<br />

<strong>Taylor</strong>s Individualismus wurde auch <strong>von</strong> Wiltse (1935: 218, 221) hervorgehoben. <strong>Taylor</strong>, betonte Wiltse, vertrete eine<br />

<strong>von</strong> mehreren Seiten der Jeffersonian Democracy, nämlich deren "individualistic side". Er stehe für eine "individualistic<br />

democeracy". "It is a doctrine singularly consistent in its championship <strong>of</strong> individualism." Nach Pole (1978: 163) hat<br />

<strong>Taylor</strong> das ganze Gewicht seiner Überzeugungen auf das Individuum gelegt. <strong>Das</strong> Individuum und seine gleiche Repräsentation<br />

sollten die Grundlagen der Politik darstellen, nicht gesellschaftliche Klassen oder <strong>St</strong>ände. "These views<br />

might seem almost conventional. But they still had to share the field with other views <strong>of</strong> earlier vintage whenever<br />

they threatened to upset entrenched privilege." Ibd., 163.


49<br />

nen, die ohne sie nicht existieren oder handeln können. 75 <strong>Taylor</strong>s individualistisch geprägtes Verständnis<br />

der Nation steht im Gegensatz zu einem ständisch geprägten Gesellschaftsbild, wie es etwa<br />

<strong>von</strong> <strong>John</strong> Adams vertreten wurde. Adams war der Ansicht, dass Menschen <strong>von</strong> Natur aus "orders",<br />

also Klassen, <strong>St</strong>ände, Ränge oder Gesellschaftsschichten, bilden und diese orders - und nicht Individuen<br />

- die Grundbestandteile einer Gesellschaft bilden. Die Vorstellung einer aus orders zusammengesetzten<br />

Nation, kritisierte <strong>Taylor</strong> Adams, sei unvereinbar mit dem Gedanken der Volkssouveränität.<br />

76 Sowohl die Volkssouveränität wie auch das Prinzip der Repräsentation würden nämlich im<br />

einzelnen Individuum und in dessen natürlichem Recht auf Selbstbestimmung gründen, welches die<br />

Grundlage aller <strong>politische</strong>r <strong>St</strong>rukturen bildet: "The sovereignty <strong>of</strong> the people arises, and representation<br />

flows, out <strong>of</strong> each man's right to govern himself. With this individual right, political structures<br />

are built. Individuals, in forming society, may arrange their rights in such form as they please." 77<br />

Damit spielt in <strong>Taylor</strong>s <strong>politische</strong>m <strong>Denken</strong> der Wille der sich aus einer Gruppe lebender Individuen<br />

zusammensetzenden Nation eine bestimmende Rolle. Dieser Wille kann jederzeit auf der Grundlage<br />

des Naturrechts über die Form des gemeinsamen <strong>politische</strong>n Körpers entscheiden. Die Mitglieder<br />

der Nation besitzen jederzeit das Recht, gemeinsam die Formen und Einrichtungen der Gesellschaft,<br />

die sie bilden, zu ändern bzw. das Recht, die Gesellschaft aufzulösen, wann immer sie das<br />

wünschen. 78 Mit diesem Gedanken grenzte sich <strong>Taylor</strong> <strong>von</strong> Edmund Burke (1729-1797) und dessen<br />

in seinen Reflections on the Revolutin in France (1790) verkündeten Ideen zum gesellschaftlichen Grundvertrag<br />

ab, die in Reaktion auf die Ereignisse der Französischen Revolution das Erfordernis der<br />

Kontinuität der staatlichen Ordnung betonten. 79<br />

<strong>Taylor</strong> konkretisiert das Prinzip der Volkssouveränität im Weiteren wie folgt: <strong>Das</strong> Recht auf<br />

Selbstregierung (right <strong>of</strong> self government), das jeder Nation, genauer all ihren Mitgliedern, zusteht und<br />

das Grundprinzip einer jeden Gesellschaft darstellt, beinhaltet nach <strong>Taylor</strong> erstens das Recht der<br />

Nation, ihre Regierungsform zu ändern 80 , und zweitens das Recht der Nation, eine "<strong>politische</strong> Ge-<br />

75 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 148: "Society must be composed <strong>of</strong> individuals, or created by individuals, without whom, it<br />

can neither exist or act. Society exclusively <strong>of</strong> individuals, is an ideal being, as metaphysical as the idea <strong>of</strong> a triangle."<br />

76 Ibd., 101: "The constitutions consider a nation as made <strong>of</strong> individuals; Mr. Adams's system, as made <strong>of</strong> orders.<br />

Nature, by the constitutions, is considered as the creator <strong>of</strong> men; by the system, <strong>of</strong> orders. The first idea suggests the<br />

sovereignty <strong>of</strong> the people, and the second refutes it."<br />

77 Ibd., 365.<br />

78 Ibd., 148: "If a number <strong>of</strong> people should inclose themselves within a triangle, they would hear with great astonishment,<br />

that they had lost the power <strong>of</strong> changing the form <strong>of</strong> the inclosure; and that the dead figure <strong>of</strong> the triangle<br />

governed living beings, instead <strong>of</strong> living beings who created that figure, governing it."<br />

79 Einen Überblick über Burkes Ideen zur gesellschaftlichen Selbstbestimmung geben Zimmer (1997: 84f.), Fenske<br />

(1996: 416f.) und Ballestrem (2001: 110-115). Wie sie zeigen, ist nach Burke der gesellschaftliche Grundvertrag nicht<br />

mit einem privatrechtlichen Kontrakt vergleichbar, der je nach Interessenlage und in jeder Generation neu zur<br />

Disposition stehen kann. Der durch seinen gesellschaftlichen Grundvertrag konstituierte Zusammenhalt ist als<br />

Generationenvertrag angelegt, als "eine Gemeinschaft zwischen denen, welche leben, denen, welche gelebt haben<br />

und denen, welche noch leben sollen". Der Volkswillen vergangener Generationen repräsentiert sich kontinuierlich<br />

in den traditionellen Institutionen der <strong>St</strong>andesgesellschaft. Burke ergänzte damit die Lockesche Vertragstheorie um<br />

den Gedanken historischer Rechtsvermittlung über tradierte Institutionen und über die Kontinuität der Generationen.<br />

Siehe dazu eingehend Zimmer (1997: 84f., 85).<br />

80 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 148, 149 ("the principle <strong>of</strong> society, namely, the right <strong>of</strong> self government"; "that all societies<br />

have a right to modify their governments").


50<br />

sellschaft" (political society) einzurichten. 81 Die <strong>politische</strong> Gesellschaft, erklärte der Virginier, werde mit<br />

einer Verfassung eingerichtet und sei der einzige existierende <strong>politische</strong> Körper, der auf Dauer (d.h.<br />

permanent) existiert. Sie habe die Aufgabe, als Auftrag- oder Treuhandgeber (principal) die Behörden<br />

als Auftrag- oder Treuhandnehmer (agent) zu lenken und könne jederzeit <strong>von</strong> der Nation auf der<br />

Grundlage des natürlichen und individuellen Rechts auf Selbstregierung aufgelöst werden. Solange<br />

dies aber nicht geschehe, sei die <strong>politische</strong> Gemeinschaft Herr und Gebieter der Behörden, oder mit<br />

anderen Worten, der wirkliche <strong>politische</strong> Souverän (real political sovereign). Alleine das natürliche Recht<br />

auf Selbstregierung sei jeder <strong>politische</strong>n Souveränität übergeordnet. 82 Die <strong>politische</strong> Gesellschaft<br />

steht damit für den mit <strong>politische</strong>n Rechten ausgestatteten <strong>politische</strong>n Körper (body politick). Sie ist<br />

im Gegensatz zur Nation ein permanent stehendes "Gremium". Die Nation handelt nur sporadisch<br />

als <strong>politische</strong>r Körper, wenn sie - repräsentiert durch ihre gewählten Vertreter im Verfassungskonvent<br />

- ihr Recht auf Selbstregierung ausübt. Die Individuen, welche die <strong>politische</strong> Gemeinschaft<br />

zusammensetzen, bilden das Wahlvolk im Sinne der Bürgerschaft.<br />

<strong>Taylor</strong>s System lässt sich auch mit den <strong>von</strong> Emmanuel Joseph Sieyes (1748-1836) entwickelten<br />

<strong>politische</strong>n Kategorien veranschaulichen, an die in der Literatur häufig angeknüpft wird. 83 (1) Die<br />

pouvoir constitutant originaire - die ursprüngliche verfassungsgebende Gewalt - steht gemäss <strong>Taylor</strong> der<br />

Nation zu. Da diese durch ihre Repräsentativorgane, genauer durch einen <strong>von</strong> ihr gewählten nationalen<br />

Verfassungskonvent handelt, repräsentiert sie gleichzeitig die pouvoir commettant, also die auftraggebende<br />

Gewalt, und zwar in allen Angelegenheiten der ursprünglichen Verfassungsgebung (d.h.<br />

der <strong>St</strong>aatsgründung oder Revolution). 84 (2) Von der pouvoir commettant im Rahmen der Verfassungsgebung<br />

(der Nation) unterschied <strong>Taylor</strong> nun eine zweite, <strong>von</strong> der ersten verschiedene pouvoir commettant:<br />

diejenige der political society. Die <strong>politische</strong> Gesellschaft ist die Aktivbürgerschaft. Sie wird <strong>von</strong><br />

der Verfassung eingerichtet und leitet ihre Existenz und Kompetenz <strong>von</strong> der Verfassung ab. Sie ist<br />

im Unterschied zu Sieyes eine verfasste Gewalt (pouvoir constitué) und untersteht als solche der Verfassung.<br />

Die <strong>politische</strong> Gesellschaft überträgt die Gestaltung der "Tagespolitik" und damit all jene Geschäfte,<br />

die nichts mit der Verfassung zu tun haben, an Repräsentanten. Ihre Aufgabe als Herr über<br />

die Behörden ist es, diese zu überwachen, zu kontrollieren und verantwortlich zu halten, d.h. im<br />

Falle des Amtsmissbrauchs abzuwählen. (3) Die Behörden (government), zusammengesetzt aus Legislative,<br />

Exekutive und Judikative, bilden - zusammen mit der <strong>politische</strong>n Gemeinschaft - die pouvoirs<br />

81 Ibd., 375. Der Ausdruck der political society findet sich an zentraler <strong>St</strong>elle in der Vertragstheorie <strong>von</strong> Locke. Siehe etwa<br />

Euchner (1996: 86). Bei Locke entsteht aufgrund des sozialvertraglichen Konsenses eine "<strong>politische</strong> Gesellschaft", an<br />

anderer <strong>St</strong>elle auch "Gemeinschaft" (community) genannt, die sich durch Kohäsion auszeichnet und so einem "<strong>politische</strong>n<br />

Körper" (Body Politick) gleicht. Siehe Locke (1690), Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, § 44; § 95.<br />

82 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 375: "The political society created by a constitution, is the only existing society, and the government<br />

is its agent; but under the natural individual right <strong>of</strong> self government, this political society itself may be dissolved.<br />

Until dissolved, it is the master <strong>of</strong> the government, or the real political sovereignty; but the natural right <strong>of</strong><br />

self government, is superior to any political sovereignty."<br />

83 Zur Sieyeschen Grundtypologie der Gewalten siehe Riklin (2001: 266-284) und Haller & Kölz (1999: 103f.). Sieyes’<br />

Zuordnung der einzelnen Gewalten (pouvoir commettant, pouvoir constituant, pouvoir constitué) unterscheidet sich dabei <strong>von</strong><br />

derjenigen <strong>Taylor</strong>s.<br />

84 Von der ursprünglichen verfassungsgebenden Gewalt unterschied <strong>Taylor</strong> im Sieyeschen Sinne implizit die pouvoir<br />

conmettant instituté: die abgeleitete verfassungsgebende Gewalt nach den <strong>von</strong> der bestehenden Verfassung festgelegten<br />

Revisionsbestimmungen (siehe Art. 5 US-Cst.).


51<br />

constitués. Wie die Wählerschaft leiten sie ihre Existenz und ihre Kompetenzen <strong>von</strong> der Verfassung<br />

ab, der sie unterstehen. Ihre Funktion ist diejenige eines Dieners und Auftragnehmers. 85 Die Idee<br />

des Gesellschaftsvertrags spielt bei der Errichtung dieses <strong>politische</strong>n Systems nur eine Nebenrolle.<br />

Nach <strong>Taylor</strong> stellt ein Gesellschaftsvertrag lediglich eine zeitlich befristete Vereinigung (association),<br />

einen Bund (union) dar, der zwischen den Mitgliedern der Nation zum Zwecke der Einrichtung der<br />

Behörden abgeschlossen wird. Sobald dieses Ziel erreicht ist, löst sich dieser Vertrag nach Ansicht<br />

<strong>Taylor</strong>s wieder auf. 86<br />

Im Unterschied zur oben beschriebenen natürlichen Gesellschaft sind die <strong>politische</strong> Gesellschaft<br />

und die Behörden künstlichen Ursprungs (artificial oder fictitious). Die natürliche Gesellschaft ist<br />

nichts anderes als eine Gruppe <strong>von</strong> Individuen, zwischen denen Austauschbeziehungen (primär<br />

ökonomischer Natur) bestehen, sprich deren Mitglieder miteinander Handel treiben. Sie leitet sich<br />

aus der egoistischen Natur des Menschen ab und entsteht durch private, spontane, am Eigennutz<br />

orientierte Tauschhandlungen der Menschen. Die Austauschbeziehungen dienen dem Schutz der<br />

natürlichen Rechte. Diese spontan entstehenden Austauschbeziehungen bilden nach <strong>Taylor</strong> den<br />

einzigen natürlichen Zustand auf einer das einzelne Individuum und die Familie übersteigenden<br />

Ebene; alle übrigen, über die Familie hinausgehenden Formen menschlicher Verbindung und Vereinigung<br />

sind hingegen eines künstlichen Ursprungs. Naturzustand und <strong>politische</strong>r Zustand stehen<br />

einander diametral gegenüber. Jedem künstlichen Körper liegen künstliche Ursachen zugrunde.<br />

Erfahren diese eine Änderung, so erfährt auch der <strong>politische</strong> Zustand Änderungen. 87 <strong>Das</strong> gilt für die<br />

<strong>politische</strong> Gemeinschaft, für Behörden, für alle angenommenen Gesellschaftsverträge zwischen<br />

Volk und Behörden, oder für alle Verträge zwischen den Einzelstaaten oder den Einzelstaaten und<br />

der Union. 88 <strong>Das</strong> Einzige, das wirklich existiert, ist das Individuum und sein natürliches Recht auf<br />

Selbstregierung, alles andere ist menschliche Erfindung und damit ein Produkt menschlichen<br />

Willens. 89<br />

85 Siehe zum Inhalt dieser Konzepte eingehender Ziff. 7.2 unten.<br />

86 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 375: "A social compact, which is only an union <strong>of</strong> individuals, for the end <strong>of</strong> creating a government,<br />

ceases on the accomplishment <strong>of</strong> this end." Beim besagten Bund handelt es sich um einen horizontalen<br />

Gesellschaftsvertrag, der ein Auftrags- bzw. Treuhandverhältnis begründet.<br />

87 "Indeed I am unable to discern any natural political state; not only is a political state in the antithesis to a state <strong>of</strong><br />

nature, but as all countries and nations seem liable to revolutions in government, and even in character from artificial<br />

causes." Brief <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> an Thomas Jefferson, 25. Juni 1798, in: <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> Correspondence, 272.<br />

88 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 375.<br />

89 O'Brien (2004: 793) weist darauf hin, dass bei <strong>Taylor</strong> "all societies and government were fictions" und nur der Einzelne<br />

so real war, das man sich darüber sicher sein kann, "but all else was invention". <strong>Taylor</strong> habe den <strong>St</strong>aat Virginia<br />

nicht als etwas Natürlicheres betrachtet als die Vereinigten <strong>St</strong>aaten <strong>von</strong> Amerika, die virginische Gesellschaft nicht<br />

"as socially more coherent" wie die amerikanische Gesellschaft. Möglicherweise stützt sich O’Briens Interpretation<br />

zu einseitig auf den Inquiry. Für <strong>Taylor</strong> existierte (siehe Ziff. 2.2.1) durchaus eine natürliche Form <strong>von</strong> Gesellschaft<br />

(eine Thematik, die er in seinen späteren Werken, v.a. in Tyranny Unmasked behandelt). Zudem scheint <strong>Taylor</strong> die<br />

Nation nicht als etwas Künstliches betrachtet zu haben, sondern als etwas organisch Gewachsenes, das sich durch<br />

gemeinsame Werte und homogene, durch die jeweilige Geographie und das jeweilige Klima geprägte Interessen auszeichnet<br />

(diese Gedanken entwickelt er. v.a. in Construction Construed und in New Views). Virginia verstanden als<br />

Nation (und nicht im Sinne der political society oder der staatlichen Ordnung Virginia) war damit ein weit kohärenteres<br />

Gebilde als ein Bund höchst verschiedenartiger <strong>St</strong>aaten. Siehe dazu und zu den eine Nation prägenden Umständen<br />

Ziff. 9 unten. Siehe auch Tate (2001: 259), gemäss dem die Gesellschaft bei <strong>Taylor</strong> zwar eine natürliche Basis hat, in<br />

der Praxis jedoch in grossem Masse artificial, also künstlicher Natur sei. Siehe ferner auch Baritz (1964: 166) und<br />

Mudge (1939: 32).


52<br />

Wie bereits erwähnt wurde, war <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> <strong>von</strong> einer tiefen Skepsis gegenüber der Sozialvertragstheorie<br />

erfüllt. <strong>Taylor</strong> nahm das Konzept des social compact hauptsächlich aus der Perspektive<br />

eines Herrschaftsvertrages wahr, der zwischen einer Einzelperson (dem Monarchen) und der souveränen<br />

Nation abgeschlossen wird und ein Vertragsverhältnis zwischen ihnen begründet, und weniger<br />

als eigentlichen Gesellschafts- oder Sozialvertrag, durch den sich eine vom Naturzustand abhebende<br />

Gesellschaft konstituiert. 90 Aufgrund seines Misstrauens gegenüber dieser Art <strong>von</strong> Vertrag versuchte<br />

<strong>Taylor</strong> das amerikanische Herrschaftssystem möglichst ohne Rückgriff auf das Konzept des Gesellschaftsvertrages,<br />

alleine auf der Grundlage des natürlichen, dem Einzelnen zustehenden Rechts auf<br />

Selbstregierung zu legitimieren. Die Gründe, warum er das Sozialvertragskonzept ablehnte, waren<br />

die folgenden:<br />

(1) Gemäss <strong>Taylor</strong> ist jede Herleitung <strong>von</strong> Herrschaftsmacht aus einem zwischen der Nation und<br />

ihren Behörden abgeleiteten Vertrag (i.S. eines Herrschaftsvertrags) unvereinbar mit dem Recht auf<br />

Selbstregierung. 91 Dieser Kritikpunkt basiert auf der Überlegung, dass ein Vertrag als mehrseitiges<br />

Rechtsgeschäft die an ihm beteiligten Vertragsparteien (beim Herrschaftsvertrag die Nation und die<br />

Behörden) wechselseitig bindet. Behörden und Nation werden zu gleichberechtigten Parteien. Über<br />

die Auslegung des Vertrages haben beide Parteien gemeinsam zu entscheiden. Die Nation kann folglich<br />

nicht mehr souverän sein. Sie ist eine freiwillige Selbstverpflichtung und Selbstbeschränkung<br />

eingegangen und nicht mehr berechtigt, autonom resp. souverän über den Inhalt dieser Verpflichtung<br />

und Beschränkung zu entscheiden. Die mit einem Vertrag einhergehende Selbstbindung ist<br />

daher unvereinbar mit dem Recht auf Selbstregierung. Zudem wertet ein Vertragsverhältnis - im<br />

Vergleich zu einer treuhänderischen Beziehung (trust) zwischen Behörden und Volk - die <strong>St</strong>ellung<br />

der Behörden auf: vom untergeordneten Auftragnehmer werden sie zum gleichberechtigten Vertragspartner.<br />

92<br />

(2) Doch selbst der <strong>St</strong>atus des gleichberechtigten Vertragspartners ist für eine Nation in einem<br />

durch einen Herrschaftsvertrag begründenden Rechtsverhältnis gemäss <strong>Taylor</strong> höchst unsicher und<br />

gefährdet. Der Herrschaftsvertrag droht faktisch zum Unterwerfungsvertrag zu werden. Aus der<br />

Natur des Vertrages folge nämlich das Recht der Vertragsparteien, den Vertrag auszulegen und zu<br />

interpretieren. Dieses Recht habe sich im Rahmen des klassischen Herrschaftsvertrages stets als<br />

Quelle der Korruption erwiesen. Für die aktivere der beiden Vertragsparteien, die fortwährend in<br />

der Lage sei, den Vertragsinhalt in jede beliebige Form zu pressen, habe sich dieses Auslegungsrecht<br />

stets als unerschöpfliche Machtquelle erwiesen; für die trägere der beiden Vertragsparteien sei das<br />

Recht des Gesellschaftsvertrages hingegen nie ein starkes Instrument zur Verteidigung ihrer Freihei-<br />

90 Zu der in der Sozialvertragslehre üblichen Unterscheidung <strong>von</strong> zwei Verträgen, d.h. <strong>von</strong> einem Gesellschafts- oder<br />

Sozialvertrag einerseits und einem Herrschaftsvertrag andererseits siehe Euchner (1977: 37f.). Gemäss Mudge (1939:<br />

55) hat <strong>Taylor</strong> die Sozialvertragstheorie (als Erklärung für den Ursprung der civil society und als Sanktion für die Rechte<br />

und Pflichten <strong>von</strong> Individuen und Behörden) bloss in sein <strong>Denken</strong> eingeführt, um sie zurückzuweisen.<br />

91 <strong>Taylor</strong> (1814) Inquiry, 375: "Every deduction <strong>of</strong> power from a compact between a nation and its government, is incompatible<br />

with the right <strong>of</strong> self government; [...]. No contractor, with the right <strong>of</strong> self government, can exist." Zu<br />

den Elementen des Vertrages siehe Kersting (1994: 19ff.).<br />

92 Für <strong>Taylor</strong>s Charakterisierung des zwischen Volk, genauer zwischen <strong>politische</strong>r Gesellschaft (dem trustee oder principal)<br />

und den Behörden (agent) bestehenden Verhältnisses als Vertrauensverhältnis (trust) siehe Ziff. 7.2 unten. Im<br />

Inquiry (ibd., 375) bezeichnet <strong>Taylor</strong> die political society sogar als Herrscher (master) der Behörden.


53<br />

ten gewesen. 93 <strong>Taylor</strong> sieht in den Behörden die aktivere der beiden Vertragsparteien und erblickt im<br />

Volk diejenige Vertragspartei, die träge die Verletzungen ihrer Rechte hinnimmt. Gemäss <strong>Taylor</strong><br />

unterstützt das Sozialvertragskonzept Behörden in ihrem Bestreben, die Gesellschaft zu beherrschen,<br />

mit anderen Worten: den Platz des Volkes einzunehmen. Aus diesem Grunde sei es ein besonders<br />

attraktives Konzept für Regierungen und all diejenigen, denen die Herrschaft des Volkes<br />

missfalle. 94 <strong>Taylor</strong> stellte fest, dass in amerikanischen Verfassungen und <strong>politische</strong>n Abhandlungen<br />

immer wieder alte, dem amerikanischen Regierungssystem wesensfremde Ideen - so auch die Idee<br />

des Gesellschaftsvertrages - auftauchen würden und vermutete, dass dahinter eine Verschwörung<br />

steckt. Er warnte deshalb: "And for the imaginary social compact between the king and the people,<br />

one as imaginary, is also conjured up, to shoot other old errours into our new system <strong>of</strong> policy, by<br />

the shuttles <strong>of</strong> old phrases." 95<br />

Gemäss <strong>Taylor</strong> ist im Verfassungssystem der Vereinigten <strong>St</strong>aaten das Konzept des Gesellschaftsvertrages<br />

durch eine "Kette der Subordination" (chain <strong>of</strong> subordination) ersetzt worden, die am Prinzip<br />

des Rechtes auf Selbstregierung aufgehängt ist. <strong>Das</strong> amerikanische System beruhe auf einer hierarchischen<br />

Ordnung, an deren einem (übergeordneten) Ende die Nation, und an deren anderem<br />

(untergeordneten) Ende die Behörden stehen. <strong>Das</strong> erste Glied in dieser Kette bildet die <strong>politische</strong><br />

Souveränität (die Aktivbürgerschaft), das zweite Glied bilden die Behörden. 96 <strong>Taylor</strong> veranschaulicht<br />

den Aufbau des Systems am Beispiel der Auflösung der Konföderationsartikel <strong>von</strong> 1781, dem Erlass<br />

der Bundesverfassung <strong>von</strong> 1787 und den dadurch notwendig gemachten Verfassungsänderungen in<br />

den Einzelstaaten. Bei jedem der Ereignisse habe die Nation ihre Souveränität, ihr natürliches Recht<br />

auf Selbstregierung ausgeübt:<br />

The original right [i.e. the right <strong>of</strong> self-government] exercised its superiority over the social sovereignty [i.e.<br />

the political society] previously existing, and over the whole heard <strong>of</strong> fictitious compacts between the people<br />

and the government, or between the states, or the states and the Union, at the last establishment <strong>of</strong> the general<br />

government; none <strong>of</strong> these governments had any agency in their own creation, or in that work. The state<br />

governments did not surrender, but the people transferred a portion <strong>of</strong> power, without their consent, from<br />

them to the general government, from the plenitude <strong>of</strong> the right <strong>of</strong> self government. Had any social compact<br />

existed, to which government was a party, it would by this transfer, have been violated. If these governments<br />

should frame compacts between themselves, even for self preservation, it would violate our policy, because it<br />

would impugn the sovereignty <strong>of</strong> the existing political society, and also detract from the national right <strong>of</strong> self<br />

government. Our political legislation depends upon the same plain sanction with civil legislation; superiority<br />

and subordination. 97<br />

93 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 375. "The ancient notion <strong>of</strong> a social compact between nations and their governments or monarchs,<br />

alone sufficed to corrupt them. A right <strong>of</strong> construction being involved in the character <strong>of</strong> a party to this<br />

imaginary social compact, it might easily be modelled into an inexhaustible treasury <strong>of</strong> power, by the party always<br />

active and able to mould it into any form; whilst the party always sluggish, could never find it a powerful champion<br />

for liberty." Siehe ebenso ibd., 85f.<br />

94 Siehe dazu auch die Diskussion bei Baritz (1964: 166, 169).<br />

95 <strong>Taylor</strong> (1814) Inquiry, 373f.<br />

96 Ibd., 375: "For this ancient species <strong>of</strong> compact, our policy has substituted a chain <strong>of</strong> subordination, suspended from<br />

its principle <strong>of</strong> the right <strong>of</strong> self government. Our political sovereignty is the first link, and our government the<br />

second."<br />

97 Ibd., 375.


54<br />

Die nachfolgende Darstellung fasst den Grundaufbau der amerikanischen <strong>politische</strong>n Ordnung zusammen,<br />

wie <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> ihn im Inquiry dargelegt und verstanden hat: 98<br />

AKTEURSEBENE<br />

RECHTSNATUR<br />

BEHÖRDEN / STAAT<br />

Auftragnehmer (agent / trustee)<br />

Instruktion<br />

Wahlen<br />

POLITISCHE GESELLSCHAFT<br />

(AKTIVBÜRGERSCHAFT)<br />

temporärer<br />

Gesellschaftsvertrag<br />

Politischer Souverän / Auftraggeber<br />

(principal / master)<br />

Verfassung<br />

NATION<br />

<strong>Taylor</strong>s Gesellschaftskonzept lässt sich damit folgendermassen zusammenfassen: 100 (1) Der Begriff<br />

society bedeutet in einem ersten Schritt nichts anderes als das Zusammengruppieren <strong>von</strong> Individuen<br />

in einer bestimmten Ordnung oder <strong>St</strong>ruktur, die den Behörden vorausgeht. In <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> lassen<br />

sich drei solcher <strong>St</strong>rukturen ausmachen: die natürliche Gesellschaft, die Gesellschaft verstanden<br />

als souveräne Nation und die Gesellschaft verstanden als <strong>politische</strong> Gesellschaft. (2) Die natürliche<br />

Gesellschaft gründet auf der ursprünglich egoistischen Natur des Menschen und entsteht durch<br />

private, spontane, am Eigennutz orientierte, primär, aber nicht ausschliesslich ökonomische Tauschbeziehungen.<br />

Die Austauschbeziehungen dienen dem Schutz der natürlichen Rechte und verbessern<br />

die moralisch schwache Natur des Menschen. (3) Die Gesellschaft besitzt daneben auch Zwangscharakter,<br />

und zwar in einer chain <strong>of</strong> subordination ausgehend <strong>von</strong> der souveränen Nation über die <strong>politische</strong><br />

Gemeinschaft hin zu den Behörden. Politische Gesellschaft wie Behörden verkörpern künstliche<br />

Zustände: Sie sind Produkte des menschlichen Willens. Diejenigen, die eine <strong>politische</strong> Gesellschaft<br />

einrichten, regeln die in ihr bestehenden Rechte und Pflichten. 101 (4) <strong>Taylor</strong>s Gesellschaftsver-<br />

Verfassungskonvent<br />

Natürliches Recht auf Selbstregierung<br />

INDIVIDUEN<br />

Natürliches Recht auf Selbstbestimmung<br />

Abbildung 1:<br />

Grundaufbau der <strong>politische</strong>n Ordnung des Verfassungssystems der Vereinigten<br />

<strong>St</strong>aaten <strong>von</strong> Amerika in <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong>s Inquiry 99<br />

98 Baritz (1964: 167) beschreibt den Grundaufbau wie folgt: "The individual, as a member <strong>of</strong> society, was the creator <strong>of</strong><br />

institutions necessary to social life: government and law. The nation or society created a constitution which, in turn,<br />

created government, which makes law."<br />

99 <strong>Das</strong> Dreieck markiert die Richtung der chain <strong>of</strong> subordination (vom Einzelnen über die Nation zu den Hoheitsgewalt<br />

ausübenden Behörden). Der temporäre Gesellschaftsvertrag zwecks Einrichtung der Behörden, den die Mitglieder<br />

der Nation untereinander abschliessen, ist ebenfalls Bestandteil der eigentlichen Verfassung.<br />

100 Eine ähnliche Schlussfolgerung findet sich etwa bei Tate (2001: 256f.).<br />

101 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 148: "If society is natural, then natural rights may exist in, and be improved and secured by a<br />

state <strong>of</strong> society. Payne contends for a natural rights <strong>of</strong> man; Adams for the natural rights <strong>of</strong> aristocracy. If society is<br />

factitious, those who make it, can regulate rights." Mit dem may-Charakter der natürlichen Rechte scheint <strong>Taylor</strong> auf


55<br />

ständnis ist <strong>von</strong> der Idee der Freiheit geprägt. Im Zentrum steht das einzelne Individuum und seine<br />

natürlichen Rechte. Die Gesellschaft soll jedem Gesellschaftsmitglied die freie Verfolgung der eigenen<br />

Fähigkeiten und Talente ermöglichen. (5) Da der Zweck der Gesellschaft in der Kontrolle und<br />

Verringerung der Schwächen der menschlichen Natur liegt, stellt sie eine moral entity dar. "Society<br />

had a role in encouraging human action, both good and evil". 102<br />

2.2.3. Einrichtung, Zweck und Wesen der Behörden ("government") 103<br />

Über die Art und Weise, wie die Behörden (die Träger der öffentlichen Gewalt) errichtet werden,<br />

machte sich <strong>Taylor</strong> nur wenige Gedanken. Wie wir gesehen haben, war es ihm wichtig, darauf hinzuweisen,<br />

dass in einer auf dem Prinzip der Selbstregierung gründenden Herrschaftsordnung die<br />

Behörden nicht mit Hilfe eines zwischen Regierung und Nation abgeschlossenen Herrschaftsvertrages<br />

eingerichtet werden können. Ein solcher Vertrag impliziert nämlich die faktische Unterwerfung<br />

der Nation unter die Behörden und damit die Beschränkung des Rechtes auf Selbstregierung.<br />

<strong>Taylor</strong> beschränkt daher die Rolle des Sozialvertrages auf die eines horizontalen Gesellschaftsvertrages,<br />

den die Mitglieder der Nation untereinander mit dem Ziel abschliessen, die Behörden<br />

einzurichten. Sobald dieser Zweck erreicht ist, endet der Vertrag wieder. 104 Bei dieser sibyllinischen<br />

Bemerkung belässt es <strong>Taylor</strong>. Wahrscheinlich wollte er mit der bloss temporären Natur seines Vertrages<br />

andeuten, dass die Nation, da sie an keinen existierenden Vertrag gebunden ist, jederzeit<br />

berechtigt ist, die herrschende Regierungsform zu ändern oder abzuschaffen und durch eine neue<br />

Regierungsform zu ersetzen. 105 Im Übrigen gründet die Beziehung zwischen den Behörden und dem<br />

Volk (sprich der Aktivbürgerschaft) auf einem Vertrauensverhältnis (trust), das zwar wie bei Locke<br />

rechtlich qualifiziert ist, aber kein Vertragsverhältnis im engeren Sinn darstellt. 106<br />

Wenn <strong>Taylor</strong> vom Motiv spricht, das Menschen dazu treibt, <strong>politische</strong> Gemeinschaften und<br />

Behörden einzurichten, knüpft er sowohl an liberale wie auch an klassisch-republikanische Ideen an.<br />

In Construction Construed beschreibt er den Zweck der <strong>politische</strong>n Gemeinschaft (civil society) in der<br />

ihre unsichere Natur im Zustand der natürlichen Gesellschaft anzuspielen, in dem sowohl ein oberster Entscheidungs-<br />

wie auch ein Zwangsmechanismus fehlen, die Schutz gewähren könnten. Die natürliche Gesellschaft kann<br />

lediglich Anreize setzen. Zur Rolle der Naturrechte in <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> siehe Ziff. 2.3 unten.<br />

102 Tate (2001: 257).<br />

103 Die Übersetzung des Wortes "government" ist nicht ganz unproblematisch. Im Folgenden wird es mit "Behörden"<br />

übersetzt. Wie Fraenkel (1960: 661f., Fn. 16) zeigt, bedeutet government nicht nur "die regierende Gewalt in einem<br />

<strong>St</strong>aat" ["the governing power in a state" (Oxford English Dictionary, Artikel "Government" unter Ziff. 7)], sondern<br />

auch "das System, nach dem ein <strong>St</strong>aat oder eine Nation regiert wird" (ibd., unter Ziffer 6). "Government" muss daher<br />

je nach Zusammenhang, in dem das Wort gebraucht wird, mit "der gesamte <strong>St</strong>aatsapparat", mit "der <strong>St</strong>aat" im<br />

Sinne <strong>von</strong> <strong>St</strong>aatswesen, mit "Obrigkeit" oder mit "öffentlicher Gewalt" übersetzt werden. Da government sich nicht<br />

bloss auf die Ausübung der Exekutivgewalt, sondern in einem umfassenderen Sinne auf die Gesamtheit <strong>von</strong> Legislative,<br />

Exekutive und Judikative bezieht, kann seine Bedeutung auch mit "Regierungssystem" wiedergegeben werden.<br />

So etwa bei Adams/Adams (1994: lxxxix). <strong>Das</strong> deutsche Wort "<strong>St</strong>aat" kann mit den Begriffen "the government"<br />

oder "the nation" übersetzt werden. In diesen Bedeutungsunterschieden reflektieren sich, wie Fraenkel (1960: 661f.,<br />

Fn. 16) bemerkt, "subtile Differenzierungen des <strong>politische</strong>n <strong>Denken</strong>s und Empfindens". Nach Haller (2002: 46-49<br />

sind sie Ausdruck unterschiedlicher Entwicklungsprozesse der <strong>politische</strong>n Gemeinwesen.<br />

104 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 375.<br />

105 Ibd., 150: "An exclusive right to form or alter a government is annexed to society, in every moment <strong>of</strong> its existence."<br />

106 Zum Vertrauensverhältnis bei Locke siehe Euchner (1977: 38) und Dunn (1984: 279ff.), bei <strong>Taylor</strong> Ziff. 7.2 unten.


56<br />

Tradition der Naturrechtsphilosophie des Lockeschen Liberalismus mit dem Schutz verschiedener<br />

natürlicher Rechte des Menschen: dem Recht auf Gewissensfreiheit, auf Gedankenfreiheit und auf<br />

die Früchte der eigenen Arbeit. 107 Daneben legt <strong>Taylor</strong> den Schutz der Naturrechte auch unmittelbar<br />

in die Verantwortung der Behörden. Der Zweck <strong>von</strong> Behörden und <strong>politische</strong>r Gemeinschaft ist der<br />

<strong>St</strong>aatszweck im Lockeschen Sinne: der Schutz und die Erhaltung des Eigentums, unter dem Locke<br />

im weiten Sinne "Leben, Freiheit und Vermögen" verstand. 108 Politische Gemeinschaften werden<br />

mit dem Ziel errichtet, die natürlichen Rechte bzw. das "Eigentum" zu sichern; der mit der Errichtung<br />

<strong>von</strong> Behörden angestrebte Zweck ist einzig und allein die Unterstützung und Förderung dieses<br />

Ziels. 109 Gleichwohl versteht <strong>Taylor</strong> unter Eigentum häufig - wie Locke auch - nur in einem engeren<br />

Sinne das Privateigentum. Dem Schutz des Privateigentums kommt in einer zivilisierten Gesellschaft<br />

eine besondere Bedeutung zu:<br />

The use <strong>of</strong> society, is to secure the fruits <strong>of</strong> his own industry and talents to each associator. Its abuse consists<br />

in artifice or force, for transferring those fruits from some partner to others. Of this abuse, that interest covering<br />

the majority <strong>of</strong> partners is the victim. As the members <strong>of</strong> the government, and the members <strong>of</strong> legal<br />

frauds, both extract power and income from the majority, they are apt to coalesce; and each party to favour<br />

the designs <strong>of</strong> its ally, in their operations upon the common enemy. Hence government love to create exclusive<br />

rights, and exclusive rights cling to government. 110<br />

Der Missbrauch der bürgerlichen Gesellschaft besteht gemäss <strong>Taylor</strong> in der Verletzung der natürlichen<br />

Rechte (vor allem des Rechts auf Privateigentum) eines partner oder associator durch andere Individuen.<br />

Zweck der Behörden ist es, die Gesellschaftsmitglieder vor mächtigen und partikulären<br />

Interessengruppen, denen der einzelne associator hilflos ausgesetzt ist, zu beschützen. <strong>Taylor</strong> präsentiert<br />

in diesem Zusammenhang ein besonders aufschlussreiches Argument: 111 Er vergleicht eine<br />

Gesellschaft, in der sich starke und listige Interessenverbindungen (combinations) gierig und gefrässig<br />

das Privateigentum der einzelnen Gesellschaftsmitglieder aneignen und folglich deren Naturrechte<br />

verletzten, mit dem Hobbesschen Naturzustand. 112 Seiner Meinung nach droht <strong>von</strong> Seiten dieser<br />

Interessengruppen die grösste Gefahr für die Erhaltung des Eigentums. Aus diesem Grund erachte-<br />

107 <strong>Taylor</strong> (1820), Construction Construed, 203: "To understand the rights <strong>of</strong> mankind, the powers <strong>of</strong> government, and the<br />

meaning <strong>of</strong> constitutions, we ought to ascertain the design <strong>of</strong> civil society. Man, by nature, had two rights; to his conscience,<br />

and to his labour; and it was the design <strong>of</strong> civil society, to secure these rights." Siehe auch ibd., 206: "Its [i.e.<br />

societies] end and design is to protect each individual <strong>of</strong> which it is composed, in the enjoyment and exercise <strong>of</strong> his<br />

primitive and natural faculties <strong>of</strong> labour and free will."<br />

108 <strong>Taylor</strong> (1814), Construction Construed, 13. Siehe auch ibd., 203: "Our governments received man, animated by the creator,<br />

with a free will over his mind and his labour; and where instituted to protect the divine bounty". Bei Locke<br />

(1689), Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, § 124, heisst es zum <strong>St</strong>aatszweck: "<strong>Das</strong> grosse und hauptsächliche Ziel,<br />

weshalb Menschen sich zu einem <strong>St</strong>aatswesen zusammenschliessen und sich unter eine Regierung stellen, ist [...] die<br />

Erhaltung des Eigentums."<br />

109 Baritz (1964: 170) und Lloyd (1973: 201) sehen <strong>Taylor</strong> primär in der Tradition Lockes. Lloyd schreibt: "[T]he best<br />

way <strong>of</strong> live for <strong>Taylor</strong> is a free life and the highest purpose <strong>of</strong> government is to protect the life, liberty, and happiness<br />

<strong>of</strong> the people. <strong>Taylor</strong> follows Locke’s modern science <strong>of</strong> politics and man" (ibd.).<br />

110 <strong>Taylor</strong> (1813), Arator, 319.<br />

111 Siehe dazu die Hinweise bei Latner (2003: 206f.) und Mudge (1939: 31f.).<br />

112 <strong>Taylor</strong>, (1821), Defending the Rights and Interests <strong>of</strong> Agriculture, 131: "The several internal combinations suggested and<br />

directed by exclusive interests are analogous to the strong or cunning man in a state <strong>of</strong> nature, exercising force and<br />

fraud over the weak and ignorant." Siehe für die gleiche Analogie auch ders. (1820), Construction Construed, 14: "In assuming<br />

a power <strong>of</strong> distributing property by law, they [i.e. government] have reduced it [i.e. weak man] to its savage<br />

destiny, when subjected to form. From this cause have arisen the most pernicious imperfections <strong>of</strong> society."


57<br />

te er es als eine der wesentlichen Aufgaben <strong>von</strong> Behörden, diese Interessengruppen zu zügeln. <strong>Das</strong><br />

damit einhergehende Problem ist gemäss <strong>Taylor</strong> das zentrale Problem der Politik: Behörden verkörpern<br />

selbst partikulare Interessengruppen, die sich mit anderen special interests gegen diejenigen verbünden,<br />

die sie eigentlich beschützen sollen. 113<br />

Anderswo orientiert sich <strong>Taylor</strong>s Vokabular stärker an utilitaristischen oder klassischrepublikanischen<br />

Konzepten und beschreibt den Zweck der Behörden mit dem "Glück der Nation"<br />

oder dem "Gemeinwohl". So heisst es etwa im Enquiry: "the principle <strong>of</strong> the government, is representation<br />

and responsibility - the end, the common good" 114 ; in Construction Construed: "a government<br />

is substantially good or bad, in the degree that it produces the happiness or the misery <strong>of</strong> a nation"<br />

115 ; und im Inquiry: "a government is good, when it is coupled to the general interest; and bad,<br />

when it is coupled to a particular interest <strong>of</strong> any kind, whether military, hierarchical, feudal, or<br />

stock" 116 . <strong>Taylor</strong> definiert oder erklärt die Begriffe "Glück der Nation" oder "Gemeinwohl" nirgendwo.<br />

Wenn wir uns ihnen gleichwohl inhaltlich nähern wollen, müssen wir uns mit den wenigen<br />

verstreuten Bemerkungen, die sich dazu in seinen Arbeiten finden, zufrieden geben. Von elementarer<br />

Bedeutung für ein glückliches Leben sind für <strong>Taylor</strong> Prinzipien wie Freiheit, Unabhängigkeit und<br />

Arbeitsfleiss. "Political liberty", erklärte er, "consists only in a government constituted to preserve,<br />

and not to deafeat the natural capacity <strong>of</strong> providing for our own good" 117 . An einer anderen <strong>St</strong>elle<br />

heisst es, dass ein natürliches und allgemeines Interesse, das sich durch Prinzipien wie Arbeitsfleiss,<br />

Anstrengung und Begabung auszeichne, die Menschheit regieren solle. 118 <strong>Das</strong> Gemeinwohl kann<br />

gemäss <strong>Taylor</strong> am besten in einer freiheitlichen Ordnung gefördert werden, in der die Behörden auf<br />

den Schutz der natürlichen Rechte des Einzelnen beschränkt sind und dieser die Früchte seiner ehrlichen<br />

geistigen und körperlichen Arbeit geniessen kann. <strong>Taylor</strong>s Gemeinwohlbegriff weist damit<br />

stark libertäre Züge auf und betont den Grundsatz des laissez-faire. 119 Sein Lob auf das Ideal des<br />

unabhängigen Grundbesitzers zeigt jedoch, dass sein Glücksbegriff gleichzeitig auch in klassischrepublikanischem<br />

Gedankengut wurzelt. 120 Überraschend ist dabei der <strong>St</strong>ellenwert, den <strong>Taylor</strong> dem<br />

privaten Glück (private happiness) zuweist. Für sein privates Glück, erklärte er, benötige der Mensch<br />

113 McConnell (1951: 25f.).<br />

114 <strong>Taylor</strong> (1794), An Enquiry, 5. "The common good" gibt <strong>Taylor</strong> mit dem "good <strong>of</strong> the 5'000"000" an, eine Zahl, die in<br />

etwa der Grösse der US-Bevölkerung im Jahr 1794 entspricht (im Jahr 1790 betrug die Einwohnerzahl 3.9 Millionen<br />

bei einem jährlichen Bevölkerungswachstum <strong>von</strong> 3,3 %). Siehe dazu Adams (1999: 56)<br />

115 <strong>Taylor</strong> (1820), Construction Construed, 13. Zur Idee, dass das "Glück des Volkes" das Ziel der Behörden sein müsse,<br />

zitiert <strong>Taylor</strong> im Inquiry zustimmend eine <strong>St</strong>elle aus einem Brief, den <strong>John</strong> Adams im Januar 1776 an <strong>Taylor</strong>s späteren<br />

Schwiegervater <strong>John</strong> Penn geschrieben hat. Siehe <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 453. Adams schreibt dort: "And I suppose<br />

that in this enlightened age, there will be no dispute, in speculation, that the happiness <strong>of</strong> the people, the great end <strong>of</strong><br />

man, is the end <strong>of</strong> government, and therefore that form <strong>of</strong> government which will produce the greatest quantity <strong>of</strong><br />

happiness is best." Brief an <strong>John</strong> Penn, Januar 1776, in: Adams (2000: 491). Die im Brief an <strong>John</strong> Penn wiedergegebenen<br />

Ideen widerspiegeln in weiten Teilen die in Adams’ Thoughts on Government (1776) enthaltenen Ausführungen.<br />

116 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 75, 84.<br />

117 <strong>Taylor</strong> (1822), Tyranny Unmasked, 17.<br />

118 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 299: "This essay has been written for the purpose <strong>of</strong> inquiring by what interest mankind ought<br />

to be governed, natural and general, or artificial and particular. It considers industry, effort and talents, as constituting<br />

the first class, and law and charters, for enriching individuals and factions, as constituting the second."<br />

119 Siehe für die Rolle, die <strong>Taylor</strong> dem <strong>St</strong>aat im Bereich der Wirtschaft zuweist, Ziff. 4 unten.<br />

120 Für <strong>Taylor</strong>s Ideal des tugendhaften Farmers siehe Ziff. 5.2 unten.


58<br />

ein Heim, Unabhängigkeit und Musse. 121 Für <strong>Taylor</strong> ist der Mensch am glücklichsten als sein eigener<br />

Herr auf seiner eigenen Farm. Dafür ist zwar ein gewisser materieller Wohlstand nötig, trotzdem<br />

drängen die <strong>Taylor</strong>schen Elemente des privaten Glücks das <strong>St</strong>reben nach materiellem Erfolg in den<br />

Hintergrund. <strong>Taylor</strong>s republikanisches Ideal vom privaten Glück schwächte so sein liberales, materialistisches<br />

Menschenbild ab. Der Mensch, obwohl primär vom Eigeninteresse geleitet, muss für ein<br />

glückliches Leben nicht rücksichtslos unbegrenztem materiellem Wohlstand hinterher jagen.<br />

Es ist fraglich, ob <strong>Taylor</strong> die aktive Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten, sprich den<br />

Dienst für das Gemeinwesen als einen Wert für sich betrachtete, ohne den der Mensch nicht fähig<br />

ist, das ihm eigene Potential zu realisieren. Es scheint, dass <strong>Taylor</strong> den Menschen wenigstens nicht<br />

in einem wesentlichen Sinne als "<strong>politische</strong>s Wesen", als <strong>St</strong>aatsbürger im Sinne <strong>von</strong> Aristoteles und<br />

der klassisch-republikanischen Tradition verstanden hat, als ein Wesen, das für sein Glück und die<br />

vollständige Realisierung seines menschlichen Potentials die Teilnahme am Gemeinwesen benötigt.<br />

122 Für <strong>Taylor</strong> war der Mensch in erster Linie vielmehr ein privates, individuelles Wesen. In der<br />

staatlichen Ordnung erblickte er lediglich ein Mittel zum Zweck, demjenigen der Freiheit nämlich.<br />

Public happiness ist die Voraussetzung für private happiness. 123 Den Behörden kommt die Aufgabe zu,<br />

für die Erhaltung der natürlichen Rechte zu sorgen. Um zu verhindern, dass sie dabei die ihr übertragene<br />

Macht missbraucht, müssen bei ihrer Einrichtung bestimmte Prinzipien wie z.B. Machtteilung<br />

und Selbstregierung des Volkes beachtet werden. 124 Die natürliche Fähigkeit, für sich selbst zu<br />

sorgen und über sich selbst zu bestimmen, zeigt gerade, dass <strong>Taylor</strong> den Menschen - abgesehen <strong>von</strong><br />

seinem intellektuellen und ökonomischen Austauschbeziehungen - als ein in erster Linie auf sich<br />

selber gestelltes, privates Wesen, eben als Individuum wahrgenommen hat. Diese Haltung widerspiegelt<br />

sich in <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>s Persönlichkeit, in seiner Bereitschaft, sich für das <strong>politische</strong> Gemeinwesen<br />

einzusetzen und aktiv als Politiker in die <strong>politische</strong>n Prozesse in Richmond (der Hauptstadt<br />

seines Heimatstaats Virginia), Philadelphia (dem Sitz der Bundeshauptstadt bis 1801) oder Washington<br />

einzugreifen. Während seines ganzen Lebens sieht er im landwirtschaftlichen Tätigsein den<br />

besten Weg, sowohl einen Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft zu leisten als auch das eigene Wohlbefinden<br />

zu sichern. Diese Haltung ist zusammen mit seinem chronisch schlechten Gesundheitszustand<br />

verantwortlich dafür, dass <strong>Taylor</strong> das <strong>politische</strong> Engagement immer als Mühsal und Bürde<br />

empfand. Nichtsdestoweniger hatte er den <strong>von</strong> seinem Onkel Edmund Pendleton vorgelebten Sinn<br />

121 <strong>Taylor</strong> (1814), Tyranny Unmasked, 88: "The first objects <strong>of</strong> his solicitude are, a home, independence, and leisure.<br />

Where land is good, cheap, and plenty, he will certainly estimate the prospect <strong>of</strong> acquiring these objects, either by becoming<br />

the owner <strong>of</strong> a farm, or a day labourer for hire." Ebenso ders. (1823), New Views, 307: "[...] the first object <strong>of</strong><br />

human nature, namely, domestick happiness." Gemäss Tate (2001: 220) besteht privates Glück bei <strong>Taylor</strong> aus einer<br />

Familie, einer Farm und Musse.<br />

122 Zum Menschenbild des klassischen Republikanismus siehe Pocock (1985: 37-50), Sheldon (1991: 8f.) und Schloss<br />

(2003: 34ff.).<br />

123 Siehe zum Aspekt der public and private happiness (als Ziele des Menschen und der Gesellschaft) in <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong><br />

Tate (2001: 219f.). Tates Darstellung erweckt den Eindruck, <strong>Taylor</strong> habe den Menschen sowohl als privates wie auch<br />

als <strong>politische</strong>s Wesen im Sinne Aristoteles verstanden. Meiner Ansicht nach ist Tates Interpretation zu konstruiert<br />

und werden die sie stützenden <strong>St</strong>ellen aus <strong>Taylor</strong>s Werk zu sehr aus ihrem Zusammenhang gerissen.<br />

124 Siehe für den Zusammenhang <strong>von</strong> Machtteilung und öffentlichem Glück, <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 133: "Powerful and<br />

wealthy orders, in no country under any form <strong>of</strong> government, have existed in union with national happiness; a system<br />

therefore, which proposes so to balance them, as compel them to be subservient to it, is not experimental, and<br />

only a theory."


59<br />

für die Pflichten eines Gentleman geerbt und damit die Bereitschaft, dem Gemeinwesen, wenn es<br />

ihn brauchte und nach ihm rief, zu dienen. 125<br />

Kommen wir zu unserer Ausgangsfrage nach dem Zweck des <strong>St</strong>aates, genauer nach dem der <strong>politische</strong>n<br />

Vergesellschaftung und der Behörden zurück. <strong>Taylor</strong>s Antwort darauf lautet: Schutz und<br />

Erhaltung der Freiheit, sprich der natürlichen Rechte des Menschen, in der Lockeschen Terminologie<br />

des Eigentums ("Freiheit, Leben und Vermögen"). Dieser <strong>St</strong>aatsaufgabe dienen, wie bei Locke,<br />

alle anderen <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> genannten <strong>St</strong>aatszwecke: der Frieden, die Sicherheit und öffentliche Wohlfahrt<br />

der Vereinigten <strong>St</strong>aaten (<strong>St</strong>aatszwecke des Bundes) und der privaten Individuen (<strong>St</strong>aatszwecke<br />

der Einzelstaaten), die Sorge um die Moral, die Interessen und das Glück der Individuen (die ebenfalls<br />

bei den Einzelstaaten liegt) oder die Verwaltung der Gerechtigkeit, die Verhinderung oder Bestrafung<br />

<strong>von</strong> Verbrechen, die Sorge um die Armen, die Beseitigung sonstiger Missstände und die<br />

Erhaltung <strong>von</strong> <strong>St</strong>rassen und Brücken (die <strong>Taylor</strong> den Einzelstaaten und den lokalen Verwaltungseinheiten,<br />

den <strong>St</strong>ädten und Grafschaften, zuordnet). 126 Bei <strong>Taylor</strong> ist der <strong>St</strong>aat, wie auch bei Locke,<br />

in erster Linie ein <strong>St</strong>aat der (Land-)Eigentümer. Nur der Eigentümer ist Vollbürger und Mitglied der<br />

<strong>politische</strong>n Gemeinschaft, nur er kann Vertreter in die Behörden wählen. 127 <strong>Taylor</strong>s <strong>St</strong>aat ist damit<br />

klassisch liberaler Natur und kommt, indem er seine <strong>St</strong>aatsfunktionen hauptsächlich auf den Schutz<br />

individueller Rechte, vor allem aber auf den des privaten Eigentums beschränkt, der Figur des<br />

"Nachtwächterstaates" nahe. 128 Wie aber der obige Verweis auf die Aufgaben der Einzelstaaten und<br />

der lokalen Verwaltungseinheiten zeigt, lehnt <strong>Taylor</strong> <strong>St</strong>aatseingriffe, wenn auch auf ein äusserst<br />

minimales Mass reduziert, nicht grundsätzlich ab. Vielmehr stand seine Forderung nach laissez-faire,<br />

nach einer Beschränkung staatlicher Eingriffe, in Abhängigkeit zur jeweiligen Ebene des föderalen<br />

amerikanischen <strong>St</strong>aatsmodells. 129<br />

Man würde den Gegenstand der Behörden (government) in <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> nur unvollständig verstehen,<br />

wenn man nicht auf eine Thematik zu sprechen käme, der wir uns abschliessend zuwenden<br />

wollen. Einer Tradition des Whig-<strong>Denken</strong>s folgend, hegte <strong>Taylor</strong> ein starkes, fast schon paranoides<br />

125 Auf <strong>Taylor</strong>s Bevorzugung der Sphäre des Privaten gegenüber der Sphäre des Öffentlichen weisen Shalhope (1980a:<br />

34) und McClellan (2000: xix f.) hin. Shalhope (1980a: 34) betont, dass <strong>Taylor</strong> "did [...] maintain a firm commitment<br />

to farming as the best way for him to contribute to society as well as to insure his own pleasure". Für McClellan<br />

(2000: xix-xx) war <strong>Taylor</strong> "not the type to strut upon the stage seeking popular acclaim. Notwithstanding the entreaties<br />

<strong>of</strong> his friends and colleagues, he preferred the solicitude <strong>of</strong> plantation life and his private library to the limelight<br />

and bustle <strong>of</strong> Capitol Hill". Eine ganz ähnliche Haltung findet sich bei Jefferson. Siehe dazu Mayer (1994: 325): "His<br />

distrust was especially deep with respect to politics, which he regarded as far less personally satisfying than such pursuits<br />

as farming, agriculture, and music. [...] 'The greatest service which can be rendered any country is' he wrote, 'to<br />

add a useful plant to its culture'."<br />

126 <strong>Taylor</strong> (1820), Construction Construed, 94, 181, 214 und 217. <strong>Taylor</strong> spricht <strong>von</strong> "defence and welfare <strong>of</strong> the united<br />

states", <strong>von</strong> "defence and welfare <strong>of</strong> private individuals" (ibid., 214) bzw. <strong>von</strong> "the care <strong>of</strong> the morals, interest and<br />

happiness <strong>of</strong> individuals" (ibid., 181) oder <strong>von</strong> den "towns, counties, and other sectional divisions, necessary for civil<br />

government, for the administration <strong>of</strong> justice, the prevention or punishment <strong>of</strong> crimes, the care <strong>of</strong> the poor, the removal<br />

<strong>of</strong> nuisances, and the preservation <strong>of</strong> roads, streets and bridges" (ibid., 94).<br />

127 Für die Charakterisierung des <strong>Taylor</strong>schen <strong>St</strong>aates als (Land-)Eigentümerstaat siehe Ziff. 2.3.3 und Ziff. 7.3 unten.<br />

Für Lockes Eigentümerstaat siehe Euchner (1977: 38f.).<br />

128 Die Figur des Nachtwächterstaates ist nach Schmidt (1995b: 629) eine spöttische Bezeichnung für das "vom klassischen<br />

Liberalismus favorisierte <strong>St</strong>aatsideal, dass die <strong>St</strong>aatsfunktionen hauptsächlich auf den Schutz individueller<br />

Rechte, insb. des privaten Eigentums, beschränkte und alle anderen <strong>St</strong>aatseingriffe, z.B. zu sozial<strong>politische</strong>n<br />

Zwecken, ablehnte".<br />

129 Siehe dazu Ziff. 9.3 unten.


60<br />

Misstrauen gegenüber den Behörden. 130 Dieses Misstrauen teilte er mit Jefferson, der in der <strong>von</strong> ihm<br />

entworfenen Kentucky-Resolution <strong>von</strong> 1798 bemerkte: "free government is founded in jealousy and<br />

not in confidence." Daher sei der Zweck einer Verfassung, den Behörden Grenzen zu setzen, "to<br />

bind down those whom we are obliged to trust with power". 131 In einem ähnlichen Tonfall wie Jefferson<br />

erklärte <strong>Taylor</strong>: "Jealousy by a government <strong>of</strong> a nation, is always criminal, because a nation<br />

cannot usurp its own rights; but jealousy by a nation <strong>of</strong> a government, is always laudable, because a<br />

government may usurp the rights <strong>of</strong> a nation." 132 <strong>Das</strong> Misstrauen gegenüber Regierungen bildet die<br />

Voraussetzung für die Verteidigung der Rechte des Volkes. Gemäss <strong>Taylor</strong> neigen Regierungen inhärent<br />

dazu, die Rechte ihrer Bürger zu verletzen, anstatt sie zu beschützen. Sie betrügen, täuschen<br />

vor und schmeicheln, um so ihr eigenes Machtstreben auf Kosten der Freiheit und der Rechte des<br />

Volkes befriedigen zu können. Regierungen seien treffender als Tyrannen (tyrants) denn als Diener<br />

(servants) des Volkes zu bezeichnen. 133 Nachfolgend soll ein Überblick über die Gründe für dieses<br />

starke, beinahe paranoide Misstrauen gegenüber Regierungen gegeben werden. 134 Es geht vor allem<br />

darum zu zeigen, dass <strong>Taylor</strong> nicht allen Regierungen gleich stark misstraute und er, trotz seines<br />

Misstrauens, den <strong>von</strong> Thomas Paine und anderen Denkern vertretenen Gedanken, bei Regierungen<br />

handle es sich um ein "notwendiges Übel" (necessary evil), als absurde Idee (absurd idea) ablehnte. 135<br />

Die Wurzeln <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Misstrauen finden sich in seiner Ablehnung <strong>von</strong> jeglicher Form <strong>von</strong><br />

konzentrierter Macht. Konzentrierte und permanente <strong>politische</strong> wie ökonomische Macht zeichnen<br />

sich nach <strong>Taylor</strong> durch etwas Pathologisches, Dämonisches aus. Er sieht im Menschen kein Wesen,<br />

dessen Charakter so stark ist, als dass es massvoll und mit Selbstbescheidung schrankenlose Macht<br />

ausüben könnte. "Accumulation and permanence <strong>of</strong> power or wealth", schreibt <strong>Taylor</strong>, "arouse and<br />

excite certain evil moral qualities, which perpetually strive to govern by the principles <strong>of</strong> force and<br />

fraud". Herrschaftsgewalt, "considered as a monopoly", ist nach <strong>Taylor</strong> stets ein "necessary evil",<br />

130 Gemäss Wood (1969: 18, 20) ist der Bereich des "Politischen" in der Tradition des angloamerikanischen Whig-<br />

<strong>Denken</strong>s durch einen ewigen und unausweichlichen Kampf zwischen den Herrschern und ihren Leidenschaften auf<br />

der einen und dem geeinten Interesse des Volkes auf der anderen Seite charakterisiert. Der Gedanke dieses Gegensatzes<br />

findet sich etwa im berühmten Cato’s Letter: "Whatever is good for the People is bad for their Governors; and<br />

what is good for the Governors, is pernicious for the People." Trenchard & Gordon (1748), "Cato’s letter: Or,<br />

Essays on Liberty, Civil and Religous and Other Important Subjects", II, 249, zitiert nach: Wood (1969: 18). Siehe<br />

auch: "The notion <strong>of</strong> a perpetual danger to liberty is inseparable from the very notion <strong>of</strong> government." Bolingbroke<br />

(1754), "Remarks on the History <strong>of</strong> England", Works, I, 280, zitiert nach: Banning (1978: 58). Auf diesen Gegensatz<br />

weist auch Mudge (1939: 50) hin, wenn er bemerkt, dass "throughout <strong>Taylor</strong>'s writing, a constant opposition is set up<br />

between the people or the nation and the government".<br />

131 The Kentucky-Resolutions <strong>of</strong> 1798, Art. 9, in: Watkins (2004: 168). Zur Rolle des Misstrauens in Jeffersons <strong>politische</strong>r<br />

Philosophie, siehe Mayer (1994: 320-329).<br />

132 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 416.<br />

133 <strong>Taylor</strong> (1804/5), Defence <strong>of</strong> Jefferson, 3: "Devoted to liberty and justice, the history <strong>of</strong> the world should teach you, as<br />

you wish to preserve them, to be jealous and vigilant. It should teach you that rulers are more apt to be tyrants than<br />

servants: and that, with whatever sanctity they may declare themselves the friends and guardians <strong>of</strong> your rights, they<br />

are most apt [...] to subvert them by a criminal career <strong>of</strong> ambition. It is true, that they generally flatter to betray you;<br />

and that while they are busied in the immolation <strong>of</strong> liberty, they are loudest in its praise."<br />

134 Siehe für eine eingehendere Behandlung dieser Thematik Ziff. 3.3.4 unten.<br />

135 <strong>Taylor</strong> (1820), Construction Construed, 13. Siehe zu den Behörden als einem necessary evil auch Thomas Paine (1776),<br />

Common Sense, 17: "Society in every state is a blessing, but Government, even in its best state, is but a necessary evil;<br />

in its worst state an intolerable one." Siehe zur spezifisch amerikanischen Tradition des Misstrauens gegenüber dem<br />

<strong>St</strong>aat und zu <strong>Taylor</strong> in dieser Tradition, Wills (1999: 15-22, 127-133).


61<br />

wenn sie auf konzentrierter und unverantwortlicher Macht gründet. Ein Monopol, das ausschliessliche<br />

Vorrechte einräume, errege fortdauernd die Habgier (avarice) und das Machtstreben (ambition)<br />

seiner Inhaber, zu deren Befriedigung immer auf Mittel wie Gewalt und Betrug zurückgegriffen<br />

werde. Monopole, die unbeschränkte Macht übertragen, sind für <strong>Taylor</strong> die Wurzeln der bürgerlichen<br />

Tyrannei (civil tyranny) und verantwortlich dafür, dass Regierungen als "notwendiges Übel"<br />

bezeichnet werden. 136<br />

Ein "gutes Monopol" zeichnet sich nach <strong>Taylor</strong> nicht nur dadurch aus, dass es Macht teilt und<br />

verantwortlich hält, sondern auch durch die Vorenthaltung bestimmter Machtbefugnisse. Die Vorstellung,<br />

dass Regierungen ein necessary evil darstellen, heisst es in Construction Construed, habe sich<br />

wahrscheinlich aufgedrängt, weil Behörden gewöhnlich mit einer "Armee <strong>von</strong> überflüssigen Machtbefugnissen"<br />

ausgestattet seien, die für die Erreichung ihres eigentlichen Zwecks - die Erhaltung <strong>von</strong><br />

"sozialem Frieden" und "sozialer Sicherheit" - gänzlich unnötig seien, wie etwa die Befugnis zur<br />

Verleihung oder Verschenkung <strong>von</strong> Eigentum. 137 Eine solche Kompetenz führt nach <strong>Taylor</strong> zusammen<br />

mit der Neigung der <strong>St</strong>aatsgewalt, ihre Macht zu missbrauchen, zu Tyrannei und Despotismus.<br />

138 Ein gutes Monopol hingegen erlaube zwar nach wie vor die Verfolgung der Eigeninteressen<br />

(Habgier und Machtstreben), schliesse aber den Rückgriff auf betrügerische und gewaltsame<br />

Mittel (force and fraud) zur Verfolgung dieser Interessen aus. Ein derartiges Monopol räumt zwar ein<br />

ausschliessliches Verfügungsrecht ein (etwa die ausschliessliche Verfügungsgewalt über das eigene<br />

Vermögen oder die alleine den Behörden zustehende Ausübung <strong>von</strong> Zwangsgewalt), sein Inhaber ist<br />

aber gleichzeitig an Schranken gebunden und untersteht der Kontrolle. Während sich das Privateigentum<br />

an die vom <strong>St</strong>raf- und Zivilrecht gesetzten Schranken zu halten hat, wird die Herrschaftsgewalt<br />

im Verfassungssystem der Vereinigten <strong>St</strong>aaten geteilt und kontrolliert. Zudem hat sie sich an<br />

die Schranken der natürlichen Rechte und des Verfassungsrechts zu halten. Der Weg, auf dem die<br />

schädliche Erregung <strong>von</strong> avarice und ambition verhindert werden kann, ist der einer Aufteilung und<br />

Kontrolle <strong>von</strong> Macht (division <strong>of</strong> power). 139 Behörden, deren Macht geteilt ist und kontrolliert wird,<br />

befördern, wie <strong>Taylor</strong> bemerkt, das Glück und das Wohlergehen der Menschen und können als ein<br />

"notwendiges Gut" bezeichnet werden. 140<br />

136 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 283.<br />

137 <strong>Taylor</strong> (1820), Construction Construed, 13. Siehe ebenso ders. (1814), Inquiry, 543: "Government has been called a necessary<br />

evil, on account <strong>of</strong> the propensity <strong>of</strong> governours to sacrifice the publick good to their own selfishness."<br />

138 Siehe zu den Gründen, <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 425: "Government must have infinitely more bad thoughts than nations,<br />

because they can acquire wealth and power by their bad thoughts; whereas a nation, by theirs can only gain misfortune<br />

or despotism" <strong>Taylor</strong>s Misstrauen gegenüber dem <strong>St</strong>aat und dessen Begründung (die Sorge um die Sicherung<br />

des Privateigentums vor dem Zugriff eines allmächtigen <strong>St</strong>aates) wurde <strong>von</strong> den wohlhabenden Kreisen seines Heimatstaates<br />

(etwa <strong>von</strong> Thomas Jefferson und James Madison) geteilt und ist, wie Hodges (1947: 325) zeigt, typisch für<br />

Virginias anti-governmentalism zur Zeit der frühen Republik.<br />

139 Man beachte, dass die Verknüpfung <strong>von</strong> Machtteilung und Monopol im Grunde den (absoluten) Monopolcharakter<br />

der Behörden beseitigt. <strong>Das</strong> eigentliche Machtmonopol ruht folglich in der souveränen Nation, im realen Souverän<br />

der <strong>politische</strong>n Gemeinschaft. Siehe zur Idee der Machtteilung die Ausführungen zu <strong>Taylor</strong>s Theorie der moralischen<br />

Prinzipien unter Ziff. 3.3 unten.<br />

140 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 283f.: "By banishing fraud and force, as means <strong>of</strong> acquiring private property, its [i.e. property’s]<br />

protection begets beneficial effects; and by forbearing to excite avarice and ambition by fraudulent laws and<br />

separate interests, government produce human happiness and comfort, and be considered as a necessary good [sic!].<br />

It has been our policy, so divide power, and diminish the excitements <strong>of</strong> avarice and ambition, as to wring out <strong>of</strong> its<br />

soul the poisons arising from the evil qualities <strong>of</strong> monopoly [...]."


62<br />

2.3. Der Mensch und seine natürlichen Rechte<br />

Begünstigt durch die Rechtsentwicklung in England (Habeas Corpus-Akte <strong>von</strong> 1679, Bill <strong>of</strong> Rights<br />

<strong>von</strong> 1689) und durch die naturrechtliche Lehre <strong>von</strong> den unveräusserlichen Menschenrechten<br />

(Locke), welche die geistigen Grundlagen bereitete, war es den amerikanischen Gründervätern möglich<br />

gewesen, die wichtigsten Freiheiten als allgemeine Menschen- und Bürgerrechte in Rechtserklärungen<br />

zu proklamieren. Der Gedanke an unveräusserliche Menschenrechte war in der frühen<br />

Republik nicht mehr bloss abstrakte Theorie, sondern vielmehr Verfassungswirklichkeit geworden.<br />

141 In der Auseinandersetzung mit dem Mutterland hatte er neben den Rechten der Kolonisten<br />

als geborenen Engländern (no taxation without representation) eine bedeutende Rolle gespielt und war in<br />

die grossen <strong>St</strong>aatsdokumente der Amerikanischen Revolution, in die Erklärung der Menschenrechte<br />

<strong>von</strong> Virginia (Virginia Bill <strong>of</strong> Rights) vom 12. Juni 1776 und in die <strong>von</strong> Thomas Jefferson entworfene<br />

amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 eingeflossen, wo er erstmals als positives,<br />

auch das Parlament bindendes Verfassungsrecht verankert wurde. 142 Die <strong>von</strong> Jefferson ausgearbeitete<br />

Unabhängigkeitserklärung bezeichnete es als selbstverständliche Wahrheit, "dass alle Menschen<br />

gleich geschaffen" und "<strong>von</strong> ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten ausgestattet<br />

sind", beschränkte sich bei der Auflistung dieser Rechte aber auf den Hinweis, dass zu ihnen das<br />

Recht auf "Leben, Freiheit und das <strong>St</strong>reben nach Glück" gehört. 143 Die Rechtserklärung <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s<br />

Heimatstaat erlangte Vorbildcharakter für die anderen <strong>St</strong>aaten der Union (z.B. für Pennsylvania,<br />

Maryland, North Carolina und Massachusetts), die nach der Erklärung ihrer Unabhängigkeit ähnliche<br />

Bill <strong>of</strong> Rights in ihre Verfassungen aufnahmen. 144 Die Bill <strong>of</strong> Rights <strong>von</strong> Virginia verkündete in<br />

naturrechtlicher Tradition die angeborenen Rechte aller Menschen (Art. 1), Verfassungsprinzipien<br />

wie die Volkssouveränität und den repräsentativen und treuhänderischen Charakter der Behörden<br />

(Art. 2) sowie die daraus folgende Konsequenz, dass die Mehrheit des Volkes bei Missbrauch durch<br />

die Behörden die Verfassung reformieren darf, erklärte die feudale Ämterwirtschaft und erbliche<br />

Privilegien für unzulässig (Art. 3) und schrieb das Prinzip der Gewaltentrennung (Art. 5) und freie<br />

Wahlen zu allen Ämtern (Art. 6) vor. Weitere Artikel enthalten prozess- und strafprozessrechtliche<br />

Garantien (Art. 8-11) wie den Habeas Corpus-Schutz (in Art. 8). Bestandteil des Grundrechtekatalogs<br />

sind auch klassische Freiheitsrechte wie die Pressefreiheit (Art. 12) und die Religionsfreiheit<br />

(Art. 16), 145 sowie die Betonung des Primats der Politik vor der militärischen Gewalt und der "wohlgeordneten<br />

Miliz" als Beschützer eines freien <strong>St</strong>aates (Art. 13).<br />

141 Dies galt freilich nicht für die schwarze Bevölkerung, die erst mit den nach dem Sezessionskrieg in den Jahren 1865<br />

bis 1870 ratifizierten Civil-War Amendments XIII bis XV (Abschaffung der Sklaverei, Gleichbehandlungsgebot, Verbot<br />

der Rassendiskriminierung bei der Wahrnehmung des <strong>St</strong>immrechts) auf Bundesebene die Freiheitsrechte zugesprochen<br />

erhielt. Die Gewährung der gleichen Grundrechte durch die Bundesverfassung bedeutete jedoch noch lange<br />

nicht die faktische Gleichstellung. Diese blieb der afroamerikanischen Bevölkerung aus rassischen Gründen noch<br />

lange versagt. Siehe dazu Haller & Kölz (1999: 301), Hübner (2003: 30f.) und Adams (1999: 94-97).<br />

142 Zippelius (1999: 329f.); Haller & Kölz (1999: 299ff.); Loewenstein (1957: 335f.).<br />

143 Ein Abdruck der Unabhängigkeitserklärung findet sich im Anhang bei Wasser (1989: 469-477). Siehe ibd., 469.<br />

144 Die Erklärung der Menschenrechte <strong>von</strong> Virginia vom 12. Juni 1776 ist ebenfalls abgedruckt in Wasser (1989: 464-<br />

468). Einen Überblick über sie geben Braun, Heine & Opolka (1984: 187).<br />

145 Artikel 12: "Die Pressefreiheit ist eines der stärksten Bollwerke der Freiheit und kann niemals, ausser durch despotische<br />

Regierungen, eingeschränkt werden." Artikel 16: "Religion [...] und die Art, wie wir sie erfüllen, kann lediglich<br />

durch Vernunft oder Überzeugung bestimmt werden, nicht durch Zwang oder Gewalt, und deshalb haben alle Men-


63<br />

Die Bundesverfassung <strong>von</strong> 1787 enthielt anfänglich keinen eigentlichen Grundrechtekatalog und<br />

erwähnte nur wenige grundlegende Rechte des Einzelnen. 146 Schon zwei Jahre nach ihrem Inkrafttreten<br />

wurden auf Druck der Verfassungsgegner und auf Empfehlung des ersten Kongresses zehn<br />

<strong>von</strong> James Madison entworfene Amendments (Zusatzartikel) in die Verfassung aufgenommen, die<br />

eine breite Palette <strong>von</strong> Grundrechten garantieren. 147 Madison brachte in den zehn Verfassungszusätzen<br />

insgesamt 27 Grundrechte unter. 148 Im ersten Zusatzartikel finden sich gleich fünf klassische<br />

Freiheitsrechte: die Gewissensfreiheit, die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Versammlungsund<br />

Petitionsfreiheit. 149 Der zweite Zusatzartikel sichert die Einrichtung der <strong>St</strong>aatenmilizen und das<br />

Primat der zivilen Gewalt vor dem Militär sowie das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu<br />

tragen. Die nächsten fünf Zusatzartikel garantieren den Schutz der Privatsphäre (Schutz <strong>von</strong> Wohnung,<br />

Akten, Eigentum vor willkürlicher Durchsuchung) und gewähren wichtige prozedurale<br />

Schutzrechte, darunter den Anspruch auf einen Geschworenenprozess und Rechtsbeistand sowie<br />

das Verbot grausamer Bestrafung und entschädigungsloser Enteignung. Der neunte Verfassungszusatz<br />

garantiert, dass diejenigen natürlichen Rechte des Volkes, die nicht schriftlich niedergelegt<br />

sind, weiterhin ihre Geltung behalten. Der zehnte Verfassungszusatz verbietet dem Bund, seine verfassungsmässigen<br />

Befugnisse eigenmächtig zu Lasten der <strong>St</strong>aaten oder des Volkes zu erweitern.<br />

Dieser kurze Überblick zeigt, dass der Gedanke vorstaatlicher, unveräusserlicher, dem Einzelnen<br />

zukommender Grundrechte zur Zeit der frühen Republik in der Rechtskultur und der <strong>politische</strong>n<br />

Kultur Virginias fest verankert war. <strong>Taylor</strong>s Grundrechtsdenken gründet auf der Grundrechtetradition<br />

seines Heimatstaates und der angloamerikanischen Rechtskultur. Vor <strong>Taylor</strong> lagen mit der Bill <strong>of</strong><br />

Rights seines Heimatstaates (der erste Menschenrechtskatalog der Welt), mit den Menschenrechtserklärungen<br />

der anderen Unionsstaaten, mit der Unabhängigkeitserklärung und mit den ersten zehn<br />

Amendments der Unionsverfassung die "wegbereitenden Erklärungen" der Menschenrechte. 150 Für<br />

<strong>Taylor</strong> gab es damit keine Gründe, die Idee der Menschenrechte nochmals <strong>von</strong> ihrem Ursprung her<br />

durchzudenken. Als Vertreter der Aufklärung waren ihm diese Rechte wohlvertraut. 151 Seine Beschen<br />

einen gleichen Anspruch auf freie Ausübung der Religion nach den Geboten ihres Gewissens." In: Wasser<br />

(1989: 467, 468).<br />

146 Siehe etwa den Habeas Corpus-Schutz in Art. 1 Sec. 9 (2) Cst.. Zu den Grundrechten in der amerikanischen Bundesverfassung<br />

siehe Haller & Kölz (1999: 301) und Zippelius (1999: 330).<br />

147 <strong>Das</strong> Fehlen einer Bill <strong>of</strong> Rights war einer der Hauptkritikpunkte der Antifederalists gegenüber der Verfassung. Der<br />

Verfassungskonvent <strong>von</strong> Philadelphia hatte eine solche noch abgelehnt, da er da<strong>von</strong> ausging, dass den Bundesbehörden<br />

nur die ihnen übertragenen Befugnisse zukommen und aus diesem Grund eine Rechtserklärung, die ausdrücklich<br />

die Rechte des Volkes auflistet, nicht notwendig ist. Im Wettstreit um die Ratifikation der Verfassung konnten die<br />

Federalists verschiedene <strong>St</strong>aaten erst für sich gewinnen, nachdem sie versprochen hatten, die Verfassung nach ihrer<br />

Annahme um eine Reihe <strong>von</strong> Verfassungsänderungen zu ergänzen, u.a. mit einer Grundrechteerklärung. Siehe dazu<br />

Kelly, Harbison & Belz (1991: 118f.) und Heideking (1998: 68ff.).<br />

148 Heideking (1998: 69).<br />

149 Zusatzartikel 1 der US-Verfassung lautet: "Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer <strong>St</strong>aatsreligion<br />

zum Gegenstand hat, die freie Religionsausübung verbietet, die Rede- oder die Pressefreiheit oder das Recht<br />

des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung durch Petitionen um Abstellung <strong>von</strong> Missständen<br />

zu ersuchen."<br />

150 Zippelius (1999: 330); siehe dazu auch Braun, Heine & Opolka (1984: 185).<br />

151 Gemäss Hill (1977: 39) vertrat <strong>Taylor</strong> "traditional Enlightenment values" bzw. "doctrines <strong>of</strong> the early Enlightenment".<br />

Nach O'Brien (2004: 788) war <strong>Taylor</strong> ein "philosopher <strong>of</strong> the Enlightenment".


64<br />

schäftigung mit ihnen fand vor dem Hintergrund einer Gesellschaft statt, die ihre Rechte bereits in<br />

einer Reihe <strong>von</strong> staatlichen Dokumenten festgehalten und niedergeschrieben hatte und die nun<br />

damit beschäftigt war, diesen Rechten im Verfassungsalltag Beachtung zu verschaffen und sie gegen<br />

eine öffentliche Gewalt (vor allem gegen diejenige des Bundes) zu sichern, die eben erst eingesetzt<br />

worden war und die mit ihren Hoheitsakten eine wachsende Bedrohung für die Freiheit des Einzelnen<br />

darstellte. <strong>Taylor</strong>s Diskussion der Naturrechte kann nur im Zusammenhang mit der Ausweitung<br />

der Bundesgewalt in den 1790er Jahren verstanden werden und ist vor dem Hintergrund <strong>von</strong><br />

Alexander Hamiltons Wirtschaftsprogramm und den Gesetzen gegen Fremde und Aufruhr (Alien<br />

and Sedition Acts) <strong>von</strong> 1798 zu lesen. Allgemein widerspiegelt sie seine Furcht, das Wachstum des<br />

eben erst errichteten amerikanischen "Nationalstaates" folge der Entwicklung des fiscal-military state in<br />

England und dem Vorbild der absolutistischen Monarchien Europas. 152<br />

2.3.1. Funktion und Wesen der Grundrechte bei <strong>Taylor</strong><br />

Grundrechte erfüllen gemäss <strong>Taylor</strong> drei Funktionen, die eng miteinander in Verbindung stehen. Sie<br />

garantieren erstens einen Raum individueller Freiheit, beschränken zweitens die <strong>St</strong>aatsgewalt und<br />

schaffen drittens die Grundlagen für einen freien öffentlichen Diskurs.<br />

(1) Grundrechten kommt nach <strong>Taylor</strong> zuallererst im klassisch liberalen Sinn die Funktion zu,<br />

einen Bereich individueller, privater Freiheit vor dem Eindringen der <strong>St</strong>aatsgewalt zu bewahren.<br />

<strong>St</strong>aat und Gesellschaft bilden zwei <strong>von</strong>einander getrennte Bereiche, wobei der Freiheit der Gesellschaft<br />

(und ihrer Mitglieder) vor allem <strong>von</strong> Seiten des <strong>St</strong>aats Gefahr droht. Freiheitsrechte stehen im<br />

Gegensatz zu einer absolutistischen <strong>St</strong>aatsordnung. 153 Im Inquiry heisst es, dass eine Nation, die alle<br />

ihre Rechte an den <strong>St</strong>aat abtrete, nicht frei sein könne, denn Freiheit bestehe im Besitz <strong>von</strong> Rechten<br />

jenseits des Zugriffs und unabhängig vom Willen einer anderen Person, Sklaverei im Fehlen solcher<br />

Rechte. 154 Für <strong>Taylor</strong> sind Rechte, die in ihrem Ursprung nicht vom Willen einer anderen Person<br />

abhängig sind und einen Bereich festlegen, auf den <strong>von</strong> aussen nicht zugegriffen werden kann,<br />

Naturrechte - natural rights. Träger dieser Grundrechte sind alle Menschen. Sie stehen jedem Indivi-<br />

152 Siehe hierzu Mudge (1939: 46): "<strong>Taylor</strong>’s theme <strong>of</strong> the rights <strong>of</strong> individuals and <strong>of</strong> nations is developed exclusively as<br />

a challenge to the growing usurpations <strong>of</strong> the Federal government and that the problems <strong>of</strong> the relations <strong>of</strong> national<br />

right to individual right and similar philosophical issues are never discussed, because these were not controversial issues<br />

<strong>of</strong> the day." Nach O'Brien (2004: 785) war <strong>Taylor</strong>s Inquiry "a quarrel with the Hamiltonian program and the<br />

Alien and Sedition Acts". Zu Hamiltons Wirtschaftsprogramm siehe Ziff. 4.1.2 unten.<br />

153 <strong>Das</strong> klassisch liberale Grundrechtsverständnis betrachtet die Freiheitsrechte als status negativus, "als Abwehrrechte des<br />

Individuums gegen Beeinträchtigungen der Freiheit und des Eigentums durch den <strong>St</strong>aat". Siehe Haller & Kölz (1999:<br />

307). So verstanden beschränkt sich ihr Inhalt auf nicht mehr als die "Negation staatlicher Zuständigkeit" (ibd.).<br />

Siehe zum klassisch liberalen Grundrechtsverständnis auch Zippelius (1999: 325f., 339).<br />

154 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 393: "If a nation surrender all its rights to a government, it cannot be free. Freedom consists in<br />

having rights, beyond the reach and independent <strong>of</strong> the will <strong>of</strong> another; slavery in having none." Ibd., 394: [A] nation<br />

without rights, and a government without restriction, constitute despotism." Einen ähnlichen Freiheitsbegriff vertritt<br />

auch Algernon Sidney: "For as liberty solely consists in an independency upon the will <strong>of</strong> another, and by the name<br />

<strong>of</strong> slave we understand a man, who can neither dispose <strong>of</strong> his person nor goods, but enjoys all at the will <strong>of</strong> his master;<br />

there is not such thing in nature as a slave, if those men or nations are not slaves, who have no other title to what<br />

they enjoy, than the grace <strong>of</strong> the prince, which he may revoke whensoever he pleaseth." Sidney (1698), Dicourses<br />

Concerning Government, chap. 1, sect. 5, 17.


65<br />

duum zu. 155 Naturrechte sind unveräusserliche, in der Natur des Menschen gründende Rechte. Sie<br />

beanspruchen vorstaatliche Geltung und müssen <strong>von</strong> den Trägern staatlicher Hoheitsgewalt respektiert<br />

werden. <strong>Taylor</strong> folgt damit der Virginia Bill <strong>of</strong> Rights, die den Gedanken der unveräusserlichen<br />

und vorstaatlichen Natur der Menschenrechte in ihrem ersten Artikel wie folgt formuliert: "Alle<br />

Menschen sind <strong>von</strong> Natur gleichermassen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene<br />

Rechte, deren sie ihre Nachkommenschaft bei der Begründung einer <strong>politische</strong>n Gemeinschaft<br />

durch keinerlei Abmachung berauben oder zwingen können, sich ihrer zu begeben." 156 Freiheit, die<br />

in den Naturrechten verankert ist (liberty by natural rights), weist gemäss <strong>Taylor</strong> den Vorteil auf, dass<br />

sie unveräusserlich ist und in ihrer Geltung eben nicht vom <strong>St</strong>aat abhängt. Diesen Vorteil besitzt<br />

vertraglich begründete Freiheit (liberty by compact) nicht, denn ein <strong>von</strong> der Obrigkeit gewährter Freiheitsbrief<br />

(charter) kann wieder zurückgenommen werden. Der Irrglaube, Freiheit gründe auf einem<br />

<strong>von</strong> Regierungen verliehenen <strong>St</strong>ück Pergament, habe die Freiheit in der Tat zu einem Geschöpf<br />

eines solchen <strong>St</strong>ücks Pergament gemacht. 157 Der Gedanke der unveräusserlichen Natur dieser Rechte<br />

zeigt sich auch in <strong>Taylor</strong>s Überzeugung, dass es der bestehenden Gesellschaft unmöglich sei, über<br />

den <strong>St</strong>atus dieser Rechte einen Entscheid zu fällen, der nachfolgende Generationen bindet: Gegenwärtige<br />

Generationen seien nicht befugt, ihre Nachkommenschaft durch Abmachung ihrer angeborenen<br />

Rechte zu berauben. 158<br />

(2) Die zweite Funktion der natural rights ist mit der ersten eng verknüpft. <strong>Taylor</strong> sieht in den Freiheitsrechten<br />

vor allem auch ein Instrument zur Kontrolle <strong>politische</strong>r Macht. 159 Er sieht in ihnen<br />

sogar die nützlichste aller Einrichtungen der Machtteilung: "Rights retained by nations, as unneces-<br />

155 Ibd., 367, 365 ("But all natural rights are individual, and this individuality is the substratum <strong>of</strong> our policy"). Zur individualistischen<br />

Natur dieser Rechte siehe auch Mudge (1939: 44f.). Die individualistische Idee der natürlichen Rechte<br />

im Lockeschen Sinne verstanden, ist ein wesentliches Merkmal des Jeffersonschen Liberalismus und kennzeichnet<br />

sein Freiheitsverständnis <strong>von</strong> der Freiheit als der Befreiung <strong>von</strong> "aller sozialen Autorität, besonders <strong>von</strong> der seitens<br />

der Regierung" (Young (1985: 638)).<br />

156 Artikel 1 der Virginia Bill <strong>of</strong> Rights, abgedruckt in: Jefferson (1785: 464).<br />

157 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 86: "As the English began to emerge from Gothic ignorance, the idea <strong>of</strong> liberty by compact,<br />

and not from natural right, led them to extort charters from their princes; but w<strong>of</strong>ully is the doctrine <strong>of</strong> deriving a<br />

right to liberty from charters [...]. By allowing them to bestow, it was discovered that they could destroy. [...] The errour<br />

<strong>of</strong> parchment liberty, has made liberty the creature <strong>of</strong> parchment."<br />

158 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 148 ("an admission <strong>of</strong> national rights independent <strong>of</strong> governments"), 395 ("the rights held by<br />

the people <strong>of</strong> the United <strong>St</strong>ates independently <strong>of</strong> their government"), ders. (1820), Construction Construed, 206: "If society<br />

has crept tacitly into existence, these [...] natural rights are the strongest <strong>of</strong> all limitations upon the powers <strong>of</strong> its<br />

government, because they are imposed by God; if it be conventional, the same limitations also remain, unless the<br />

compact should expressly surrender them. It would even be a doubt, if an existing generation should improvidently<br />

do so, whether future generations would be bound by the surrender; and the soundest opinion is, that they would be<br />

not."<br />

159 Auf diesen Aspekt der Freiheitsrechte weisen besonders Loewenstein (1957: 17, 333ff.) und Riklin (2006: 19f.) hin.<br />

Loewenstein (1957: 17) ordnet "die Grundfreiheiten des Individuums als eine für alle Machtträger unantastbare<br />

Sphäre" der Kategorie der "vertikalen Kontrollen" zu. Vertikale Kontrollen wirken zwischen verschiedenen Ebenen<br />

der <strong>St</strong>aatsgesellschaft (und nicht wie die "horizontalen Kontrollen" innerhalb des betreffenden <strong>St</strong>aatsorgans oder<br />

zwischen verschiedenen Machtträgern) und setzen den Trägern der <strong>politische</strong>n Macht Schranken. Riklin (2006: 19f.)<br />

weist die Menschenrechte den wohltätigen <strong>politische</strong>n Erfindungen zu (den Erfindungen der "Machtbeschränkung").<br />

Bei diesen handelt es sich um "Verfahren und Institutionen, die den Machtmissbrauch verhindern, mindestens<br />

behindern und zum rechten Gebrauch der Macht anhalten".


66<br />

sary for governments, constitute our most useful division <strong>of</strong> power." 160 Die Freiheitsrechte sind damit<br />

explizit Bestandteil des <strong>Taylor</strong>schen Systems der Machtteilung (division <strong>of</strong> power), mehr noch: <strong>Taylor</strong><br />

weist ihnen den ersten Platz unter den verschiedenen Schranken zu, die das Handeln der <strong>St</strong>aatsmacht<br />

beschränken sollen. 161 Er sieht in ihnen ein charakteristisches Merkmal des amerikanischen<br />

Verfassungssystems. Dieses akzeptiere im Gegensatz zur britischen Verfassungstheorie und -praxis<br />

vorstaatliche Rechte. <strong>Das</strong> britische Verfassungsdenken gehe auf Grund der Annahme eines souveränen<br />

Parlaments da<strong>von</strong> aus, dass Freiheiten vom Parlament gewährt und wieder zurückgenommen<br />

werden können und das Volk keine unabhängigen, vorstaatlichen und damit unveräusserlichen<br />

Rechte besitze. 162 <strong>Taylor</strong> sieht in den Naturrechten ein gegen die Allmacht des <strong>St</strong>aates gerichtetes<br />

Bollwerk der Freiheit. Die zurückbehaltenen, nicht an die Behörden delegierten Rechte des Volkes<br />

(etwa die Religions- oder die Meinungsäusserungsfreiheit), erklärt er, würden den Behörden üppige<br />

Machtbefugnisse entziehen, die sie andernfalls aus dem vorherrschenden Aberglauben und der herrschenden<br />

Unwissenheit ziehen könnten. Neben natürlichen Rechten, unterweist <strong>Taylor</strong> seine Leser,<br />

habe das amerikanische Volk auch einen grossen Bereich mit Rechten, die <strong>politische</strong>r Natur sind, in<br />

seinen Händen zurückbehalten und den Behörden den Zugriff auf diese Rechte verwehrt. 163 <strong>Taylor</strong><br />

fürchtet wiederum die Wirkung schrankenloser Macht auf die Amtsträger: Wenn staatliche Gewalt<br />

an keine Schranken gebunden ist, dann wird sie zum Spielball der Leidenschaften ihrer Träger. 164<br />

(3) Freiheitsrechte bilden nach <strong>Taylor</strong> zudem eine unverzichtbare Voraussetzung für die Selbstregierung<br />

des Volkes. Für <strong>Taylor</strong> sind Nationen sowohl natürliche (d.h. zur physischen Kraftausübung<br />

befähigte) wie auch moralische (d.h. abstrakt denkende und damit <strong>politische</strong>) Wesen. Wenn<br />

eine Nation ihrer körperlichen Kräfte beraubt werde, gleiche sie einem gefesselten Mann, der bei<br />

Verstand ist. Wenn sie ihrer intellektuellen Kräfte beraubt werde, gleiche sie einem Verrückten ohne<br />

Fesseln. 165 Um eine geistige Versklavung zu verhindern, behalte das amerikanische Verfassungssystem<br />

der Nation "intellektuelle Rechte" (intellectual rights) oder den "Gebrauch ihres Verstandes"<br />

vor; um eine körperliche Versklavung zu verhindern, behalte es der Nation die Militärgewalt in<br />

Form einer bewaffneten und organisierten Miliz vor. Nur eine Nation, die sich intellektuelle Rechte<br />

und die Militärgewalt vorbehalte, stelle ein körperliches und intellektuelles, ein urteilsfähiges Wesen<br />

160 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 412. Loewenstein (1957: 333) bezeichnet die individuellen Freiheitsrechte ebenfalls als "die<br />

wirksamste <strong>von</strong> allen der <strong>St</strong>aatsallmacht auferlegten Schranken".<br />

161 Die Bedeutung, die <strong>Taylor</strong> den Freiheitsrechten beimisst, zeigt sich immer dort in seinen Schriften, wo er den Aufbau<br />

des Regierungssystems der Vereinigten <strong>St</strong>aaten zusammenfasst und dabei immer da<strong>von</strong> spricht, dass die Macht<br />

zuerst zwischen dem <strong>St</strong>aat und dem Volk aufgeteilt wird. Siehe <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 363 ("power is first divided between<br />

the government and the people"), 362 ("by retaining in their [the people’s] own hands a great portion [<strong>of</strong><br />

power] unbestowed"); ders. (1820), Construction Construed, 53: "The first division <strong>of</strong> power we have established [...]<br />

consists <strong>of</strong> the limited rights delegated by the people to their governments or trustees; and <strong>of</strong> all the residue <strong>of</strong> the<br />

attributes <strong>of</strong> sovereignty, retained as not having been delegated by the people." Siehe weiter ibd., 57f.<br />

162 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 393. Vorstaatliche, unveräusserliche Freiheitsrechte und Machtbeschränkung bilden damit<br />

zwei Seiten derselben Medaille. Siehe dazu auch Tate (2001: 223).<br />

163 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 412: "The rights <strong>of</strong> conscience and <strong>of</strong> the press, deprive governments <strong>of</strong> much power, to be<br />

otherwise drawn from superstition and ignorance. Besides these, the people <strong>of</strong> America have endeavoured to keep in<br />

their hands a great extent <strong>of</strong> political ground, forbidden to government."<br />

164 Ibd., 452: "Government, freed from moral restraints, is the result <strong>of</strong> the passions <strong>of</strong> the men who govern."<br />

165 Ibd., 394.


67<br />

dar. 166 Eine Nation, die frei sein und sich selbst regieren will, muss mit anderen Worten gemäss <strong>Taylor</strong><br />

Rechte besitzen, die ihre geistige und körperliche Freiheit beschützen. Ersteres ermöglichen intellektuelle<br />

Rechte wie die Rede- oder die Pressefreiheit, die einen <strong>of</strong>fenen Prozess der Herausbildung<br />

der öffentlichen Meinung unterstützen und schützen, indem sie den freien Austausch <strong>von</strong><br />

Meinungen unter den Bürgern garantieren. 167 Letzteres wird durch Rechte bewirkt, die es der Nation<br />

erlauben, ihre Freiheit mittels Waffengewalt zu sichern und zu verteidigen (wie das Recht des<br />

Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen oder sich in bewaffneten Milizen zusammenzuschliessen).<br />

<strong>Das</strong> Ausmass, in dem die Grundrechte diese drei <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> umschriebenen Funktionen ([1.]<br />

Sphären individueller Freiheit und Selbstbestimmung, [2.] Machtbeschränkung und [3.] Begründung<br />

der Selbstregierung) erfüllen können, hängt - wie <strong>Taylor</strong> bemerkt - <strong>von</strong> ihrer tatsächlichen Einhaltung<br />

und Beachtung in der Praxis ab. Die grösste Gefahr drohe ihnen in Form gesetzlicher Einschränkungen,<br />

auf die partikulare Interessengruppen (in <strong>Taylor</strong>s Begrifflichkeit "Aristokratien")<br />

regelmässig zurückgreifen würden, um ihre Sonderinteressen zu befriedigen: "But law is the engine<br />

<strong>of</strong> usurpation upon natural rights, to which the factitious beings called aristocracies, constantly resort."<br />

168 Die Geltung der Naturrechte wird nicht dadurch bedroht, dass diese Rechte <strong>von</strong> der<br />

<strong>St</strong>aatsmacht explizit zurückgewiesen, d.h. mithin vollständig negiert werden. Vielmehr bekennt sich<br />

die <strong>St</strong>aatsmacht zur abstrakten Gültigkeit dieser Rechte, schränkt sie aber auf dem Weg der Gesetzgebung<br />

ein, wobei hinter derartigen Gesetzen gemäss <strong>Taylor</strong> vornehmlich parteiische Interessen<br />

stecken, die im Widerspruch zum Gemeinwohl stehen (so genannte Minderheitsinteressen). 169 Für<br />

<strong>Taylor</strong> sind die Naturrechte durch eine <strong>von</strong> Sonderinteressen angekurbelte "Gesetzesmaschinerie"<br />

ebenso bedroht wie in einer <strong>St</strong>ändegesellschaft mit ihren Privilegien und Pfründen. Die erste Form<br />

der Einschränkung wirkt in einem zeitlich verzögerten Prozess, die zweite unmittelbar. 170 Die<br />

moderne Bedrohung (die "bürgerliche" Form der Tyrannei) sieht er stärker auf die Eigentums- und<br />

die Gedankenfreiheit gemünzt, die klassische Bedrohung (die "barbarische" Tyrannei) auf Leib und<br />

Leben. 171 Darüber hinaus erblickt <strong>Taylor</strong> in der Einschränkung eines einzelnen Freiheitsrechts eine<br />

Gefahr für den Bestand und die Geltung aller übrigen Freiheitsrechte. Jedes einzelne Recht kann nur<br />

166 Ibd., 395: "To prevent mental slavery, our policy rerserves to the nation intellectual rights, or the use <strong>of</strong> its reason;<br />

and to prevent physical slavery, it reserves to the nation, the military power, in an armed and organized militia; knowing<br />

that it must retain both or neither. By retaining both, a nation is a physical and intellectual being. By losing one, it<br />

becomes a being quite anomalous to human nature; physical, and not intellectual, like a corpse; or intellectual, and<br />

not physical, like a ghost."<br />

167 Siehe dazu die Diskussion der Meinungsäusserungsfreiheit unter Ziff. 2.3.3 unten.<br />

168 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 515. Siehe für eine ähnliche <strong>St</strong>elle ibd., 516: "[...] law is the machine used by all factions and<br />

aristocracies <strong>of</strong> interest, for boarding and capturing both social and natural rights."<br />

169 Gemäss <strong>Taylor</strong> besitzen Minderheiten im Vergleich zu Mehrheiten weit grössere Anreize, natürliche Rechte (wie das<br />

Eigentumsrecht) der Mehrheit zu verletzen als umgekehrt. Minderheiten könnten Gewinne aus Mehrheiten ziehen,<br />

Mehrheiten, zumindest auf lange Sicht hin, nicht auf Kosten der Minderheit leben. Die Mehrheitstyrannei ist nach<br />

<strong>Taylor</strong> also weit unwahrscheinlicher als die Tyrannei einer Minderheit. Siehe dazu die Ziffern 2.1.2 oben und 3.2.3<br />

unten.<br />

170 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 412: "All this territory [die durch die Naturrechte gewährte Sphäre individueller Freiheit] is lost<br />

at once by introducing the sovereignty <strong>of</strong> orders. It will also be lost by laws gradually encroaching upon it; such as<br />

laws for cutting <strong>of</strong>f the provinces <strong>of</strong> free inquiry and militia defence; by regulating the press, and by standing armies.<br />

The first mode <strong>of</strong> getting rid <strong>of</strong> the whole catalogue <strong>of</strong> human rights [sic!], is not less certain than the second; it<br />

drives men gradually towards slavery, by law, as the Indians are driven towards the ocean, by encroachment."<br />

171 <strong>Taylor</strong> (1822) Tyranny Unmasked, 194.


68<br />

funktionieren, wenn alle übrigen Rechte ebenfalls uneingeschränkt funktionieren. Gemäss <strong>Taylor</strong><br />

sind diese Rechte in ihrem Wert und ihrer Wirkung wechselseitig <strong>von</strong>einander abhängig und bilden<br />

eine chain <strong>of</strong> rights, deren Glieder fest zusammenhängen. 172<br />

<strong>Taylor</strong> wendet sich nicht gegen jede Einschränkung der Naturrechte. Er war kein Anarchist, der<br />

eine "herrschaftsfreie Gesellschaft" anstrebte und jede "Form menschlicher Organisation" ablehnte,<br />

"mit deren Hilfe ideologischer, <strong>politische</strong>r, ökonomischer und gesellschaftlicher Zwang ausgeübt<br />

wird". 173 Beschränkungen der Freiheitsrechte erkennt er als durchaus zulässig an, wenn sie für den<br />

Schutz der Freiheit der anderen und damit für die gesellschaftliche Freiheit (social liberty) und die Errichtung<br />

einer freien Bürgergesellschaft notwendig sind. 174 Der exzessive Gebrauch der Freiheit<br />

muss beschränkt werden können, damit die Freiheit aller zum Tragen kommt. (Gesellschaftliche)<br />

Freiheit besteht auch bei <strong>Taylor</strong> darin, alles tun zu können, was dem anderen nicht schadet. 175 Alle<br />

Beschränkungen hingegen, die über das notwendige Mass zum Schutz der Freiheit der anderen<br />

hinausgehen, betrachtet er als Despotismus. Wann immer die <strong>St</strong>aatsgewalt oder sonstige künstliche<br />

Gebilde oder Verbindungen (artifical minds <strong>of</strong> orders) die natürlichen Freiheiten und Fähigkeiten kontrollieren,<br />

ist das zulässige Mass an Beschränkung überschritten. Was er unter "kontrollieren" versteht,<br />

führt <strong>Taylor</strong> nicht näher aus. Er ging möglicherweise da<strong>von</strong> aus, dass jedem natürlichen Recht<br />

eine Art "Kernbereich" innewohnt, der <strong>von</strong> der <strong>St</strong>aatsgewalt (vom <strong>politische</strong>n Souverän wie <strong>von</strong> den<br />

Trägern hoheitlicher Gewalt) nicht verletzt werden darf. 176 Den Schutz dieses Kernbereiches legt<br />

<strong>Taylor</strong> in die Hände der Miliz und des <strong>politische</strong>n Souveräns, der es mit seinem Wahlrecht sichern<br />

soll. Miliz und Wahlrecht verbinden die höchste <strong>politische</strong> Gewalt mit der natürlichen körperlichen<br />

Gewalt einer Nation und sichern die nationale Selbstregierung: "The sovereign, physical and political<br />

172 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 395: "These rights are so linked together, that not a single link can be removed, without materially<br />

impairing the strength <strong>of</strong> the chain." Siehe auch ibd. ("the entire chain <strong>of</strong> these rights"). Die Rechte auf Leben<br />

und Freiheit sind für <strong>Taylor</strong> bspw. unmittelbar abhängig vom Recht auf Eigentum: "[...] life and liberty [are] so intimately<br />

connected with property, that the rights <strong>of</strong> the latter could not be invaded, without invading the other rights<br />

also." Ders. (1820), Construction Construed, 13. Die wechselseitige Abhängigkeit dieser Rechte <strong>von</strong>einander zeigt auch<br />

die folgende <strong>St</strong>elle: "The rights to life, liberty and property, are so intimately blended together, that neither can be<br />

lost in a state <strong>of</strong> society without all; or at least, neither can be impaired without wounding others" Ibd., 67. Siehe zur<br />

chain <strong>of</strong> rights auch Mudge (1939: 45f.).<br />

173 So der Anarchismusbegriff <strong>von</strong> Lösche (1986; 416). Den Vorwurf an <strong>Taylor</strong>, er sei ein Anarchist (der aus heutiger<br />

Sicht befremdlich wirkt, wenn man <strong>Taylor</strong>s gesellschaftliche <strong>St</strong>ellung und Position in Betracht zieht), gab es tatsächlich.<br />

Er war das Produkt des Parteizwists der 1790er Jahre und einer Verleumdungskampagne. Wie Edmund Pendleton<br />

berichtet, war der Anarchismusvorwurf (zusammen mit dem Vorwurf, ein Freund Frankreichs zu sein) <strong>von</strong> den<br />

Federalists erhoben worden: "Some dirty scriblers from the presses in Richmond have misrepresenting him as an<br />

Anarchist, a friend to France and enemy to America. [...] That he could wish to raise insurrections or promote anarchy,<br />

is so adverse to his state <strong>of</strong> property, as well as to his good sense and general conduct, that it cannot be even<br />

suspected by those who insinuate it." Pendleton (n.d.).<br />

174 <strong>Taylor</strong> ging es nicht um schrankenlose Freiheit in einem System ohne <strong>St</strong>aat, sondern um das grösstmögliche Mass an<br />

Freiheit in den Schranken der Gesellschaft und damit um die Verhinderung einer Despotie. Nach Mudge (1939: 48)<br />

schwankt bei <strong>Taylor</strong> eine freie Gesellschaft immer zwischen den Polen Freiheit und Zwang.<br />

175 Nach Haller & Kölz (1999: 311) handelt es sich bei dieser Form der Beschränkung der Freiheitsrechte um "allgemeine<br />

(immanente) Schranken".<br />

176 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 409f.: "Having rights, men, when forming governments, may relinquish or retain such as they<br />

please; and by so forming a government that the natural mind <strong>of</strong> man, shall not be controlled by the artificial mind<br />

<strong>of</strong> orders, this natural mind will be able to preserve the natural rights connected with it; whereas if this natural mind<br />

is controlled by the artificial mind or will <strong>of</strong> orders, no natural right whatsoever can remain, because there cannot exist<br />

together, a natural and an artificial sovereignty."


69<br />

power, being thereby inseparably united, national self government is perfectly secured." 177 Mittels<br />

Wahlen alleine ist es gemäss <strong>Taylor</strong> nicht möglich, die Freiheit(-srechte) einer Nation zu beschützen.<br />

Ebenso ist es nicht möglich, den Schutz der Freiheit ausschliesslich einer Milizarmee anzuvertrauen.<br />

Der Schutz der Freiheitsrechte der Nation (und der sie bildenden Individuen) bedingt beide Instrumente:<br />

Wahlrecht (zwecks Mitbestimmung in einem repräsentativen Regierungssystem) und Miliz<br />

(als Zurückbehaltung physischer Selbstverteidigungsressourcen). Voraussetzung für das Wahlrecht<br />

ist wiederum die Anerkennung <strong>von</strong> natürlichen, intellektuellen Rechten (z.B. der Presse- oder<br />

Meinungsäusserungsfreiheit), Voraussetzung für die Unabhängigkeit der Miliz ist das Recht jedes<br />

Einzelnen, Waffen zu besitzen und zu tragen. Wahlrecht, Miliz und die natürlichen Rechte bilden<br />

damit ein interdependentes System zur Sicherung individueller Selbstbestimmung und Freiheit. 178<br />

Abschliessend sei darauf hingewiesen, dass <strong>Taylor</strong> zwei andere Rechtstypen <strong>von</strong> den natürlichen<br />

Rechten unterscheidet: gesellschaftliche oder bürgerliche Rechte einerseits und gesetzliche Rechte<br />

andererseits. 179 Gesellschaftliche oder bürgerliche Rechte - <strong>Taylor</strong> gebraucht den Begriff social rights -<br />

sind Rechte, die <strong>von</strong> der Verfassung verliehen werden und deren Bestand in der Einrichtung der<br />

<strong>politische</strong>n Gesellschaft gründet (man könnte daher auch <strong>von</strong> verfassungsmässigen Rechten<br />

sprechen). Der Begriff beinhaltet z.B. das Wahlrecht oder - s<strong>of</strong>ern in den jeweiligen Verfassungsdokumenten<br />

aufgelistet - Rechte wie die Eigentumsfreiheit oder Meinungsäusserungsfreiheit. <strong>Taylor</strong>s<br />

Unterscheidung <strong>von</strong> natürlichen und gesellschaftlichen Rechten ist nicht immer ganz klar und<br />

teilweise widersprüchlich. Die Aufnahme eines natürlichen Rechts in die Verfassung - und seine<br />

damit einhergehende Bezeichnung als social right - scheint nicht zu bedeuten, dass die Gesellschaft<br />

dem <strong>St</strong>aat erlaubt, frei über diese Rechte zu verfügen, und ihn gar <strong>von</strong> der Beachtung der Naturrechte<br />

entbindet. Der <strong>St</strong>aat wird vielmehr explizit in die Pflicht genommen, seine Zwangsmittel in<br />

den Dienst der social rights zu stellen und diese zu sichern. 180 Von den gesellschaftlichen Rechten<br />

unterscheidet <strong>Taylor</strong> gesetzliche Rechte (legal rights): Rechte, die auf dem Gesetzesweg begründet<br />

werden und hinter deren Einrichtung partikulare Interessen stehen. Sie stehen im Widerspruch zu<br />

den natürlichen oder gesellschaftlichen Rechten und haben den Zweck, Eigentum umzuverteilen.<br />

177 Ibd., 394, 426.<br />

178 Ibd., 394, 395. Siehe. ibd., 394: "Election, without her ally, a national militia, and united with standing armies, hereditary<br />

orders, or separate interests, such as banking, becomes an instrument to inflict their will. Equally unavailing to<br />

preserve liberty, is a militia, made subject to a political power beyond its influence, because such a power can disarm,<br />

neglect, and subject it to an army <strong>of</strong> its own."<br />

179 Siehe zur Unterscheidung die Darstellung bei Mudge (1939: 48f.).<br />

180 So schreibt <strong>Taylor</strong> mit Blick auf das Privateigentum als sozialem Recht: "If property is admitted to be a social right, it<br />

does not follow that society gives an absolute power over it to governments." <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 486. Für weitere<br />

<strong>St</strong>ellen, welche die doppelte Natur des Privateigentums bei <strong>Taylor</strong> belegen, siehe Inquiry, 545f. ("Considering private<br />

property as a natural or social right"); Construction Construed, 152 ("that property, so far as it is a conventional or social<br />

right").


70<br />

2.3.2. Die einzelnen Freiheitsrechte<br />

<strong>Taylor</strong> kommt in seinen Schriften auf eine Reihe verschiedener Freiheitsrechte zu sprechen. Diese<br />

werden im Folgenden kurz summarisch präsentiert. Wenn <strong>Taylor</strong> dabei verschiedene klassische<br />

Freiheitsrechte unterschlägt (er kommt z.B. nirgendwo auf das Versammlungsrecht zu sprechen)<br />

bedeutet das nicht - wie bereits oben bemerkt wurde -, dass er diese Rechte nicht akzeptierte.<br />

<strong>Taylor</strong>s Schweigen lässt sich vielmehr mit der zur Zeit der frühen Republik wenig umstrittenen<br />

Natur dieser Rechte erklären. Es fehlte schlicht an Gründen, über diese Rechte nachzudenken.<br />

Ohne grosses Zögern lässt sich wohl die Behauptung aufstellen, dass <strong>Taylor</strong> als Patriot und Bürger<br />

Virginias und als längjähriger Abgeordneter im Virginia House <strong>of</strong> Delegates die in der Virginia Bill <strong>of</strong><br />

Rights verkündeten Rechte als selbstverständliche Wahrheiten ansah. Gleiches lässt sich wohl für die<br />

in den ersten zehn Verfassungsamendments festgehaltenen Freiheitsrechte behaupten.<br />

Regelmässig erwähnt werden <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> - wenn auch meist auf eher beiläufige Art und Weise -<br />

Lockes drei Grundfreiheiten, Leben, Freiheit und Vermögen (life, liberty and property). 181 Eine Lektüre<br />

der entsprechenden <strong>St</strong>ellen lässt keinen Zweifel daran, dass Lockes Rechtetrias <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> als Bestandteil<br />

jener "self evident truths" angesehen wurde, die es nicht zu hinterfragen galt. Weil nach<br />

<strong>Taylor</strong> in zivilisierten Gesellschaften vornehmlich das Recht auf Privateigentum dauernden Übergriffen<br />

und Verletzungen ausgesetzt ist, beschränkte er seine Betrachtungen zu den Lockeschen<br />

Grundfreiheiten in der Regel auf die Eigentumsfreiheit. Über die Lockesche Rechtetrias hinaus<br />

erwähnte oder diskutierte er das "natürliche, und zuoberst stehende Recht auf den Genuss des<br />

Lebens", das "natürliche Recht auf Selbstbestimmung", "intellektuelle" Rechte wie die Religionsoder<br />

Gewissensfreiheit oder die Rechte auf freie Meinungsäusserung, Pressefreiheit und freies <strong>Denken</strong>.<br />

182 Zu den "physischen" Rechten, die <strong>Taylor</strong> behandelt, zählen das Recht, Waffen zu besitzen<br />

und zu tragen und sich selber zu verteidigen, sowie das Recht einer Nation, Milizen einzurichten, zu<br />

den rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien das Recht auf einen fairen Prozess. 183 Am Ursprung all<br />

dieser Rechte findet sich, wiederum in Anlehnung an <strong>John</strong> Locke, das natürliche Recht auf Selbsterhaltung.<br />

184<br />

In Lockes Gedankensystem kommt dem Recht auf Selbsterhaltung eine zentrale Bedeutung zu. 185<br />

Da Gott nach Locke will, dass seine Schöpfung erhalten bleibt, hat er jedem Menschen einen starken<br />

Selbsterhaltungstrieb eingepflanzt. Aus diesem Selbsterhaltungstrieb folgt sowohl das natürliche<br />

Recht wie auch die Pflicht, sich selber zu erhalten. Nur der Selbsterhaltungstrieb ist angeboren. Alle<br />

181 Siehe n.a. <strong>Taylor</strong> (1820), Construction Construed, 13, 67.<br />

182 <strong>Taylor</strong> (1820), Construction Construed, 206 ("the natural paramount human right to the enjoyment <strong>of</strong> life"), 9 ("religious<br />

liberty" oder "freedom <strong>of</strong> religion"); ders. (1814), Inquiry, 365 ("each man’s right to govern himself"), ibd. ("the ability<br />

<strong>of</strong> our policy, to leave to men a perfect right to conscience"), 395 ("freedom <strong>of</strong> religion, <strong>of</strong> speech and <strong>of</strong> the press"),<br />

412 ("the right <strong>of</strong> conscience and <strong>of</strong> the press"), 413 ("the right <strong>of</strong> free inquiry").<br />

183 Siehe zum Recht auf eine Miliz <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 396ff. ("right <strong>of</strong> a real national militia"); zum Recht auf Waffenbesitz<br />

und Waffentragen, ibd., 426 ("right <strong>of</strong> bearing arms"), 412 ("the rights [...] <strong>of</strong> self defence or bearing<br />

arms"). Siehe zu den verfahrensrechtlichen Garantien <strong>Taylor</strong>s Wortbeitrag (mit dem er den Resolutionsentwurf eingeführt<br />

hat) in der parlamentarischen Debatte um die Virginia-Resolutionen, vom 13. Dezember 1798 im Abgeordnetenhaus<br />

<strong>von</strong> Virginia, Virginia Resolutions, 27 ("a right to justice, and to fair trial").<br />

184 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 368 ("the natural right <strong>of</strong> self preservation"). Siehe zum Recht auf Selbsterhaltung auch ibd.,<br />

90, 385.<br />

185 Zum Folgenden siehe Euchner (1977: 31f.).


71<br />

anderen natürlichen Normen sind nach Locke Produkte der Sinne und des Verstandes und damit<br />

Konstruktionen. Da der Selbsterhaltungstrieb damit immer wirksam und evident ist und sich im<br />

Gegensatz zu anderen Prinzipien nicht verdunkeln lässt, kommt ihm bei Locke unter allen Regeln<br />

des natürlichen Gesetzes eine Sonderstellung zu. Es ist bei Locke das "hervorragendste naturrechtliche<br />

Prinzip; es liegt dem gesamten System seiner <strong>politische</strong>n Theorie zugrunde". <strong>Taylor</strong> verknüpft<br />

dieses naturrechtliche Prinzip mit dem natürlichen Recht, Waffen zu tragen und sich selber zu verteidigen,<br />

um gegen eine tyrannische Herrschaft Widerstand zu leisten. <strong>Das</strong> natürliche Recht auf<br />

Selbstverteidigung, erklärt er in Construction Construed, gehe jeder staatlichen Herrschaftsgewalt voraus<br />

und stelle das heiligste aller Rechte dar, das der Mensch besitzt. 186 Träger des Selbstverteidigungsrechtes<br />

sind die einzelnen Menschen und - wenn sie sich zusammenschliessen - Nationen. Auf der<br />

Grundlage dieses Rechtes, erklärt <strong>Taylor</strong>, sperren Gesellschaften Menschen ein und fällen Todesurteile<br />

(begegnen sie also innergesellschaftlichen Unruhen). Dieses Recht berechtigt eine Nation aber<br />

auch, andere Nationen anzugreifen, die sie bedrohen (d.h. im Extremfall Präventivkriege zu führen):<br />

"[B]y this right, they are justified, if they see danger at distance, to anticipate it by precautions". 187<br />

<strong>Das</strong> Widerstandsrecht ist nach <strong>Taylor</strong> ebenfalls ein natürliches Recht. Gleichwohl spricht er in einem<br />

eher zurückhaltenden Tonfall <strong>von</strong> ihm: Im Gegensatz zu den Kontrollmechanismen des <strong>politische</strong>n<br />

Souveräns stellt es ein ausserkonstitutionelles, gegen tyrannische Behörden gerichtetes Instrument<br />

dar. Die Geschichte dieses Rechtes zeige, dass es der am wenigsten erfolgreiche Wächter<br />

der Freiheit sei und ebenso häufig tyrannische Ordnungen begründe wie niederreisse. 188 Wie Locke<br />

ist <strong>Taylor</strong> der Ansicht, dass das Volk gewöhnlich nicht gleich beim ersten geringen Verstoss die<br />

<strong>St</strong>aatsgewalt gewaltsam absetzt, sondern erst eine längere Kette <strong>von</strong> Macht- und Rechtsmissbräuchen<br />

über sich ergehen lässt, bevor es handelt. Gemäss Locke ist das Volk geduldig und lässt viel<br />

über sich ergehen. 189 Nach <strong>Taylor</strong> hat die Zurückhaltung des Volkes viel mehr damit zu tun, dass es<br />

unter dem Einfluss der Herrschenden steht und ihm die Zeit und die Informationen fehlen, um<br />

deren Missbräuche und Übertretungen zu enthüllen. Nur <strong>von</strong> einem extremity <strong>of</strong> evil lasse es sich in<br />

186 <strong>Taylor</strong> (1820), Construction Construed, 314: "There remains a right, anterior to every political power whatsoever; [...] the<br />

natural right <strong>of</strong> self-defence. [...] this right, the most sacred <strong>of</strong> all possessed by men."<br />

187 Ibd., 314. <strong>Taylor</strong> hat diesen Gedanken mit Blick auf den Missouri-Kompromiss (siehe Ziff. 9.1 unten) und seine<br />

Folgen für die Südstaaten formuliert. Im Gespenst einer <strong>von</strong> der Union (genauer <strong>von</strong> der Mehrheit der sklavenfreien<br />

<strong>St</strong>aaten) beschlossenen Abschaffung der Sklaverei, erblickte er einen Rechtfertigungsgrund für die Anrufung des<br />

Selbsterhaltungs- und Selbstverteidigungsrechts. Dieses genüge, schrieb <strong>Taylor</strong> in düsterem Tonfall, "to put the subject<br />

<strong>of</strong> slavery at rest" um wenig später fortzufahren: "It is allowed on all hands, that danger to the slave-holding<br />

states lurks in the existing situation [...] and it must be admitted, that the right <strong>of</strong> self-defence applies to that situation,<br />

<strong>of</strong> the necessity for which the parties exposed to the danger are the natural judges" (ibd.). Hill (1977: 223)<br />

schreibt über <strong>Taylor</strong>s Selbstverteidigungsrecht: "Among with other members <strong>of</strong> his generation, <strong>Taylor</strong> talked <strong>of</strong> a<br />

right to state self-preservation, but limited its application to occasions when states were being invaded or when invasion<br />

was imminent. Resort to civil war was not therefore, a tactic recommended by <strong>Taylor</strong>."<br />

188 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 368f.: "No species <strong>of</strong> sovereignty can subsist, without subsisting attributes equal to its preservation.<br />

I am speaking <strong>of</strong> social sovereignty, and not <strong>of</strong> the natural right to resist oppression; <strong>of</strong> organical, not <strong>of</strong><br />

irregular remedies. The natural right appears throughout history, to be the least successful guardian <strong>of</strong> liberty, and as<br />

frequently the author as the destroyer <strong>of</strong> liberty."<br />

189 Zum Widerstandsrecht bei Locke siehe Euchner (1977: 42, 41ff.). Locke selber schreibt: "Grosse Fehler auf Seiten<br />

der Regierung, viele ungerechte und nachteilige Gesetze und alle Versehen aus menschlicher Unvollkommenheit<br />

wird das Volk ohne Murren und Aufsässigkeit hinnehmen." Locke (1690), Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, §<br />

225.


72<br />

den Widerstand treiben. 190 Ursachen, welche die Nation zum Widerstand berechtigen, bilden für<br />

<strong>Taylor</strong>, ähnlich wie für Locke, Übergriffe der <strong>St</strong>aatsgewalt gegen Leben und Eigentum der Nation. 191<br />

Für das Verständnis <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Widerstandstheorie ist schliesslich auch entscheidend, wem er das<br />

Recht auf Widerstand zubilligt. <strong>Taylor</strong> geht hier nur scheinbar weiter als Locke. Locke gewährt das<br />

Widerstandsrecht nicht jedem Unzufriedenen, da er es nur den Aktivbürgern (zu denen die Besitzlosen,<br />

die Knechte nicht gehören) zugesteht. 192 <strong>Taylor</strong> spricht vom Widerstandsrecht als einem Naturrecht,<br />

einem Recht also, das allen Menschen (und damit meinte <strong>Taylor</strong> alle erwachsenen weissen<br />

Männer, Frauen und Sklaven nicht eingeschlossen), Besitzlosen wie Besitzenden, zusteht. Damit<br />

scheint er das Recht auf Widerstand überraschenderweise einem breiteren Kreis einzuräumen als<br />

Locke. Faktisch laufen beide Ansätze jedoch auf das Gleiche hinaus. Eine Erklärung dafür liefert die<br />

besondere Sozialstruktur <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Heimatstaat Virginia, in der afroamerikanische Sklaven den<br />

Platz der weissen Knechte und besitzlosen Schichten im einstigen Mutterland einnahmen. 193 <strong>Taylor</strong><br />

konnte in einer Gesellschaft, in der eine grössere Population weisser Knechte fehlte (ihre Funktion<br />

wurde <strong>von</strong> schwarzen Sklaven erfüllt) - ohne dass es grosse sozialrevolutionäre Implikationen zur<br />

Folge gehabt hätte - vom Widerstandsrecht als einem Naturrecht sprechen (das den erwachsenen,<br />

männlichen Weissen zusteht), da qua definitionem <strong>von</strong> diesem bereits <strong>von</strong> allem Anfang an der überwiegende<br />

Teil der faktisch besitzlosen Bevölkerungsteile (die afroamerikanischen Sklaven) ausgeschlossen<br />

war. Sklaven gehörten nicht zu den Trägern natürlicher Rechte. De facto waren bei <strong>Taylor</strong><br />

damit die Sklaven, bei Locke (in einer sklavenfreien Gesellschaft) die Knechte vom Widerstandsrecht<br />

ausgeschlossen.<br />

Die nachfolgende Abbildung fasst das Gesagte zusammen und gibt einen Überblick über die <strong>von</strong><br />

<strong>Taylor</strong> behandelten Naturrechte und ihre Systematik. Von den aufgelisteten Rechten werden anschliessend<br />

die Eigentumsfreiheit und die Meinungsäusserungsfreiheit näher dargestellt werden.<br />

Ihnen kommt im <strong>Denken</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>s die grösste Bedeutung zu.<br />

190 <strong>Taylor</strong> (1820), Construction Construed, 277: "It is an error to suppose, that the people approve <strong>of</strong> bad measures, because<br />

they are silent. In all nations, the majority approve <strong>of</strong> political morality; and they are silent, both from the influence<br />

<strong>of</strong> government and a want <strong>of</strong> time or information to detect its infraction. Therefore, they are seldom roused into<br />

resistance, except by the extremity <strong>of</strong> the evil."<br />

191 Siehe bspw. <strong>Taylor</strong> (1794), An Enquiry, 6.<br />

192 Euchner (1977: 42f.).<br />

193 Siehe hierzu Ziffer 7.1 unten.


73<br />

Naturrechtstyp /<br />

Charakterisierung<br />

<strong>Taylor</strong>s Bezeichnung<br />

dt. Übersetzung<br />

Höchstes Naturrecht<br />

(paramount right)<br />

1. Right to enjoyment <strong>of</strong> life Recht auf Genuss des eigenen<br />

Lebens<br />

Lockes Rechtetrias 2. Life, liberty and property Leben, Freiheit und Eigentum<br />

3. Right to self government Recht auf Selbstbestimmung<br />

Intellektuelle Rechte 4. Freedom <strong>of</strong> religion or conscience Religionsfreiheit<br />

(Freiheiten)<br />

5. Right <strong>of</strong> free speech or <strong>of</strong> free<br />

inquiry<br />

Meinungsäusserungsfreiheit<br />

6. Right <strong>of</strong> free press Pressefreiheit<br />

Physische Rechte<br />

7. Right <strong>of</strong> bearing arms or self<br />

defence<br />

Recht auf Waffenbesitz und<br />

Waffentragen / Recht auf<br />

Selbstverteidigung<br />

8. Right <strong>of</strong> a national militia Recht auf eine nationale Miliz<br />

Rechtsstaatliche<br />

Verfahrensrechte<br />

9. Right to justice and to a fair<br />

trial<br />

Recht auf ein faires Gerichtsverfahren<br />

Heiligstes Naturrecht<br />

(most sacred right)<br />

10. Right <strong>of</strong> self preservation or right<br />

to resist oppression<br />

Recht auf Selbsterhaltung /<br />

Recht auf Widerstand<br />

Abbildung 2:<br />

Die einzelnen Naturrechte bei <strong>Taylor</strong> und ihre Systematik


74<br />

2.3.3. Elementare Glieder in der "chain <strong>of</strong> rights": Meinungsäusserungsfreiheit<br />

und Eigentumsfreiheit<br />

In der Freiheit der Gedanken und der Meinungsäusserung erblickte <strong>Taylor</strong> eine natürliche Quelle<br />

des Glücks und eine Anregung für Geist und Verstand. Ihre Beschränkung verurteilte er in grellen,<br />

wortgewaltigen Analogien als Wurzel menschlichen Unglücks und Niedergangs. "Man’s thought,<br />

suffered to flow", heisst es im Inquiry, "furnish the purest stream <strong>of</strong> happiness. Dam’d up by the<br />

laws, they stagnate, putrify and poison". Und kurz darauf heisst es: "expression is the respiration <strong>of</strong><br />

mind. Deprived <strong>of</strong> respiration, the mind sickens, languishes and dies, like the body." 194 So habe der<br />

menschliche Verstand unter den klimatischen Bedingungen Griechenlands und Italiens, solange er<br />

frei atmen konnte, Blüten getragen, sei dann aber im gleichen Klima in Folge seiner Repression verkümmert<br />

und verblüht. 195 Diese Überlegungen atmen den Geist der Aufklärung: <strong>Taylor</strong> fordert vom<br />

<strong>St</strong>aat (andernorts auch <strong>von</strong> kirchlichen Institutionen) die Gedankenfreiheit und sieht den Bürger als<br />

"Selbstdenker". Solange die Gedanken, die Rede, auch die Presse frei sind, solange ist er optimistisch<br />

und vertraut den Fähigkeiten der Menschen. Sobald aber der <strong>St</strong>aat sich einmischt, verflüchtigt sich<br />

sein Optimismus und kippt um in Verzweiflung und Wehklagen. Die Frage lautet für <strong>Taylor</strong>, warum<br />

der <strong>St</strong>aat Qualitäten, die den Menschen auszeichnen und ihn <strong>von</strong> der "brute creation" unterscheiden<br />

(und damit Naturrechte verkörpern), Qualitäten wie das Sprechen oder Schreiben, den Krieg erklären<br />

soll, wenn der Mensch ihnen all seine "social discoveries and improvements" verdankt? 196<br />

Diese Frage war nicht bloss hypothetischer Natur, sondern hatte vor dem Hintergrund des 1798<br />

erlassenen und bis 1801 geltenden Anti-Aufruhrgesetzes (sedition act) praktische Konsequenzen. <strong>Das</strong><br />

Anti-Aufruhrgesetz war zusammen mit den Fremdengesetzen (alien acts) <strong>von</strong> der föderalistischen<br />

Mehrheit im Kongress erlassen worden, um die partisan activities der republikanischen Opposition im<br />

Vorfeld der Wahlen <strong>von</strong> 1800 zu schwächen. 197 Hintergrund des Gesetzes bildete der so genannte<br />

Quasi-Krieg mit Frankreich. Die Beziehungen zwischen den USA und Frankreich hatten sich im<br />

Verlauf der 1790er Jahre merklich abgekühlt und waren schweren Belastungen ausgesetzt. Frankreich<br />

betrachtete den zwischen England und den Vereinigten <strong>St</strong>aaten ausgehandelten Jay-Vertrag als<br />

eine Verletzung des französisch-amerikanischen Freundschafts- und Bündnisvertrages aus dem Jahre<br />

1778 und liess als Reaktion darauf amerikanische Handelsschiffe, die Waren nach England brachten,<br />

in grossem Ausmass konfiszieren. Die folgende XYZ-Affäre - das französische Aussenministerium<br />

zeigte den amerikanischen Sondergesandten in einem Akt massloser Arroganz die kalte Schulter<br />

und forderte Bestechungsgelder für die Aufnahme <strong>von</strong> Gesprächen - rief empörte Reaktionen in<br />

194 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 413 (für beide Zitate).<br />

195 Ibd., 413: "It flourished in the climates <strong>of</strong> Greece and Italy, whilst it could breathe freely; it has decayed in the same<br />

climates, according to the degrees <strong>of</strong> suppression it has suffered. Wherever it can breathe freely, mind seems to begin<br />

to live; swells, as if by enchantment, to sublime magnitude; and suddenly acquires wonderful powers."<br />

196 Ibd., 413.<br />

197 Adams (1999: 60); Kelly, Harbison & Belz (1965: 130ff.). Eine detaillierte Analyse der Gründe, die einerseits zum<br />

Erlass der Fremden- und Aufruhrgesetze, andererseits zur Opposition ihnen gegenüber geführt haben, geben Elkins<br />

& McKitrick (1993: 694-706). Erlass, Inhalt und Anwendung der Gesetze werden ausführlich bei Watkins (2004: 27-<br />

54) diskutiert. Zweck der Aufruhrgesetze war, wie Adams (1999: 60) schreibt, insb. die "Einschüchterung noch nicht<br />

eingebürgerter irischer und schottischer Journalisten, die Hamiltons Wirtschaftspolitik und ihre Auswirkung auf die<br />

kleinen Leute kritisierten und die Jeffersonianer unterstützten".


75<br />

Amerika hervor. Infolge der angespannten Lage wurde die 1778 eingegangene Allianz mit Frankreich,<br />

die massgeblich zum Sieg der Sache der Kolonisten beigetragen hatte, aufgelöst und die entsprechenden<br />

Verträge widerrufen. Ohne Frankreich formell den Krieg zu erklären, liess die Adams-<br />

Administration durch amerikanische Kriegs- und Kaperschiffe grosse Teile der französischen Handelsflotte<br />

zerstören. Republikaner wie Jefferson oder <strong>Taylor</strong>, die stets Sympathien für das revolutionäre<br />

Frankreich gehegt hatten und Grossbritannien mit Misstrauen begegneten, wurden <strong>von</strong> den<br />

Federalists immer häufiger als Vaterlandsverräter und "Jakobiner" beschimpft. In diesem erhitzten<br />

öffentlichen Klima, das durch Parteienhass und Kriegshysterie gekennzeichnet war, sollten die<br />

Fremden- und Aufruhrgesetze das Land pro forma vor möglichen Feinden im Innern schützen. 198<br />

<strong>Das</strong> Anti-Aufruhrgesetz war das repressivste und daher umstrittenste der vier Gesetze. Es sah<br />

Geld- und Gefängnisstrafen für Personen vor, die sich widerrechtlich zusammengeschlossen und<br />

verschworen hatten (unlawfully combine or conspire), um die Ausführung <strong>von</strong> Bundesgesetzen zu verhindern,<br />

oder vorsätzlich "unwahre, anstössige und böswillige Schriften gegen die Behörden der<br />

Vereinigten <strong>St</strong>aaten" (false, scandalous, or malicious writings against the government <strong>of</strong> the United <strong>St</strong>ates) publizierten<br />

oder in der Presse beide Häuser des Kongresses oder den Präsidenten verächtlich machten<br />

(to bring into contempt or disrepute). 199 Die Republicans bestritten die Verfassungsmässigkeit der Fremden-<br />

und Aufruhrgesetze, besonders diejenige des Anti-Aufruhrgesetzes in den Kentucky- und<br />

Virginia-Resolutionen <strong>von</strong> 1798/1799 und in verschiedenen Protestschriften aufs Heftigste. Im Mittelpunkt<br />

ihrer Kritik stand die mit dem Sedition Act einhergehende Verletzung des ersten Verfassungszusatzes,<br />

der die Presse- und Redefreiheit garantiert, und die dem Gesetz zugrunde liegende<br />

Absicht, die republikanische Opposition mundtot zu machen und damit zu beseitigen. 200<br />

Die Federalists vertraten die <strong>von</strong> William Blackstone propagierte und auf das englische Gewohnheitsrecht<br />

zurückgehende Auffassung, Presse- und Redefreiheit bedeute lediglich freedom from prior restraint:<br />

Die Freiheit der Presse und Rede beschränke sich auf das Verbot <strong>von</strong> Vorzensurmassnahmen.<br />

Der erste Verfassungszusatz, so das Argument der Federalists, enthalte lediglich die aus dem<br />

englischen Common law stammende Garantie des no prior restraint, das ein Verbot jeglicher Zensur<br />

vor der Publikation oder vor einer Rede statuiert, gleichzeitig aber Raum lässt für sehr weitgehende<br />

Verfolgungsaktionen gegen aufrührerische Schmähschriften oder -reden (sedious libel) und damit "<strong>of</strong><br />

anything unfriendly to government" nach deren Publikation oder Verbreitung. Gemäss britischem<br />

Common law spielte es dabei keine Rolle, ob die zur Debatte stehende Äusserung der Wahrheit entspricht<br />

oder nicht. Die Entscheidung darüber, ob eine Äusserung den Tatbestand des seditious libel<br />

198 Nicolaisen (1995: 100f.); Wasser (2004: 86-90). Siehe auch Elkins & McKitrick (1993: 549-579 und 643-662).<br />

199 Adams (1999: 60); Brugger (2002: 264f.). Für den Text des Sedition Acts siehe Virginia Resolution, 19-21.<br />

200 Nach Mayer (1994: S. 168f.) zeigt sich die parteiische Natur des Aufruhrgesetzes an drei Gründen: (1) Am Zeitpunkt<br />

seines Erlasses, nämlich während des Höhepunkts der öffentlichen Hysterie gegen Frankreich im Sommer 1798; (2)<br />

am Zweck des Gesetzes, dem Schutz öffentlicher Ämter, die <strong>von</strong> den Federalists kontrolliert wurden; (3) am Umstand,<br />

dass das Gesetz eine Bestimmung enthielt, die seine Geltung auf den 3. März 1801 beschränkte - auf den letzten<br />

Amtstag der laufenden Adams-Administration. Watkins (2004: 43) schreibt über die Umsetzung des Aufruhrgesetzes:<br />

"At least 25 people were arrested for criticizing the government and approximately 14 were indicated. To<br />

understand the vehemence with which the Federalists attacked political opposition, one need only examine the<br />

accounts <strong>of</strong> sedition trials. The trial featured sycophantic judges and prosecutors who vigorously punished citizens<br />

holding different views. The [...] trials examined here are simply illustrative <strong>of</strong> Federalist efforts to silence the opposition."


76<br />

erfüllte, lag alleine in den Händen eines Richters. 201 Mit dem Erlass des Anti-Aufruhrgesetzes strebten<br />

die Federalists nichts anderes als die Übernahme des englischen Common law betreffend seditious<br />

libel ins amerikanische Bundesrecht an. Rede- und Pressefreiheit bedeutete damit nicht mehr als das<br />

Recht, etwas zu publizieren, oder das Verbot jeglicher Vorzensur. <strong>Das</strong> Anti-Aufruhrgesetz schwächte<br />

das traditionelle Recht betreffend seditious libel jedoch in zweierlei Weise ab: Es gestattete dem<br />

Angeklagten, sich mittels Verweis auf den Wahrheitsgehalt seiner Äusserung zu verteidigen ("it shall<br />

be lawful for the defendant, [...] to go give in evidence in his defence, the truth <strong>of</strong> the matter contained<br />

in the publication charged as a libel"), und überliess die Entscheidung darüber, ob eine Äusserung<br />

"aufrührerisch" und "hetzerisch" ist, einem Geschworenengericht (jury). Damit enthielt der<br />

Erlass zwei Reformen, für welche die Verteidiger des freien Rederechts lange gekämpft hatten.<br />

Trotzdem ging er den Republikanern zu wenig weit. 202<br />

Über die Intention der Verfassungsväter jenseits der Frage der Vorzensur ist sich die Forschung<br />

uneinig. 203 Die eine Seite vertritt den <strong>St</strong>andpunkt, mit dem ersten Verfassungsamendment sei eine<br />

ungehinderte und völlig freie Diskussion öffentlicher Angelegenheiten gewährleistet worden. Aus<br />

ihrer Perspektive war das Anti-Aufruhrgesetz ein Fehltritt, ein Verrat an der bereits etablierten und<br />

in der Bill <strong>of</strong> Rights der Bundesverfassung aufgenommenen liberalen Tradition. 204 Diese Sicht wird<br />

<strong>von</strong> der anderen Seite als liberales Wunschdenken abgetan, für das jegliche Hinweise fehlen. Die<br />

Verfassungsväter hätten gar nicht daran gedacht, das überkommene englische Recht gegen aufrührerische<br />

Schmähschriften abzuschaffen. Erst das Anti-Aufruhrgesetz habe die Republikaner veranlasst,<br />

eine neue, liberale Theorie über das Ausmass der <strong>politische</strong>n wie religiösen Meinungsäusserungsfreiheit<br />

zu entwickeln. Dieser new libertarianism sei erstmals in den Kongressdebatten über die Aufruhrgesetze<br />

aufgetaucht und <strong>von</strong> den Verteidigern in den dem Aufruhrgesetz folgenden <strong>St</strong>rafverfolgungsprozessen<br />

weiterentwickelt worden. In verschiedenen Traktaten und Büchern seien seine<br />

Argumente dahingehend verfeinert worden, dass schliesslich das Konzept der "aufrührerischen<br />

Schmähschriften" als ein Verbrechen angesehen und an seine <strong>St</strong>elle die Verteidigung einer nahezu<br />

absoluten <strong>politische</strong>n Meinungsäusserungsfreiheit getreten sei. 205<br />

Eine solche beinahe unbeschränkte Freiheit auf <strong>politische</strong> Meinungsäussserung im Sinne des new<br />

libertarianism wurde - ein Umstand, auf den die Forschung bisher nicht eingegangen ist - auch <strong>von</strong><br />

<strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> in seinem Inquiry verteidigt. <strong>Taylor</strong> war der Meinung, dass die Federalists die Anti-<br />

Aufruhrgesetze zur Ausweitung der Machtfülle der Bundesgewalt gebrauchten und damit die Frei-<br />

201 Kelly, Harbison & Belz (1965: 131); Mayer (1994: 167).<br />

202 Kelly, Harbison & Belz (1965: 131). Siehe vor allem auch Levy (1962: 32): "By every standard the Sedition Act was a<br />

great victory for libertarian principles <strong>of</strong> freedom <strong>of</strong> the press - except that libertarian standards abruptly changed<br />

because the republicans immediately recognized a Pyrrhic victory."<br />

203 Siehe dazu und zum Folgenden Brugger (2002: 264f.) und Elkins & McKitrick (1993: 700f.).<br />

204 Elkins & McKitrick (1993: 700). Diese Lesart hat ihre Wurzeln in der civil rights-Bewegung der 1950er und 1960er<br />

Jahre. Sie geht da<strong>von</strong> aus, dass der Verfassungsgeber mit dem ersten Verfassungszusatz bewusst das englische<br />

Common law betreffend seditious libel beseitigt und damit jegliche Einschränkungen der Pressefreiheit verboten habe.<br />

Damit sei das Anti-Aufruhrgesetz, das bloss das englische Common law deklariert habe, verfassungswidrig gewesen.<br />

205 Mayer (1994: 168). Diese Argumentation geht auf Leonard Levy zurück. Siehe Levy (1962: 22ff.), ders. (1987: 258ff.)<br />

und ders. (1960). Nach Levy haben dabei folgende Schriften eine Rolle gespielt: George Hay’s Essay on the Liberty <strong>of</strong><br />

the Press (1799), James Madisons Report über die Virginia-Resolutionen (1800) und Tunis Wortmans Treatise concerning<br />

the Political Enquiry, and the Liberty <strong>of</strong> the Press (1800).


77<br />

heit des Einzelnen unterwanderten. 206 Nach <strong>Taylor</strong> hatten die Verfassungsväter der Unionsverfassung<br />

jedoch bereits in Art. 3 Sec. 3 Cst. (der den Tatbestand des Hochverrats normiert) ein natürliches<br />

Recht auf freie Meinungsäusserung (natural right <strong>of</strong> free utterance) zugrunde gelegt, welches<br />

schliesslich auch - nachdem eine besorgte Öffentlichkeit nach weitergehenden Sicherheiten verlangt<br />

habe - im ersten Verfassungszusatz festgeschrieben worden sei. 207 Dementsprechend, erklärte er,<br />

erfülle keine Meinungsäusserung - weder die Verbreitung <strong>von</strong> Respektlosigkeiten gegenüber Verfassung<br />

und <strong>St</strong>aat noch die <strong>St</strong>reuung <strong>von</strong> Unwahrheiten und Argumenten mit dem Ziel, beide verächtlich<br />

zu machen und ihren Umsturz herbeizuführen - den Tatbestand des Hochverrats. 208 Gegen eine<br />

Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit spricht nach <strong>Taylor</strong> nicht nur ihr Naturrechtscharakter,<br />

sondern auch die Tatsache, dass ein solcher Akt mit einem freien Regierungssystem (free<br />

government) nicht zu vereinbaren ist. Die Erhaltung der bürgerlichen Freiheit verlange eine schrankenlose<br />

Meinungsäusserungsfreiheit (unlimited freedom <strong>of</strong> discussion) betreffend Amtspersonen (magistrates)<br />

und deren Amtshandlungen. 209 Rede- und Pressefreiheit waren mit anderen Worten eine Voraussetzung<br />

für das Funktionieren eines auf den Prinzipien der Volkssouveränität und Repräsentation<br />

gründenden Regierungssystems. In <strong>Taylor</strong>s Argumentation finden sich konkret zwei Funktionen,<br />

welche die Meinungsäusserungsfreiheit erfüllt und zur Grundvoraussetzung eines jeden demokratischen<br />

Systems macht. Erstens bildet sie in einem System repräsentativer Behörden die Grundlage<br />

für die Verantwortlichkeit, Kontrolle und Instruktion der Volksvertreter, zweitens ist der freie Austausch<br />

<strong>von</strong> Meinungen unentbehrlich für den Prozess der öffentlichen Willensbildung und Gemeinwohlfindung.<br />

<strong>Taylor</strong>s Verteidigung einer absoluten Meinungsäusserungsfreiheit steht damit in<br />

engem Zusammenhang mit der <strong>von</strong> ihm bevorzugten Regierungsform, einer dem Volk nahe stehenden,<br />

repräsentativen Republik (popular representative republic). 210<br />

(1) Kontrollfunktion der Meinungsäusserungsfreiheit: Die der Menschheit zur Auswahl stehenden<br />

Alternativen im Umgang mit Freiheit und Herrschaft haben sich gemäss <strong>Taylor</strong> solange auf die<br />

Alternativen Tyrannei einerseits und gewaltsame Revolution andererseits beschränkt (auf eine Wahl<br />

zwischen Scylla und Charybdis), wie keine Kraft gefunden war, mit der die Ketten der Sklaverei aufgebrochen<br />

werden konnten, ohne dabei gleich einen Bürgerkrieg (civil war) zu provozieren. "No such<br />

force has occurred to the mind <strong>of</strong> man", erklärt <strong>Taylor</strong>, "except the freedom <strong>of</strong> discussion". 211 Mit<br />

der Meinungsäusserungsfreiheit können mit anderen Worten gleich zwei Übel vermieden werden:<br />

Einerseits eine Ordnung, die den Volkswillen missachtet (eine Tyrannei) und andererseits Versuche,<br />

die Beachtung des Gemeinwohls mit Hilfe gewaltsamer Revolution zu sichern. Die Garantie freier<br />

Meinungsäusserung erlaubt die Errichtung eines Regierungssystems, in dem die Regierenden durch<br />

die öffentliche Meinung kontrolliert und verantwortlich gehalten und damit an den Willen des<br />

206 Miller (1992: xiii).<br />

207 Art. 3 Sec. 3 US-Cst. beschränkt die Anklage für Hochverrat auf die Kriegsführung gegen die Vereinigten <strong>St</strong>aaten<br />

oder "die Unterstützung ihrer Feinde durch Hilfeleistung oder Begünstigung".<br />

208 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 414. Siehe hier insb.: "The utterance <strong>of</strong> any opinions could not constitute treason. Irreverence<br />

expressed for our constitution and government; falsehood or reasoning to bring into contempt and overturn them;<br />

were not thought politically criminal."<br />

209 Ibd., 414, 421<br />

210 Zur Thematik der Repräsentation und Verantwortlichkeit siehe Ziff. 7 unten.<br />

211 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 417.


78<br />

Volkes gebunden werden. 212 Presse- und Redefreiheit sichern die Garantie der Bindung der Volksvertreter<br />

an den Volkswillen, ohne dass dabei auf Mittel der Gewalt zurückgegriffen werden muss.<br />

Damit ist eine gewaltfreie und verhältnismässige Form des Widerstandes möglich, ein System der<br />

Selbstregierung, das nicht mit der Demokratie im Sinne der direkten Demokratie identisch ist, da die<br />

<strong>St</strong>aatsgeschäfte (Gesetzgebung, Gesetzesausführung, Rechtssprechung) an Repräsentanten des<br />

Volkes delegiert werden und deren Bindung an den Volkswillen gleichwohl sichergestellt werden<br />

kann. <strong>Taylor</strong> konnte daher die Idee des Widerstandes (resistance) als ein grosszügiges und aktives<br />

Prinzip bezeichnen, das <strong>von</strong> der Liebe zur Menschheit geprägt sei und sich für die Beförderung des<br />

Gemeinwohls einsetze. Er hatte aber eine gemässigte Form des Widerstands im Sinn - den der demokratischen<br />

Kontrolle und <strong>St</strong>euerung, den Widerstand mittels Kritik und Meinungen und Gegenmeinung<br />

- und akzeptierte gewaltsame Formen des Widerspruchs nur, wenn die Kanäle, die eine<br />

friedliche Kontrolle erlaubten, <strong>von</strong> den Behörden versperrt worden waren. 213<br />

(2) Bildung der Volksmeinung und Gemeinwohlfindung: Die zweite elementare Funktion der<br />

Meinungsäusserungsfreiheit liegt gemäss <strong>Taylor</strong> in ihrer Bedeutung für den Prozess der <strong>politische</strong>n<br />

Willensbildung. Der freie Austausch <strong>von</strong> Meinung und Gegenmeinung kläre die öffentliche Meinung<br />

über das Gute und Vortreffliche in den Behörden auf und trage so zur Bildung der öffentlichen<br />

Meinung bei: "Free discussion will instruct the publick mind, in what is just or excellent in government,<br />

as it refines the taste and judgement <strong>of</strong> mankind in relation to other sciences." Die öffentliche<br />

Meinung, die <strong>Taylor</strong> als "correct, trusty and inexorable tribunitial power" bezeichnete, lerne durch<br />

freien Austausch "to pronounce its veto against deviations from the principles <strong>of</strong> free government".<br />

214 Der <strong>politische</strong> Körper war nach <strong>Taylor</strong> ein intellektuelles, nicht-körperliches Wesen, das,<br />

weil es sich aus vielen verschiedenen Individuen zusammensetzt, nur "denken" kann, wenn es<br />

"schreibt" oder "spricht". Damit ist es, wie <strong>Taylor</strong> bemerkt, für seine Meinungsbildung, für den<br />

Prozess des Auffindens der öffentlichen Meinung, des Abwägens und Vergleichens, auf freien<br />

Meinungsaustausch angewiesen: "The body politick being composed <strong>of</strong> many distinct minds, cannot<br />

compare its ideals, except by collecting them through the external mediums <strong>of</strong> speaking and writing,<br />

or by free discussion." 215 Den absoluten Charakter der Meinungsäusserungsfreiheit und ihre Bedeutung<br />

für den Prozess der Herausbildung der öffentlichen Meinung (public opinion) begründet <strong>Taylor</strong><br />

auch mit dem Verweis auf die unterschiedliche Natur des britischen und des US-amerikanischen<br />

Regierungssystems im Hinblick auf den Inhaber der souveränen Herrschaftsgewalt. In Grossbritan-<br />

212 In seiner Rede zur Einführung der Virginia-Resolutionen erklärte <strong>Taylor</strong>, dass "the first born <strong>of</strong> the American rights,<br />

was the free examination <strong>of</strong> public servants" (Virginia-Resolutions, 29). Simms (1932: 76) fasst <strong>Taylor</strong>s Bemerkungen<br />

zum Anti-Aufruhrgesetz wie folgt zusammen: "He commented upon the words 'counsel or advise' in the Sediton<br />

Act, saying that counsel or advice be given only in spoken words, and that hence freedom <strong>of</strong> opinion was violated.<br />

[...] The sedition law, he contented, meant that the government created public opinion through fear [...] The only way<br />

to check despotism was through expression <strong>of</strong> discontent."<br />

213 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 418: "Resistance and submission to tyranny are relatively contraries. Resistance is a generous<br />

and active principle, inspired by a love <strong>of</strong> mankind, which makes all the efforts designed to advance the publick<br />

good; it is the sole defender <strong>of</strong> human liberty, and reasoning is its best and safest weapon. Ought the patriot, resistance,<br />

to be disarmed, and metamorphosed into the slave, submission? This patriot never draws a sword, unless he is<br />

robbed by law <strong>of</strong> free discussion."<br />

214 Ibd., 418.<br />

215 Ibd., 424.


79<br />

nien sei das Parlament souverän, in Amerika hingegen die Nation. Würde dem britischen Monarchen<br />

das Recht zustehen, mittels <strong>St</strong>rafen die Diskussionen unter den Abgeordneten des House <strong>of</strong><br />

Commons zu regulieren, entspräche deren Meinungsäusserungsfreiheit - wie <strong>Taylor</strong> betont - derjenigen<br />

der amerikanischen Nation unter Behörden, die ein Anti-Aufruhrgesetz erlassen. Besonders in<br />

einer grossflächigen Republik wie den Vereinigten <strong>St</strong>aaten sei dabei der Prozess der nationalen Meinungsbildung<br />

vom freien Austausch der Positionen abhängig. 216<br />

Kritik an den Inhabern der Regierungsgewalt war für <strong>Taylor</strong> ein positives Gut. <strong>Das</strong> Verhalten,<br />

mit dem Regierungen auf Kritik reagieren würden, entspreche dabei dem <strong>von</strong> guten und schlechten<br />

Schriftstellern: "Criticks, to good writers, are friends; to bad, foes. [...] Good and bad governments,<br />

regard free discussion, as good and bad writers do criticks." Kritik aber sei auf die Freiheit der Meinungsäusserung<br />

angewiesen, auf den "only impartial judge <strong>of</strong> governments". 217 Jeder Versuch der<br />

<strong>St</strong>aatsgewalt, diesen unparteiischen Richter zu kontrollieren, sei ein Zeichen <strong>von</strong> Furcht (fear) und<br />

Missgunst (jealousy). Seitens einer Nation sei eine solche Haltung legitim, da deren Rechte <strong>von</strong> den<br />

Behörden verletzt werden können. Den neidischen und missbilligenden Blick der Behörden auf die<br />

Nation lehnte <strong>Taylor</strong> hingegen als unbegründet ab. Eine Nation könne nämlich nicht ihre eigenen<br />

Rechte usurpieren. 218 In der Kritik des Volkes an der <strong>St</strong>aatsgewalt sowie im Misstrauen und in der<br />

Wachsamkeit gegenüber Amtsinhabern erblickte <strong>Taylor</strong> positive republikanische Werte. Sie dienen<br />

dem Schutz der Verfassung und ihrer Prinzipien und sind Ausdruck der ihr entgegengebrachten<br />

Verehrung. Daher war seiner Meinung nach die gegenüber einer Amtsperson (magistrate) gezeigte<br />

Ergebenheit in der Regel gleichzusetzen mit einer Verachtung gegenüber der Verfassung. Die Verachtung,<br />

welche die englische Nation gegenüber James II. gehegt habe, habe die Achtung gegenüber<br />

der englischen Regierungsform zur Grundlage gehabt. Verachtung für Verfassungsprinzipien und<br />

Verehrung <strong>von</strong> Männern, die der französischen Nation den Untergang ihrer Revolution beschert<br />

haben, seien Merkmale der Politik "<strong>of</strong> all despotick governments, enforced by sedition laws". 219<br />

Die gegen die Meinungsfreiheit erhobenen Gegenargumente wies <strong>Taylor</strong> entschieden zurück. Auf<br />

das Argument, dass der einzelne Bürger weder das Recht noch die Fähigkeiten besitze, Massnahmen<br />

der Behörden zu prüfen und zu erörtern, entgegnete er, dass, wer das Recht und die Fähigkeiten<br />

besitze, Behörden zwecks Schutz seiner Rechte zu errichten, auch in der Lage sei, über eine Frage<br />

(die Verfassungsmässigkeit des Behördenhandelns) entscheiden zu können, die alle seine Rechte<br />

umfasse und weite Teile seines Wohlbefindens beeinflusse. 220 Auf das Argument, die Freiheit der<br />

Presse und Rede werde zu Aufruhr und Bürgerkrieg führen, entgegnete er, dass die Neigung der<br />

216 Ibd., 425, Siehe hier insb.: "If each individual <strong>of</strong> the parliament, was confined separately in a dungeon, and brought<br />

out once a year to give a silent vote, parliamentary opinion and sovereignty would be, what national opinion and<br />

sovereignty becomes, under an inhibition <strong>of</strong> free discussion. Conferences by stealth, would be modes for discovering<br />

publick opinion in a wide territory, even less effectual, than the echo <strong>of</strong> those groans, which would resound among<br />

the cells <strong>of</strong> these incarcerated parliamentary sovereigns." Nach <strong>Taylor</strong> beschränkt sich Souveränität nicht auf einen<br />

einmal im Jahr abgehaltenen Wahlakt, sondern hatte eine permanente <strong>St</strong>euerung und Anweisung der Volksvertreter<br />

zum Inhalt.<br />

217 Ibd., 416.<br />

218 Ibd., 416.<br />

219 Ibd., 415. Siehe. hier vor allem: "Reverence for a magistrate, is frequently contempt for a constitution. [...] It [the<br />

sedition law policy, A.d.V.] proposes to us to wound our consciences, by becoming traitors to our constitutions."<br />

220 Ibd., 415.


80<br />

Menschheit, schlechte Behörden zu dulden, erfahrungsgemäss grösser sei als die, gute Behörden zu<br />

stürzen. Darüber hinaus werde die Neigung zum <strong>politische</strong>n Gehorsam unter guten Behörden durch<br />

die Möglichkeit freier Meinungsäusserung (by the influence <strong>of</strong> merit it discloses) gestärkt und nur unter<br />

schlechten Behörden (by disclosing the vices) geschwächt. 221 Selbst wenn man annehme, dass das Volk<br />

zur Unruhe und Anarchie neige, müsse man eingestehen, dass Behörden tausendmal stärker zur<br />

Tyrannei neigen. Warum aber, schliesst <strong>Taylor</strong> seine diesbezügliche Überlegung, soll die freie Meinungsäusserung<br />

unterdrückt und ein seltenes und zeitlich befristetes Übel (die Anarchie des Volkes)<br />

durch einen häufigen und dauerhaften Missstand (die Tyrannei der Behörden) ersetzt werden? 222 Auf<br />

das Argument, eine Nation könne sich irren und "schlechte Gedanken" (bad thoughts) haben, entgegnet<br />

<strong>Taylor</strong>, dass dasselbe in weit stärkerem Masse auch für Regierungen gelte, da sich diese durch<br />

ihre schlechten Gedanken Vermögen und Macht aneignen können, "whereas nations, by theirs, can<br />

only gain misfortune or despotism." Eine diktatorische Gewalt neige weitaus stärker zu lasterhaftem<br />

Verhalten als eine Nation. 223 Auf den Einwand, das freie Rederecht könne auch für Verleumdungen<br />

missbraucht werden, antwortete <strong>Taylor</strong> mit dem Hinweis auf den im Leben angelegten Dualismus<br />

<strong>von</strong> Gut und Böse. Jede Einrichtung habe ihre guten wie schlechten Seiten. Es sei aber fraglich, ob<br />

die Freiheit der Gesellschaft lediglich um der Verleumdung willen zerstört werden solle. 224 Darüber<br />

hinaus sei es fragwürdig, ob das Anti-Aufruhrgesetz in der Lage sei, den <strong>von</strong> ihm angestrebten<br />

Zweck, die Verbreitung <strong>von</strong> Falschheiten einzuschränken, zu erfüllen. Die Einschränkung der freien<br />

Rede führe einerseits dazu, dass man Regierungen mit Schmeichelei und Lobpreisung (malignity <strong>of</strong><br />

flattery) begegne, anderseits ermutige ein ausschliessliches Vorrecht zur Lüge eine herrschende Partei<br />

in verstärktem Masse dazu, Unwahrheiten zu verbreiten. Ein wechselseitiges Recht rivalisierender<br />

Parteien, solche Unwahrheiten zu verbreiten, könne mit grosser Wahrscheinlichkeit viel eher eine<br />

wechselseitige Kontrolle und Mässigung herstellen. 225<br />

<strong>Das</strong> letzte Argument <strong>Taylor</strong>s ist unscheinbar, aber dennoch gewichtig, denn es zeigt, dass er in<br />

der Meinungsäusserungsfreiheit die Voraussetzung einer Entwicklung erkannte, die <strong>von</strong> den Verfassungsvätern<br />

so nicht geplant war und <strong>von</strong> den Federalists, aber auch <strong>von</strong> vielen Republikanern (im<br />

Grunde auch <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>) abgelehnt wurde: die Herausbildung einer organisierten und legitimen<br />

Opposition, welche die Aufgabe hat, die Regierungspartei und deren Politik zu kontrollieren. Ohne<br />

Freiheit der Rede und Presse, mit einem Anti-Aufruhrgesetz, erkannte der Virginier, gibt es keine<br />

Opposition und damit keine Machtkontrolle durch sich wechselseitig um die Regierungsämter strei-<br />

221 Ibd., 417.<br />

222 Ibd., 418: "Suppose both, that the people are inclined to turbulence, and governments to tyranny. Yet, for one evil<br />

inflicted by turbulence upon governments, one thousand have been inflicted by tyranny upon nations. To suppress<br />

free discussion from an apprehension <strong>of</strong> an evil, rare and temporary; for the sake <strong>of</strong> fostering one, frequent and durable;<br />

would be obviously unwise."<br />

223 Ibd., 425. Siehe hier: "To cure the propensity <strong>of</strong> human nature for vicious projects, by constituting a dictatorial<br />

power over the right <strong>of</strong> thinking and discussing, in which the same propensity exists, in its most aggravated state, is<br />

plunging into the ocean, for fear <strong>of</strong> being drowned in a bucket <strong>of</strong> water."<br />

224 Ibd., 420.<br />

225 Ibd., 420, hier: "An exclusive privilege <strong>of</strong> lying in a predominant party, is a premium for its encouragement; and an<br />

equality in the right between rival parties, may produce a reciprocal check."


81<br />

tende Parteien. 226 <strong>Das</strong> Recht auf freie, über die Einschränkungen des englischen Common law <strong>of</strong> seditious<br />

libel hinausgehende Meinungsäusserung bildet damit zusammen mit den anderen Naturrechten<br />

das Fundament (die chain <strong>of</strong> national rights), auf der <strong>Taylor</strong>s das Prinzip der Selbstregierung des Volkes<br />

verwirklichende, repräsentative Republik gründet. Die folgende hymnische Lobrede, die <strong>Taylor</strong> im<br />

Inquiry auf das Prinzip der free discussion und die aus ihr fliessenden Wohltaten hält, zeigt zusammenfassend,<br />

dass seiner Meinung nach wirkliche, über den blossen Wahlakt hinausgehende Volkssouveränität<br />

nur möglich ist, wenn das "kostbare Juwel" der freien Meinungsäusserung garantiert ist. Nur<br />

mit dem Recht auf free discussion kann letztendlich die Gefahr des Despotismus gebannt werden:<br />

That free discussion is the creator, the preceptor and the organ <strong>of</strong> the publick opinion; the guardian <strong>of</strong> national<br />

sovereignty and <strong>of</strong> religious freedom; the seedsman <strong>of</strong> political knowledge, and the guarantee <strong>of</strong> moderate<br />

government; this precious jewel in our policy is rendered inestimable, as another link in our chain <strong>of</strong><br />

national rights, necessary to bestow efficacy upon election. 227<br />

Der Erlass der Fremden- und Aufruhrgesetze und ihre Verteidigung durch die Federalists beunruhigten<br />

<strong>Taylor</strong> dermassen, dass er verschiedene Vertraute in Virginia zu einer verstärkten, auf eine<br />

endgültige Entscheidung abzielende Konfrontationspolitik der Republicans in den Gremien des<br />

Bundes drängte. 228 Für <strong>Taylor</strong> war die Zeit des Abwartens zu Ende. Mit Nachdruck wollte er eine<br />

Entscheidung auf Bundesebene herbeiführen. An eine Abspaltung Virginias <strong>von</strong> der Union dachte<br />

er dabei jedoch nicht. Eine solche war seiner Meinung nach zwar jeglicher weiterer Unterdrückung<br />

vorzuziehen, der Zeitpunkt dafür war aber noch nicht gekommen. In der Union sah er einen Wert<br />

an sich. Eine Abspaltung <strong>von</strong> ihr war daher erst zulässig, wenn alle <strong>politische</strong>n und legalen Mittel<br />

nicht fruchteten. 229<br />

<strong>Das</strong> zweite fundamentale Naturrecht in <strong>Taylor</strong>s <strong>politische</strong>r Philosophie ist neben der Meinungsäusserungsfreiheit<br />

die Eigentumsfreiheit oder Eigentumsgarantie. Wie Willi Paul Adams gezeigt hat,<br />

entwickelten die Eliten der amerikanischen Revolution keine neuen Eigentumsvorstellungen. 230 Was<br />

sie vom englischen Mutterland einforderten, war lediglich die Übertragung der <strong>von</strong> den englischen<br />

226 Elkins & McKitrick (1993: 701): "The freedom <strong>of</strong> the Republican press to pass judgment on <strong>of</strong>ficeholders - openly,<br />

aggressively, even abusively - was essential to the party’s survival. In short, the very concept <strong>of</strong> seditious libel was<br />

flatly incompatible with party politics. The Republicans, if only by instinct and after the fact, were beginning to understand<br />

this, while the Federalist still had little or no inkling <strong>of</strong> it. Parties, in a modern sense, cannot function at all<br />

under such a principle, and parties by now - though nobody could yet admit it without some discomfort - were<br />

there."<br />

227 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 436.<br />

228 Siehe den Hinweis <strong>von</strong> Shalhope (1980a: 99f.) auf den Brief <strong>Taylor</strong>s an Henry Tazewell vom 1. Juli 1798: "<strong>Taylor</strong><br />

believed the Republicans should formally secede from Congress in order to draw the issue sharply for the people and<br />

then move to amend the Constitution. Without this, what would be 'hoped from planting the soundest tree in this<br />

hot bed <strong>of</strong> corruption, but that it will immediately degenerate, and produce fruit as poisonous, as the qualities it subsists<br />

upon itself?' To continue to elect 'rough-hewn Republicans' only to have them 'melted down into courtly monarchists'<br />

seemed absurd to <strong>Taylor</strong>. He wanted forceful action, not more declaratory exercises and prudence."<br />

229 Miller (1992: xiv). <strong>Taylor</strong> war entgegen eines in der Jefferson-Forschung weit verbreiteten Missverständnisses, das<br />

auf Jeffersons berühmten Brief vom 1. Juni 1798 an <strong>Taylor</strong> zurückgeht, kein Anhänger einer Sezession. <strong>Taylor</strong> hatte<br />

in einen Brief an Anthony New geschrieben, dass es nicht ungewöhnlich (unusual) sei, in seiner Gegend zu Ohr zu<br />

bekommen, dass sich Virginia und North Carolina <strong>von</strong> der Union abspalten. Zum Zeitpunkt, als Jefferson eine<br />

Kopie <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Brief in die Hände bekam, war diese so verschmutzt und befleckt, dass er unklug (unwise) anstatt<br />

ungewöhnlich (unusual) las. Die Folgen dieses "Lesefehlers" waren nicht unbedeutend, machte er doch aus <strong>Taylor</strong><br />

einen Anhänger und nicht einen Reporter des Sezessionsgedankens. Siehe dazu Hill (1977: 287, 317).<br />

230 Siehe zu den folgenen Gedanken Adams (1973: 192).


82<br />

Whigs seit langem kanonisierten Eigentumskonzeption auf die Eigentümer in den Kolonien und<br />

deren Beachtung. Für die Begründung dieses Anspruches war Lockes umfassende Eigentumsvorstellung<br />

<strong>von</strong> Nutzen. Locke hatte in seiner Gesellschaftstheorie aufgezeigt, dass durch die Einführung<br />

der Geldwirtschaft und durch die mit ihr einsetzende Hebung des allgemeinen Wohlstandes die<br />

Faktoren aufgehoben wurden, die das natürliche legitime Besitzstreben zunächst eingeschränkt<br />

haben (das Erworbene darf nicht verderben, d.h. jedermann darf nur soviel erwerben, wie er<br />

verbrauchen kann; anderen müssen genügend und gleichwertige Güter zum Erwerb verbleiben). Wie<br />

Adams betont, entsprach Lockes naturrechtlich-ethische Legitimierung praktisch ungehinderten<br />

Besitzstrebens der Interessenlage der Kolonisten. 231 Die Kolonien, in beschränktem Masse später<br />

auch die Einzelstaaten, waren "expansive Landnahmegesellschaften", in Macphersons Typologie<br />

eine possessive market society, in der das Eigentum die zentrale und entsprechend zu schützende Institution<br />

bildete. 232 Der Umstand, dass in den Kolonien Land und sonstiges Eigentum relativ leicht<br />

erworben werden konnte, machte die Kolonisten nicht nachsichtiger gegenüber Eingriffen der<br />

Krone, sondern im Gegenteil weniger duldsam. In der im Vergleich zu europäischen Ländern relativ<br />

breiten Eigentumsverteilung erblickten sie "eine Art Verdienst und besondere Leistung", die sie <strong>von</strong><br />

der alten Welt unterschied und in ihrer Identität stärkte. 233 Nach Adams war die amerikanische<br />

Revolutionsgesellschaft keine Mittelklassengesellschaft im Sinne "wirtschaftlicher Demokratie" oder<br />

"sozialer Harmonie". Die Mittelklasse (aber auch die an ihren Werten orientierte Unterschicht und<br />

die Oberklasse) sei vom <strong>St</strong>reben nach Eigentum in freiem Wettbewerb, nach Eigentum als dem<br />

Garanten <strong>von</strong> sozialer Sicherheit und sozialem <strong>St</strong>atus angetrieben worden. Einerseits sei das Eigentum<br />

gleichmässiger als in Europa und als in den Vereinigten <strong>St</strong>aaten der zweiten Hälfte des zwanzigsten<br />

Jahrhunderts verteilt gewesen, andererseits sei jedoch bereits eine Anpassung an europäische<br />

Verhältnisse (die Herausbildung einer zunehmend ungleichen Eigentumsverteilung) im Gang gewesen.<br />

234<br />

Der <strong>St</strong>ellenwert des Eigentums in der amerikanischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts widerspiegelt<br />

sich auch in ihrem Hochhalten der persönlichen Unabhängigkeit als zentralem Wert. <strong>Das</strong><br />

Ideal der Unabhängigkeit - mit all seinen wirtschaftlichen und <strong>politische</strong>n Implikationen - war nicht<br />

auf die Gentry Virginias beschränkt, sondern repräsentierte einen der Werte, den Virginias Oberschicht<br />

mit derjenigen in Neu-England und mit den angloamerikanischen Eliten im Allgemeinen<br />

231 Adams (1973: 192f.); Euchner (1977: 33f.). Auf die Bedeutung der Einführung des Geldes für die Rechtfertigung des<br />

ungehinderten Besitzstrebens hat insb. Macpherson (1962: 223ff., 249f.) hingewiesen.<br />

232 Adams (1973: 193). Siehe auch Macpherson (1962: 65-72). Eine andere Position vertritt McDonald (1985: 66), nach<br />

dem Lockes Theorie der Naturrechte zwar mit den Zielen der Gründerväter <strong>von</strong> 1776, nicht aber mit den "desires <strong>of</strong><br />

the society <strong>of</strong> acquisitive individuals that emerged afterward" übereinstimmte. Gemäss McDonald können die bürgerlichen<br />

Gesetze, die dem Schutz des natürlichen Rechts auf Eigentum dienen, nicht die Existenz eines eigentumslosen<br />

Proletariats zulassen: "For no civil law can be valid unless it 'be conformable to the Law <strong>of</strong> Nature,' and<br />

the law <strong>of</strong> nature decrees that no man can have such a 'Portion <strong>of</strong> the things <strong>of</strong> this World' as to deprive 'his needy<br />

Brother a Right to the Surplusage <strong>of</strong> his Goods. [...] As Justice gives every Man a Title to the product <strong>of</strong> his honest<br />

Industry, and the fair Acquisitions <strong>of</strong> his Ancestors descended to him, so Charity gives every Man a Title to so much<br />

out <strong>of</strong> another’s Plenty, as will keep him from extreme want'." Siehe McDonald (1985: 65f.). Für die zitierte Passage<br />

bei <strong>John</strong> Locke siehe Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung (1690), II, § 135, II, § 42.<br />

233 Adams (1973: 193).<br />

234 Ibd., 194.


83<br />

teilte. Gleichwohl wurde der Wert der persönlichen Unabhängigkeit in einer Sklavenhaltergesellschaft<br />

wie derjenigen Virginias besonders hochgehalten. 235 Die Qualität, die am ehesten zum<br />

Ausdruck bringt, was es brauchte, um in die Gentry Virginias aufgenommen und zum Gentleman zu<br />

werden, wird mit dem Begriff liberality umschrieben, was am ehesten mit Freigiebigkeit oder Grosszügigkeit<br />

übersetzt werden kann. 236 Dem Wort liegen zahlreiche Nebenbedeutungen zugrunde, wobei<br />

deren drei <strong>von</strong> besonderem Interesse sind, wenn es um die Bedeutung des Konzepts der Unabhängigkeit<br />

und - damit eng verbunden - um die Rolle des Eigentums in der Oberschicht Virginias<br />

geht. Liberality bedeutete zuallererst Freiheit <strong>von</strong> materiellen Bedürfnissen und <strong>von</strong> schwerer, körperlicher<br />

Arbeit für den eigenen Lebensunterhalt, wie sie für ärmere Schichten charakteristisch war.<br />

Zweitens war mit liberality das Freisein <strong>von</strong> einer knechtischen Unterwerfung gemeint, wie sie mit<br />

dem <strong>St</strong>reben nach Befriedigung materiellen Mangels einhergeht. Drittens hiess liberality Freisein vom<br />

Zwang, Interessenüberlegungen vor Fragen der Ehre und Würde zu stellen und damit die eigene<br />

Unabhängigkeit aufzugeben. Alle drei Freiheiten bedingten den Besitz eines bestimmten Masses an<br />

Eigentum (in Virginia in erster Linie in Form <strong>von</strong> Land und Sklaven) und erklären damit dessen<br />

<strong>St</strong>ellenwert im <strong>Denken</strong> und Handeln der Oberschicht <strong>von</strong> Old Dominion.<br />

Darüber hinaus spielte Eigentum (insbesondere Landeigentum) auch in der in den Plantagenstaaten<br />

des Südens weit verbreiteten agrarisch-republikanischen Ideologie eine dominante Rolle. 237 Die<br />

Gesellschaften des Südens lehrten ihre Mitglieder in scharfem Kontrast zur Fleiss-, Sparsamkeitsund<br />

Arbeitsethik (work ethic) der Neu England-<strong>St</strong>aaten Werte wie Trägheit, Verschwendung und eine<br />

Ethik der Musse (leisure ethic). Der Rückgriff auf klassisches republikanisches Gedankengut erlaubte<br />

den Südstaatenrepublikanern gleichwohl anzunehmen, ihre Gesellschaft produziere ein ausreichendes<br />

Mass an Tugend. Im traditionellen republikanischen <strong>Denken</strong> bedeutete Tugend Mannhaftigkeit<br />

und Mannhaftigkeit nichts anderes als Unabhängigkeit. So hatte James Harrington in seiner Oceana<br />

(1656) den Gedanken formuliert, dass die notwendige Unabhängigkeit nur gewährleistet ist, wenn<br />

ein Mann genügend Land besitzt - frei <strong>von</strong> Schulden und anderen Verpflichtungen -, um die eigenen<br />

und die materiellen Bedürfnisse seiner Familie zu befriedigen. Dieser Gedanke wurde später <strong>von</strong><br />

Trenchard und Gordon in Cato’s Letter (1720) sowie <strong>von</strong> Bolingbroke in verschiedenen seiner Schriften<br />

übernommen. In diesem Denkschema waren die Begriffe Tugend, Unabhängigkeit und Freiheit<br />

untrennbar miteinander verbunden. Landbesitz wurde als Grundlage der Unabhängigkeit und diese<br />

wiederum als Grundlage der Tugend angesehen. Tugend aber war die Voraussetzung für republikanische<br />

Freiheit. 238<br />

Die Bedeutung, welche die Kolonisten dem Eigentumskonzept zuerkannten, widerspiegelt sich in<br />

den Gründungsdokumenten der amerikanischen Unabhängigkeit. Hatte Jefferson in der Unabhängigkeitserklärung<br />

noch eine gewisse Zurückhaltung an den Tag gelegt und in der Aufzählung der<br />

unveräusserlichen Rechte Eigentum durch the pursuit <strong>of</strong> Happiness ("das <strong>St</strong>reben nach Glück") ersetzt,<br />

235 Sloan (1995: 31); Isaac (1982: 145).<br />

236 Siehe dazu Isaac (1982: 131).<br />

237 Siehe hierzu und zum Folgenden McDonald (1985: 74f.).<br />

238 McDonald (1985: S. 74f.).


84<br />

garantierten die Grundrechteerklärungen verschiedener Einzelstaaten den Schutz des Eigentums. 239<br />

So erklärte die Bill <strong>of</strong> Rights <strong>von</strong> Virginia, dass alle Menschen "gewisse angeborene Rechte" besitzen,<br />

"deren sie ihre Nachkommenschaft bei der Begründung einer <strong>politische</strong>n Gemeinschaft durch keinerlei<br />

Abmachungen berauben oder zwingen können, sich ihrer zu begeben" und dass dazu "die<br />

Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu behalten" gehört. 240 Willi Paul Adams formulierte den<br />

Gedanken, der die Gründerväter im Hinblick auf die Eigentumsgarantie antrieb, folgendermassen:<br />

Nicht Umverteilung <strong>von</strong> Eigentum oder die Sicherung öffentlichen Eigentums schien ihnen 1776 das Gebot<br />

der <strong>St</strong>unde, sondern die Bekräftigung des Anspruchs jedes einzelnen auf Rechtsschutz des Erworbenen. Der<br />

Selbstbeschränkung des Souveräns, die die Grundrechteerklärungen auch darstellten, lag nicht nur die Absicht<br />

zugrunde, Freiheit der Meinungsäusserung und der Religionsausübung zu sichern, sondern auch die<br />

Freiheit des <strong>St</strong>rebens nach Eigentum. 241<br />

Den Geist dieses 1776 verkündeten Gebots des Anspruchs jedes Einzelnen auf Schutz des Erworbenen<br />

atmete auch <strong>Taylor</strong>s Naturrechtsdenken. <strong>Taylor</strong> reduzierte Lockes Dreier-Schema (life, liberty<br />

and property) in der Regel auf ein Einer-Schema, nämlich auf ein natürliches Recht auf Eigentum.<br />

Dem Recht auf Leben liegt gemäss <strong>Taylor</strong> implizit das Recht auf die Produkte der eigenen Arbeit<br />

und damit das Recht auf Eigentum zugrunde, denn nur wer sein erarbeitetes Eigentum behalten<br />

könne, sei in der Lage, sein Leben zu erhalten. So spricht <strong>Taylor</strong> vom natürlichen Recht "auf die<br />

Früchte der eigenen Arbeit" (right <strong>of</strong> each man to his own labour), das der Erhaltung des Lebens dient (by<br />

which his life can preserved) und da<strong>von</strong>, dass die (zwangsmässige) Übertragung <strong>von</strong> Eigentum eine Verletzung<br />

des Rechts auf Leben darstellt. 242 Leben, Freiheit und Eigentum sind gemäss <strong>Taylor</strong> wechselseitig<br />

verknüpfte Rechte, paramount rights, die nur miteinander bestehen können und gemeinsam die<br />

<strong>St</strong>aatsmacht beschränken. 243 <strong>Taylor</strong> sieht in der Garantie der Eigentumsfreiheit die Grundlage für die<br />

bürgerliche Freiheit (civil liberty) und für gute Behörden (good government), 244 lehnt es aber ab, jeder<br />

Form <strong>von</strong> Eigentum den <strong>St</strong>atus eines Naturrechts zuzugestehen. <strong>Taylor</strong> unterscheidet zwischen zwei<br />

Eigentumsformen im weiteren Sinne: dem natürlichen Eigentum (natural property) als dem Produkt<br />

239 Adams (1973: 195), ibd.: "<strong>Das</strong>s Jefferson es ernst meinte mit seiner Wortwahl, legt der Bericht nahe, demzufolge er<br />

später in einer <strong>von</strong> Lafayette entworfenen Erklärung der Menschenrechte 'Eigentum' durchstrich und darüber<br />

schrieb 'The power to dispose <strong>of</strong> his person and the fruits <strong>of</strong> his own industry, and <strong>of</strong> all his faculties'." Nach<br />

Yarbrough (1998: 89f.) erkannte Jefferson Eigentum nicht als Naturrecht an, da er es als "gift <strong>of</strong> social law" betrachtete.<br />

Da Naturrechte unveräusserlich sind ("rights that we cannot give up or transfer to another, either because it is<br />

not possible for others to exercise these rights for us [...] or because such a transfer runs contrary to our own good")<br />

und das Eigentumsrecht erst in den fortgeschrittenen Gesellschaften stabiler und ausschliesslicher Natur ist (und<br />

damit ein soziales Recht darstellt), habe Jefferson es nicht in seinen Katalog unveräusserlicher Rechte aufgenommen.<br />

240 Bill <strong>of</strong> Rights <strong>von</strong> Virginia, vom 12. Juni 1776, abgedruckt in: Wasser (1989: 464). Ähnliche Bestimmungen enthielten<br />

auch die Rechtserklärungen <strong>von</strong> Massachusetts und Delaware. Siehe Adams (1973: 195f.).<br />

241 Adams (1973: 195f.).<br />

242 <strong>Taylor</strong> (1820), Construction Construed, 206. Ibd.: "The rights <strong>of</strong> each man to his own labour, by which only his life can<br />

be preserved, is as much a natural right, as a right to life itself; nor was there any more need to stipulate in actual social<br />

compacts for its safety, than for the safety <strong>of</strong> life. It is an evasion <strong>of</strong> the right to live, to take the products <strong>of</strong><br />

labour by which man live, and to give them to other men." Siehe zum Naturrechtsstatus des Rechtes auf die eigene<br />

Arbeit auch, ibd., 9f., 30 ("the natural rights <strong>of</strong> mankind to the fruits <strong>of</strong> their own labour"), 203 ("right <strong>of</strong> the freedom<br />

<strong>of</strong> property"; "Man, by nature, had two rights; to his conscience, and to his labour"), 204 ("the natural rights <strong>of</strong><br />

labour"; "freedom <strong>of</strong> property, as a natural right").<br />

243 Ibd., 67, 207.<br />

244 Ibd., 10.


85<br />

und Lohn der Arbeit einerseits (nur natürliches Eigentum ist Eigentum im eigentlichen Sinn des<br />

Wortes) und künstlichem Eigentum (artificial property) andererseits, ein Produkt vielfältiger künstlicher<br />

Einrichtungen, die sich durch das Wegnehmen <strong>von</strong> erarbeitetem Eigentum charakterisieren (einfacher<br />

gesagt: Besitz, der nicht durch Arbeit, sondern durch Diebstahl, Betrug oder die verfeinerte<br />

Variante der beiden, eine Partikularinteressen begünstigende Umverteilungsgesetzgebung, erworben<br />

wird.). 245 Wie Locke betrachtete <strong>Taylor</strong> Eigentum als ein natürliches Derivat des Selbsterhaltungstriebs<br />

bzw. -rechts. Um zu überleben und damit den Gesetzen seines Schöpfers zu folgen, sei der<br />

Einzelne gezwungen, sich Dinge anzueignen und zu arbeiten. Die Früchte dieser Arbeit seien daher<br />

sein Eigentum: "As nature compelled man to acquire in order to exist, his acquisitions from his own<br />

labour are his property, according to the law <strong>of</strong> his maker; since man must have existed before society."<br />

246 Nach <strong>Taylor</strong> besitzt daher nur natürliches Eigentum, nur durch ehrliche Arbeit, durch<br />

Fleiss und Anstrengung geschaffenes Eigentum, den <strong>St</strong>atus eines Naturrechts. Dem künstlichen<br />

Eigentum kommt dieser <strong>St</strong>atus nicht zu. Für ihn ist Eigentum damit ein unveräusserliches natürliches<br />

und nicht erst ein <strong>von</strong> der Gesellschaft eingeräumtes soziales Recht, das - da <strong>von</strong> der Gesellschaft<br />

gewährt - <strong>von</strong> ihr auch wieder weggenommen oder anderweitig reguliert werden kann.<br />

Wie oben bereits erwähnt wurde, folgt aus dem Naturrechtsstatus nicht, dass <strong>Taylor</strong> jede Art <strong>von</strong><br />

Eingriff in die Eigentumsfreiheit ablehnte. Beschränkungen der Freiheitsrechte, die zwingend sind,<br />

um eine freie Bürgergesellschaft einzurichten, sind gemäss <strong>Taylor</strong> durchaus zulässig, soweit sie für<br />

den Schutz der Freiheit der anderen und damit für die gesellschaftliche Freiheit (social liberty) notwendig<br />

sind. <strong>Taylor</strong> erklärt zwar, dass man bei der Einrichtung der amerikanischen Gesellschaften<br />

auf diejenigen natürlichen Rechte "verzichtet" habe, die für die Erhaltung der zurückbehaltenen<br />

natürlichen Rechte notwendig gewesen seien. Wie aus seiner Argumentation ersichtlich ist, geht er<br />

aber da<strong>von</strong> aus, dass bei diesem Schritt nicht vollständig auf die Eigentumsfreiheit verzichtet wurde,<br />

sondern nur insoweit es "die Sicherheit und das Glück der Gesellschaft" verlangt hätten. 247 Anderswo<br />

erklärte er, dass das Verfassungssystem der Vereinigten <strong>St</strong>aaten auf der Idee gründe, dass es weise<br />

und gereicht sei, die Verteilung des Eigentums dem Fleiss und der Begabung zu überlassen; dass<br />

alles, was sie erarbeiten, ihnen gehört, mit Ausnahme dessen, was sie der Gesellschaft schulden; dass<br />

sie nichts der Gesellschaft schulden, ausser einem Beitrag für die dringendsten Bedürfnisse des<br />

<strong>St</strong>aates; dass sie Monopolen oder exklusiven Vorrechten in keiner Weise etwas schulden und dass<br />

245 Siehe Ziffer 4.2 unten. Lockes Eigentumskonzept verknüpfte die Kategorien Arbeit und Eigentum erstmals. Siehe<br />

Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung (1690), II, § 44 und 27: "Obwohl die Dinge der Natur allen zur gemeinsamen<br />

Nutzung gegeben werden, lag dennoch die grosse Grundlage des Eigentums tief im Wesen des Menschen (weil<br />

er der Herr seiner selbst ist und Eigentümer seiner eigenen Person und ihrer Handlungen oder Arbeit)." Euchner<br />

(1996: 90) schreibt dazu: "Arbeit heisst Verausgabung <strong>von</strong> Geistes- und Körperkraft; Energien, die sich ganz unbezweifelbar<br />

im Eigentum des Arbeitenden befinden [...]. Im Arbeitsvorgang, so Lockes Metapher, 'vermischen' sich<br />

die Energie des Arbeitenden und der bearbeitete Gegenstand; deshalb wird dieser zum Eigentum des Arbeitenden."<br />

Zur Ähnlichkeit <strong>von</strong> Lockes und <strong>Taylor</strong>s Legitimation <strong>von</strong> Eigentum und ihres Konzepts des natürlichen Eigentums<br />

siehe auch MacLeod (1980: 396).<br />

246 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 546. Zu Lockes Ableitung des Eigentums aus dem Selbsterhaltungsrecht siehe Euchner (1996:<br />

88) und Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung (1690), I, § 85ff.<br />

247 <strong>Taylor</strong> (1820), Construction Construed, 77: "Our societies were instituted by a resignation <strong>of</strong> such natural rights, as was<br />

necessary for the preservation <strong>of</strong> those retained. Property was only made a common stock, so far as the social safety<br />

and happiness required."


86<br />

sowohl die Plünderungen eines wütenden Mobs wie auch partikulare Interessengruppen begünstigende<br />

Gesetze die Eigentumsfreiheit verletzen. 248 Einschränkungen der Eigentumsfreiheit mittels<br />

<strong>St</strong>euern, Zöllen oder sonstigen Abgaben akzeptiert <strong>Taylor</strong> also nur, wenn sie der Beförderung des<br />

Gemeinwohls und <strong>St</strong>aatszwecks, den er im Schutz der Naturrechte sieht, dienen. An anderer <strong>St</strong>elle<br />

formuliert er den Gedanken noch expliziter. Die Träger des natürlichen Rechts auf die Früchte der<br />

eigenen Arbeit hätten sich, in dem sie sich der Besteuerung des bürgerlichen <strong>St</strong>aates unterwarfen,<br />

nicht zu Sklaven einer despotischen Gewalt gemacht, sondern lediglich den Schutz und die Unterstützung<br />

des bürgerlichen <strong>St</strong>aates erkauft. <strong>St</strong>euern sei lediglich zwecks Finanzierung <strong>von</strong> Schutzmassnahmen<br />

zugestimmt worden, nicht aber für die Einrichtung einer staatlichen Gewalt, welche<br />

die Früchte der Arbeit eines Mannes zu einem anderen transferiert. Sobald aber die <strong>St</strong>euern einmal<br />

bezahlt seien, stelle die Eigentumsfreiheit (im Hinblick auf die nicht betr<strong>of</strong>fenen Teile dieses Rechtes)<br />

im gleichen Sinne ein Naturrecht dar wie etwa die freie Religionsausübung. 249 Nach <strong>Taylor</strong> sind<br />

<strong>St</strong>euern (money paid to the <strong>of</strong>ficers <strong>of</strong> government) wie auch die Finanzierung exklusiver Privilegien nichts<br />

anderes als ein Transfer <strong>von</strong> Eigentum. Es handelt sich um Zahlungen, denen kein wertmässiges<br />

Äquivalent (no equivalent in other property) gegenüber steht. Im Falle <strong>von</strong> <strong>St</strong>euern ist ein solcher Transfer<br />

aber zulässig, "so far as exactions for their compensation are necessary for social order, <strong>of</strong> which<br />

the security <strong>of</strong> property constitutes an essential article". Transferzahlungen verlieren ihre Berechtigung<br />

indessen, sobald ihr Ausmass die legitimen Erfordernisse zur Erhaltung <strong>von</strong> freiheitlichen Behörden<br />

überschreiten und sie allmählich tyrannische Behörden einführen. 250<br />

Die beinahe absolute Geltung des <strong>Taylor</strong>schen Rechts auf Eigentum - abgesehen <strong>von</strong> den eben<br />

beschriebenen Einschränkungen, die für die Finanzierung der Schutzaufgaben des bürgerlichen <strong>St</strong>aates<br />

notwendig sind (a right to tax for social purposes only) - widerspiegelt sich in den entsprechenden Eingriffsrechten,<br />

die <strong>Taylor</strong> dem Souverän und der <strong>St</strong>aatsgewalt zugesteht und die gleich null sind. Nach<br />

<strong>Taylor</strong> stellt "freedom <strong>of</strong> property from the indefinite despotism <strong>of</strong> sovereignty" sowohl den besten<br />

Schutz gegen "those unjust laws" dar, "by which social liberty is so <strong>of</strong>ten injured" als auch gegen die<br />

Tyrannei der Mehrheit, <strong>von</strong> der sie bereits so <strong>of</strong>t zerstört worden sei. 251 Weder der <strong>politische</strong> Souverän<br />

noch die Träger der <strong>St</strong>aatsgewalt (Exekutive, Legislative und Judikative) auf Bundes- und Einzel-<br />

248 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 260: "Our policy is founded upon the idea, that it is both wise and just, to leave distribution <strong>of</strong><br />

property to industry and talents; that what they acquire is all their own, except what they owe to society; that they<br />

owe nothing to society except a contribution equivalent to the necessities <strong>of</strong> government; that they owe nothing to<br />

monopoly or exclusive privilege in any form; and that whether they are despoiled by the rage <strong>of</strong> a mob, or the laws<br />

<strong>of</strong> a separate interest, the genuine sanction <strong>of</strong> private property is equally violated."<br />

249 <strong>Taylor</strong> (1820), Construction Construed, 204: "The natural right <strong>of</strong> labour, in subjecting themselves to contributions for<br />

the support <strong>of</strong> civil government, never meant to acknowledge themselves to be the slaves <strong>of</strong> a despotick power.<br />

These contributions were agreed to, for the purchase <strong>of</strong> protection, and not to establish a power for transferring the<br />

fruits <strong>of</strong> labour from one man to another. When paid, the freedom <strong>of</strong> property, as a natural right, occupies in relation<br />

to the remainder, the same ground which is occupied by the freedom <strong>of</strong> conscience. There is no reason to make any<br />

deduction from the later right, for the sake <strong>of</strong> civil government; the reason for doing so, as to the former, extends<br />

only to publick contributions, and when these are paid, the rights <strong>of</strong> property are the same as the rights <strong>of</strong> conscience."<br />

250 <strong>Taylor</strong> (1821), Tyranny Unmasked, 29. Siehe auch ibd., 28f.: "In such payments for the support <strong>of</strong> a free government,<br />

he obtains an equivalent in social security, but not in property; and even these expenditures, though highly beneficial<br />

to him, constitute al loss <strong>of</strong> property, sustained for the preservation <strong>of</strong> the residue."<br />

251 <strong>Taylor</strong> (1820), Construction Construed, 78.


87<br />

staatenebene besitzen bei <strong>Taylor</strong> das Recht, über dasjenige Mass hinaus, das zum Erhalt der gesellschaftlichen<br />

Freiheit notwendig ist, in die Eigentumsfreiheit des Einzelnen einzugreifen. Weder sei<br />

dem Souverän das Recht verliehen worden, Eigentum an Einzelpersonen oder partikulare Interessengruppen<br />

zu übertragen, noch sei der <strong>St</strong>aatsgewalt ein diesbezüglicher Auftrag erteilt worden:<br />

This wise and just principle even denies to the sovereignty <strong>of</strong> the people, a right to the private property <strong>of</strong> individuals,<br />

because the conventional act by which that species <strong>of</strong> sovereignty was created, conceded a right to<br />

tax for social purposes only, and withheld a right to tax for individual aggrandizement. I conclude therefore,<br />

that neither the state governments nor congress have a sovereign power over property; that neither <strong>of</strong> them<br />

has any right at all to create modes for transferring it artificially from one man or one interest to another; that<br />

the right <strong>of</strong> taxation, with which they are invested, is limited to the attainment <strong>of</strong> social ends or specified objects<br />

[...]. 252<br />

Gemäss <strong>Taylor</strong> verlangen weder die Sicherheit noch das Glück der Gesellschaft, dass der <strong>St</strong>aatsgewalt<br />

(government) das Recht zukommt, einen Teil des Volkes zu Armut und Unwissenheit zu verurteilen<br />

und dem anderen Teil ein Leben in Übermass und Überheblichkeit zu schenken, indem sie Gesetzen<br />

an <strong>St</strong>elle des Arbeitsfleisses (industry) die Rolle des dispenser <strong>of</strong> private property überträgt. 253<br />

<strong>Taylor</strong>s Verteidigung eines nahezu absoluten Eigentumsrechtes ist damit die Grundlage des <strong>von</strong> ihm<br />

vertretenen laissez-faire-Ansatzes. Seine libertäre Wirtschaftsideologie ist ohne ihr Fundament - das<br />

natürliche, beinahe uneingeschränkt geltende Naturrecht auf Eigentum - nicht denkbar. Eigentum<br />

soll durch Arbeitsfleiss, nicht aber durch gesetzliche Übertragungen verteilt werden und im Besitz<br />

<strong>von</strong> dem verbleiben, der es erarbeitet hat. Ein <strong>St</strong>aat, der die Verteilung des Eigentums dem Fleiss<br />

überlässt (und damit das Recht auf Eigentum schützt), befördert nach <strong>Taylor</strong> die gesellschaftliche<br />

Harmonie (social harmony). Zwingt die <strong>St</strong>aatsgewalt aber eine gesellschaftliche Klasse, für eine andere<br />

zu arbeiten (womit sie das natürliche Recht auf Eigentum verletzt), mache sie sich zum Förderer<br />

(sponsor) <strong>von</strong> innergesellschaftlichen Feindseligkeiten, <strong>St</strong>reit und Missgunst. 254 Umverteilung schafft<br />

konfligierende Interessengruppen, führt zu sozialen Spannungen und zerstört die organische Herausbildung<br />

eines die gesellschaftliche Einheit hochhaltenden, harmonischen Gemeinwesens. Die<br />

Garantie der Eigentumsfreiheit ist für <strong>Taylor</strong> damit ein republikanisches Grundprinzip und die Voraussetzung<br />

für <strong>politische</strong> Freiheit. Seine Verletzung in Form <strong>von</strong> Eigentumsübertragungen bedeutet<br />

hingegen nichts weniger als Tyrannei und Despotie. 255 Zusammen mit der Meinungsäusserungsfreiheit<br />

bildet sie eine der zentralen, unverrückbaren <strong>St</strong>ützen des <strong>Taylor</strong>schen Gedankensystems.<br />

Damit wurde im vorliegenden Abschnitt gezeigt, dass <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> über den <strong>St</strong>aat fest in der<br />

Lehre des Naturrechts verankert war. <strong>Taylor</strong> orientierte sich an den Ideen Lockes und am zeitgenössischen<br />

Naturrechtsdenken, das seinen Ausdruck in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung<br />

vom 4. Juli 1776 sowie - erstmals in Form <strong>von</strong> positivem, auch das Parlament bindendem Verfas-<br />

252 Ibd., 78<br />

253 Ibd., 77.<br />

254 <strong>Taylor</strong> (1821), Tyranny Unmasked, 14.<br />

255 Ibd., 17: "Political liberty consists only in a government constituted to preserve, and not to defeat the natural capacity<br />

<strong>of</strong> providing for our own good." Ibd., 78: "[...] republican principles, [...] teach that governments ought to be instituted<br />

to secure the right <strong>of</strong> providing for our own wants, according to our own will, and not according to the will <strong>of</strong><br />

the government; because such a power in government, however it may leave the mind speculatively free, is real despotism<br />

over both mind and body [...]." Siehe auch ibd., 237.


88<br />

sungsrecht - in der wenige Tage zuvor verabschiedeten Bill <strong>of</strong> Rights seines Heimatstaates Virginia<br />

erfahren hatte. Für <strong>Taylor</strong> waren Naturrechte unveräusserliche, dem einzelnen Menschen (und damit<br />

waren im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur weisse Männer, nicht aber Frauen, Kinder<br />

oder Menschen anderer Hautfarbe gemeint 256 ) zustehende Rechte, die den Einzelnen vor dem<br />

Allmachtsanspruch des absoluten <strong>St</strong>aates schützen. <strong>Taylor</strong>s Diskussion dieser Rechte war zwar<br />

streckenweise "somewhat conventionally" 257 , gleichwohl zeichnete sie sich durch eine Reihe <strong>von</strong><br />

durchaus bemerkenswerten Besonderheiten aus. <strong>Taylor</strong> betrachtete natural rights als die wirksamste<br />

Form der Machtbeschränkung und unterstrich immer wieder, dass ein "populares" repräsentatives<br />

Regierungssystem ohne dem Einzelnen zukommende, unveräusserliche Rechte nicht funktionieren<br />

kann. <strong>Das</strong>s sein Naturrechtsdenken nichts bloss epigonal war, zeigt seine Verteidigung eines uneingeschränkten<br />

Rechts auf freie Meinungsäusserung bei gleichzeitiger Ablehnung der <strong>von</strong> den Verfassungsvätern<br />

und den Federalists noch anerkannten, aus dem britischen Common law stammenden<br />

Rechtsfigur der aufrührerischen Schmäh- und Hetzrede (seditious libel). <strong>Taylor</strong> begründete hier -<br />

zusammen mit anderen, den Republikanern nahe stehenden Denkern - eine liberale Tradition der<br />

Meinungsäusserungsfreiheit, nach der sich das in den Verfassungen der Einzelstaaten und der Union<br />

festgeschriebene Grundrecht der Pressefreiheit nicht nur auf die Vorzensur, sondern auch auf jegliche<br />

Formen der Nachzensur erstreckt. Eine derart weitgehende Meinungsäusserungsfreiheit erfüllt<br />

gemäss <strong>Taylor</strong> wichtige Funktionen im Hinblick auf die Herausbildung der öffentlichen Meinung.<br />

Zudem erkannte er, dass ohne eine solche Freiheit nicht an eine wichtige Kontrollaufgaben ausübende,<br />

legitime Opposition gedacht werden kann. Eine letzte Besonderheit <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Naturrechtsdenken<br />

war der besondere Nachdruck, mit dem er ein beinahe absolut geltendes Naturrecht<br />

auf Eigentumsfreiheit verteidigte. Auch hier widerspiegelt <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> zwar wiederum das der<br />

Unabhängigkeitsbewegung und deren Rechteerklärungen eingeschriebene <strong>Denken</strong> der Revolutionsgeneration,<br />

gleichzeitig ging es aber mit seiner fast uneingeschränkten Verteidigung der Eigentumsgarantie<br />

über dieses <strong>Denken</strong> hinaus und <strong>of</strong>fenbarte eine Vorform radikal liberalen (libertären)<br />

<strong>Denken</strong>s, für das es zur Zeit der frühen amerikanischen Republik - mit Ausnahme <strong>von</strong> Thomas<br />

Paine - noch keine Vorbilder gab. 258<br />

Wie im Folgenden (siehe Ziff. 2.4.) gezeigt wird, war <strong>Taylor</strong> der Ansicht, dass die Naturrechte<br />

(vor allem die Garantie des natürlichen Rechts auf Eigentum) in jeder Gesellschaft in ihrem Bestand<br />

durch künstliche gesellschaftliche Sonderinteressen (Interessengruppen, Parteien und Faktionen)<br />

bedroht sind. Diese separate interests - für <strong>Taylor</strong> sind es Aristokratien - würden in sämtlichen <strong>St</strong>ufen<br />

der gesellschaftlichen Entwicklung auftreten, stets verschiedene, der jeweiligen Entwicklungsstufe<br />

angepasste Formen annehmen und das Gemeinwohl verletzen.<br />

256 Dieser Aspekt des Naturrechtsdenkens des 18. Jahrhunderts wird <strong>von</strong> Bramhall (1999: 117-121), welcher der Meinung<br />

ist, <strong>Taylor</strong> habe die Naturrechtstheorie abgelehnt, kaum berücksichtigt. Siehe Bramhall (1999: 118): "<strong>Taylor</strong>’s<br />

historicism represents a rejection <strong>of</strong> natural rights theory - that is, the deification <strong>of</strong> abstract rights, such as the words<br />

in the Declaration, can give those members <strong>of</strong> society who are without power the justification to rebel. According to<br />

<strong>Taylor</strong>, the idea that all people, at all times, have the same political rights is simply a call to revolution. What is more<br />

important is a society’s historical development - have a people sufficiently advanced to be able to be given further<br />

rights?"<br />

257 Mudge (1939: 42).<br />

258 Siehe <strong>St</strong>romberg (1982: 43).


89<br />

2.4. Die Gefährdung der gesellschaftlichen Freiheit:<br />

Sonderinteressen, Faktionen, Aristokratie<br />

Der Gedanke, dass die Bürger einer Republik, wenn sie deren <strong>St</strong>abilität und Bestand sichern wollen,<br />

verpflichtet sind, ihr individuelles Wohl hintanzustellen und sich dem Gemeinwohl zu widmen, bildet<br />

die Essenz republikanischen <strong>Denken</strong>s und verkörperte gleichzeitig eines der Ideale, zu dem die<br />

Amerikaner während ihres Unabhängigkeitskampfes emporblickten. 259 In den Jahren des Krieges mit<br />

dem Mutterland erforderte die Kriegssituation immer wieder "den Aufruf zu Opferbereitschaft, zum<br />

Zusammenhalten, zum Hintanstellen <strong>von</strong> Privatinteressen". 260 Die Bedeutung des Gemeinwohlkonzepts<br />

in der Welt des 18. Jahrhunderts lässt sich nur verstehen, wenn man sich bewusst macht, dass<br />

die damalige Welt weitgehend <strong>von</strong> monarchischen Regierungsformen dominiert wurde. Für die<br />

Amerikaner wie auch für radikale Europäer war nur allzu <strong>of</strong>fensichtlich, dass die Beförderung privater<br />

Interessen <strong>von</strong> oligarchischen Herrschereliten auf Kosten des Gemeinwohls den grössten Missstand<br />

der zeitgenössischen <strong>St</strong>aatsformen darstellte. 261 Gleichzeitig assoziierte das <strong>St</strong>aatsdenken des<br />

18. Jahrhunderts mit der Republik eine Herrschaftsform, die durch ein beständiges Gegeneinander<br />

<strong>von</strong> Parteien und Faktionen gekennzeichnet ist und damit stets am Rande des Umsturzes steht. Als<br />

die Kriegsanstrengungen im Unabhängigkeitskrieg durch Fraktionierung, Regionalinteressen und<br />

Pr<strong>of</strong>itgeist geschwächt wurden, waren die Angloamerikaner s<strong>of</strong>ort mit Hinweisen auf den Wert der<br />

Gemeinwohlorientierung und auf die Gefahren <strong>von</strong> Privatinteressen zur Hand. 262<br />

Trotz dieses Hochhaltens des Gemeinwohls wurde <strong>von</strong> niemandem bestritten, dass in jeder Gesellschaft<br />

unterschiedliche, <strong>of</strong>t miteinander konkurrierende Interessen existieren. Mit Ausnahme des<br />

Grundkonflikts zwischen <strong>St</strong>aatsgewalt (genauer der Exekutive) und Volk diskutierten die Angloamerikaner<br />

aber nie ernsthaft den <strong>St</strong>ellenwert dieser Gruppen und es wurde tunlichst vermieden, den<br />

Interessengruppen und ihren Konflikten Legitimität zu verleihen, indem man sie in den formalen<br />

<strong>politische</strong>n Prozess integrierte. Weil <strong>St</strong>aaten als ein moralisches Ganzes, Gesellschaften als homogene,<br />

organisch gewachsene Einheiten angesehen wurden, betrachtete man Interessengruppen und<br />

Parteien, häufig ist auch <strong>von</strong> factions - Faktionen - die Rede, als Verirrungen und Perversionen, als<br />

Krankheitssymptome und Geschwüre im <strong>politische</strong>n Körper. 263 Obwohl ein paar wenige Denker<br />

(etwa David Hume) allmählich zum Schluss kamen, dass factions 264 in einem freien <strong>St</strong>aat unausweichlich,<br />

wenn nicht gar wünschenswert sind, wurden Trennungen und Spaltungen im Volk mehrheitlich<br />

nach wie vor als etwas Gefährliches und Schädliches angesehen, dessen Ursprung in Habgier,<br />

Machtstreben und Rachsucht zu suchen war. 265 Zurückgehend auf das bis in die Antike zurückrei-<br />

259 Siehe Wood (1969: 53-65); Schloss (2003: 35).<br />

260 Adams (1973: 224).<br />

261 Wood (1969: 54).<br />

262 Adams (1973: 226f.)<br />

263 Wood (1969: 58f.); Adams (1973: 227).<br />

264 Der Begriff faction bezeichnet abwertend "eine organisierte <strong>politische</strong> Gruppierung, die rücksichtslos ihr Eigeninteresse<br />

verfolgt und dem Gemeinwohl schadet". Siehe Adams & Adams (1994: lxxxviii). <strong>Das</strong> Oxford English Dictionary<br />

beschreibt eine Faktion als eine "party in the state or in any community or association." Die Bezeichnung werde immer<br />

mit einem"opprobrious sense" gebraucht, "conveying the imputation <strong>of</strong> selfish or mischievous ends or turbulent<br />

or unscrupulous methods". Oxford English Dictionary, Artikel "faction", Ziff. 3.<br />

265 Wood (1969: 59).


90<br />

chende Ideal der guten Gesellschaft verstanden die Kolonisten den <strong>St</strong>aat als ein organisches, einheitliches<br />

Gebilde. Republikanisches <strong>Denken</strong> teilte die Vision eines corporate Commonwealth, eines einheitlichen<br />

Gemeinwesens. Gesellschaftsvertrag, checks and balances und Naturrechte, betrachtete man im<br />

Allgemeinen als Vorkehrungen, welche das Volk vor seinen Herrschern schützen sollte und nicht<br />

verschiedene Teile der Gemeinschaft gegenüber Übergriffen des Mehrheitsinteresses. "The ideal<br />

which republicanism was beautifully designed to express was still a harmonious integration <strong>of</strong> all<br />

parts <strong>of</strong> the community." 266<br />

Die Grundrechteerklärung Virginias ist Ausdruck dieses <strong>Denken</strong>s und normiert das Gemeinwohl<br />

als oberstes Kriterium legitimer Herrschaft. 267 In ihrem dritten Artikel bestimmt sie das Gemeinwohl<br />

zur obersten Richtlinie gouvernementalen Handelns und erklärt allfälligen Widerstand gegen den<br />

Missbrauch <strong>von</strong> Regierungsgewalt für legitim: "Die Regierung ist eingesetzt oder soll eingesetzt werden<br />

um des gemeinsamen Wohles, Schutzes und der Sicherheit des Volkes, der Nation oder des<br />

Gemeinwesens willen; <strong>von</strong> all den verschiedenen Regierungen und Regierungsformen ist diejenige<br />

die beste, die ein Höchstmass an Glück und Sicherheit zu bieten vermag." Massstab für Widerstand<br />

und Umorganisation der Regierung sei das "allgemeine Wohl". 268<br />

2.4.1. Definition der Aristokratie<br />

<strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> widerspiegelt diesen Grundkonflikt zwischen Sonderinteressen und Gemeinwohl.<br />

<strong>Taylor</strong> unterscheidet im Inquiry "natural and general" <strong>von</strong> "artificial and particular interests". Zur<br />

ersten Klasse zählt er "industry, effort, and talents", zur zweiten Klasse "law and charters, for enriching<br />

individuals or factions". 269 <strong>Das</strong> natürliche Interesse einer Gesellschaft gründet nach <strong>Taylor</strong><br />

auf dem individuellen Arbeitsfleiss, auf Anstrengungen und den individuellen Talenten und Fähigkeiten.<br />

Künstliche Interessen (Sonderinteressen, Faktionen) gründen hingegen auf vom <strong>St</strong>aat geschaffenen<br />

gesetzlichen Privilegien, auf mittels Freibriefen oder Gesetzen gewährten Vorrechten.<br />

Solche gesetzlich begünstigten Gruppen bezeichnet <strong>Taylor</strong> als Aristokratien: "[A] transfer <strong>of</strong> property<br />

by law, is aristocracy, and [...] aristocracy is a transfer <strong>of</strong> property by law." 270 Nach <strong>Taylor</strong> zeichnen<br />

sich Sonderinteressen nicht bloss durch ein vom Gemeinwohl getrenntes Interesse aus, sondern<br />

werden darüber hinaus erst durch aktive staatliche Unterstützung geschaffen. 271 <strong>Das</strong> heisst auch,<br />

dass <strong>Taylor</strong> eine Gesellschaft mit verschiedenen konkurrierenden Interessengruppen nicht als etwas<br />

266 Wood (1969: 61).<br />

267 Adams (1973: 227f.).<br />

268 Siehe die Bill <strong>of</strong> Rights <strong>von</strong> Virginia, vom 12. Juni 1776, in: Wasser (1989: 464f.).<br />

269 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 299.<br />

270 Ibd., 352. Siehe auch ders. (1822), Tyranny Unmasked, 195. Hill (1977: 97) weist darauf hin, dass <strong>Taylor</strong>s Konzept der<br />

Eigentumsumverteilung jedes Gesetz erfasst, das indirekt oder direkt ohne Zustimmung des Eigentümers Eigentum<br />

wegnimmt oder entwertet. <strong>Taylor</strong> vertritt hier eine ähnliche Position wie Locke. Wenn einer der Zwecke für den Eintritt<br />

des Einzelnen in die Gesellschaft der Schutz des Eigentums ist, dann muss eine absolute Verfügungsmacht über<br />

das Eigentum eines Gesellschaftsmitglieds den Gesellschaftszweck und damit den Gesellschaftsvertrag verletzen.<br />

Siehe auch <strong>Taylor</strong> (1821) Defending the Rights and Interests <strong>of</strong> Agriculture ("the principle which caused men to unite in civil<br />

societies for defence <strong>of</strong> life, liberty and property, against violation and imposition"). Zum Zweck der Gesellschaft<br />

siehe auch Ziff. 2.2 oben.<br />

271 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 242 ("factious separate interest, neither live nor die naturally; they only live or die by law").<br />

Siehe auch ders. (1813), Arator, 73f.


91<br />

Natürliches ansieht, sondern als etwas <strong>von</strong> der <strong>St</strong>aatsgewalt Geschaffenes. Klassenkonflikte haben<br />

damit ihre Wurzeln nicht in der Gesellschaft, sondern in der Fähigkeit des <strong>St</strong>aates, die eine Interessengruppe<br />

auf Kosten einer anderen zu begünstigen. 272<br />

<strong>Taylor</strong> definiert eine partikulare Interessengruppe als eine Gruppe, deren Mitglieder <strong>von</strong> einem<br />

gemeinsamen (Eigen-)Interesse angetrieben werden. "Though an order or distinct interest" heisst es<br />

im Inquiry, "is compounded <strong>of</strong> many members, it constitutes only one body, guided by self interest".<br />

Im Gegensatz zur nur lose zusammengehaltenen Nation zeichne sich zum Beispiel der ihr unversöhnlich<br />

gegenüberstehende stock interest (die zur Finanzaristokratie gehörende Interessengruppe der<br />

Spekulanten) durch einen geeinten Willen, einen ökonomisch motivierten Zusammenhalt (cement <strong>of</strong><br />

wealth) und grosse <strong>politische</strong> Macht (a mass <strong>of</strong> political power) aus. Im Unterschied zu den weit verstreuten<br />

und <strong>von</strong>einander getrennten Mitgliedern der Nation bilde er einen "<strong>politische</strong>n Koloss", ein<br />

Machtzentrum, das die Behörden beeinflussen kann. 273 Nach <strong>Taylor</strong> besitzen Faktionen einen künstlichen<br />

Ursprung, gründen also auf einem menschlichen Willensentscheid. In einem Brief an Wilson<br />

Cary Nicholas definiert er factions als "artificial moral beings, proceeding from moral causes, as<br />

capable <strong>of</strong> definition and as capable <strong>of</strong> prevention as any other bad moral cause. And that none,<br />

except factions <strong>of</strong> interest can ever be dangerous". 274<br />

Nach <strong>Taylor</strong> ist es nicht möglich, dass eine Nation sich selber regiert, wenn sie <strong>von</strong> Sonderinteressen<br />

dominiert wird: "A nation cut up into orders or separate interests, cannot exert national self<br />

government, because the national self no more exists, than a polypus, after being cut into four or<br />

five pieces, which forage in different directions or upon each other." 275 Ein <strong>St</strong>and oder eine Interessengruppe<br />

- zum Beispiel der Adelsstand, ein Militärstand oder die Finanzoligarchie - kann nur<br />

das jeweils eigene Interesse ausdrücken: "Each would constitute a distinct moral self, and could only<br />

entertain opinions, naturally flowing from its own moral nature." Jeder dieser <strong>St</strong>ände müsse notwendigerweise<br />

unterschiedliche Interessen vertreten, "as the English, French, Spanish and German<br />

nations". <strong>Taylor</strong> war zudem überzeugt, dass die "interests <strong>of</strong> domestick factions" häufiger aufeinanderprallen<br />

würden als die <strong>von</strong> Nationen. 276 Problematisch waren aber nicht nur gesellschaftsinterne<br />

Konflikte zwischen den Sonderinteressen, sondern auch die sie begleitenden Gefahren<br />

betreffend der Errichtung einer monarchischen Ordnung, denn entweder suchten diejenigen unter<br />

einem starken Herrscher Schutz, die ausbeuteten, oder diejenigen, die ausgebeutet wurden: "[O]rders<br />

272 Siehe dazu auch Arieli (1964: 177) und McConnell (1951: 25). <strong>Taylor</strong>s <strong>Denken</strong> widerspiegelt hier die üblichen Positionen<br />

des angloamerikanischen <strong>Denken</strong>s des 18. Jahrhunderts. Siehe dazu Wood (1992: 5): "The social distinctions<br />

and economic deprivations that we today think <strong>of</strong> as the consequence <strong>of</strong> class divisions, business exploitation, or<br />

various isms - capitalism, racism, etc. - were in the eighteenth century usually thought to be caused by the abuses <strong>of</strong><br />

government. Social honors, social distinctions, perquisites <strong>of</strong> <strong>of</strong>fice, business contracts, privileges and monopolies,<br />

even excessive property and wealth <strong>of</strong> various sorts - all social evils and social deprivations - in fact seemed to flow<br />

from connections to government, in the end from connection to monarchical authority."<br />

273 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 296. Siehe hier: "Add to the cement <strong>of</strong> wealth a mass <strong>of</strong> political power, gotten by election,<br />

and a Colossus rises up, animated by one mind, who easily makes the havock <strong>of</strong> the national interest required by his<br />

own, because its members are never united by one mind, and lie about, so scattered and disjoined, that he picks and<br />

uses them as weapons for assailing the body they belong to. The capacity <strong>of</strong> a paper interest in England, to make instruments<br />

<strong>of</strong> orators, lords and commons, evinces its gigantick power."<br />

274 Brief <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> and Wilson Cary Nicholas, 30. November 1807, zitiert nach Dodd (1951: 249).<br />

275 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 391. Siehe auch Ziff. 6.2.2 unten.<br />

276 Ibd., 391.


92<br />

or separate and inimical interests, are universally to be considered as the prelude to monarchy". 277<br />

<strong>Taylor</strong> fürchtete künstliche Formen der Eigentumsumverteilung vor allem auch wegen ihrer Folgen<br />

für die <strong>St</strong>ruktur der republikanischen Gesellschaft. Gesetzliche Umverteilung musste den Wohlstand<br />

in den Händen einiger weniger konzentrieren und damit den Unterbau einer republikanischen Ordnung<br />

zerstören. Eine Republik kann nur in einer Gesellschaft errichtet werden, deren Eigentum<br />

breit gestreut ist. Eine Politik der gesetzlichen Eigentumsverteilung musste - hier folgte <strong>Taylor</strong> James<br />

Harringtons Gesetz, das sich in die Formel Dominion follows property kleiden lässt - der Republik ihre<br />

wirtschaftlichen Grundlagen entziehen:<br />

[...] Mr. Adams asserts, and [...] all mankind allow, 'that wealth, is the great machine for governing the world'.<br />

Hence wealth like suffrage, must be considerably distributed, to sustain a democratick republick; and hence,<br />

whatever draws a considerable proportion <strong>of</strong> either into few hands, will destroy it. As power follows wealth,<br />

the majority must have wealth or lose power. If wealth is accumulated in the hands <strong>of</strong> a few, either by feudal<br />

or a stock monopoly, it carries power also. 278<br />

Der Zweck einer republikanischen Gesellschaft ist daher die Verfolgung des Gemeinwohls und<br />

nicht die Beförderung der Habgier einiger Weniger, eines ihrer zentralen Prinzipien die gleiche Behandlung<br />

sämtlicher Mitglieder der Gemeinschaft: "The end <strong>of</strong> society, must be kept constantly in<br />

view, to obtain the benefits resulting from it. This is the good <strong>of</strong> a community, and not a subjection<br />

<strong>of</strong> some men to the avarice <strong>of</strong> others." 279 Gemäss <strong>Taylor</strong> sind die Begriffe Gemeinwohl (general good)<br />

und Republik (republic) austauschbare Begriffe und nicht mit separate interests vereinbar. "Republicanism"<br />

bezeichnete er als "idea <strong>of</strong> a government guided by publick opinion and operating for the<br />

publick good". 280<br />

2.4.2. Drei Formen der Aristokratie: Priesteraristokratie, Militäraristokratie und<br />

Finanzaristokratie<br />

Ein zentrales Merkmal (essential quality) künstlich geschaffener Aristokratien ist nach <strong>Taylor</strong>, dass es<br />

sich bei ihnen um Minderheitengruppen (minority) handelt, die sich auf Kosten der Mehrheit erhalten.<br />

281 Aristokratien definieren sich nach <strong>Taylor</strong> also durch die Umverteilung <strong>von</strong> Eigentum <strong>von</strong> der<br />

Mehrheit zur Minderheit. Er wies seine Leser explizit darauf hin, dass sich Aristokratien nicht durch<br />

irgendwelche Titel, ihre hereditäre Natur oder durch Reichtum an sich definieren. Diese würden<br />

ausschliesslich äussere Formen, nicht aber das Prinzip der Aristokratie darstellen: "We lose truth in<br />

names and phrases, as children lose themselves in a wood, for want <strong>of</strong> geographical knowledge. Because<br />

titles have been frequently annexed to aristocracy, it is erroneously imagined to be made by<br />

titles; and the thing dreaded can creep in, under an imagination, which cheats us into a belief, that its<br />

277 Ibd., 254.<br />

278 Ibd., 254f. Siehe ebenso ders. (1822), Tyranny Unmasked, 194. Zu Harringtons Gesetz und seiner Anwendung durch<br />

<strong>Taylor</strong> siehe Ziff. 5 (Agrarrepublik) und Ziff. 6.2.2 (Mischverfassung) unten.<br />

279 <strong>Taylor</strong> (1821) Defending the Rights and Interests <strong>of</strong> Agriculture. Hier ibd.: "Society ought to be the equal nurse <strong>of</strong> its members;<br />

but instead <strong>of</strong> this, avarice and ambition have converted it into a mother for themselves, and a step-mother for<br />

the rest <strong>of</strong> mankind."<br />

280 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 497.<br />

281 Ibd., 478. Siehe dazu auch Ziff. 3.2.3 unten.


93<br />

road lies through titles only." 282 Die Gefahr, die mit der Beschränkung der Wahrnehmung auf äussere<br />

Formen einhergeht, besteht darin, dass Aristokratien nicht erkannt werden können, wenn sie<br />

einmal ihre äussere Form wechseln und in einer neuen Gestalt daherkommen. Aristokratien würden<br />

sich durch die Fähigkeit auszeichnen, unterschiedliche Formen annehmen zu können, und hätten<br />

das in der Geschichte auch immer wieder getan: "Aristocracy is a Proteus, capable <strong>of</strong> assuming various<br />

forms." Anderswo heisst es: "Aristocracy is forever constantly adapting itself to the temper <strong>of</strong><br />

the times." Aus diesem Grund definierte <strong>Taylor</strong> einen Test (test) zur Auffindung der Aristokratie:<br />

Jede Wohlstandakkumulation, die auf gesetzlichen Vorrechten gründet und nicht auf Arbeitsfleiss,<br />

sei eine Aristokratie. 283<br />

Nach <strong>Taylor</strong> haben Aristokratien drei Mal ihre Grundform geändert und folgende <strong>St</strong>adien durchlaufen:<br />

zuerst das <strong>St</strong>adium der antiken Priesteraristokratien, dann das der Feudalaristokratie und<br />

schliesslich jenes der modernen, zeitgenössischen Finanzaristokratie. Priesteraristokratien gründen<br />

zur Hauptsache auf dem allgemeinen Aberglauben und der Unwissenheit, die Feudalaristokratie auf<br />

einer abgeschlossenen hereditären Kriegerkaste und die Finanzaristokratie auf <strong>St</strong>aatsverschuldung,<br />

Günstlingswirtschaft, Ämterverteilung, Regierungskontrakten, Papiergeld, stehenden Heeren,<br />

Zöllen, <strong>St</strong>euern und Banken (<strong>Taylor</strong> bezeichnete dieses Instrumentarium mit dem Ausdruck paper<br />

and patronage). 284 Die Priesteraristokratie sei als Folge der Revolution in der Buchdruckkunst und der<br />

damit verbundenen Wissensvermehrung und moralischen Verbesserung gestürzt worden (dethroned<br />

by knowledge and virtue), die Feudalaristokratie durch Handel und die Abschaffung des Fideikommisses<br />

285 (commerce and alienation) ihrer Machtgrundlagen beraubt worden. Nach <strong>Taylor</strong> bleibt daher<br />

nur noch die Aufgabe, die Betrügereien der modernen Finanzaristokratie - der aristocracy <strong>of</strong> paper and<br />

patronage - aufzudecken. Diese sei die einzige der drei Aristokratieformen, die sich in den zeitgenössischen,<br />

aufgeklärten Gesellschaften noch errichten lasse. 286 Alle drei Formen würden sich der Umverteilung<br />

<strong>von</strong> Eigentum durch <strong>von</strong> Menschen geschaffene Gesetze bedienen. 287<br />

Mit der Finanzaristokratie (aristocracy <strong>of</strong> paper and patronage) hatte <strong>Taylor</strong> das <strong>von</strong> den Federalists<br />

unter Führung <strong>von</strong> Schatzkanzler Alexander Hamilton nach 1791 errichtete System aus <strong>St</strong>aatsverschuldung,<br />

Nationalbank sowie hohen Zöllen und <strong>St</strong>euern im Blick. Hamiltons Ziel war die Errich-<br />

282 Ibd., 482.<br />

283 Ibd., 255: "[T]o make these forms appear in that natural hideousness common to the features <strong>of</strong> the family [the<br />

family <strong>of</strong> aristocracy, A.d.V.], it is necessary to touch it with some test. An accumulation <strong>of</strong> wealth by law, without<br />

industry, is this test." Siehe auch ibd., 35. Zu <strong>Taylor</strong>s Theorie einer republikanischen Verteilung <strong>von</strong> Eigentum siehe<br />

auch Ziff. 4.2 unten.<br />

284 Ibd., 50: "I [...] call the ancient aristocracy chiefly created and supported by superstition, 'the aristocracy <strong>of</strong> the first<br />

age'; that produced by conquest, known by the title <strong>of</strong> the feudal age, 'the aristocracy <strong>of</strong> the second age'; and that<br />

erected by paper and patronage, 'the aristocracy <strong>of</strong> the third or present age'." <strong>Taylor</strong> umschreibt die drei Aristokratien<br />

auch mit den drei römischen Göttern Jupiter, Mars und Mercury. Für eine eingehende Darstellung der drei Aristokratieformen<br />

siehe Hill (1977: 99-131). Die ersten beiden Aristokratien waren nach <strong>Taylor</strong> nahezu ausgestorben, da und<br />

dort bestanden noch Überbleibsel. <strong>Das</strong> zeitgenössische Spanien bezeichnete <strong>Taylor</strong> seines Katholizismus wegen als<br />

eine Priesteraristokratie, China als eine Mischung aus Priester- und Feudalaristokratie. England habe alle drei <strong>St</strong>adien<br />

durchlaufen und befand sich nach <strong>Taylor</strong> zum Zeitpunkt der frühen Republik - wie die Vereinigten <strong>St</strong>aaten - unter<br />

der "Knute" einer Finanzaristokratie. Ibd., 99. Siehe ebenso <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 238, 243, 441.<br />

285 Der Begriff "Fideikommiss" bezeichnet eine unveräusserliche, meist aus Grundbesitz bestehende, nur als Ganzes<br />

vererbliche Vermögensmasse, deren Inhaber nur über ihren Ertrag verfügen kann.<br />

286 Ibd., 51, 57. Siehe ebenso <strong>Taylor</strong> (1813), Arator, 93-97.<br />

287 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 288. Siehe auch Hill (1977: 99).


94<br />

tung eines wirtschaftlich und militärisch mächtigen <strong>St</strong>aates nach dem Muster Grossbritanniens (dort<br />

errichtet <strong>von</strong> seinem Vorbild, dem britischen Schatzkanzler Robert Walpole). Die Jeffersonians -<br />

allen voran <strong>Taylor</strong> - begegneten diesem Plan, der mit einer monied aristocracy, mit einer Förderung der<br />

Manufakturindustrie und dem Aufbau einer standing army einherging, voller Sorgen. Ihrer Meinung<br />

nach war ein solches System der Ausfluss einer Politik der Korruption. 288 Nach <strong>Taylor</strong> zeichnet sich<br />

die Finanzaristokratie durch "sinecures, armies, navies, <strong>of</strong>fices, war, anticipation and taxes" aus und<br />

bildet eine "vast political combination". Ihre Mitglieder würden sich darauf spezialisieren, staatliche<br />

Kredite und Regierungskontrakte einzuheimsen, staatlich geförderte Kanäle und <strong>St</strong>rassen zu bauen,<br />

Banken einzurichten und Lotterien durchführen zu dürfen, und gingen dabei mit einer "infinite<br />

number <strong>of</strong> inferior tricks" vor. 289 Nach <strong>Taylor</strong> verkörperte das gesamte System eine political hydra, die<br />

ihre Arme in jedermanns Leben und in jede Tasche steckt. <strong>Taylor</strong> beschrieb sie in einem grellen und<br />

schrillen Ton und zog ihr die Eroberung durch eine andere Nation vor:<br />

A nation exposed to a paroxysm <strong>of</strong> conquering rage, has infinitely the advantages <strong>of</strong> one, subjected to this<br />

aristocratical system. One is local and temporary; the other is spread by law and perpetual. One is an open<br />

robber, who warns you to defend yourself; the other a sly thief, who empties your pockets under the pretence<br />

<strong>of</strong> paying your debts. One is a pestilence, which will end <strong>of</strong> itself; the other a climate deadly to liberty. 290<br />

<strong>Das</strong> Problem mit dieser neuesten Form der Aristokratie war, dass sie verdeckt arbeitete und vorgab,<br />

dem Gemeinwohl der Nation und der Republik zu dienen. Weil ihre Funktionsmechanismen so<br />

kompliziert seien und sie niemand <strong>of</strong>fen sehen könne, werde sie nicht wahrgenommen. Im Gegenteil,<br />

klagte <strong>Taylor</strong>, die ganze öffentliche Aufmerksamkeit richte sich nach wie vor unverändert gegen<br />

die alte, erbständische Aristokratie und den Klerus: "The two first are exposed naked to our view;<br />

and the third, disguised in the garb <strong>of</strong> republicanism, and uttering patriotick words, joins the mob in<br />

kicking them about, by way <strong>of</strong> diverting the publick opinion from itself." 291<br />

2.4.3. Gegenmittel: Beschränkung der Verfügungsgewalt über das Privateigentum<br />

Wie aber sollte dem Übel der Sonderinteressen, besonders dem Übel der Finanzaristokratie, begegnet<br />

werden? Im Grunde beschäftigte sich <strong>Taylor</strong> mit dem genau gleichen Problem wie James Madison<br />

in seinem berühmten Federalist-Artikel Nr. 10. 292 Weder <strong>Taylor</strong> noch die Autoren der Federalist-<br />

288 Siehe dazu eingehend Ziff. 4.1.2 (Hamiltons System) und Ziff. 5.1 (Furcht vor einer <strong>St</strong>anding Army) unten.<br />

289 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 65. Siehe auch ibd., 61.<br />

290 Ibd., 67. Nach <strong>Taylor</strong> waren die ersten beiden Formen der Aristokratie milder und weniger tyrannisch. Die Priesteraristokratie<br />

sei mit dem Anschein der Ehrfurcht gegenüber den Göttern und dem Anschein der Tugendhaftigkeit<br />

aufgetreten, was sich positiv auf die Moral des Volkes ausgewirkt habe. Die Feudalaristokratie habe sich den Anschein<br />

<strong>von</strong> Eigenschaften wie Ehre, Ritterlichkeit und Grosszügigkeit gegeben. Die Finanzaristokratie hingegen<br />

zeichne sich durch Usurpation (usurpation), Täuschung (deceit) und Unterdrückung (oppression) sowie durch schrankenlose<br />

Habgier und Machtstreben aus. Siehe ibd., 72. Eingehend diskutiert werden die moralischen Wirkungen der<br />

aristocracy <strong>of</strong> paper and patronage in Ziff. 4.3 unten.<br />

291 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 93.<br />

292 Siehe zur folgenden Analyse McConnell (1951: 25-29). Madison definierte Faktionen wie folgt: "Unter einer Faktion<br />

verstehe ich eine Gruppe <strong>von</strong> Bürgern, - das kann eine Mehrheit oder eine Minderheit der Gesamtheit sein, - die sich<br />

durch den gemeinsamen Impuls einer Leidenschaft oder eines Interesses vereint und zum Handeln motiviert ist,<br />

welcher im Widerspruch zu den Rechten anderer Bürger oder dem permanenten und gemeinsamen Wohlstand der<br />

Gemeinschaft steht." Hamilton, Madison & Jay (1788), Federalist-Artikel, Nr. 10: 51.


95<br />

Artikel haben sich jemals darüber Gedanken gemacht, in welchem konkreten Prozess das Gemeinwohl<br />

oder "die permanenten und gemeinsamen Interessen der Gemeinschaft" bestimmt werden<br />

können. Beide setzten sich hingegen mit der Frage auseinander, wie in einer Gesellschaft mit organisierten<br />

Sonderinteressen umzugehen ist. Madison erklärte im Federalist Nr. 10, dass "die latenten<br />

Ursachen für Faktionen [...] in der menschlichen Natur angelegt" sind und damit die Ursachen der<br />

Faktionen in einer freiheitlichen Ordnung nicht beseitigt werden können. <strong>Taylor</strong> stimmte hier mit<br />

Madison überein, denn auch er war überzeugt, dass der Mensch primär ein <strong>von</strong> seinem Eigeninteresse<br />

getriebenes Wesen ist. <strong>Taylor</strong> war jedoch nicht bereit anzuerkennen, dass "die vorherrschende<br />

und permanente Ursache für die Existenz unterschiedlicher Faktionen [...] in der vielfältigen und<br />

ungleichen Eigentumsverteilung" liegt. 293 Nach <strong>Taylor</strong> muss eine natürliche Gesellschaftsordnung<br />

nicht notwendigerweise mit Sonderinteressen und einer stark ungleichen Eigentumsverteilung verbunden<br />

sein, denn deren Hauptursachen bilden staatliche Gesetze, die Eigentum transferieren. 294<br />

Um den das Gemeinwohl gefährdenden Partikularismus zu neutralisieren, wollte Madison den<br />

Pluralismus einerseits durch grossflächige Ausdehnung fördern sowie andererseits durch ein Repräsentationssystem<br />

filtern. 295 <strong>Taylor</strong>s Lösung des Problems (auf der Bundesebene) war die Schaffung<br />

einer <strong>St</strong>aatsgewalt, der die Machtmittel versagt bleiben, Eigentum zwischen verschiedenen Interessen<br />

hin und her zu transferieren. Dies sollte mit einer laissez-faire-Ordnung erreicht werden und mit<br />

einem föderalen Regierungssystem, in dem die Befugnisse der Einzelstaaten (lokale Interessen) und<br />

der Bundesbehörden (gemeinsame Interessen) klar <strong>von</strong>einander getrennt und sämtliche Machtträger<br />

wechselseitig <strong>von</strong>einander unabhängig sind und sich so kontrollieren und blockieren können. 296<br />

<strong>Taylor</strong> wollte schwache Bundesbehörden und keinen Kongress (er misstraute ihm), der ein absolutes<br />

Verfügungsrecht über das Eigentum der Bürger der Vereinigten <strong>St</strong>aaten ausübt:<br />

An absolute power over property, can usurp all other powers, and legislatures accordingly, exercise judicial<br />

powers under its auspice. Neither one man, nor any body <strong>of</strong> men, however instituted, can be invested with<br />

despotic power over national property, without destroying a free government. This truth dictated our restrictions<br />

<strong>of</strong> legislative and executive powers though both are elective. Ought these to be superseded by substituting<br />

the indefinite rights for an incontrovertible maxim? 297<br />

293 Hamilton, Madison & Jay (1788), Federalist-Artikel, Nr. 10: 52.<br />

294 Zur natürlichen Einheit der gesellschaftlichen Interessen bei <strong>Taylor</strong> siehe Ziff. 4.2 unten.<br />

295 Hamilton, Madison & Jay (1788), Federalist-Artikel, Nr. 10: 55ff., siehe hier 57: "Vergrössert man das Gebiet, so umfasst<br />

es eine grössere Vielfalt <strong>von</strong> Parteien und Interessen, damit aber wird es weniger wahrscheinlich, dass eine<br />

Mehrheit des Ganzen ein gemeinsames Motiv hat und die Rechte anderer Bürger verletzt." Siehe auch die eingehende<br />

Diskussion dieser Problematik in Ziff. 9.3 unten und bei Zehnpfennig (1997: 177).<br />

296 Für ähnliche Argumentationen siehe <strong>St</strong>romberg (1982: 41f.) und McConnell (1951: 27). Letzterer schreibt: "<strong>Taylor</strong><br />

seeks rather to remove the causes. [...] they are the result <strong>of</strong> fraudulent legislation which has set up unequal classes,<br />

and brought forth the factions that feed it. The moral is clear: destroy this legislation. Remove the legal base under<br />

the stock jobbers, the banks, the paper money, the tariff-supported manufacturers, and so on" (ibd., 27). "[T]he design<br />

must be drawn for a general policy <strong>of</strong> laissez-faire. [...] What was the formula on which <strong>Taylor</strong> relied to check<br />

this new leviathan? It was the principle <strong>of</strong> division <strong>of</strong> power" (ibd., 28f.). Siehe auch Dangerfield (1952: 192f.), nach<br />

dem <strong>Taylor</strong> gegenüber der Finanzaristokratie Voltaires Prinzip vom écrasez l’infame vertreten habe, d.h. die radikale<br />

Vernichtung des ganzen Systems gefordert habe. <strong>Taylor</strong>s Theorie Machtteilung wird im zweiten und vor allem im<br />

dritten Teil dieser Arbeit behandelt.<br />

297 <strong>Taylor</strong> (1821), Defending the Rights and Interests <strong>of</strong> Agriculture. Siehe ebenso Arator (1813), 73-76; Inquiry (1814), 289;<br />

Construction Construed (1820), 267, 278; Tyranny Unmasked (1822), 77f., 195, 263.


96<br />

Mit dieser laissez-faire-Haltung gegenüber dem Privateigentum, gegenüber den natürlichen Interessen<br />

der Gesellschaft und - wie wir später noch sehen werden - gegenüber Herrschaftsgewalt rückt<br />

<strong>Taylor</strong>, ein Plantagenbesitzer und Angehöriger der Gentry Virginias, ganz dicht an das <strong>politische</strong><br />

<strong>Denken</strong> <strong>von</strong> Thomas Paine heran. Paine war der radikalste Vertreter des bürgerlich klassischen<br />

Liberalismus in der frühen Republik. Was die beiden jedoch <strong>von</strong>einander unterschied, war, dass Paine<br />

die Sklaverei kritisierte und <strong>Taylor</strong> ein Sklavenhalter war. 298<br />

2.5. Zusammenfassung<br />

Im vorliegenden Kapitel wurde erstmals versucht, <strong>Taylor</strong>s Menschen- und Gesellschaftsbild im<br />

Lichte der klassisch-republikanischen und der klassisch-liberalen Denktraditionen zu beleuchten.<br />

Die Untersuchung hat gezeigt, dass <strong>Taylor</strong>s Bild der human nature und society weder ausschliesslich der<br />

einen noch völlig der anderen Kategorie zugeordnete werden kann. Vielmehr vereinigen sich sowohl<br />

in seinem Menschen- wie auch in seinem Gesellschaftsbild verschiedene Denkströmungen zu einem<br />

komplexen Gesamtbild. Aus einer Gesamtsicht heraus betrachtet, weist sein <strong>Denken</strong> allerdings eine<br />

stark liberale, die Freiheit des Einzelnen in den Mittelpunkt stellende Komponente auf. Im Vordergrund<br />

<strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Anthropologie, die bislang <strong>von</strong> der <strong>Taylor</strong>-Forschung weitgehend vernachlässigt<br />

wurde, steht das Individuum und sein Eigeninteresse. Die egoistische Natur des Menschen wird<br />

jedoch durch einen angeborenen Vernunftsinn und einen natürlichen moral sense - einen Sinn für das<br />

Leid der Mitmenschen und für die Gemeinschaft - gemässigt. Bei <strong>Taylor</strong> ist der Mensch ein ambivalentes<br />

Wesen: Er erkennt das Gute und Vernünftige, ist jedoch aufgrund seiner dominierenden Leidenschaften<br />

in der Regel zu schwach, das eine wie das andere zu realisieren. Sein Eigeninteresse<br />

drängt in dazu, durch spontane, natürliche Tauschbeziehungen (Austausch der Produkte der eigenen<br />

gedanklichen oder körperlichen Arbeit) seinen Eigennutz zu befriedigen und damit eine natürliche<br />

Gesellschaft aufzubauen. Diese wirkt sich vorteilhaft auf seine ambivalente Natur aus und befördert<br />

seine Möglichkeiten, das eigene Wohl ohne Verletzung des Wohles Dritter zu befriedigen. Die<br />

natürliche Gesellschaft wird so bei <strong>Taylor</strong> - in Abwandlung <strong>von</strong> Montesquieus These vom doux<br />

commerce - zum moral-steam engine. Ihr Zweck liegt in der Kontrolle und Verringerung der Schwächen<br />

der menschlichen Natur.<br />

Trotz dieser Neigung des Menschen hin zur Gesellschaft dominieren bei <strong>Taylor</strong> auch im gesellschaftlichen<br />

Zustand individuelle Elemente. Eine zentrale Rolle in seinem Gesellschaftsverständnis<br />

nehmen die unveräusserlichen natürlichen Rechte des Einzelnen ein (Leben, Freiheit, Eigentum,<br />

aber auch das natürliche Recht auf Selbstregierung). Zum Schutz dieser Rechte richten die Individuen<br />

einer Nation (unter der <strong>Taylor</strong> ein zeitlich gewachsenes, organisches, geografisch verankertes Gebilde<br />

mit homogenen Interessen verstand) verschiedene künstliche Körper ein, die Produkte<br />

menschlichen Willens darstellen: erstens die <strong>politische</strong> Gemeinschaft, welche als Aktivbürgerschaft<br />

die Rechte der Nation treuhänderisch verwaltet, zweitens die <strong>St</strong>aatsgewalt bzw. Behörden, deren<br />

Zweck im Lockschen Sinne auf den treuhänderischen Schutz des Eigentums (Leben, Freiheit, Vermögen)<br />

beschränkt wird. Ausgehend <strong>von</strong> einer chain <strong>of</strong> subordination steuert die Nation das Handeln<br />

298 <strong>St</strong>romberg (1982: 43). <strong>Taylor</strong>s laissez-faire-Ansatz wird auch <strong>von</strong> Feller (1995: 57f.) und Tate (2001: 255ff.) betont.


97<br />

der Behörden via Aktivbürgerschaft. <strong>Taylor</strong>s Menschen- und Gesellschaftsbild wird hier <strong>von</strong> der<br />

Idee der individuellen Freiheit beherrscht, sein <strong>Denken</strong> widerspiegelt in starkem Masse Elemente,<br />

die heute typisch sind für die <strong>St</strong>römung des klassischen Liberalismus bzw. für libertäre Politikmodelle.<br />

<strong>Taylor</strong>s Misstrauen galt den Behörden (government), den Partikularinteressen (separated interests, factions)<br />

sowie sämtlichen Ausprägungen der Aristokratie (forms <strong>of</strong> aristocracy). Als Minderheiten neigen<br />

diese seiner Ansicht nach dazu, auf Kosten der Mehrheit zu leben bzw. die natürlichen Rechte <strong>von</strong><br />

deren Mitgliedern zu verletzen. Aristokratie definiert sich nach <strong>Taylor</strong> durch die Umverteilung <strong>von</strong><br />

Eigentum gegen den Willen des jeweiligen Eigentümers. Neben den in der Antike dominierenden<br />

Priesteraristokratien und den im Mittelalter vorherrschenden Feudalaristokratien machte <strong>Taylor</strong> eine<br />

dritte, zeitgenössische Aristokratie aus: die Finanzkapital- oder Geldaristokratie (the aristocracy <strong>of</strong> paper<br />

and patronage or monied aristocracy). Nach <strong>Taylor</strong> waren die <strong>politische</strong>n und gesellschaftlichen Ordnungen<br />

Grossbritanniens und der Early American Republic - in letzterer vor allem die Neu-England und<br />

Mittel-Atlantik-<strong>St</strong>aaten - im 18. und 19. Jahrhundert <strong>von</strong> dieser modernen Form der Aristokratie<br />

beherrscht.<br />

<strong>Taylor</strong>s Grundrechtsverständnis wurde <strong>von</strong> der Forschung ebenfalls nur am Rande gewürdigt.<br />

Als Zeitgenosse der Aufklärung und der Amerikanischen Revolution verstand <strong>Taylor</strong> die Grundrechte<br />

im klassisch-liberalen Sinn zuallererst als Schranken, welche einen Bereich individueller Freiheit<br />

vor dem Eindringen der (damals zumeist) absolutistischen <strong>St</strong>aatsgewalt beschützen. Damit bilden<br />

sie ein wichtiges Instrument zur Kontrolle der <strong>politische</strong>n Macht. Die Freiheitsrechte verkörpern<br />

ein wichtiges Element <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s System der umfassenden Machtteilung und eine unverzichtbare<br />

Voraussetzung für die Selbstregierung des Volkes. <strong>Taylor</strong> Diskussion der Kette der natürlichen<br />

Rechte (chains <strong>of</strong> rights) entspricht, abgesehen drei <strong>von</strong> der Forschung bisher kaum oder gar nicht<br />

wahrgenommenen Ausnahmen, dem in der Early Republic weit verbreiteten Verständnis dieser Rechte.<br />

Die Ausnahmen stellen die Eigentumsfreiheit, das Widerstandsrecht und die Meinungsäusserungsfreiheit<br />

dar: (1) Für <strong>Taylor</strong> ist das Recht auf erarbeitetes Eigentum (natural property) ganz im<br />

Sinne Lockes ein Naturrecht und nicht erst ein <strong>von</strong> der Gesellschaft gewährtes Recht. Eingriffe in<br />

dieses Recht sind auf ein abolutes Minimum zu beschränken, auf jenes Minimum, das unabdingbar<br />

ist für den Erhalt der Gesellschaft. (2) <strong>Taylor</strong>s Verständnis des Widerstandrechts näherte sich faktisch<br />

demjenigen Lockes an. (3) Seiner Zeit voraus war <strong>Taylor</strong>s Verständnis der Meinungsäusserungsfreiheit,<br />

fordert er doch - in Ablehnung der damals weit verbreiteten Akzeptanz des Konzepts<br />

der aufrührerischen Hetzrede, das einer Zulässigkeit der Nachzensur gleichkam - eine beinahe unbeschränkte<br />

Freiheit der <strong>politische</strong>n Meinungsäusserung. Diese begründete er mit dem Erfordernis der<br />

Kontrolle der Behörden und mit der Bedeutung der Meinungsäusserungsfreiheit für den Prozess der<br />

öffentlichen Meinungsbildung. Nur mit dem Recht auf freie Meinungsäusserung war ein fairer<br />

öffentlicher Deliberationsprozess garantiert und die Gefahr eines Despotismus gebannt.<br />

Wie die Untersuchung im vorliegenden Kapitel gezeigt hat, war <strong>Taylor</strong> in Fragen der Anthropologie,<br />

der Gesellschafts- oder Naturrechtsphilosophie kein grosser oder originärer Denker. Zwar<br />

versucht er seine Positionen auf der Basis eigener Argumente zu entwickeln, das Produkt dieser<br />

Überlegungen muss jedoch als Amalgam <strong>von</strong> im 18. Jahrhunderts gängigen Ideen gelesen werden.<br />

<strong>Taylor</strong>s Ideen lassen sich zum grossen Teil auf die schon älteren Positionen <strong>von</strong> Locke, Montes-


98<br />

quieu und Adam Smith, auf Konzepte des klassischen Liberalismus, des klassischen Republikanismus<br />

und der schottischen Moralphilosophie zurückführen. An der einen oder anderen, <strong>von</strong> der bisherigen<br />

Forschung in der Regel vernachlässigten <strong>St</strong>elle entwickelte <strong>Taylor</strong> allerdings radikale Ansichten,<br />

die seiner Zeit voraus waren. Die Radikalität, Konsistenz und Kohärenz, mit denen <strong>Taylor</strong> die<br />

Idee der Freiheit in seiner Gesellschafts- und Naturrechtsphilosophie formulierte, faszinieren noch<br />

heute, können aber gleichzeitig auch als Erklärungsansätze dafür herangezogen werden, wenn eine<br />

Antwort auf die Frage sucht, warum sein <strong>Denken</strong> so wenig praktischen Einfluss auf seine Zeitgenossen<br />

- vor allem auf diejenigen ausserhalb Virginias - und auf alle folgenden Generationen ausübte.


99<br />

3. Eine Theorie republikanischer Prinzipien<br />

3.1. Die Revolution <strong>von</strong> 1800 - ein "change <strong>of</strong> principles"?<br />

Die Präsidentschafts- und Kongresswahlen des Jahres 1800 markierten einen Wendepunkt in der<br />

Geschichte der frühen Republik. Nach einem der erbittertsten Wahlkämpfe der amerikanischen<br />

Geschichte verlor der föderalistische Amtsinhaber <strong>John</strong> Adams das Rennen um die Präsidentschaft<br />

und im März des darauf folgenden Jahres zog sein Herausforderer, der Republikaner Thomas Jefferson<br />

in das gerade erst fertig gestellte Weisse Haus ein. Zugleich verdrängten Jeffersons Republikaner<br />

die Föderalisten mit überwältigender Mehrheit aus deren Vormachtstellung im Repräsentantenhaus<br />

und leiteten so den Niedergang der Federalists ein. Mit der Wahl <strong>von</strong> 1800 hatte die Ära föderalistischer<br />

Dominanz in der Politik des noch jungen amerikanischen Bundesstaates ihr Ende gefunden.<br />

Darüber hinaus war zum ersten Mal eine Oppositionspartei auf friedlichem Wege (durch Wahlen) an<br />

die Macht gelangt. Im Rückblick auf die Ereignisse <strong>von</strong> 1800 sprach Jefferson <strong>von</strong> "der Revolution<br />

des Jahres 1800, die die Prinzipien, nach denen sich unsere Behörden richten, in der gleichen Weise<br />

verändert hat wie die Revolution <strong>von</strong> 1776 ihre Form" 1 . Der Vater der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung<br />

war fest da<strong>von</strong> überzeugt, dass der Parteienstreit und die Kontroversen des vorangegangenen<br />

Jahrzehnts einen Wettstreit gegensätzlicher Prinzipien (contests <strong>of</strong> principles) - zwischen den<br />

Anhängern der republikanischen Regierungsform einerseits und der monarchischen Regierungsform<br />

anderseits - zum Ausdruck gebracht hatten. 2<br />

Zwei Jahre vor dem epochalen Wahlsieg Jeffersons und seiner Partei stand es weniger gut um<br />

den Erfolg der republikanische Sache. Der allgemeine Hurrapatriotismus im Gefolge der "XYZ"-<br />

Affäre, die damit einhergehende öffentliche Unterstützung der eiligen Kriegsvorbereitungen der<br />

Adams-Administration und die öffentliche Brandmarkung der Kritiker dieser Politik sowie die Aussicht<br />

auf den Erlass der Fremden- und Aufruhrgesetze führten im Frühsommer 1798 in den Reihen<br />

der Republikaner zu einem ausgedehnten und hektischen Briefwechsel über das der Union und<br />

ihren republikanischen Prinzipien bevorstehende Schicksal und die einzuschlagende Politik. 3 Unter<br />

dem Eindruck der wenig h<strong>of</strong>fnungsvollen Lage spielten einige Republikaner gar mit dem Gedanken<br />

einer Auflösung der Union. Einer <strong>von</strong> ihnen war <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong>, der Jeffersons Eindruck<br />

<strong>von</strong> einem contest <strong>of</strong> principles teilte und einen republikanischen Gesinnungsgenossen in einem Schrei-<br />

1 Brief <strong>von</strong> Thomas Jefferson an Judge Spencer Roane, vom 6. September 1819, in: Jefferson (1984: 1425)."[...] for<br />

that [the revolution <strong>of</strong> 1800, A.d.V.] was as real a revolution in the principles <strong>of</strong> our government as that <strong>of</strong> 1776 was<br />

in its form; not effected indeed by the sword, as that, but by the rational and peaceable instrument <strong>of</strong> reform, the<br />

suffrage <strong>of</strong> the people."<br />

2 Rahe (1992b: 145). Nach Rahe handelt es sich bei Jeffersons Aussage um eine "grosse Übertreibung". Gleichwohl<br />

markiert die Wahl <strong>von</strong> 1800 nach Rahe einen Wendepunkt in der Politik der Union, hat sie doch letztendlich, zusammen<br />

mit ihrer erfolgreichen Verteidigung in den nachfolgenden zwei Jahrzehnten, zur vollständigen Beseitigung<br />

des <strong>von</strong> Alexander Hamilton errichteten Wirtschaftssystems geführt. Mayer (1994: 119-144) zeichnet den Inhalt<br />

nach, den die "republikanische Revolution <strong>von</strong> 1800" für Jefferson hatte, Ackermann (2005: 3-7, 16-108) gibt einen<br />

Überblick über die Geschehnisse und die Atmosphäre rund um die Wahl. Darstellungen in der deutschsprachigen<br />

Literatur finden sich bei Wasser (2004: 83-90) und Nicholaisen (1995: 98-106).<br />

3 Allgemeine Darstellungen dieser "hitzigen" Periode der amerikanischen Politik finden sich bei Elkins & McKitrick<br />

(1993: 549-618) und Miller (1960: 210-227). Zur Rolle, die <strong>Taylor</strong> in dieser Zeit gespielt hat, siehe Simms (1932: 70)<br />

und Shalhope (1980a: 96-107).


100<br />

ben vom Sommer 1798 wissen liess, dass die <strong>St</strong>aaten sich seiner Meinung nach zu entscheiden<br />

hätten, "whether it will be better to submit to an immovable fixation to our monarchy for the sake<br />

<strong>of</strong> union; or to break the union for the sake <strong>of</strong> destroying our monarchy". Wenn die Union weiter<br />

den monarchischen, <strong>von</strong> den Federalists eingeschlagenen Weg verfolgen würde, dann, so <strong>Taylor</strong>,<br />

würde sie zwar weiter bestehen, dabei aber auf Prinzipien basieren, die die menschliche Natur unterdrücken.<br />

Wenn man die Union aber auflösen würde, "a renovation may take place upon principles<br />

which may generate the public good". 4<br />

Dem damaligen Vizepräsidenten Jefferson müssen ähnliche Äusserungen <strong>Taylor</strong>s schon früh zu<br />

Ohren gekommen sein, denn in einem Brief vom gleichen Monat gestand er gegenüber <strong>Taylor</strong> zwar<br />

die missliche Situation der republikanischen Sache ein, mahnte diesen aber gleichwohl zur Geduld.<br />

<strong>St</strong>reit und einander gegenüberstehende Parteien seien in einer freien Gesellschaft natürlich. Früher<br />

oder später würden die Republicans an die Macht gelangen:<br />

But our present situation is not a natural one. The body <strong>of</strong> our countrymen is substantially republican<br />

through every part <strong>of</strong> the Union. It was the irresistible influence & popularity <strong>of</strong> Gen. Washington, played <strong>of</strong>f<br />

by the cunning <strong>of</strong> Hamilton, which returned the government over to anti-republican hands. [...] in every free<br />

& deliberating society there must, from the nature <strong>of</strong> man, be opposite parties & violent dissensions & discords;<br />

and one <strong>of</strong> these, for the most part, must prevail over the other for a longer or shorter time. [...] A little<br />

patience, and we shall see the reign <strong>of</strong> the witches pass over, their spells dissolve, and the people, recovering<br />

their true sight, restore their government to it’s true principles. [...] If the game runs sometimes against us at<br />

home we must have patience till luck turns, & then we shall have an opportunity <strong>of</strong> winning back the principles<br />

we have lost, for this is a game where principles are the stake. 5<br />

In seinem Antwortschreiben wies <strong>Taylor</strong> darauf hin, dass es ein Irrtum sei anzunehmen, in einem<br />

volksnahen Behördensystem (popular government) müsse es natürlicherweise Parteienstreit geben. Nach<br />

<strong>Taylor</strong> hatten die Spaltung der Union und der vorherrschende party spirit vielmehr künstliche, in der<br />

Verfassung selber angelegte Ursachen (artificial causes). Seiner Meinung nach war es mit dem blossen<br />

Austausch der Regierungsmannschaft nicht getan. Eine blosse Übergabe der Herrschaft an die<br />

Republikaner würde den Tyrannen austauschen, nicht aber das eigentliche Übel beseitigen, nämlich<br />

die anti-republikanischen Prinzipien, die der Verfassung zugrunde liegen:<br />

Can even a good administration defeat a constitutional encouragement <strong>of</strong> wicked propensities; or does a<br />

change <strong>of</strong> men, operate any lasting change <strong>of</strong> principles? Admitting [...] that individuals have robbed liberty <strong>of</strong><br />

its ascendancy [...] what endowed them with it? A reformation in that form, a transference <strong>of</strong> this ascendancy<br />

to other individuals, will change the tyrant, but not remove the evil. Did the British people ever gain by a<br />

change <strong>of</strong> ministry? Saturated are preferable to hungry flies. A southern aristocracy oppressing the northern<br />

<strong>St</strong>ates, would be as detestable, as a northern, domineering over the southern states. 6<br />

<strong>Taylor</strong> liess Jefferson wissen, dass nicht die Auflösung, sondern die Vervollkommnung der Union<br />

mittels Reformen sein Ziel sei, er aber für seine Vorschläge keine Aussicht auf Erfolg sehe, solange<br />

4 Brief <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> an Henry Tazwell, 13. Juni 1798, zitiert nach: Shalhope (1980a: 96f.).<br />

5 Brief <strong>von</strong> Thomas Jefferson an <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>, 4. Juni 1798, in: Wasser (1989: 1047, 1048).<br />

6 Brief <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> an Thomas Jefferson, 25. Juni 1798, in: <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> Correspondence, 271-276, insb. 272, 273. Vgl.<br />

zu <strong>Taylor</strong>s Mutmassungen über die Ursachen <strong>von</strong> Parteien und zum Hinweis auf deren künstliche Natur: "If our party<br />

spirit is personal, it must arise from interest. This interest proceeds also from some cause. If the evil is in human<br />

nature, it may yet admit <strong>of</strong> alleviations. But if it springs from political encouragement, it is the work <strong>of</strong> art, and by art<br />

may be counteracted." Ibd., 271.


101<br />

sie nicht Jeffersons Unterstützung besässen. Er bat den Herrn <strong>von</strong> Monticello deshalb um dessen<br />

Hilfe für eine Reihe <strong>von</strong> Verfassungsänderungen und regte eine Vorgehensweise an, die möglicherweise<br />

die prozessuale Grundlage für die berühmten Virginia- und Kentucky-Resolutionen <strong>von</strong> 1798<br />

lieferte. 7<br />

Auf das Ungenügen eines blossen Austauschs des Regierungspersonals für die Erhaltung republikanischer<br />

Prinzipien hatte <strong>Taylor</strong> bereits im März desselben Jahres in einem Brief an James Monroe,<br />

den späteren fünften Präsidenten der Vereinigten <strong>St</strong>aaten, ausführlich hingewiesen. <strong>Taylor</strong> leitete<br />

seinen Brief mit dem Hinweis ein, dass er sich mit dem Gebrauch des Begriffs "government" in<br />

einem früheren Brief möglicherweise nicht ganz klar ausgedrückt habe. "For I do not refer to the<br />

men which direct it, but to the principles upon which it is constituted." 8 Wer auch immer ein Regierungsamt<br />

ausübe, handle politisch gegen die Gesetze der Natur, wenn er nicht denselben Verhaltensweisen<br />

folge, die bis anhin eingeschlagen worden seien. <strong>Taylor</strong> war daher nicht ganz einverstanden<br />

mit den Anstrengungen seiner Parteifreunde:<br />

I have for some time thought, that yourself, and other patriots, were not entirely right in directing your efforts<br />

towards a change <strong>of</strong> men, rather than a change <strong>of</strong> principles. It is true that a change <strong>of</strong> men might operate temporary<br />

public benefits, but they would certainly be transient, and constitutional errour will still prevail. 9<br />

Ein Austausch der Amtsinhaber wäre dem Gemeinwohl bestenfalls für kurze Zeit förderlich. Die<br />

Wirkungen wären bloss flüchtiger Natur, denn die Verfassung bliebe als Ursache des Übels nach wie<br />

vor fehlerhaft. "It would be only like the lucid intervals <strong>of</strong> a madman." 10<br />

Wenn die Wurzel des Übels in der Verfassung liege, fuhr <strong>Taylor</strong> fort, "if that established a form<br />

<strong>of</strong> government, holding out to its administrators violent temptations to ambition and cupidity",<br />

dann sei es wenig verwunderlich, wenn Amtsinhaber auf die ihnen eingeräumten korrupten, unehrlichen<br />

und ungerechten Mittel zurückgreifen würden, um ihr Machtstreben und ihre Habgier zu befriedigen.<br />

<strong>Taylor</strong> argumentierte, dass es unvernünftig, ja sogar wider die menschliche Natur sei, <strong>von</strong><br />

7 Ibd., 274: "If persons, as well as principles are threatened, does not even self-preservation call for some measures. As<br />

to these I have opinions, but unless you should patronize efforts <strong>of</strong> the kind, I am convinced that they will prove<br />

abortive, and would <strong>of</strong> course aggravate the evil. For I must candidly declare, that I believe the chance is against a<br />

hope, that an individual will in a century, again unite the principles, powers, and confidence, adequate to such an undertaking."<br />

<strong>Taylor</strong> schlug Jefferson folgende Änderungen der Bundesverfassung vor: (1) Ausdehnung des Wahlrechts;<br />

(2) kürzere Amtszeiten der Bundesrepräsentanten (vor allem des Präsidenten und der Senatoren); (3) Einführung<br />

einer Ämterrotation (insb. für den Präsidenten); (4) die Einführung eines Gesetzgebungsverfahrens, bei dem<br />

nach Ablauf einer bestimmten Frist neu über die Fortdauer des Gesetzes abgestimmt werden muss. Allen am Gesetzgebungsverfahren<br />

beteiligten Instanzen sollte bezüglich der Fortdauer der befristeten Gesetze ein Vetorecht<br />

zukommen. Siehe ibd., 275.<br />

8 Brief <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> an James Monroe, 25. März 1798, in: <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> Correspondence, 269.<br />

9 Ibd., 269 (meine Hervorhebung). Über zehn Jahre später wies <strong>Taylor</strong> in seinen Briefen an Thomas Ritchie in ganz<br />

ähnlichen Worten auf das Ungenügen eines blossen change <strong>of</strong> men hin: "If the solution <strong>of</strong> the phenomenon, does not<br />

lie in a uniform difference <strong>of</strong> complexion between the administrators <strong>of</strong> the two governments [i.e. the federal and the<br />

state governments], but in moral causes, it follows, that the usurpation <strong>of</strong> the federal government, complained <strong>of</strong> by<br />

Mr. Madison’s report as leading to monarchy, were evils which could not be removed by a change <strong>of</strong> men, and which<br />

would operate upon administrations <strong>of</strong> any character, under the same circumstances nearly in the same way." <strong>Taylor</strong><br />

(1809), A Pamphlet, 28.<br />

10 Brief <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> an James Monroe, 25. März 1798, in: <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> Correspondence, 269.


102<br />

einem Menschen, der praktisch unwiderstehlichen Versuchungen ausgesetzt sei, zu erwarten, dass er<br />

diesen Versuchungen heldenhaft widerstehe und sein <strong>St</strong>reben auf das Gemeinwohl ausrichte 11<br />

Eine Verdrängung der Föderalisten aus ihrer Vormachtstellung im Repräsentantenhaus und der<br />

Einzug eines Republikaners ins Präsidentenamt - ein Wechsel der Regierenden also - bedeutete für<br />

<strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong> nicht automatisch das Ende der anti-republikanischen Politik der Föderalisten.<br />

Bedeutend wichtiger erschien ihm, diejenigen Bestimmungen aus der neuen Bundesverfassung<br />

zu tilgen, die für die "monarchische" Politik der Föderalisten verantwortlich waren. Der Verfassung<br />

würden verschiedene schlechte Prinzipien zugrunde liegen, welche die Regierenden in<br />

Versuchung führen, korrumpieren und ihnen gestatten würden, sich ihrem Machtstreben und ihrer<br />

Habgier auf Kosten des Gemeinwohls hinzugeben. Ohne eine Verfassungsänderung, ohne einen<br />

wirklichen change <strong>of</strong> principles, so <strong>Taylor</strong>s Befürchtung, würden sich <strong>von</strong> den Republikanern dominierte<br />

Behörden als ebenso nachteilig für das Gemeinwohl herausstellen, wie <strong>von</strong> den Föderalisten<br />

beherrschte Behörden.<br />

Die einem Regierungssystem oder einer Verfassung zugrunde liegenden Prinzipien spielen, wie<br />

die Auszüge aus <strong>Taylor</strong>s Korrespondenz zeigen, eine wichtige Rolle im <strong>Denken</strong> des <strong>St</strong>aatsmannes<br />

und Pflanzers aus <strong>Caroline</strong> County, Virginia. Wie im Folgenden gezeigt wird, bildet der Gedanke der<br />

guten republikanischen Prinzipien die Quintessenz seiner Lehre der Politik. Der Ausdruck principles<br />

findet sich in fast allen Werken <strong>Taylor</strong>s. Eine eigentliche Prinzipienlehre (die Theorie der guten und<br />

schlechten moralischen Prinzipien) enthält allerdings nur sein opus magnum, die 1814 nach beinahe 20<br />

Jahren Arbeit publizierte Inquiry into the Principles and Policy <strong>of</strong> the Government <strong>of</strong> the United <strong>St</strong>ates. 12 Zwar<br />

verwendete <strong>Taylor</strong> den Ausdruck principles sowohl in seinen vor wie auch nach dem Inquiry verfassten<br />

Schriften; in keiner <strong>von</strong> ihnen unternimmt er indessen den Versuch, die hinter diesem Begriff<br />

steckende Idee herzuleiten und zu begründen. 13 Eine Untersuchung <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Prinzipienlehre hat<br />

sich daher in erster Linie auf den Inquiry <strong>von</strong> 1814 zu stützen.<br />

In der Wissenschaft werden unterschiedliche Meinungen über den Ursprung dieser Prinzipien<br />

vertreten. Nach Gordon Wood drückte <strong>Taylor</strong>s Inquiry auf brillante Weise das Konzept amerikanischer<br />

Politik aus, wie es aus der Epoche der Amerikanischen Revolution hervorgegangen war. 14 Für<br />

den <strong>Taylor</strong>-Historiker Robert Shalhope gibt der Inquiry eine "penetrating analysis <strong>of</strong> the thrust <strong>of</strong><br />

11 Ibd.: "And is it not unreasonable, not to say unnatural, to expect that men, thus exposed to temptations which have<br />

almost universally proved irresistible, should heroically resist them, and confine their endeavours to the pure objects<br />

<strong>of</strong> public good!" Siehe hierzu auch Meyer (1982: 14f.).<br />

12 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 174 ("The elements <strong>of</strong> every government consisted <strong>of</strong> good or evil moral principles"), ibd., 164<br />

("Moral Principles constitute the criterion <strong>of</strong> estimating the nature <strong>of</strong> a form <strong>of</strong> government"), ibd., 629 ("A knowledge<br />

<strong>of</strong> principles is as indispensable to a nation, to enable it to sustain a free government, as <strong>of</strong> plants to a horticulturist").<br />

13 <strong>Taylor</strong> (1794), An Enquiry, 5f. ("political principles"; "great principles resulting from the constitution"; "test <strong>of</strong> principles");<br />

ders. (1820), Construction Construed, 9 ("republican principles"), ibd., 17 ("principles <strong>of</strong> our revolution"); ders.<br />

(1822), Tyranny Unmasked, 196 ("first principle <strong>of</strong> theoretical liberty"), ibd., 219 ("the four essential principles <strong>of</strong> our<br />

theory for the preservation <strong>of</strong> liberty"); ders. (1823), New View <strong>of</strong> the Constitution, 2 ("principles and terms, we have<br />

adopted"). <strong>Taylor</strong> scheint die Grundidee seiner Lehre der moralischen Prinzipien bereits um 1794 herum entwickelt<br />

zu haben. So heisst es in seinem Pamphlet An Enquiry into the Principles and Tendency <strong>of</strong> Certain Public Measures: "By giving<br />

a proper tone to a young government, and rooting an administration in the sound principles <strong>of</strong> political morality,<br />

happiness may be acquired for ourselves and our posterity." <strong>Taylor</strong> (1794), An Enquiry, 2.<br />

14 Wood (1969: 589).


103<br />

Revolutionary Republicanism". 15 Anderer Meinung ist Thornton F. Miller, der den Ursprung <strong>von</strong><br />

<strong>Taylor</strong>s Prinzipien in einer vorrevolutionären Zeit lokalisiert und sie als Verkörperung der ungeschriebenen<br />

Verfassung, der ancient constitution Virginias beschreibt. 16 Für Bramhall stimmen <strong>Taylor</strong>s<br />

gute und schlechte moralische Prinzipien schlicht mit seinem "partisan political program" überein<br />

(oder widersprechen diesem) und folgen nicht aus einem "rationally discernable system <strong>of</strong> ethics<br />

such as that found in the thought <strong>of</strong> an Aristotle, Kant, etc.". 17 Es stellt sich also die Frage nach dem<br />

Ursprung <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s guten <strong>politische</strong>n Prinzipien oder allgemeiner, seiner Theorie der guten und<br />

schlechten moralischen Prinzipien. Waren diese Prinzipien der theoretisch verbrämte Ausdruck des<br />

partei<strong>politische</strong>n Programms der Jeffersonian Republicans oder gründeten sie in einem rational<br />

herleitbarem System <strong>politische</strong>r Ethik? Waren sie Ausdruck der Prinzipien und Grundsätze der<br />

Amerikanischen Revolution oder gar einer noch weiter zurückliegenden Tradition, derjenigen des<br />

Old Dominion und seiner ungeschriebenen, althergebrachten Verfassung? Die nachfolgenden Abschnitte<br />

geben auf diese Fragen erste Antworten. Inbesondere führen sie jedoch in <strong>Taylor</strong>s moralische<br />

Prinzipienlehre ein.<br />

In einem ersten Schritt (Ziff. 3.2) wird das Verhältnis <strong>von</strong> <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong>s moralischen Prinzipien<br />

zur klassischen Lehre der Regierungsformen untersucht. Im Mittelpunkt stehen Fragen wie: Was<br />

unterscheidet <strong>Taylor</strong>s Lehre <strong>von</strong> den damals gängigen, klassischen Modellen der Politikanalyse?<br />

Welche ist in seinem Urteil die beste <strong>St</strong>aatsform? Warum erachtete er es überhaupt für notwendig,<br />

eine neue Regierungsanalyse zu formulieren? In einem zweiten Schritt (Ziff. 3.3) wird die Theorie,<br />

die hinter <strong>Taylor</strong>s Lehre der guten und schlechten moralischen Prinzipien steckt, näher untersucht. 18<br />

Im Mittelpunkt stehen Fragen wie: Was verstand <strong>Taylor</strong> unter diesen Grundprinzipien? Wie werden<br />

sie hergeleitet, wie begründet? Welche Erkenntnismethode liegt ihnen zugrunde? Abschliessend<br />

(Ziff. 3.4) wird untersucht, welchem Ansatz <strong>politische</strong>r Ethik (personenorientierte oder institutionenorientierte<br />

Ethik) <strong>Taylor</strong>s moralische Prinzipien zuzuordnen sind.<br />

15 Shalhope (1980a: 152).<br />

16 Miller (1994: 5): "Men such as Patrick Henry, Spencer Roane, and <strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> [...] would be remembered in history<br />

as oppenents <strong>of</strong> the Constitution and federal law and as defenders <strong>of</strong> weak government. They were also defenders <strong>of</strong><br />

law, however and would continue to be so, and they would go on to be great defenders <strong>of</strong> the constitution, although<br />

not the written Constitution <strong>of</strong> 1787. Instead, they wished to preserve the principles <strong>of</strong> government, the common<br />

law, and the unwritten constitution that had developed over centuries." Dabei handelte es sich - wie Miller zeigt -<br />

nicht um die ungeschriebene Verfassung Grossbritanniens: "There was a long, well-established tradition that could<br />

be called an 'American Constitution'. 'Americans', or rather, the people <strong>of</strong> the states, had a history, traditions, charters,<br />

rights, and an unwritten law, but it developed separately in each colony, then in each state." Ibd., 11.<br />

17 Bramhall (1999: 184). Siehe ibd., 184: "The most substantive problem with <strong>Taylor</strong>’s promotion <strong>of</strong> good moral principles<br />

was the lack <strong>of</strong> a rational basis for delineating between good and bad."<br />

18 Eine gründliche Untersuchung der <strong>Taylor</strong>schen Prinzipienlehre findet sich in keiner der neueren, in den 1970er<br />

Jahren erschienenen Monographien zu <strong>Taylor</strong>. Die letzte und bis jetzt einzige Untersuchung, die sich eingehender<br />

mit <strong>Taylor</strong>s moralischen Prinzipien auseinandersetzt, ist die Arbeit <strong>von</strong> Eugene TenBroeck Mudge aus den späten<br />

1930er Jahren. Siehe Mudge (1939: 19-26). Die nachfolgende Darstellung orientiert sich an Mudges Erkenntnissen.<br />

Eine Erklärung dafür, warum die Forschung <strong>Taylor</strong>s Prinzipienlehre vernachlässigt hat, liefert möglicherweise ihre<br />

wenig zusammenhängende und über weite <strong>St</strong>recken umständliche Herleitung und Begründung. Benjamin F. Wright<br />

beschrieb die Schwächen in <strong>Taylor</strong>s Argumentation mit folgenden knappen, aber treffenden Worten: "His discussion<br />

<strong>of</strong> these principles is not always the clearest." Wright (1928: 892).


104<br />

3.2. Regierungsformen und moralische Prinzipien<br />

3.2.1. Der Diskurs über die Grundlagen der amerikanischen Republik<br />

<strong>Das</strong> amerikanische Regierungssystem gründete für <strong>Taylor</strong> auf einer Reihe einzigartiger und neuer<br />

Prinzipien, wie sie aus der Amerikanischen Revolution hervorgegangen waren. Mit dem Inquiry verfolgte<br />

er die Zielsetzung, seinem Publikum diese Prinzipien in Erinnerung zu rufen und so zu verhindern,<br />

dass Amerikas republikanisches Experiment allmählich in Vergessenheit geriet oder durch<br />

Korrumpierung langsam verloren ging. Die Zeit drängte im Urteil <strong>Taylor</strong>s, denn die Ereignisse und<br />

Entwicklungen in der frühen Republik stimmten ihn wenig zuversichtlich. <strong>Das</strong> amerikanische Volk<br />

liess sich seiner Meinung nach mehr und mehr durch fremde <strong>politische</strong> Lehren, wie sie etwa <strong>von</strong> den<br />

Autoren der Federalist Papers und <strong>von</strong> <strong>John</strong> Adams vertreten wurden, an der Nase herumführen und<br />

abstumpfen. Es war im Begriff, die einzigartigen amerikanischen Prinzipien, auf denen seine Freiheit<br />

gründet, schrittweise zu vergessen. 19 <strong>Taylor</strong> leitete seinen Inquiry daher mit der an die amerikanische<br />

Öffentlichkeit gerichteten Warnung ein, "that Mr. Adams’s defence <strong>of</strong> the American Constitutions,<br />

and [...] the essays signed Publius, but entitled the Federalist, [...] both had paid too much respect to<br />

political skeletons, constructed with fragments torn from monarchy, aristocracy and democracy,<br />

called, in these essays, the numerical analysis; and too little to the ethereal moral principles, alone<br />

able to bind governments to the interest <strong>of</strong> nations." <strong>Das</strong> Vertrauen in die <strong>von</strong> <strong>John</strong> Adams’ Defence<br />

<strong>of</strong> the Constitutions <strong>of</strong> the Governments <strong>of</strong> the United <strong>St</strong>ates (1787-88) und <strong>von</strong> den Federalist-Artikeln (1788)<br />

verbreiteten Lehren, habe in der amerikanischen Öffentlichkeit das Wissen um all die Einrichtungen<br />

in Vergessenheit geraten lassen, die einzig und alleine imstande seien, freiheitliche und gemässigte<br />

Behörden (free and moderate government) zu erhalten. <strong>Taylor</strong>s Ziel war es, der amerikanischen Öffentlichkeit<br />

mit dem Inquiry das verloren gegangene Bewusstsein um freiheitliche Regierungsprinzipien<br />

zurückzugeben und die abnehmende Wachsamkeit betreffend ihrer Erhaltung neu zu schärfen. 20<br />

Nur so sei die öffentliche Meinung in der Lage, die ihr zukommende Aufgabe zu erfüllen. 21<br />

Monarchie, Aristokratie und Demokratie, die drei klassischen, ungemischten Regierungsformen,<br />

erschienen <strong>Taylor</strong> als "inartificial, rude, and almost savage political fabricks". Der Gedanke, aus<br />

ihren Bestandteilen ein neuartiges <strong>politische</strong>s Gebilde - eine Mischverfassung - zu formen, wirke<br />

"like that <strong>of</strong> erecting a palace with materials drawn from Indian Cabins". Genau diesen Versuch<br />

aber, so lautete <strong>Taylor</strong>s Vorwurf, hätten die Autoren des Defence und der Federalist-Artikel unternommen<br />

und damit hätten sie der Verfassung der Vereinigten <strong>St</strong>aaten "little or nothing new or<br />

preeminent" zugestanden und die Menschheit - wie bis anhin - gefangen zurückgelassen im klassischen<br />

Verfassungskreislauf, "within the magick circle <strong>of</strong> the numerical analysis". 22 Der Kern <strong>von</strong><br />

19 Shalhope (1980a: 152).<br />

20 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 31.<br />

21 Ibd., 33: "[H]e [im Vorwort spricht <strong>Taylor</strong> <strong>von</strong> sich selber in der dritten Person, A.d.V.] could not discern how the<br />

publick opinion could perform those <strong>of</strong>fice expected <strong>of</strong> it, unless it was well instructed in those good moral principles,<br />

capable only <strong>of</strong> distinguishing between laws or measures consonant to the nature <strong>of</strong> our policy, and those flowing<br />

from avarice, party zeal, ambition, or the errour <strong>of</strong> its supposed affinity to the British."<br />

22 Ibd., 32. Unter dem Ausdruck "Verfassung der Vereinigten <strong>St</strong>aaten" (policy <strong>of</strong> the United <strong>St</strong>ates) versteht <strong>Taylor</strong> das<br />

gesamte Verfassungssystem der Vereinigten <strong>St</strong>aaten. Der Begriff schliesst also neben der Bundesverfassung der Vereinigten<br />

<strong>St</strong>aaten <strong>von</strong> Amerika auch sämtliche Verfassungen der Einzelstaaten ein (zur Zeit der Veröffentlichung des


105<br />

<strong>Taylor</strong>s Kritik war, dass sowohl Adams wie auch die Autoren der Federalist-Artikel (James Madison,<br />

Alexander Hamilton und <strong>John</strong> Jay) Gefangene der klassischen Lehre der Politikanalyse seien, diese<br />

Lehre für Amerika allerdings nicht mehr angemessen sei. Für <strong>Taylor</strong> war das ein folgenschwerer und<br />

unverzeihlicher Fehler, enthielt doch das Verfassungssystem der Vereinigten <strong>St</strong>aaten seiner Einschätzung<br />

nach neuartige Elemente, die seine Überlegenheit (the true value and real superiority) gegenüber<br />

den althergebrachten europäischen, auf Klassen und <strong>St</strong>änden beruhenden Regierungssystemen<br />

begründen. Diese neuartigen Elemente bezeichnete er als "gute moralische Prinzipien" - als good<br />

moral principles. Alleine diese good moral principles dürften Gegenstand nationaler Verehrung sein, denn<br />

nur dank ihnen lasse sich der "ill success <strong>of</strong> other governments and [...] the wonderful prosperity <strong>of</strong><br />

our own" erklären. 23<br />

<strong>Taylor</strong> fürchtete die Vermischung zweier unverträglicher Formen der Politikanalyse und der aus<br />

ihnen abgeleiteten Verfassungssysteme: <strong>von</strong> guten moralischen Prinzipien oder der moralischen<br />

Analyse einerseits und <strong>von</strong> der klassischen - <strong>Taylor</strong> spricht <strong>von</strong> der numerischen - Analyse oder klassischen<br />

Systemen (die Einteilung der Regierungsformen in Monarchie, Aristokratie und Demokratie<br />

oder eine ihrer Mischformen) andererseits. Die britische Mischverfassung verkörpere - wie allgemein<br />

anerkannt werde - die numerische Analyse in ihrer vollkommensten Form. Amerika gründe hingegen<br />

auf moralischen Prinzipien. Bei einer Mischung beider Systeme würden Grundsätze und Massnahmen<br />

des englischen Systems (calculated for their political system) in das amerikanische Verfassungssystem<br />

eingeführt werden und dieses schädigen. Da die englische <strong>St</strong>aatsform in Amerika als Werk<br />

der Vorväter ein ausserordentlich grosses Ansehen geniesse, sei die Gefahr einer Annäherung beider<br />

Systeme besonders gross. Die englische Verfassung sei die Quelle der amerikanischen Liebe zur<br />

Freiheit und der einzige ernstzunehmende Rivale des amerikanischen Verfassungssystems. Dennoch<br />

müsste ein Abgleiten des amerikanischen in das englische Verfassungssystem unter allen Umständen<br />

verhindert werden. Mit seinem Inquiry und der darin enthaltenen Theorie der guten moralischen<br />

Prinzipien verfolgte <strong>Taylor</strong> genau diesen Zweck. Er h<strong>of</strong>fte, "that a disclosure <strong>of</strong> the contrariety in<br />

their principles, might become a beacon against an exchange <strong>of</strong> good and lasting moral principles,<br />

for coweb and fluctuating balances". Die folgenden Generationen, mahnte <strong>Taylor</strong>, dürften nicht<br />

durch das Schweigen ihrer Väter zum Irrglauben verführt werden, dass die Ähnlichkeit beider<br />

Systeme schon immer allgemein akzeptiert und anerkannt gewesen sei. "For the happiness and<br />

safety <strong>of</strong> the people <strong>of</strong> the United <strong>St</strong>ates" war es daher notwendig, den <strong>politische</strong>n Diskurs über die<br />

Inquiry im Jahr 1814 waren das 18 Einzelstaatenverfassungen). Die Verfassung der Union und die Verfassungen der<br />

Einzelstaaten bilden ein einziges Verfassungssystem. Siehe dazu <strong>Taylor</strong> im Inquiry: "By the civil policy <strong>of</strong> the United<br />

<strong>St</strong>ates, I mean the general and the state constitutions, as forming one system. [...] The differences among them all [i.e.<br />

the state constitutions], consist only in modifications <strong>of</strong> the same principles", oder an anderer <strong>St</strong>elle: "The state and<br />

general constitutions form but one system <strong>of</strong> policy. The spirit <strong>of</strong> this policy, to be only fairly drawn from an inspection<br />

<strong>of</strong> the whole [...]." Ibd., 100, 511.<br />

23 Ibd., 32. Siehe für die anti-klassische <strong>St</strong>ossrichtung <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Kritik Ellis (1993: 154): "The core <strong>of</strong> <strong>Taylor</strong>’s critique<br />

was the charge that Adams was the prisoner <strong>of</strong> a classical way <strong>of</strong> thinking about politics that was no longer appropriate<br />

for post-revolutionary America. What <strong>Taylor</strong> called 'the numerical analysis' was the classical assumption<br />

that all political arrangements were variations on the same eternal theme: namely, the proper balancing <strong>of</strong> the interests<br />

<strong>of</strong> the one, the few, and the many." Siehe zur Kritik an der klassischen Politiklehre auch Wood (1969: 589).


106<br />

Grundprinzipien Amerikas wieder aufzunehmen. 24 Doch was waren die Gründe für <strong>Taylor</strong>s Kritik<br />

an der englischen Mischverfassung? Was war so schlecht an der numerischen Analyse? Und schliesslich,<br />

was unterschied <strong>Taylor</strong>s eigene Analyse, die er eine moralische Analyse nannte, <strong>von</strong> der bisherigen,<br />

allgemein akzeptierten Lehre der Regierungsformen, und warum war er der Meinung, dass sein<br />

Modell einen Quantensprung im Voranschreiten der Wissenschaft der Politik darstellte? In den<br />

folgenden Abschnitten soll auf diese und andere Fragen eine Antwort gegeben werden.<br />

3.2.2. Klassische und moderne Systeme der Politik<br />

Den Hauptverantwortlichen dafür, dass das <strong>politische</strong> System Amerikas in die Formen des englischen<br />

Systems der checks and balances gedrückt und so unter dessen schlechten Einfluss geraten war,<br />

vermeinte <strong>Taylor</strong> in <strong>John</strong> Adams (1735-1826) erkennen zu können. 25 Adams hatte Massachusetts<br />

<strong>von</strong> 1774 bis 1778 im Kontinentalkongress vertreten und zusammen mit Franklin, Livingstone und<br />

Sherman dem Ausschuss angehört, der unter der Leitung <strong>von</strong> Jefferson die amerikanische Unabhängigkeitserklärung<br />

entworfen hatte. 26 Adams war - wie Jefferson es formulierte - "eine tragende Säule"<br />

im Kampf um die Unabhängigkeit. Später spielte er eine massgebliche Rolle bei der Ausarbeitung<br />

der neuen Verfassung <strong>von</strong> Massachusetts. 1789 wurde Adams der erste Vizepräsident der USA unter<br />

George Washington, 1776 gegen Jefferson dann selbst zum Präsidenten gewählt. Seine <strong>politische</strong><br />

Karriere in der neuen Bundesregierung stand unter keinem guten <strong>St</strong>ern. "Adams überwarf sich mit<br />

den Führern beider Parteien, Jefferson und Hamilton. Nach bitteren Intrigen, auch aus den eigenen<br />

Reihen, scheiterte er im Jahr 1800 an der Wiederwahl. An seiner <strong>St</strong>elle wurde Jefferson zum Präsidenten<br />

erkoren. Daraufhin zog sich Adams ins Privatleben zurück und verbrachte den letzten Lebensabschnitt<br />

als Privatgelehrter." 27 Die Quintessenz seiner politikwissenschaftlichen <strong>St</strong>udien stellt<br />

die dreibändige Defence <strong>of</strong> the Constitutions <strong>of</strong> the Government <strong>of</strong> the United <strong>St</strong>ates (1787/1788) dar, in der<br />

Adams die "Mischverfassung und das Zweikammerparlament nach dem Vorbild seines Heimatstaa-<br />

24 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 32, 33. Siehe insb. ibd., 32: "Believing that the true value and real superiority <strong>of</strong> our policy<br />

consisted in its good moral principles; that these principles were the only object <strong>of</strong> national affection; and the only<br />

just solutions <strong>of</strong> the ill success <strong>of</strong> other governments and <strong>of</strong> the wonderful prosperity <strong>of</strong> our own [...]."<br />

25 Entgegen der Erklärung im Vorwort seines Inquiry, dass sowohl Adams’ Defence als auch die Federalist-Artikel die<br />

Hauptvertreter der numerischen Analyse in Amerika seien, richtete <strong>Taylor</strong> seine Kritik beinahe ausschliesslich an die<br />

Adresse <strong>von</strong> <strong>John</strong> Adams (drei Seiten beschäftigen sich mit den Federalist-Artikeln, Adams’ Defence ist hingegen über<br />

das ganze Werk hinweg präsent). Adams war sicherlich ein dankbareres "Opfer" wie der fellow virginian James Madison,<br />

der zur Zeit der Publikation des Inquiry Präsident der Vereinigten <strong>St</strong>aaten war. Siehe Bramhall (1999: 39, Fn.<br />

130). Eine weitere Erklärung liefert aber auch die Zeitspanne, in der <strong>Taylor</strong> den Inquiry geschrieben hat. <strong>Das</strong> waren<br />

nachweislich die Jahre zwischen 1791 und 1811. Der überwiegende Teil seiner 560 Seiten wurde während der Administration<br />

<strong>von</strong> Adams (1797-1801) und der ersten Administration <strong>von</strong> Jefferson (1801-1805) geschrieben. Zu dieser<br />

Zeit hatte <strong>Taylor</strong> die Federalist-Artikel nachweislich noch nicht genau studiert. <strong>Das</strong> Vorwort des Inquiry, dass die Attacke<br />

auf die Federalist-Artikel enthält, hat <strong>Taylor</strong> hingegen erst während Madisons erster Administration (1809-1813)<br />

und nach eingehender Lektüre des Federalists verfasst. Siehe Lloyd (1973: 193f.).<br />

Gemäss <strong>Taylor</strong> übertraf die in den Federalist-Artikeln enthaltene Lobpreisung des englischen Regierungssystems<br />

diejenige <strong>von</strong> Adams bei weitem: "The Federalist contains an eulogy <strong>of</strong> the English form <strong>of</strong> government, infinitely<br />

transcending the compliment paid to it by Mr. Adams and incapable <strong>of</strong> augmentation. [...] the Federalist, by an ingenious<br />

use <strong>of</strong> Montesquieu, exalts it to the station among governments which Homer occupies among poets." <strong>Taylor</strong><br />

(1814), Inquiry, 466.<br />

26 Siehe hierzu und zu den folgenden biographischen Angaben Riklin (2006: 299f.).<br />

27 Ibd., 300.


107<br />

tes Massachusetts gegen die einkammrigen ungemischten «Demokratien»" verteidigte. 28 Genau<br />

dieses Werk war für <strong>Taylor</strong> der Inbegriff der klassischen, numerischen Politikanalyse. Adams, so der<br />

Vorwurf des Virginiers, behaupte in seinem Defence, dass es nur drei generical forms <strong>of</strong> government gebe -<br />

nämlich Monarchie, Aristokratie und Demokratie - und dass alle weiteren Formen auf Mischungen<br />

dieser drei Grundformen hinauslaufen würden. Werde die <strong>politische</strong> Macht <strong>von</strong> einer Person ausgeübt,<br />

ohne Teilung und ohne Verantwortlichkeit, spreche man gewöhnlich <strong>von</strong> einer Monarchie.<br />

Wenn die gleiche Macht <strong>von</strong> wenigen Personen ausgeübt werde, handle es sich um eine Aristokratie,<br />

werde sie <strong>von</strong> der gesamten Nation ausgeübt, spreche man <strong>von</strong> einer Demokratie. <strong>Taylor</strong> gestand<br />

zwar ein, dass eine gewisse Ähnlichkeit besteht zwischen einzelnen Elementen des amerikanischen<br />

Verfassungssystems und diesen drei Regierungsformen: zwischen einem president or a governor to a<br />

monarch", zwischen einem "American Senate, to an hereditary order" oder "<strong>of</strong> a house <strong>of</strong> representatives,<br />

to a legislating nation". Diese Ähnlichkeiten seien jedoch rein oberflächlicher Natur. Mit<br />

ihrer Hilfe und im Geiste der analysis <strong>of</strong> antiquity habe Adams versucht, das <strong>politische</strong> System Amerikas<br />

in die Form der englischen Mischverfassung mit ihren checks and balances zu pressen. Dabei habe<br />

er aber das völlig unterschiedliche Wesen der beiden Systeme ignoriert: Aus mit beschränkten Amtszeiten<br />

versehenen, gewählten und verantwortlichen Magistratspersonen habe er Monarchen gemacht,<br />

die Senatoren in einen aristokratischen <strong>St</strong>and umgewandelt und die amerikanischen Volksvertreter<br />

(representatives) in eine gesetzgebende Nation (legislating nation) verwandelt. 29 <strong>Taylor</strong> war überzeugt,<br />

dass sich das amerikanische Verfassungssystem nicht mit den Begrifflichkeiten der klassischen<br />

Mischverfassung verstehen lässt. Die numerische Analyse, auf der die Mischverfassungsidee gründet,<br />

konnte für Amerika keine Relevanz mehr beanspruchen. Sie verkörperte die analysis <strong>of</strong> antiquity, die<br />

ancient analysis und war damit h<strong>of</strong>fnungslos veraltet. <strong>John</strong> Adams’ Theorie war für <strong>Taylor</strong> jedoch<br />

nicht nur h<strong>of</strong>fnungslos verstaubt, sondern auch gefährlich für die Erhaltung der Freiheit. 30<br />

<strong>Taylor</strong>s Attacke gegen Adams gründete auf der Annahme, dass das amerikanische Verfassungssystem<br />

und seine Verfassungen verschieden sind <strong>von</strong> allen bisher existierenden Regierungsformen.<br />

Zur Zeit der Amerikanischen Revolution hätten die Kolonisten die Erhabenheit der britischen<br />

Mischverfassung bewundert: "[T]he British Constitution [...] constituted the American observatory<br />

at the epoch <strong>of</strong> the revolution." Dann jedoch habe Amerika, "through the telescope, necessity" neue<br />

Prinzipien entdeckt, mit deren Hilfe das Verständnis der <strong>politische</strong>n Wissenschaften in der neuen<br />

Welt in den zwanzig Jahren nach der Revolution zwanzigmal schneller voran geschritten sei als mit<br />

Hilfe der numerischen Analyse in 20 Jahrhunderten zuvor. 31 Der Glaube, dass die drei klassischen<br />

28 Ibd., 300f.. Eine eingehende Darstellung <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong>s Auseinandersetzung mit der <strong>politische</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>John</strong><br />

Adams findet sich in Ziff. 6 unten.<br />

29 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 36f.<br />

30 Zur Irrelevanz klassischer europäischer Regierungslehren siehe auch Jefferson: "The full experiment <strong>of</strong> a government<br />

democratical, but representative, was and is still reserved for us [...] this [...] has rendered useless almost everything<br />

written before on the structure <strong>of</strong> government; and in a great measure, relieves our regret, if the political writings<br />

<strong>of</strong> Aristotle, or <strong>of</strong> any other ancient, have been lost, or are unfaithfully rendered or explained to us." Brief <strong>von</strong><br />

Thomas Jefferson an Isaac Tiffany, 26. August 1816, zitiert nach Sheldon (1991: 71). Sheldon zeigt jedoch, dass sich<br />

diese Aussage Jeffersons nur auf die repräsentative Demokratie der Union (d.h. auf die oberste Regierungsebene in<br />

Jeffersons Modell einer föderativen Republik) bezieht. Jeffersons Ideal der kleinräumigen, partizipativen ward democracy<br />

habe sich nach wie vor in grossem Masse auf klassische Vorbilder abgestützt. Siehe ibd., 70ff.<br />

31 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 32, 158. Siehe dazu auch Wood (1969: 589).


108<br />

<strong>St</strong>aatsformen und ihre Mischung im <strong>Denken</strong> über den <strong>St</strong>aat der Weisheit letzter Schluss seien, war in<br />

den Augen <strong>Taylor</strong>s ein Dogma, das den aufgeklärten und stetig voranschreitenden Menschen am<br />

Gebrauch seiner Vernunft und seines Verstandes hinderte: Anstatt sich auf eine Klassifikation der<br />

Regierungsformen nach moralischen Prinzipien zu stützen, habe sich die alte Welt an einer Einteilung<br />

der Regierungsformen nach rein quantitativen und äusserlichen Kriterien orientiert. Dementsprechend<br />

- und ganz im Gegensatz zum Fortschritt in anderen wissenschaftlichen Disziplinen -<br />

habe die Wissenschaft der Politik in den beinahe zwei Jahrtausenden <strong>von</strong> der klassischen Antike bis<br />

zur Amerikanischen Revolution stagniert:<br />

By this error, moral efforts <strong>of</strong> mankind, towards political improvement, have been restrained and disappointed.<br />

Under every modification <strong>of</strong> circumstances, these three generical principles <strong>of</strong> government, or a mixture<br />

<strong>of</strong> them, have been universally allowed to comprise the whole extent <strong>of</strong> political volition; and whilst liberty<br />

enjoyed by other sciences, has produced a series <strong>of</strong> wonderful discoveries; politics, circumscribed by an<br />

universal opinion (as astronomy was for centuries) remained stationary from the earliest ages, to the American<br />

revolution. 32<br />

<strong>Taylor</strong> warf Adams vor, dass die numerische Analyse keinen Fortschritt in der Kunst der Einrichtung<br />

<strong>von</strong> Behörden zulasse. "Mr. Adams System promises nothing. It tells us that human nature is<br />

always the same: that the art <strong>of</strong> government can never change. [...] Such a computation is a spectre,<br />

calculated to arrest our efforts, and appal our hopes, in pursuit <strong>of</strong> good government." 33 Wie könne<br />

Adams erwarten, bemerkte <strong>Taylor</strong>, dass das amerikanische Volk den alten Formen Europas und<br />

deren Mischungen folge, nachdem es neue Regierungsprinzipien entdeckt habe, die sich - wie die<br />

Erfahrung gezeigt habe - in ihrer Zweckmässigkeit und in ihrem Nutzen <strong>von</strong> allen bisherigen Prinzipien<br />

unterscheiden. 34<br />

Nach <strong>Taylor</strong> ist die moralische Natur des Menschen wandelbar, <strong>von</strong> Nation zu Nation und <strong>von</strong><br />

Individuum zu Individuum verschieden. <strong>Das</strong> amerikanische Volk habe in seiner moralischen Natur<br />

nichts mit den "alten Griechen, Schweizern, Briten, Goten, Vandalen, Italienern, Türken oder<br />

Chinesen" gemeinsam. Aus dieser Verschiedenheit und intellektuellen Vielfalt folge die Unmöglichkeit,<br />

"<strong>of</strong> contriving one form <strong>of</strong> government, suitable for every nation." 35 Mit anderen Worten: Für<br />

<strong>Taylor</strong> gibt es kein Regierungssystem, dass universelle Geltung beanspruchen kann und für alle Na-<br />

32 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 37. Aus dieser Erkenntnis leitete <strong>Taylor</strong> eine der Hauptzielsetzungen seines Inquiry ab: "It will<br />

be an effort <strong>of</strong> this essay to prove, that the United <strong>St</strong>ates have refuted the ancient axiom, 'that monarchy, aristocracy<br />

and democracy, are the only elements <strong>of</strong> government,' by planting theirs in moral principles, without any reference to<br />

those elements; and by demolishing the barrier hitherto obstructing the progress <strong>of</strong> political science, they have<br />

cleared the way for improvement." Ibd., 37-38. Siehe zur Rolle Amerikas als Erfinderin neuer <strong>politische</strong>r Prinzipien<br />

auch bereits <strong>Taylor</strong>s Enquiry aus dem Jahre 1794: "America has assumed a character upon the theatre <strong>of</strong> the world,<br />

which honour, fame and political philosophy, call upon her to support. She is the inventor <strong>of</strong> principles, asserting the<br />

equal rights <strong>of</strong> man, and exploding king-craft, priest-craft, nobility-craft and minister-craft." Ders. (1794), An Enquiry,<br />

49.<br />

33 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 38.<br />

34 Ibd., 38: "Is it possible to convince us, that we are compelled to elect one <strong>of</strong> these evils? After having discovered<br />

principles <strong>of</strong> government, distinct from monarchy, aristocracy or democracy, in the experience <strong>of</strong> their efficacy, and<br />

the enjoyment <strong>of</strong> their benefits; can we be persuaded to renounce the discovery, to restore the old principles <strong>of</strong> political<br />

navigation, and to steer the commonwealth into the disasters, against which all past ages have pathetically<br />

warned us?"<br />

35 Ibd., 38, 39.


109<br />

tionen und zu jeder Zeit die beste aller <strong>St</strong>aatsformen bildet. <strong>Das</strong> aber war der Anspruch, den die<br />

Verteidiger der Mischverfassung über Jahrtausende hinweg erhoben hatten.<br />

Aus dem konstatierten Fortschritt im Bereich <strong>von</strong> Bildung, Moral und Sitten zog <strong>Taylor</strong> die<br />

Schlussfolgerung, dass sich Amerika <strong>von</strong> allen althergebrachten, in Traditionen und Vorurteilen<br />

wurzelnden Ideen zu befreien hatte. <strong>Taylor</strong> dachte an einen radikalen Neubeginn und für einen<br />

solchen war ein weisses Blatt Papier notwendig, auf dem - ausgehend <strong>von</strong> den Gesetzen der Natur<br />

(laws <strong>of</strong> nature), den Methoden der Aufklärung und der menschlichen Vernunft - die guten Prinzipien<br />

der Einrichtung <strong>von</strong> Behörden neu entworfen und skizziert werden können. Behörden sind nach<br />

<strong>Taylor</strong>s Auffassung "as strictly subject to the moral, as a physical being is to the physical laws <strong>of</strong><br />

nature". So wie die Naturgesetze der Physik das Funktionieren einer Maschine definieren oder die<br />

Bewegungen eines Körpers bestimmen, so bestimmen die Naturgesetze der Moral das Wirken eines<br />

moralischen Wesens, und Behörden sind nichts anderes als solche moral agents. 36 <strong>Das</strong> Wirken <strong>von</strong><br />

derart verstandenen Behörden ist regulierbar. 37,38<br />

3.2.3. Ungemischte <strong>St</strong>aatsformen: Monarchie, Aristokratie und Demokratie<br />

Obwohl <strong>Taylor</strong> der Meinung ist, dass die <strong>St</strong>aatsform (form <strong>of</strong> government) grundsätzlich nicht das<br />

Ergebnis der Regierungspolitik definiert, vertritt er die Ansicht, dass bestimmte Formen <strong>von</strong> ihrer<br />

Natur her inhärent zur Korrumpierbarkeit neigen. 39 Zu ihnen zählt er die klassischen drei <strong>St</strong>aatsformen<br />

des Aristoteles (mit ihrem quantitativen Unterscheidungskriterium der Zahl der Herrschenden)<br />

- Monarchie (die Herrschaft einer Einzelperson), Aristokratie (die Herrschaft der Wenigen) und<br />

Demokratie (die Herrschaft der Vielen). <strong>Taylor</strong> spricht daher <strong>von</strong> der numerischen Analyse und<br />

deren Mischformen. Bei inhärent korrumpierbaren <strong>St</strong>aatsformen beruht die Verfolgung des Gemeinwohls<br />

auf der Tugendhaftigkeit der Regierenden oder des Souveräns und nicht auf der<br />

Tugendhaftigkeit der zugrunde liegenden Verfassungsprinzipien. Die Politik <strong>von</strong> Monarchie, Aristokratie<br />

und Demokratie steige und falle mit der Tugendhaftigkeit des Souveräns. Im Ergebnis sei<br />

36 Zur Idee der Behörden als moral agent siehe Ziff. 3.3.2 hinten. Zwar bezeichnete <strong>Taylor</strong> den <strong>St</strong>aat und die Behörden<br />

nicht ausdrücklich als "Maschine", aber sein Hinweis darauf, dass Behörden ebenso strengen Gesetzen (d.h. Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen)<br />

unterliegen wie Körper der gegenständlichen Welt, erlaubt es meiner Ansicht<br />

nach, hier den Begriff der "Maschine" zu verwenden. Siehe Kramnick (1990: S. 86ff., insb. 91f.) zur Idee des <strong>St</strong>aats<br />

als einer Maschine, deren Prozesse und <strong>St</strong>rukturen auf einfachen mechanischen Gesetzen aufbauen, daher verstandesmässig<br />

erfassbar und voraussehbar, lenkbar und leicht handhabbar sind. Der <strong>St</strong>aat als Maschine war eine wiederkehrende<br />

Metapher im <strong>Denken</strong> des radikalen britischen Liberalismus und ein häufig gebrauchtes Bild bei Vertretern<br />

dieser Denkströmung wie Thomas Paine und Joseph Priestley. Ibd., S. 91f.<br />

37 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 94. Auf die <strong>von</strong> <strong>Taylor</strong> vertretene Position, dass das Nachdenken über die amerikanische Verfassung<br />

notwendigerweise mit einer "Tabula rasa" begonnen werden muss, verweist Baritz (1964: 168).<br />

38 Adams war gegenüber solchen vermeintlichen Entdeckungen misstrauisch und glaubte nicht an eine auserwählte<br />

Rolle Amerikas. Im Briefwechsel mit <strong>Taylor</strong> wies er diesen auf die Gefahren eines solchen Ansatzes hin: "We make<br />

ourselves popular, Mr. <strong>Taylor</strong>, by telling our fellow citizens that we have made discoveries, conceived inventions and<br />

made improvements. We may boast that we are the chosen people; we may even thank God that we are not like other<br />

men; but, after all, it would be but flattery, and delusion, the self-deceit <strong>of</strong> the Pharisee." Adams (1814 u.a.), Letters to<br />

<strong>John</strong> <strong>Taylor</strong> <strong>of</strong> <strong>Caroline</strong>, 388. Ellis (1993: 156) weist in diesem Zusammenhang auf einen wichtigen Punkt hin. Wenn<br />

<strong>Taylor</strong> Adams der Irrelevanz beschuldigt habe, schreibt Ellis, dann habe Adams <strong>Taylor</strong> unter Ideologieverdacht<br />

gestellt. <strong>Taylor</strong> sei in Adams’ Augen ein Ideologe, eine amerikanische Version der französischen Träumer gewesen,<br />

deren überschwängliche Schwärmereien direkt zu Robespierre und dann später zu Napoleon geführt hätten.<br />

39 Wharton (1980: 17).


110<br />

deren Politik deshalb veränderlich und unbeständig. Zwar sei es durchaus möglich, dass <strong>St</strong>aatsformen,<br />

die <strong>von</strong> der Tugendhaftigkeit der Regierenden abhängen, gute (sprich gemeinwohlorientierte)<br />

Ergebnisse erzielen, dies sei aber nicht der Regelfall und meist <strong>von</strong> kurzer Dauer. 40 Moralische<br />

Prinzipien hingegen würden stets die gleichen Ergebnisse (sprich gemeinwohlorientierte oder gemeinwohlschädliche<br />

Politiken) erzielen. 41 Monarchie, Aristokratie und Demokratie seien keine Herrschaftsordnungen,<br />

die in jedem Fall frei und moderat sein würden, da "the effects <strong>of</strong> each depend<br />

on the administration <strong>of</strong> wise and good, or <strong>of</strong> weak and wicked men". Trotz ihrer unterschiedlichen<br />

Form würden die drei <strong>St</strong>aatsformen auf ein und demselben Prinzip gründen: "[T]hey are all founded<br />

on one principle, namely, an irresponsible undivided power; and that principle is bad." Wenn das<br />

Prinzip, auf der eine <strong>St</strong>aatsform gründet, die Ursache (cause) also, schlecht sei, dann folge daraus,<br />

dass die Wirkung (effect) ebenfalls schlecht sein müsse: <strong>Taylor</strong> konstatierte daher kurz und knapp,<br />

dass die Resultate der drei ungemischten <strong>St</strong>aatsformen im Allgemeinen gemeinwohlschädlich seien:<br />

"[T]he effects <strong>of</strong> these three forms are bad." 42 Monarchie, Aristokratie und Demokratie neigen zur<br />

Missachtung des Gemeinwohls. 43<br />

<strong>Taylor</strong> vertritt mit seiner Lehre der moralischen Prinzipien eine institutionenorientierte <strong>politische</strong><br />

Ethik. 44 Er möchte zeigen, auf was für Prinzipien ein <strong>St</strong>aat und dessen Verfassung und Gesetze<br />

gründen müssen, damit das Ergebnis selbst bei Regierenden mit schlechten Eigenschaften gut ist.<br />

Auf die Qualität der Amtsträger, auf ihre Tugenden, ihren Mut und ihre Besonnenheit möchte er<br />

sich nicht verlassen. Seine Leseart der drei ungemischten, klassischen <strong>St</strong>aatsformen kommt einem<br />

solchen personenorientierten Ansatz <strong>politische</strong>r Ethik gleich. <strong>Taylor</strong> betrachtete die <strong>St</strong>aatsformen<br />

Monarchie, Aristokratie und Demokratie durch zwei verschiedene "Brillen": Erstens durch eine personenorientierte<br />

und zweitens durch eine institutionenorientierte Brille. Beim Blick durch die erste<br />

Brille erkennt er in den drei ungemischten <strong>St</strong>aatsformen Herrschaftsordnungen, die auf Personen<br />

40 <strong>Taylor</strong> (1814), Inquiry, 386: "Virtue, or moral goodness, may overpower an evil moral artifice, and for a short space<br />

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