28.12.2013 Aufrufe

Marie Luise Kaschnitz-Preis - Evangelische Akademie Tutzing

Marie Luise Kaschnitz-Preis - Evangelische Akademie Tutzing

Marie Luise Kaschnitz-Preis - Evangelische Akademie Tutzing

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Marie</strong> <strong>Luise</strong> <strong>Kaschnitz</strong>-<strong>Preis</strong><br />

Der in Wien lebenden Romancier und Essayist Robert<br />

Menasse erhielt die Auszeichnung.<br />

Seit 1984 verleiht die <strong>Evangelische</strong> <strong>Akademie</strong> <strong>Tutzing</strong> in zweijährigem Turnus an<br />

herausragende Literaten den <strong>Marie</strong> <strong>Luise</strong> <strong>Kaschnitz</strong>-<strong>Preis</strong>. Im Herbst 2002 wurde<br />

Robert Menasse, der als "Rembrandt unter den deutschsprachigen Schriftstellern"<br />

gilt, mit diesem Literatur-<strong>Preis</strong> ausgezeichnet.<br />

"Mit ihrer Entscheidung hatte die Jury insbesondere den im Herbst 2001 bei Suhrkamp<br />

erschienenen Roman "Die Vertreibung aus der Hölle" gewürdigt. Der originell komponierte<br />

und großartig geschriebene Roman spannt einen Bogen über vier Jahrhunderte in Europa<br />

und erzählt von den dramatischen Auswirkungen totalitärer Heilslehren auf die Lebensläufe<br />

der Mitglieder einer jüdischen Familie", kommentierte Studienleiterin Roswitha Terlinden den<br />

Beschluss der Jury. Lesen Sie nachfolgend Auszüge aus der Laudatio von Jens Jessen (Die<br />

ZEIT):<br />

Jens Jessen<br />

Herrenlose Schuld<br />

Geschichtskonstruktion und Geschichtstrauma – Anmerkungen zu einem Motiv in Robert<br />

Menasses Roman "Die Vertreibung aus der Hölle"<br />

Ich will mich hier nicht mit den erzählerischen Qualitäten des Romans beschäftigen, sondern<br />

ausschließlich mit der von Menasse bohrend gestellten geschichtsphilosophischen Frage: Was ist<br />

Ursache und was ist Folge? Was ist Determinierung, was ist Interpretation? Und wer interpretiert<br />

wen? Interpretiert die Gegenwart die Geschichte, oder gibt die Geschichte unhintergehbare Lesarten<br />

für die Gegenwart vor?<br />

Ich kann diese Fragen nicht beantworten. Ich will nur vier mögliche Antworten vorstellen, mit<br />

denen Menasse sein dialektisches Spiel treibt.<br />

Die erste Antwort lautet: Es gibt eine allgemein menschliche Disposition zur Produktion von<br />

Außenseitern, und diese zeigt sich im Laufe der Geschichte mal in dieser, mal in jener Form, mal<br />

als Inquisition, mal als Parteiausschlussverfahren, mal als Judenverfolgung, mal als innerjüdischer<br />

Religionsterror. Das ist sozusagen die platonische Antwort. Es gibt nur eine Substanz des Bösen,<br />

wir können sie auch ruhig Erbsünde nennen, aber ihre historischen und aktuellen<br />

Erscheinungsformen sind unendlich.<br />

Die zweite Antwort ist die eigentlich geschichtsphilosophische. Das Übel schleppt sich durch die<br />

Geschichte fort, in Form von bewussten und unbewussten Traditionen und Traumatisierungen. Die<br />

Täter kommen nicht aus ihrer Täterrolle heraus, die Opfer nicht aus ihrer Opferrolle. Oder<br />

umgekehrt: Die Opfer von gestern werden die Täter von morgen. Sie merken nicht, dass sie<br />

schuldig werden, weil sie sich durch erlittenes Leid für immer unschuldig fühlen. Oder die Täter<br />

von gestern werden die Opfer von morgen. Sie sind einmal vor aller Welt schuldig geworden, und<br />

deswegen gilt jedes Unrecht, dass sie erleiden, nur als gerechte Strafe.


Bei allem denkbar Vermittelten und Indirekten solcher Zusammenhänge lebt die<br />

geschichtsphilosophische Lesart doch immer davon (und krankt daran), dass sie das individuelle<br />

Schicksal mit dem kollektiven verrechnet. Wenn wir, um zu Robert Menasses Roman<br />

zurückzukehren, das Muster der Inquisition in dem Verfahren wiedererkennen wollen, mit dem die<br />

jüdische Gemeinde die Glaubenstreue ihrer Mitglieder prüft, dann muss abermals das kollektive<br />

Trauma der Inquisitionserfahrung hoch, aber Charaktere und Individualitäten im Gemeinderat<br />

niedrig eingestuft werden.<br />

Der Gedanke einer kollektiven Determinierung des Individuums hat übrigens bedenkenswerte<br />

moralische Konsequenzen. Sowohl die Idee einer Kollektivschuld wie auch die einer<br />

Kollektiventlastung entspringen hier; beides kann schließlich sogar in eins fallen, wie sich bei<br />

Goldhagen beobachten lässt. Wenn die Deutschen bei allem Anbeginn Antisemiten sind, dann sind<br />

sie zum Holocaust sozusagen determiniert und die Frage nach einem moralisch bewertbaren<br />

Entscheidungsspielraum verschwindet. Wir haben dann so etwas wie den ewigen Deutschen, die<br />

spiegelsymmetrische Entsprechung des Ewigen Juden.<br />

Dieser Ewige Jude ist so etwas wie der dritte Lösungscode in Menasses historischem Vexierspiel.<br />

Die Annahme eines jüdischen Schicksals, das über alle Zeiten hinweg dieselben Muster zeigt, ist die<br />

mythisch-religiöse Erklärungsvariante, und es ist verblüffend zu sehen, dass sie sich aus der<br />

weltlichen Geschichtsphilosophie herausentwickeln kann; man erkennt daran, dass alle weltlichen<br />

Wissenschaften im Grunde nur theologische Häresien sind. Trotzdem ist der Mythos des Ewigen<br />

Juden, dem zu allen Zeiten dasselbe zustößt, natürlich das Gegenteil einer prozesshaften<br />

Betrachtung der Geschichte; es ist die Annahme einer unvergänglichen Substanz, ähnlich der<br />

Erbsünde, nun aber nicht universal für die Menschheit gedacht, sondern privilegiert für dieses eine<br />

Volk. Mich wundert, mit welcher anmutigen Beiläufigkeit manche Rezensenten den Ewigen Juden<br />

als mögliches Motiv in Menasses Roman nannten; als sei das ein plausibler Gedanke, den man<br />

ruhig einmal streifen könnte.<br />

In Wahrheit ist es ein schrecklicher Gedanke. Die Kündigung der conditio humana, die Ausnahme<br />

einer beliebigen Gruppe von der menschlichen Universalität, ob sie nun positiv oder negativ<br />

gemeint ist, führt stets zu Diskriminierung. Wenn Menschen nicht dieselben Eigenschaften haben,<br />

brauchen sie auch nicht dieselben Rechte. Selektion endet immer an der Rampe.<br />

Die vierte Antwort auf unsere Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und Gegenwart besteht in<br />

einer Kritik der Geschichtsphilosophie. Sie sagt: Weder die Geschichte determiniert die Gegenwart,<br />

noch gibt es ewige Substanzen, die in Geschichte und Gegenwart gleichermaßen in Erscheinung<br />

treten. Vielmehr determiniert die Gegenwart unseren Blick auf die Geschichte. Wir erkennen die<br />

historischen Muster, die wir aus unserem Leben kennen. Oder wir konstruieren die historischen<br />

Muster, die wir unserer Gegenwart warnend oder zum Vorbild entgegenhalten wollen. In jedem Fall<br />

modellieren wir die Geschichte nach den psychischen Bedürfnissen der Gegenwart. Da ist es<br />

natürlich kein Wunder, wenn wir überall auf die erstaunlichsten Parallelen stoßen. Wir haben sie<br />

selbst hineingemalt.<br />

Ich will nicht verschweigen, dass dies höchstwahrscheinlich Menasses eigene Antwort ist, obwohl<br />

er selbstverständlich zu elegant war, sie in dem Roman explizit zu machen. Seine Kritik der<br />

Geschichtsphilosophie hat schon insofern viel für sich, weil es Geschichte ohne ein Subjekt, das sie<br />

schreibt oder erinnert, natürlich gar nicht gibt. Da müsste es mit dem Teufel zu gehen, wenn die<br />

Geschichte zu unabhängiger Existenz kommen könnte: "So banal dieser Sachverhalt ist", schreibt<br />

Menasse, "so unreflektiert ist er zugleich noch immer: Wir sehen, wenn wir in den Spiegel der<br />

Geschichte blicken, noch immer und in diesen Tagen erst recht nur unser eigenes Gesicht, unsere<br />

gegenwärtige Verfasstheit, während wir glauben, die historischen Fratzen anderer zu<br />

skandalisieren."<br />

Man sollte diesen Satz in Erz gießen und in Granit meißeln. Man sollte diesen Satz, wie die<br />

wunderbare, stereotype Formulierung in den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht lautet: mit<br />

Sticheln in die Augenwinkel sticheln. Warum in die Augen? Weil die Augen spüren sollen, dass sie


die Welt nur nach Maßgabe ihrer Leiden wahrnehmen. Nicht nur die Geschichte wird nach unseren<br />

Bedürfnissen zugerichtet, sondern auch die Gegenwart wird mit Hilfe der solchermaßen<br />

zugerichteten Geschichte verdunkelt. Das ist das eigentlich Bedenkliche: Wir unterwerfen uns dem<br />

Terror eines Geschichtsbildes, das zu Zwecken solchen Terrors gestaltet wurde.<br />

Die Geschichte dient in solchen Manipulationen nur als Medium der Selbstpädagogisierung der<br />

Gegenwart; manchmal auch ihrer selbstgerechten Erhöhung. Ein klassisches Beispiel ist der gegen<br />

Hitler erhobene Widerstand, der nach einer Zeit der Heldenverehrung planmäßig beargwöhnt,<br />

denunziert und schließlich fast zum Verschwinden gebracht wurde. Warum? Weil man entdeckte,<br />

dass die Widerständler in ihren Motiven und Neuordnungsplänen keine Anhänger der<br />

parlamentarischen Demokratie und sozialen Marktwirtschaft waren. Viele waren Kommunisten,<br />

und das hieß in den Augen der Bundesrepublik: Sie hatten nur eine andere Diktatur im Sinne.<br />

Andere standen streng genommen rechts von Hitler, sie wollten eine autoritäre Präsidialverfassung,<br />

übergangsweise eine Erziehungsdiktatur, weil sie den größten Teil des Volkes für Nazis hielten. Sie<br />

alle wären als Gründerväter der Nachkriegsrepublik nicht brauchbar gewesen; also wurden sie zu<br />

dem bedenklichen Erbe, wenn nicht sogar in die Nähe der Nazis gerückt.<br />

Die Nachkriegsrepublik lebte aus dem Selbstverständnis des unschuldigen einfachen Mannes, der<br />

von den Eliten verführt wurde. Da störten die Widerständler sehr. Man wollte lieber ein einig Volk<br />

von Tätern haben. In einer solchen Gemeinschaft muss es sehr stören, nachträglich festzustellen,<br />

dass einige sich an den Verbrechen nicht beteiligt haben und nun, da es zur Richtstätte geht, besser<br />

oder womöglich sogar unschuldig dastehen.<br />

Die Frage nach individueller Schuld stellt sich nämlich nur, wenn es eine individuelle Möglichkeit<br />

gegeben hat, Schuld zu vermeiden. Diese beunruhigende Möglichkeit wird von den Widerständlern<br />

vor Augen geführt. Deshalb muss man dem Widerstand, ehe er sein bedrohliches moralisches<br />

Exempel verbreitet, die Moral bestreiten. Hier sehen Sie ganz genau, wie Geschichtsschreibung<br />

nach den psychischen Bedürfnissen der Gegenwart funktioniert. Denn wenn es möglich ist, zu<br />

zeigen, dass doch alle schuldig waren, wird jeder einzelne wieder unschuldig.<br />

Das ist der Grund, warum sich mit einer gewissen Verzögerung am Ende die These von der<br />

deutschen Kollektivschuld durchgesetzt hat. Anfänglich wurde sie bestritten; nämlich als man<br />

hoffte, die Schuld auf einige wenige führende Nazis zu beschränken. Als aber die Breite der<br />

Verbrechensbeteiligung langsam dämmerte und die Unschuld zur Ausnahme zu werden drohte, sah<br />

die Kollektivschuldthese schon appetitlicher aus: Weil sie den einzelnen davon entlastete, sich näher<br />

mit seiner persönlichen oder der familiären Beteiligung zu beschäftigen. Doch hat es auch eine<br />

schreckliche Konsequenz, wenn man die Bindung der Schuld an ein schuldfähiges Individuum löst:<br />

die Schuld wird unvergänglich und vererbbar.<br />

Heute haben wir nicht nur eine Kollektivschuld, sondern eine kollektive Erbschuld. Da es<br />

niemanden im besonderen geben durfte, der die Verbrechen begangen hat, lasten sie noch immer auf<br />

uns. Das liegt übrigens keineswegs an den Kriegsgegnern von einst, die ein comic-haftes<br />

Abziehbild vom Deutschen als Nazi entworfen haben, aber tatsächlich keineswegs ernst nehmen. Es<br />

liegt noch viel weniger an den Juden, denen manche töricht nachsagen, sie würden die Deutschen in<br />

einer Art Erbhaftstrafe halten. Es liegt ganz allein und ausschließlich an den Deutschen selbst, die<br />

sich die herrenlos gewordene Schuld gegenseitig um die Ohren schlagen, und zwar bei den<br />

geringsten Anlässen. Für die Nachgeborenen hat die Kollektivschuld ihre entlastende und<br />

gemeinschaftsstiftende Funktion verloren, sie ist aber, da sie jeder historischen Konkretion<br />

entkleidet wurde, zum allgegenwärtigen Vorwurf geworden. Als Antisemit wird man hierzulande<br />

schneller bezeichnet, als man blinzeln kann.<br />

Und damit sind wir nach einem langen Umweg wieder bei Robert Menasse angelangt. Es gibt wohl<br />

weniges (von der österreichischen Innenpolitik abgesehen), was Robert Menasse so aufregt wie der<br />

leichtfertige und unhistorische Umgang mit dem Begriff des Antisemiten. Welche Bedeutung bleibt<br />

von dem Begriff, so fragt Menasse, wenn jemand als Antisemit bezeichnet wird, "der gegen die<br />

Bedeutung dieses Begriffs diese Zuschreibung zurückweist"? Ganz offenbar bleibt in solchen


Verwendungen von der historischen Bedeutung nichts; das heißt aber auch, dass von der Geschichte<br />

nichts geblieben ist, es sei denn ein polemisches Klischee, das zu Zwecken gegenwärtigen Streits<br />

eingesetzt wird. Mit anderen Worten: Die Geschichte, erst nach Bedürfnissen der Gegenwart<br />

geformt und zurecht gestutzt, hat sich nunmehr in diesen Bedürfnissen gänzlich aufgelöst. Der<br />

Holocaust, dessen ewiges Gedenken mit gutem Grund gefordert wird, hat in den Formen seiner<br />

Erinnerung jede Würde und jedes Gewicht verloren. Er ist zur beliebig einsetzbaren Chiffre<br />

geworden.<br />

Ich habe den Umweg durch die Nachkriegsgeschichte der NS-Erinnerung deswegen so ausführlich<br />

gewählt, um die Pointe plausibel zu machen, die Robert Menasse aus dem beschriebenen Dilemma<br />

zieht und die leicht missverstanden werden kann. Menasse plädiert nämlich für "Vergessen". Was<br />

heißt das? Er fordert "das Absinken lassen von Begriffen, von Techniken, von Ideologien, von<br />

Erinnerungen, die unter dem Vorwand, die Gewordenheit unserer Realität zu reflektieren, unsere<br />

Realität in einen Kontext zu setzen, der zum Glück Geschichte und eben nicht unsere Realität ist".<br />

Vielleicht hat die Abstraktheit der Formulierung den Aufschrei verhindert, den eine solche<br />

Forderung in Deutschland auslösen könnte. Ich hoffe der elegante Österreicher in ihm verzeiht mir,<br />

dass ich mit deutscher Pedanterie eine Herleitung konstruiert habe und nun mit deutscher<br />

Barschheit eine Summa ziehe: Die Gegenwart darf nicht Beute der Geschichte werden. Mit<br />

Menasses menschenfreundlichen Worten: Die Erinnerung muss so beschaffen sein, "dass den<br />

nächsten Generationen ein Anspruch vererbt wird, mit dem sie leben können". Die Erinnerung,<br />

setze ich hinzu, muss aber auch so beschaffen sein, dass die Geschichte nicht zur Beute der<br />

Gegenwart wird. Mit Menasses Worten: Die Erinnerung darf nicht darin bestehen, dass "man<br />

unausgesetzt in eine Geschichte (starrt), deren Begrifflichkeit sich mittlerweile so gewandelt hat,<br />

dass sie damit so wenig kenntlich ist wie die Gegenwart."

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!