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Nestroy und das Burgtheater 1 - Welcker-online.de

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<strong>Nestroy</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>Burgtheater</strong> 1<br />

Im <strong>Burgtheater</strong> spielen s' <strong>de</strong>n <strong>Nestroy</strong> <strong>und</strong><br />

Man ist im Himmel, nämlich auf <strong>de</strong>m H<strong>und</strong>.<br />

Im Haus voll Wür<strong>de</strong> <strong>und</strong> von stolzem Wuchs<br />

Woll'n sie sich mit ihm machen einen Jux.<br />

Und wenn s' <strong>de</strong>n Z'riss'nen spiel'n in diesem Haus,<br />

Kommt nur <strong>de</strong>r Titel als a Ganzer 'raus.<br />

Doch <strong>de</strong>n Lumpazi bringen s' erst zu sich,<br />

Denn <strong>de</strong>n spiel'n s', wie sich's g'hört, ganz lie<strong>de</strong>rlich.<br />

Die Leut hab'n a Freud' beim <strong>Nestroy</strong> sein' Scha<strong>de</strong>n:<br />

Der Leim <strong>de</strong>r ist trocken <strong>und</strong> mit'n Zwirn hat's ein' Fa<strong>de</strong>n.<br />

Beim Knieriem sein' Lied da wur<strong>de</strong> mir bang,<br />

Bei <strong>de</strong>m Humor steht d' Welt auf kein' Fall mehr lang.<br />

Doch ich hör' s' vor Begeisterung schrei'n —<br />

Nein, die Welt fällt auf je<strong>de</strong>n Fall 'rein 'rein 'rein rein 'rein<br />

['rein,<br />

Die Welt fällt noch lang lang herein.<br />

Es wird mir ja schwerer als irgen<strong>de</strong>inem an<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>m die Pestilenzluft<br />

dieser neuen Zeit nicht alles bessere Theatergefühl erstickt hat — <strong>und</strong> vielleicht<br />

gibt es noch solche —, wehrlos einer <strong>Nestroy</strong>aufführung <strong>de</strong>s <strong>Burgtheater</strong>s<br />

gegenüberzusitzen. Mag einer <strong>de</strong>rlei mit <strong>de</strong>m unverdorbenen Gehör wie<br />

ich erlei<strong>de</strong>n, <strong>das</strong> <strong>de</strong>m Mißton, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n ringsum Sitzen<strong>de</strong>n <strong>das</strong> Gewieher <strong>de</strong>s<br />

Behagens entlockt, nur mit Mißbehagen, mit <strong>de</strong>r Empfindung einer leiblichen<br />

Tortur antwortet — um wieviel leichter hat er es doch als ich. Meine Verfassung<br />

in allen Auditorien, in die mich <strong>de</strong>r verwünschte Zufall o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Fluch<br />

persönlicher Nachgiebigkeit aus <strong>de</strong>r Enthaltung meiner Arbeitsjahrzehnte geführt<br />

hat, ist wohl ein beson<strong>de</strong>rer Fall. (Etwa zum erstenmal ausgesetzt <strong>de</strong>m<br />

Bockstanz <strong>de</strong>r Stimme jenes rezitieren<strong>de</strong>n Aron, <strong>de</strong>r sich so heiß gewünscht<br />

hatte, daß ich ihn einmal höre, <strong>und</strong> <strong>de</strong>r mir, <strong>de</strong>m auf Mißkunst sofort <strong>und</strong> unerbittlich<br />

mit Mißgunst Reagieren<strong>de</strong>n, <strong>das</strong> Gruseln beigebracht hat. »So einen<br />

Kerl habe ich Zeit meines Lebens nicht gesehen«, zitierte ich <strong>de</strong>n vom Rezitieren<strong>de</strong>n<br />

zitierten gläubigen Thomas Mann, <strong>de</strong>r da Kleist zitiert — <strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>n Gastwirt zitiert, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Kerl zitiert — <strong>und</strong> <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Regionen <strong>de</strong>r Vortragskunst<br />

bestimmt nicht weiß, wo Gott wohnt.) Wie ganz an<strong>de</strong>rs sitze ich da<br />

als die manchen, die ähnlich wie ich lei<strong>de</strong>n mögen, <strong>das</strong> Unbegreifliche, <strong>das</strong> in<br />

ihren Gehörgang einbricht, ablehnen, die Schwelle <strong>de</strong>s Bewußtseins wahren<br />

möchten wie <strong>das</strong> Trommelfell, ungläubig die bejahen<strong>de</strong> Umgebung anstarren<br />

<strong>und</strong> nicht wissen, ob ihr eigenes Plus o<strong>de</strong>r Minus <strong>de</strong>n Defekt künstlerischen<br />

Genusses verschul<strong>de</strong>. Aber sie tragen dies Mißgeschick doch frei von je<strong>de</strong>r<br />

1 Zusatzstrophe zum Lied <strong>de</strong>s Knieriem im Vortrag von »Lumpazivagab<strong>und</strong>us«, 28. Dezember<br />

1924 (»Zur Entschädigung <strong>Nestroy</strong>s für die ihm durch <strong>das</strong> <strong>Burgtheater</strong> wi<strong>de</strong>rfahrene<br />

Aufführung«) [KK]<br />

1


Verantwortung, frei von <strong>de</strong>m Druck <strong>de</strong>s Gefühls, auch praktisch beweisen zu<br />

können, daß, was die an<strong>de</strong>rn für Kunst halten, nur ein Schock ist, eine Insulte,<br />

angetan einer entarteten, sofort wie<strong>de</strong>rherstellbaren Akustik, eine, die sie<br />

sich selbst antut, <strong>und</strong> daß es nur <strong>de</strong>s Machtworts bedarf, sie von <strong>de</strong>m faulen<br />

Zauber zu erlösen. Sie lei<strong>de</strong>n, doch unverlockt von <strong>de</strong>m Gelüste, auf <strong>de</strong>r Stelle<br />

zu zeigen, daß was soeben geschehen, die Tat <strong>und</strong> ihre falsche Wertung, sich<br />

wie<strong>de</strong>rgutmachen läßt, daß <strong>de</strong>r Raub am Gedicht <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Betrug am Gehör<br />

nur so lange fortwirken, solange <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r es weiß <strong>und</strong> kann, sich wehrlos<br />

macht; <strong>und</strong> sie sind frei von <strong>de</strong>m Drang zu solcher Probe, die a tempo doch<br />

nicht ablegen zu können, doppelt wehrlos macht. Und dazu die tödliche Gewißheit,<br />

daß es auch nichts hilft, auf <strong>de</strong>n Zeitpunkt zu warten, wo es tunlich<br />

wäre, <strong>de</strong>nn es geschähe dann ja doch nicht vor <strong>de</strong>nselben, <strong>de</strong>nen es geschah,<br />

<strong>und</strong> wären es auch dieselben, <strong>de</strong>nn sie sind hier <strong>und</strong> dort in an<strong>de</strong>rer Wirkungsluft<br />

<strong>und</strong> immer für <strong>de</strong>n Beweis empfänglich, nicht für <strong>de</strong>n Gegenbeweis.<br />

Aber nie wer<strong>de</strong> ich zu eben <strong>de</strong>n Kannibalen vordringen, die dieser Aufwand<br />

von Untalent <strong>und</strong> dickster Humorlosigkeit angeheimelt hat wie damals bei <strong>Nestroy</strong><br />

im <strong>Burgtheater</strong>. Einfach bei solchen Gelegenheiten aufzustehen, gleichermaßen<br />

berufen zum Veto für <strong>Nestroy</strong> <strong>und</strong> für alle guten Genien <strong>de</strong>s Hauses,<br />

mit <strong>de</strong>nen sich <strong>de</strong>r scha<strong>de</strong>nfrohe Teufel an die Wand einer Ehrengalerie<br />

gemalt hat, <strong>und</strong> Schluß zu gebieten, um auf <strong>de</strong>r Stelle, mit einem Satz auf die<br />

Bühne, es selbst zu machen, <strong>de</strong>r stupi<strong>de</strong>n Hor<strong>de</strong> von Aufbauern zu beweisen,<br />

daß <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rreißer es besser trifft — es wäre ja die Gelegenheit, <strong>de</strong>n angesammelten<br />

Haß <strong>de</strong>r Bestie im Auditorium <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Impotenz <strong>de</strong>r Szene aufzufangen<br />

<strong>und</strong> die vorbestimmte gnchung zu erleben. Wie wäre <strong>de</strong>nn an<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>zennienlang kompromißlose Aufstand <strong>de</strong>s Geistes gegen <strong>das</strong> kunstbeherrschen<strong>de</strong><br />

Knotentum kunstgerecht zu bereinigen? Da es aber wahrscheinlich<br />

viele gibt, die diesen Ausgang bedauern wür<strong>de</strong>n <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Versuch wi<strong>de</strong>rraten<br />

— wissend um die gefährliche Kraft <strong>de</strong>s Hasses, <strong>de</strong>r auf keinem an<strong>de</strong>rn<br />

Schauplatz <strong>de</strong>r Lebenskontraste so versammelt ist, um <strong>das</strong> beherzte Unmaß<br />

meiner Kunstpöbelverachtung <strong>und</strong> um die dumpfe Wut, die <strong>de</strong>n lebendigen<br />

Starrsinn in je<strong>de</strong>m meiner Blicke spürt —, <strong>und</strong> weil ich es schließlich für wichtiger<br />

halte, mich für die Fortsetzung dieser hochmütigen Linie zum höchsten<br />

Mut <strong>de</strong>r selbstlosen Negation, <strong>de</strong>s Wortbekenntnisses aufzubewahren: eben<br />

darum ziehe ich es seit Jahrzehnten vor, die Gelegenheiten, die nur meinen<br />

Nerven, nicht meinem Wissen etwas zufügen können, zu mei<strong>de</strong>n, die Wißbegierigen<br />

aus meiner Vorstellung zu bedienen, die reibungsloser als <strong>das</strong> Erlebnis<br />

zustan<strong>de</strong>kommt, aus meinem Vorurteil, <strong>das</strong> fester sitzt <strong>und</strong> da <strong>und</strong> dort<br />

schon mehr Autorität hat als alles heutzutag verfügbare Urteil. Bringt mich jedoch<br />

<strong>das</strong> Verhängnis in die Lage unmittelbarer Zeugenschaft, wo meine lebendigen<br />

Sinne, aus <strong>de</strong>m Schlaf dieser unseligen Kunstentwicklung gerissen,<br />

nicht an<strong>de</strong>rs können als wahrzunehmen, was sich da begibt, <strong>und</strong> sich infolge<strong>de</strong>ssen<br />

augenblicks zu verkrampfen, so ist auch <strong>de</strong>r Zeugniszwang unwi<strong>de</strong>rstehlich<br />

<strong>und</strong> nur die äußerste, in solch lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Tätigkeit noch erraffte Nervenenergie<br />

<strong>und</strong> Rücksicht auf die nächste Umgebung imstan<strong>de</strong>, mich vor <strong>de</strong>r<br />

Entfesselung eines noch nie erlebten Theaterskandals mit wahrscheinlich letalem<br />

Ausgang zu bewahren, vor <strong>de</strong>m Schlußpunkt <strong>de</strong>r Entwicklung, <strong>de</strong>m entfesselten<br />

Theater, <strong>das</strong> ich meine. Bei »Lumpazivagab<strong>und</strong>us« ist es mir gelungen,<br />

mich so weit zu beherrschen, daß ich bloß in je<strong>de</strong>n sich irgendwann regen<strong>de</strong>n<br />

Applaus hineingezischt habe, doch so durchdringend, daß zufolge eines<br />

noch nicht aufgehobenen Gesetzes <strong>de</strong>r Saalwirkung die Masse für <strong>de</strong>n<br />

Humorschuster sich noch mehr erwärmte, als sie von Haus aus bereit war,<br />

<strong>und</strong> daß kraft <strong>de</strong>r gleichfalls zu Recht bestehen<strong>de</strong>n Gesetze <strong>de</strong>r Verbindungs-<br />

2


mechanik die <strong>de</strong>n Zischer erkennen<strong>de</strong>n Lieferanten <strong>de</strong>r gedruckten Urteilslosigkeit<br />

<strong>das</strong> Signal zur Ekstase für <strong>de</strong>n Inbegriff <strong>de</strong>r <strong>Nestroy</strong>fremdheit empfingen.<br />

Die bei aller Verwirrung meiner Sinne klare Voraussicht dieser Wirkung<br />

auf die Menge wie auf die Kenner war nicht imstan<strong>de</strong>, mir <strong>das</strong> Recht zu verlei<strong>de</strong>n<br />

auf die primitivste menschliche Äußerung meines Unmuts, meiner<br />

Trauer, meiner Verzweiflung, auf eben <strong>de</strong>n beschei<strong>de</strong>nen Ausdruck, <strong>de</strong>n die<br />

Wehrlosigkeit in solcher Situation noch gestattet <strong>und</strong> die Vereinzelung <strong>de</strong>s<br />

aus <strong>de</strong>m Wirkungsstrom Ausgeschalteten ermöglicht. Denn dieser Wirkungsstrom,<br />

so schief er gerichtet sein mag, besteht ohne Zweifel, ist eine elementare<br />

Tatsache wie nur irgen<strong>de</strong>ine <strong>de</strong>r echten Kunstwirkungen <strong>de</strong>r Zeiten, die<br />

mit ihnen verflossen sind, <strong>und</strong> wenns auch nichts nützt, gegen ihn zu schwimmen,<br />

so darf man es darum doch nicht unterlassen, <strong>de</strong>nn die mit ihm schwimmen,<br />

schwimmen weiß Gott schlechter. Ob aber dieses Publikum <strong>de</strong>s neuesten<br />

<strong>Burgtheater</strong>s, <strong>das</strong>, vornehmlich <strong>de</strong>m christlich—germanischen Kulturkreis<br />

zugehörig, <strong>de</strong>shalb zu einem geringeren Verständnis für <strong>Nestroy</strong> befähigt ist<br />

als selbst <strong>das</strong> jüdische — ob es etwas mehr o<strong>de</strong>r weniger zugunsten seiner gespielten<br />

'Schönpflugs exzediere, schien mir unbeträchtlich im Vergleich zu<br />

<strong>de</strong>m Naturrecht meines Wi<strong>de</strong>rwillens gegen <strong>das</strong> Erlebte. Und was die Kritik<br />

betrifft, so habe ich die volle Beruhigung darüber, daß diese Leute, die sich<br />

von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren nur dadurch unterschei<strong>de</strong>n, daß man sie, selbst wenns ausverkauft<br />

ist, hineinlassen muß, weil sie <strong>das</strong> Recht, keine Meinung zu haben,<br />

vor jenen doch als Amt voraushaben — daß also diese Sorte meiner Anregung<br />

gar nicht bedarf, um schon ganz von selbst <strong>das</strong> Dümmste über <strong>Nestroy</strong> <strong>und</strong><br />

für seine Verunstalter zu schreiben, so daß es fast sinnvoller <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Kunstehre<br />

gemäßer erscheint, wenn sie sich wenigstens zwischen <strong>de</strong>n Zeilen erinnern,<br />

daß es einen gibt, <strong>de</strong>r hier zum Rechten sieht <strong>und</strong> <strong>de</strong>m <strong>das</strong>, was sie<br />

schreiben, so wenig gefällt wie <strong>das</strong>, worüber sie schreiben.<br />

Ich will aber doch, da ich schon einmal die Doppelpein bestehen mußte,<br />

<strong>de</strong>n Kunstgenuß zu haben <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Überfülle eines empfänglichen Herzens<br />

höchstens <strong>de</strong>n Zischhahn öffnen zu dürfen, mich wenigstens durch <strong>de</strong>n Nachweis<br />

dieser vollkommenen Ignoranz schadlos halten, die zwischen <strong>de</strong>n Dingen<br />

<strong>de</strong>s theaterhistorischen Wissens <strong>und</strong> <strong>de</strong>s theaterkritischen Urteilens, zwischen<br />

<strong>de</strong>r Erkenntnis <strong>Nestroy</strong>s <strong>und</strong> <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s schauspielerischen Wesens so<br />

ziemlich alles umfaßt, was ein solcher Abend nur bieten <strong>und</strong> versagen kann.<br />

Immer bloß auf sie selbst angewiesen <strong>und</strong> je<strong>de</strong>r Kontrolle ihrer Eindrucksgr<strong>und</strong>lagen<br />

entbehrend, mißachte ich diese Kritik als die zufällige Manifestation<br />

<strong>de</strong>r zum Urteil unberufensten Teilnehmer eines Theatererlebnisses, <strong>und</strong><br />

weiß erst, wie recht ich habe, wenn ich sie einmal auf frischer Tat ertappe.<br />

Ich möchte ihnen ja die im Zwang <strong>de</strong>r Verhältnisse begrün<strong>de</strong>te Unaufrichtigkeit<br />

<strong>und</strong> Feigheit nicht nachtragen, die sie verhin<strong>de</strong>rt, sich in meinen Vorträgen<br />

Aufschluß darüber zu holen, was <strong>Nestroy</strong> ist <strong>und</strong> welche Fülle von Tiefsinn<br />

sich ihm selbst hinter aller Scheinbarkeit, Oberfläche <strong>und</strong> Zufälligkeit abnehmen<br />

läßt, die freilich auf <strong>de</strong>m unlebendigen, äußerlich entwickelten, innerlich<br />

im Starrkrampf beruhen<strong>de</strong>n Theater von heute wertlose Materie<br />

bleibt. Daß die kritischen Empfänger, einzig <strong>de</strong>m Ballast gegenübergestellt,<br />

nichts vermissen, die phrasenhafte For<strong>de</strong>rung nach »Atmosphäre« erfüllt sehen,<br />

wo ihnen die Stickluft routinierten Dilettantismus entgegenschlägt, <strong>und</strong><br />

so tun als wären sie in <strong>de</strong>r Seele gepackt, be<strong>de</strong>utet doch die weit erschrecken<strong>de</strong>re<br />

Unehrlichkeit als jene, <strong>de</strong>ren sie schuldig sind, da sie meiner Wegweisung<br />

zum innersten Wert ausbiegen, während <strong>Nestroy</strong>—Herausgeber sich<br />

zu ihrer »Dankbarkeit für empfangene Anregung <strong>und</strong> För<strong>de</strong>rung im Verständnis<br />

eines geliebten Autors« ausdrücklich <strong>und</strong> freudig bekennen. In Wahrheit<br />

3


hat diese Kritik, die nie eine Zeile von <strong>Nestroy</strong> aus <strong>de</strong>m Druck <strong>de</strong>r so o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rs<br />

entstan<strong>de</strong>nen Ausgaben, nie durch meine Darstellung empfangen hat,<br />

vor <strong>de</strong>n Verrichtungen einer Regie <strong>de</strong>r äußerlichsten Handfertigkeit (in die<br />

ich mich am liebsten mit <strong>de</strong>m Zischlaut: »Zeska!« hineingemischt hätte), vor<br />

<strong>de</strong>m Gestoppel aus einer Geisterwelt von Bisenius, einer Farbenschöpfung<br />

von Nedomansky <strong>und</strong> jener foltern<strong>de</strong>n Strapaz von Thaddädlhumor, die einem<br />

<strong>das</strong> gleichzeitige Vorhan<strong>de</strong>nsein von Äroplanen unwahrscheinlich macht <strong>und</strong><br />

nur verständlich, daß <strong>de</strong>rlei Idiotikon <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>nwüchsigkeit schon durch Radio<br />

vermittelt wer<strong>de</strong>n kann — in Wahrheit haben sie als die rechtschaffenen<br />

Halbintellektuellen, die sie sind, sich vor all <strong>de</strong>m tödlich gelangweilt. Aber da<br />

sie von <strong>de</strong>n lebendigen Dingen <strong>de</strong>s Theaters <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Wortkunst, von <strong>de</strong>r Weisheit<br />

dieser Empfindungen, von <strong>de</strong>r grik dieser Gedanken <strong>und</strong> all <strong>de</strong>n Kostbarkeiten,<br />

die <strong>de</strong>r Geist aus <strong>de</strong>m Herzen <strong>de</strong>s Volkes gehoben hat, um sie ihm wie<strong>de</strong>rzugeben,<br />

kurz von all <strong>de</strong>m, was da von <strong>de</strong>r Fühllosigkeit <strong>de</strong>r Regie <strong>und</strong> von<br />

<strong>de</strong>r Ahnungslosigkeit <strong>de</strong>r Darstellung einfach totgetreten wur<strong>de</strong> — da sie davon<br />

auch dann keinen Hauch verspürten, wenn er vorhan<strong>de</strong>n wäre, so spüren<br />

sie keinen Ausfall; <strong>und</strong> weil sie ringsum Gesichter einer an<strong>de</strong>ren Rasse in<br />

Wonne aufgelöst sahen, <strong>de</strong>ren intellektuelle Anspruchslosigkeit <strong>das</strong> nestroyvernichten<strong>de</strong><br />

Geblö<strong>de</strong>l dieses Humors ansprach, so dachten sie, <strong>das</strong> sei eben<br />

die echte <strong>Nestroy</strong>wirkung, <strong>und</strong> priesen eine Tat in alle Himmel, für die, wenn<br />

es in Kunstdingen nur eine so powere Gerechtigkeit wie in <strong>de</strong>n Belangen <strong>de</strong>s<br />

bürgerlichen Eigentumsschutzes gäbe, <strong>das</strong> <strong>Burgtheater</strong> polizeilich gesperrt<br />

wer<strong>de</strong>n müßte. »Man sah schon lange nicht so viele heitere Mienen <strong>und</strong><br />

schmunzeln<strong>de</strong> Gesichter in <strong>de</strong>r Gar<strong>de</strong>robe um Mäntel <strong>und</strong> Hüte kämpfen wie<br />

an diesem glücklichen <strong>Nestroy</strong>—Abend«, versichert einer <strong>de</strong>r bereitesten Mitschmunzler,<br />

Herr Raoul Auernheimer, aber keiner von ihnen ahnt, um wieviel<br />

mehr als Mantel <strong>und</strong> Hut einem Bühnenzauberer an diesem Abend abhan<strong>de</strong>n<br />

kam. Daß doch nichts im Leben <strong>und</strong> nichts in <strong>de</strong>r Kunst geschehen kann, was<br />

einen nicht zur Larve unter fühlen<strong>de</strong>n Brüsten machte <strong>und</strong> unter Schmunzlern<br />

zum Apemantus, <strong>de</strong>r weiß Gott lieber Mantel <strong>und</strong> Hut im Stich ließe, ehe<br />

er in <strong>de</strong>n Verdacht kommen wollte, <strong>das</strong> schwer erlittene Fest noch in solcher<br />

Gesellschaft zu verlassen! Die Geistigkeit, welche in diesen Gesichtern ausgeprägt<br />

ist, die nach <strong>de</strong>m Genuß <strong>de</strong>n Kampf um die Gar<strong>de</strong>robe beginnen, sie<br />

setzt sich, zum Wiehern ähnlich, in <strong>de</strong>r Kritik fort. So verschie<strong>de</strong>n die<br />

schmunzeln<strong>de</strong>n Individualitäten, für sie alle ist <strong>Nestroy</strong> nach <strong>de</strong>m Eindruck,<br />

<strong>de</strong>n sie gefaßt haben <strong>und</strong> frisch vom Zapfen servieren, ein Hauptspaßmacher<br />

<strong>und</strong> allen gemeinsam die schlecht verhohlene Nichtachtung, die er für seine<br />

eigene Wirksamkeit mit ihnen geteilt haben soll, in<strong>de</strong>m er, wie <strong>das</strong> zum Überdruß<br />

zitierte Wort vom Zwetschkenkrampus <strong>und</strong> vom Canova dartue, sich<br />

»nicht nach <strong>de</strong>m Lorbeer versteigen« wollte. Aber keiner weiß natürlich, daß<br />

es sich bloß um <strong>das</strong> Bekenntnis eines parodierten Holtei han<strong>de</strong>lt; daß es nicht<br />

<strong>das</strong> geringste für <strong>Nestroy</strong>s wahre Selbstbemessung <strong>und</strong> nichts gegen seinen<br />

Wertbestand bewiese, wenn er gelegentlich einen so beschei<strong>de</strong>nen Maßstab<br />

an sich selbst angelegt hätte; <strong>und</strong> daß diesem Dramatiker nicht so sehr vor<br />

<strong>de</strong>m Lorbeerbaum bange gewor<strong>de</strong>n wäre als vor <strong>de</strong>m Bettelstab, auf <strong>de</strong>n sein<br />

Genie durch <strong>das</strong> <strong>Burgtheater</strong> gekommen ist. Mit <strong>de</strong>m Canova kann er es noch<br />

aufnehmen, aber jenes nicht einmal mit einem Zwetschkenkrampus, <strong>de</strong>n er<br />

verfertigt hätte. Herr Auernheimer ist anscheinend <strong>de</strong>rjenige, welcher um die<br />

Ehre, die eine Schmierenaufführung im Marmorpalast für <strong>Nestroy</strong> be<strong>de</strong>utet,<br />

am sichersten Bescheid weiß, <strong>und</strong> seine Wissenschaft reicht sogar bis auf Molière<br />

<strong>und</strong> Aristophanes zurück, in<strong>de</strong>m er <strong>das</strong> Altwiener Vorurteil, man könne<br />

»<strong>Nestroy</strong> nicht ohne <strong>Nestroy</strong> spielen«, nicht allein durch <strong>de</strong>n Hinweis auf die<br />

4


Kraft <strong>de</strong>s Herrn Maierhofer zu entkräften glaubt, son<strong>de</strong>rn auch durch die Versicherung,<br />

man könne nicht nur, man müsse ihn auch ohne <strong>Nestroy</strong> spielen,<br />

»genau wie Molière ohne Molière <strong>und</strong> Aristophanes ohne Aristophanes«.<br />

Worin man ihm nur schmunzelnd Recht geben kann, nicht bloß in Anbetracht<br />

<strong>de</strong>s Ablebens dieser Prominenten, son<strong>de</strong>rn auch mit Rücksicht auf <strong>de</strong>n Umstand,<br />

daß sogar schon bei Lebzeiten <strong>de</strong>s Aristophanes die Athener genötigt<br />

waren, auf seine schauspielerische Mitwirkung an <strong>de</strong>n Aufführungen seiner<br />

Stücke zu verzichten, weil er halt immer abgesagt hat. Herr Auernheimer<br />

scheint aber <strong>de</strong>r Meinung zu leben, daß <strong>de</strong>m neuen Theaterwesen, <strong>das</strong> ja die<br />

»Acharner« wie einen Bissen Brot braucht, nicht geholfen sei, wenn man fortwährend<br />

mit Vergleichen kommt, weil <strong>de</strong>r <strong>und</strong> jener noch <strong>de</strong>n Aristophanes<br />

als Dikaeopolis gesehen hat. Noch besser freilich als um die Athener Theaterverhältnisse<br />

weiß er um die wienerischen Bescheid, nämlich um jene, die<br />

nicht ganz so weit zurückliegen, son<strong>de</strong>rn die Popularität <strong>Nestroy</strong>s umgaben:<br />

<strong>de</strong>nn »es mag mehr als bloßer Zufall sein <strong>und</strong> eine tiefere Be<strong>de</strong>utung haben«,<br />

beginnt er schmunzelnd seine Feuilletonbetrachtung, »daß in eben <strong>de</strong>mselben<br />

Augenblick, in <strong>de</strong>m <strong>das</strong> ehemalige 'Lachtheater', wie man <strong>das</strong> Carltheater vormals<br />

genannt hat, in ernsthafte Schwierigkeiten geriet, eines <strong>de</strong>r lustigsten<br />

Stücke, die dort <strong>das</strong> Rampenlicht erblickt haben, im ehemaligen Hofburgtheater<br />

zu neuem Leben erwachte«. »Gemeint ist«, setzt er zum leichteren Verständnis<br />

dieser geheimnisvollen Beziehung hinzu, »<strong>Nestroy</strong>s unsterblicher<br />

'Lumpazivagab<strong>und</strong>us'«. Der Zufall entbehrt nun insoferne nicht <strong>de</strong>r tieferen<br />

Be<strong>de</strong>utung, als <strong>de</strong>r »Lumpazivagab<strong>und</strong>us« zwar wirklich in <strong>de</strong>mselben Augenblick,<br />

in <strong>de</strong>m <strong>das</strong> Lachtheater in Schwierigkeiten geriet, in die weit ernsthafteren<br />

Schwierigkeiten <strong>de</strong>s <strong>Burgtheater</strong>s geraten ist, aber am 11. April 1833<br />

<strong>das</strong> Rampenlicht <strong>de</strong>s Theaters an <strong>de</strong>r Wien erblickt hat, <strong>das</strong> heute mit mehr<br />

als dreih<strong>und</strong>ert Aufführungen <strong>de</strong>r »Gräfin Mariza« sowohl je<strong>de</strong>r Schwierigkeit<br />

wie je<strong>de</strong>r Verpflichtung zu <strong>Nestroy</strong> überhoben ist. Freilich, daß hier die theatergeschichtliche<br />

Entwicklung einen weit be<strong>de</strong>utungsvolleren Zusammenhang<br />

erschließen läßt, wür<strong>de</strong> sich Herr Auernheimer entgehen lassen, selbst wenn<br />

er um ihn wüßte; <strong>und</strong> daß die Erstaufführung <strong>de</strong>s »Lumpazivagab<strong>und</strong>us« im<br />

Theater an <strong>de</strong>r Wien, <strong>das</strong> heute von <strong>de</strong>r Kretinisierung <strong>de</strong>s Publikums ge<strong>de</strong>iht,<br />

<strong>und</strong> eben nicht im Carltheater stattgef<strong>und</strong>en hat, <strong>das</strong> trotz diesem Guthaben<br />

verkracht, muß Herr Auernheimer nicht wissen. Aber so sollte er sich auch<br />

von keiner Macht <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> zwingen lassen, just <strong>das</strong> zu behaupten, was er<br />

nicht weiß. Die Kritiker unterschei<strong>de</strong>n sich von <strong>de</strong>n Privatleuten doch immer<br />

wie<strong>de</strong>r durch <strong>das</strong> Vorrecht, <strong>das</strong>, was sie gleichfalls nicht wissen, drucken zu<br />

lassen. Und Herr Auernheimer ahnt gar nicht, wie viel er nicht weiß, wenn es<br />

sich um <strong>Nestroy</strong> han<strong>de</strong>lt, zu <strong>de</strong>ssen Interpretation für die Wiener er sich<br />

ebenso berufen dünkt wie zur Vertretung Osterreichs bei <strong>de</strong>r Feier Molières<br />

<strong>und</strong> gegebenen Falles bei einem Schauspielerjubiläum <strong>de</strong>s Aristophanes. So<br />

ist er zum Beispiel gar nicht verlegen, <strong>de</strong>n Eintritt <strong>de</strong>s Lumpazivagab<strong>und</strong>us in<br />

die »Marmorburg am Ring <strong>de</strong>s 12. November« zu erklären. »Hieße dieser Teil<br />

<strong>de</strong>r Ringstraße noch wie einstmals Franzensring«, bemerkt er schmunzelnd<br />

<strong>und</strong> wie<strong>de</strong>r eine historische Verknüpfung anspinnend, mit Scherz, Satire <strong>und</strong><br />

Ironie auf einen Fall von tieferer Be<strong>de</strong>utung weisend, »so wäre er kaum hineingelangt<br />

<strong>und</strong> so kann er seinerseits mit einer Entwicklung wohl zufrie<strong>de</strong>n<br />

sein, die mit <strong>de</strong>m Volk ganz folgerichtig auch <strong>das</strong> Volksstück mündig gemacht<br />

hat«. Aber ganz abgesehen davon, daß hier mehr jene <strong>de</strong>mokratische Entwicklung<br />

zu beobachten wäre, die auf Kassenschlager <strong>und</strong> Sensationen Bedacht<br />

nimmt <strong>und</strong> in einer Zeit, in <strong>de</strong>r die Burgschauspieler in Nachtcafés auftreten,<br />

gar nichts dagegen hätte, <strong>das</strong> <strong>Burgtheater</strong> gelegentlich in ein solches<br />

5


zu verwan<strong>de</strong>ln, abgesehen davon ist ja zu sagen, daß <strong>de</strong>r Lumpazivagab<strong>und</strong>us<br />

vor solchem Umsturz tatsächlich »kaum hineingelangt« ist, eben nur zu drei<br />

Nachmittagsvorstellungen. Doch ohne Zweifel hieß im Jahre 1901 <strong>de</strong>r Ring<br />

<strong>de</strong>s 12. November noch Franzensring <strong>und</strong> zweifelhaft erscheint heute höchstens<br />

<strong>das</strong> künstlerische Fazit <strong>de</strong>s Experiments mit Lewinsky <strong>und</strong> Kainz, wenngleich<br />

für alle Theaterzeiten als eine lebendige Tat neben <strong>de</strong>r Reprise <strong>de</strong> pompe<br />

funèbre von heute. »Übrigens hätte er sich trotz <strong>de</strong>r Zeiten Wan<strong>de</strong>l wohl<br />

schwerlich in eine so beängstigend vornehme Umgebung gewagt,« — beharrt<br />

Herr Auernheimer auf seiner Unwissenheit — »wenn ihm dort nicht zwei lustige<br />

Brü<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r »Jux« <strong>und</strong> <strong>de</strong>r »Zerrissene« Quartier gemacht hätten«. Herr<br />

Auernheimer hat bei so traurigen Anlässen leicht schmunzeln, uns ist es eher<br />

zum Weinen, weil uns <strong>das</strong> rechte Gefühl für die pitoyable Lustigkeit dieser<br />

<strong>Burgtheater</strong>brü<strong>de</strong>r packt — nicht erst bei <strong>de</strong>r Vorstellung selbst, nein schon<br />

bei <strong>de</strong>r, daß Herr Treßler <strong>de</strong>n Weinberl vorstellt —, <strong>und</strong> wenn wir ferner erwägen,<br />

wie tief die Ignoranz eines <strong>Burgtheater</strong>kritikers <strong>de</strong>r Neuen Freien<br />

Presse in <strong>de</strong>n Vormärz zurückreicht. So erzählt er munter seinen Lesern, Herr<br />

Thaller gebe »die <strong>Nestroy</strong>rolle, <strong>de</strong>n nervösen galanten Schnei<strong>de</strong>r«, Herr Maierhofer<br />

»<strong>de</strong>n von Akt zu Akt tiefer im Suff versinken<strong>de</strong>n Schuster« (wenngleich<br />

er im zweiten gar nicht vorkommt) »mit einem von Scholz hergeleiteten<br />

behaglich wirken<strong>de</strong>n Phlegma,<br />

<strong>und</strong> so ist die Tradition in <strong>de</strong>m einen Falle gegeben — <strong>de</strong>nn Thaller<br />

ist in <strong>de</strong>rlei Rollen tatsächlich so etwas wie ein <strong>Nestroy</strong> unserer<br />

Tage — <strong>und</strong> im an<strong>de</strong>ren wenigstens gewahrt.«<br />

Schusterpech, <strong>das</strong> Herr Auernheimer insofern hat, als <strong>de</strong>r Schnei<strong>de</strong>r die<br />

Scholz—Rolle <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Schuster die <strong>Nestroy</strong>—Rolle war, aber in eben diesem<br />

Sinne ist es am En<strong>de</strong> ganz zutreffend, daß Herr Maierhofer als Knieriem die<br />

Scholz—Tradition wenigstens wahrt <strong>und</strong> Herr Thaller als Zwirn tatsächlich so<br />

etwas wie ein <strong>Nestroy</strong> unserer Tage ist. Wahrscheinlich ist er es auch darin,<br />

daß nach Herrn Auernheimer <strong>Nestroy</strong> »zum Aristophanes in diesem Werke<br />

nur <strong>de</strong>r große Zorn fehlt«. Denn sonst gliche Herr Thaller, <strong>de</strong>r ja auch ein engerer<br />

Berufskollege <strong>de</strong>s Aristophanes ist, vollends diesem.<br />

Lachen <strong>und</strong> Zorn in überlebensgroßen Gestaltungen zu verbin<strong>de</strong>n,<br />

gelang nur jener einzig <strong>das</strong>tehen<strong>de</strong>n riesenhaften Erscheinung,<br />

die am Eingang unserer komischen Entwicklung steht.<br />

Sollte unsere komische Entwicklung nicht als die spezielle unserer Zeit <strong>und</strong><br />

Örtlichkeit zu verstehen sein <strong>und</strong> Herr Auernheimer also nicht auf mich als<br />

<strong>de</strong>n Satiriker anspielen, <strong>de</strong>m Lachen <strong>und</strong> Zorn zu verbin<strong>de</strong>n gelang, so hat er<br />

faktisch <strong>de</strong>n Aristophanes gemeint, über <strong>de</strong>n er mithin auch bezüglich seiner<br />

Bewertung als Bühnenautor ungenau informiert ist. Wenn Herr Auernheimer<br />

sich bereit erklärt, vor einem Ausschuß von Lesern <strong>de</strong>r Neuen Freien Presse,<br />

<strong>de</strong>nen er da etwas von seiner Begeisterung für <strong>de</strong>n Aristophanes erzählt hat,<br />

sich wachend bei <strong>de</strong>r Lektüre <strong>de</strong>r »Vögel« betreten zu lassen, so bekommt er<br />

ein geb<strong>und</strong>enes Exemplar <strong>de</strong>s »Wolkenkuckucksheim«. Wenn er imstan<strong>de</strong> ist,<br />

eine Seite <strong>de</strong>s Aristophanes vorzuweisen, auf <strong>de</strong>r er die Verbindung <strong>de</strong>s<br />

»großen Zorns« mit <strong>de</strong>r »großen Lustigkeit« o<strong>de</strong>r auch nur jenen o<strong>de</strong>r diese<br />

nachweisen kann, ja wenn es ihm gelingt, zwischen <strong>de</strong>n h<strong>und</strong>ertsechs<strong>und</strong>fünfzig<br />

Fußangeln <strong>de</strong>s Kommentars auch nur einer einzigen Stelle, <strong>de</strong>ren Verständnis<br />

zwar <strong>de</strong>r Erläuterung bedarf, <strong>de</strong>ren Komik aber auch durch diese<br />

nicht zunimmt (weil sie einzig auf die Information <strong>de</strong>r Zeit— <strong>und</strong> Ortsgenossen<br />

angewiesen war <strong>und</strong>, unersetzbar <strong>und</strong> unspürbar, ganz bestimmt nicht im<br />

künstlerischen Element gewurzelt hat) — wenn es ihm gelingt, auch nur einem<br />

einzigen dieser Umstän<strong>de</strong>, die einen athenischen Barbier, Flaneur o<strong>de</strong>r<br />

6


Pä<strong>de</strong>rasten betreffen, auch nur ein Schmunzeln abzugewinnen, so bekommt<br />

er ein Exemplar <strong>de</strong>r »Letzten Tage <strong>de</strong>r Menschheit«, von <strong>de</strong>nen er überzeugt<br />

sein kann, daß bloß ein wissenschaftliches Interesse <strong>und</strong> keine künstlerische<br />

Notwendigkeit einmal die Kommentierung veranlassen wird. O<strong>de</strong>r sämtliche<br />

Werke <strong>Nestroy</strong>s, <strong>de</strong>n ja nur die literarhistorische Phrase in die Vergleichsnähe<br />

<strong>de</strong>s Aristophanes rückt, genau so wie die journalistische auch schon die<br />

Saphir <strong>und</strong> Julius Bauer als Aristophanesse von Wien reklamiert hat. In Wahrheit<br />

hat <strong>das</strong> Original, <strong>de</strong>ssen lyrische Einzelheiten noch heute keinem Zweifel<br />

ausgesetzt sind, eben dadurch, daß ihm in einem weltliterarischen Sinn <strong>de</strong>r<br />

große Zorn wie die große Lustigkeit fehlt <strong>und</strong> daß seine Wirksamkeit nicht allein<br />

mit <strong>de</strong>r Prämisse seiner Kulturwelt, son<strong>de</strong>rn selbst mit <strong>de</strong>r seiner Aktualität<br />

zusammenbricht — man kann ihn faktisch nicht ohne diese spielen —, in<br />

Wahrheit hat Aristophanes in <strong>de</strong>r Vergleichsnähe mit <strong>Nestroy</strong> gar nichts zu<br />

suchen, <strong>de</strong>r ein bei weitem größerer Satiriker war. Welcher unverschmockte<br />

Sinn könnte ihm irgend etwas an<strong>de</strong>res als die große Langeweile abgewinnen?<br />

In Wahrheit reicht er in puncto Lachen <strong>und</strong> Zorn eher an Herrn Thaller heran,<br />

<strong>de</strong>ssen Rappelkopf zum Beispiel ein Bild sowohl <strong>de</strong>r facheusen Harmlosigkeit<br />

wie <strong>de</strong>s pikierten Ernstes bietet <strong>und</strong> <strong>de</strong>m es wirklich wi<strong>de</strong>rfährt, daß er die<br />

Strophe, wo er gelobt, die Wölfe zu erlegen <strong>und</strong> sich vom Westwind die Haare<br />

kräuseln zu lassen, mit <strong>de</strong>m Vorsatz beschließt:<br />

So leb' ich zufrie<strong>de</strong>n im finsteren Haus<br />

Und lache die Torheit <strong>de</strong>r Menschen brav aus.<br />

Aber ich darf mich nicht vom unmittelbaren Erlebnis <strong>de</strong>ssen, was <strong>das</strong><br />

<strong>Burgtheater</strong> mit <strong>Nestroy</strong> zaubert, auf <strong>das</strong> <strong>und</strong>ämonische Greuel, in <strong>das</strong> es Raim<strong>und</strong><br />

verhext, ablenken lassen; nur vom gemeinsamen Darsteller, <strong>de</strong>ssen respektable<br />

Routine in dieser Nie<strong>de</strong>rung von Hilflosigkeit zu gastieren scheint,<br />

sei die Re<strong>de</strong>. Es haust in Wien tatsächlich ein Menschenschlag, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n natürlichen<br />

Zugang <strong>de</strong>s Herzens zu <strong>de</strong>r Sphäre eines Girardi nie gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> sich<br />

darum in eine Thaller—Verehrung gerettet hat, wie vor<strong>de</strong>m schon in eine<br />

Schweighofer—Vergötterung. Die Art dieser Leute erscheint mir für alles, was<br />

sie im Leben tun <strong>und</strong> lassen mögen, durch die bei <strong>de</strong>r Nennung <strong>de</strong>s Namens<br />

Girardi automatisch sich einstellen<strong>de</strong> Abwehr: »Mein Mann ist <strong>de</strong>r Thaller!«<br />

vorgezeichnet. Deshalb ist dieser Schauspieler als eine wirken<strong>de</strong> Kraft <strong>de</strong>s<br />

Wiener Theaterlebens keineswegs zu leugnen, aber in seiner besten Zeit hat<br />

er als Vertreter jener alleräußerlichsten <strong>Nestroy</strong>—Tradition, die etwa von <strong>de</strong>r<br />

Maske <strong>de</strong>s Sansquartier ihren die kritischen Schwachköpfe verwirren<strong>de</strong>n Kredit<br />

bezog, bloß einen Lebenstypus dargestellt, <strong>de</strong>r we<strong>de</strong>r in Humor noch in<br />

Tragik irgend die geringste Verbindung mit <strong>de</strong>m schöpferischen Theaterwesen<br />

hatte, etwa <strong>de</strong>n grantig—gemütlichen Rechnungsrat, <strong>de</strong>r vom Grillparzer<br />

etwas Grill abbekommen hat <strong>und</strong> zur Gänze die Phantasie <strong>de</strong>s Herrn Bahr erfüllen<br />

mag. Aller <strong>Nestroy</strong>schen Viellebendigkeit bloß mit Routine <strong>und</strong> <strong>de</strong>n<br />

Konturen <strong>de</strong>r Körperlichkeit gewachsen, fern jener Unverantwortlichkeit <strong>de</strong>r<br />

Theaterschöpfung, die einer wahren vis major unterworfen ist, <strong>de</strong>r vis comica,<br />

ohne <strong>de</strong>n Schwung, <strong>de</strong>r einen <strong>Nestroy</strong>schen Satz von innen so begleiten könnte<br />

wie mit <strong>de</strong>r Zunge, ist dieser Schauspieler für einen großen Teil <strong>de</strong>s Publikums<br />

<strong>und</strong> für <strong>de</strong>ssen maßgeben<strong>de</strong> Kritik »tatsächlich so etwas wie ein <strong>Nestroy</strong><br />

unserer Tage«, <strong>und</strong> diese dankbaren Genießer lachen nie lauter, als<br />

wenn er, <strong>de</strong>r ganze <strong>Nestroy</strong>, als Zwirn improvisiert, daß die Mehrzahl von<br />

Watschen »Weitschen« heiße. Gleichwohl muß zugegeben wer<strong>de</strong>n, daß dieser<br />

<strong>Nestroy</strong>wuchs gera<strong>de</strong>zu ein gigantisches Maß annimmt, sobald er neben<br />

Herrn Maierhofer steht. Es wäre <strong>das</strong> Nächstliegen<strong>de</strong>, zu sagen, daß in <strong>de</strong>r<br />

Provinz <strong>de</strong>r Knieriem noch heute h<strong>und</strong>ertmal besser gespielt wird, wenn Herr<br />

7


Maierhofer nicht gera<strong>de</strong>nwegs aus Graz käme <strong>und</strong> einem somit jegliche Illusion<br />

über <strong>das</strong> Theaterwesen dieser Stadt raubte, wo <strong>Nestroy</strong> offenbar schon so<br />

schlecht wie im <strong>Burgtheater</strong> gespielt wird. Herr Auernheimer beantwortet<br />

»die unter k<strong>und</strong>igen Thebanern noch immer be<strong>de</strong>nklich erörterte Doktorfrage,<br />

ob <strong>Nestroy</strong> <strong>de</strong>nn auch ins <strong>Burgtheater</strong> gehört«, mit einem resoluten Ja,<br />

weil eben die Jugend noch in vorgerücktem Alter schnell fertig mit <strong>de</strong>m Wort<br />

ist, ohne zu be<strong>de</strong>nken, daß es da doch hauptsächlich auf <strong>das</strong> Wort <strong>Nestroy</strong>s<br />

ankommen sollte. Und wenngleich die k<strong>und</strong>igen Thebaner wirklich die wil<strong>de</strong>sten<br />

Ignoranten in Bezug auf die Theaterdinge zwischen Athen <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Carltheater<br />

sind, so läßt sich die Doktorfrage unbe<strong>de</strong>nklich mit <strong>de</strong>r Entscheidung<br />

beantworten, daß <strong>Nestroy</strong> im <strong>Burgtheater</strong> zu spielen kein Problem ist. Denn<br />

es wäre erst dann eines, wenn es ein <strong>Burgtheater</strong> gäbe, weil dann die Möglichkeit<br />

zu be<strong>de</strong>nken wäre, daß man ihn im Wiener Vorstadttheater, wenn es<br />

eines gäbe, besser spielt. Man kann jedoch auch schlicht antworten, daß <strong>das</strong><br />

Unternehmen, <strong>Nestroy</strong> im heutigen <strong>Burgtheater</strong> zu spielen, unter allen Umstän<strong>de</strong>n<br />

waghalsig ist, weil man da versucht ist, an die Wand zu klettern, aber<br />

Marmor <strong>de</strong>n Humor nicht ersetzen kann. Gr<strong>und</strong>sätzlich wäre also zu sagen,<br />

daß man <strong>Nestroy</strong> im <strong>Burgtheater</strong> spielen dürfte, wenn man es könnte, weil es<br />

sich dabei doch ausschließlich um <strong>Nestroy</strong> han<strong>de</strong>lt, <strong>und</strong> zwar nicht um die<br />

Frage, ob er »würdig« ist, in einem Theater gespielt zu wer<strong>de</strong>n, <strong>das</strong> Müllers<br />

»Hargudl am Bach« herausgebracht hat, son<strong>de</strong>rn ob <strong>das</strong> <strong>Burgtheater</strong> fähig<br />

<strong>und</strong> also würdig ist, ihn zu spielen. Diese Frage wird natürlich von <strong>de</strong>r Thebaner<br />

Kritik einstimmig bejaht, am herzhaftesten von <strong>de</strong>r K<strong>und</strong>igsten einem,<br />

Herrn Brečka in <strong>de</strong>r 'Reichspost', einem Mann, <strong>de</strong>r mich seinerzeit in alle<br />

Himmel gehoben hat <strong>und</strong> gegen <strong>de</strong>n ich wirklich noch dankbar bin, wenn ich<br />

ihm einräume, daß er von <strong>Nestroy</strong> jenen Tineff versteht, welcher ausschließlich<br />

die Basis bil<strong>de</strong>n sollte, auf <strong>de</strong>r die <strong>Nestroy</strong>—Kennerschaft seiner kritischen<br />

Kollegen von <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Richtung beruht. Ich glaube, daß <strong>das</strong> christlich—germanische<br />

Schönheitsi<strong>de</strong>al, auf <strong>das</strong> <strong>de</strong>n Herrn Brečka schon sein<br />

Name anweist, wiewohl er gelegentlich durch die Wahl <strong>de</strong>s Pseudonyms »Stiftegger«<br />

noch ein übriges tut — er hat nämlich, wie in Parteikreisen bekannt<br />

ist, die Doppelerbschaft Stifters <strong>und</strong> Roseggers angetreten —, ich glaube, daß<br />

seine Weltanschauung, die die Tradition <strong>de</strong>s <strong>Burgtheater</strong>s in <strong>de</strong>n Anfängen<br />

<strong>de</strong>s Kaiserjubiläumsstadttheaters verankert sieht <strong>und</strong> am liebsten Benke—<br />

Aben<strong>de</strong>, also Höbling—Aben<strong>de</strong> einführen möchte, <strong>das</strong> eigentliche Hin<strong>de</strong>rnis<br />

ist, um zu einem Gefühl für <strong>Nestroy</strong> zu gelangen, <strong>de</strong>m die Bekenner <strong>de</strong>r Klabriaspartie<br />

wahrscheinlich noch immer erschlossener sein dürften als die<br />

Kunstgojims. In diesem Sinne scheinen mir die Verdienste <strong>de</strong>s Herrn Brečka<br />

(<strong>de</strong>n man wohl in <strong>de</strong>utschen Zentrumskreisen »Brecka« ausspricht) um die<br />

Wiener Volksbühne so ausgemacht, daß ich gar nicht überrascht war, <strong>de</strong>m<br />

durchgeistigten Gesicht <strong>de</strong>s Leiters <strong>de</strong>r »christlichen Kunststelle« — <strong>de</strong>nn <strong>das</strong><br />

gibt es —, in jener Porträtgalerie zu begegnen, die <strong>de</strong>r objektive Leiter <strong>de</strong>r sozial<strong>de</strong>mokratischen<br />

Kunststelle errichtet hat, <strong>und</strong> Schulter an Schulter mit<br />

seinem eigenen Bildnis. Und ich muß selbst zugeben, daß Herr Brečka an <strong>de</strong>r<br />

Renaissance <strong>Nestroy</strong>s durch <strong>das</strong> <strong>Burgtheater</strong> ein weit größeres Verdienst hat<br />

als ich, nur daß ihn lei<strong>de</strong>r, wie <strong>das</strong> so zu geschehen pflegt, <strong>de</strong>r Erfolg unersättlich<br />

macht.<br />

Jetzt wird es auch <strong>de</strong>r eingefleischteste Schwärmer für ehrfurchtgebieten<strong>de</strong><br />

Traditionen einsehen, daß so ziemlich <strong>de</strong>r ganze <strong>Nestroy</strong><br />

bald burgtheaterreif o<strong>de</strong>r <strong>das</strong> <strong>Burgtheater</strong> bald nestroyreif<br />

gewor<strong>de</strong>n ist.<br />

8


Schwärmt Brečka, <strong>de</strong>r offenbar nicht weiß, was er mit diesem unchristlichen<br />

Wunsche ausspricht, <strong>und</strong> <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Aufführung nur eines auszusetzen hat:<br />

daß »Herr Wawra, einer <strong>de</strong>r ganz wenigen Schauspieler, von altwienerischem<br />

Komikerprofil, eine Rolle bekommt, die genau einen einzigen Satz lang ist«.<br />

Wie es halt allerhand Leut auf <strong>de</strong>r Welt gibt, habe wie<strong>de</strong>rum ich diesen Umstand<br />

als einen Vorzug <strong>de</strong>r »Lumpazivagab<strong>und</strong>us«—Vorstellung empf<strong>und</strong>en,<br />

<strong>de</strong>n ich insbeson<strong>de</strong>re nach <strong>de</strong>m Christopherl dieses letzten Altwieners zu würdigen<br />

wußte. Dagegen gefällt wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Herrn Brečka <strong>das</strong>, was die Vorstellung<br />

ihm gab, noch besser als mir <strong>das</strong>, was sie ihm vorenthielt.<br />

Maierhofer hingegen voll w<strong>und</strong>erbarster phlegmatischer Ruhe<br />

<strong>und</strong> Behäbigkeit. Er wächst mit diesem Knieriem wie<strong>de</strong>r um ein<br />

gutes Stück höher. Seine Komik ist schon längst nicht mehr bloßes<br />

Thaddädltum, sie schöpft bereits aus <strong>de</strong>r breiten Fülle nicht<br />

mehr zeit— <strong>und</strong> ortgeb<strong>und</strong>enen Menschentumes sein Knieriem:<br />

Ah, <strong>de</strong>r ist klassisch! Nach<strong>de</strong>m er sein Kometenlied gesungen hatte,<br />

bezeugte ihm langer, stürmischer Beifall <strong>de</strong>s ganzen Hauses,<br />

daß er ein Liebling <strong>de</strong>s Publikums gewor<strong>de</strong>n ist, kaum weniger,<br />

als sein großes Vorbild Wenzel Scholz einer war.<br />

Daß Herr Maierhofer als Knieriem, <strong>de</strong>ssen Dämon natürlich nicht nach <strong>de</strong>n<br />

Regionen <strong>de</strong>r Scholzischen Komik, aber ganz gewiß nicht nach <strong>de</strong>n Gegen<strong>de</strong>n,<br />

wo geschnadahüpfelt wird, zuständig ist, <strong>Nestroy</strong>sche Wortwurfgeschosse —<br />

wie <strong>de</strong>n prachtvollen Satz: »Wann ich mir meinen Verdruß nicht versaufet, ich<br />

müßt' mich grad aus Verzweiflung <strong>de</strong>m Trunk ergeben« — wesentlich <strong>und</strong><br />

textlich in einen Brei verwan<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>n er mit schwerster Zunge zu schmecken<br />

scheint (» ... so — müßt' — ich mich — rein — <strong>de</strong>m stillen Suff ergeben«); daß<br />

er <strong>de</strong>n Schluß einer Klimax: » ... <strong>und</strong> führ' so ein zufrie<strong>de</strong>nes häusliches Leben«<br />

in die Plattheit ausbaut: » ... wirts — häusliches Leben«, wobei man <strong>de</strong>n<br />

Gedankenstrich <strong>und</strong> also nebst Grazer auch Wiener Stimmen zu hören vermeint;<br />

daß — von <strong>de</strong>m Geleier <strong>de</strong>s Kometenlie<strong>de</strong>s nicht zu re<strong>de</strong>n — die vorangehen<strong>de</strong><br />

berühmte Rakete <strong>de</strong>r astronomischen Termini, <strong>de</strong>r unsterbliche Gallimathias<br />

<strong>de</strong>r Fachmännerei zu einem Gspaß wird; daß die Philosophie dieses<br />

Alkoholexzesses so entleert war wie <strong>de</strong>ssen Schicksalhaftigkeit, bis <strong>de</strong>r wil<strong>de</strong><br />

Abgang bei Blitz <strong>und</strong> Donner nicht <strong>das</strong> Unabän<strong>de</strong>rliche, son<strong>de</strong>rn <strong>das</strong> improvisierte<br />

Spassettl einbezog — von <strong>de</strong>m allen hat Herr Brečka so wenig eine Ahnung<br />

wie seine Kollegen <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn Couleur. Aber wenn dieser Knieriem mit<br />

<strong>de</strong>m Blick auf einen so wesentlich reduzierten Himmel »Ah, sie regnet!« ausgerufen<br />

hätte o<strong>de</strong>r mit seinen Kumpanen die Deklination von »Tischlampe«<br />

geübt, so wür<strong>de</strong> die 'Reichspost' erst recht fin<strong>de</strong>n, daß <strong>das</strong> Menschentum dieses<br />

Klassikaners nicht mehr zeit— <strong>und</strong> ortgeb<strong>und</strong>en sei. Maierhofers Entwicklung<br />

von <strong>de</strong>m Punkt, wo es noch <strong>de</strong>r Fall war — gemeint ist wohl seine Grazer<br />

Wirksamkeit, in <strong>de</strong>r ihn <strong>de</strong>r theatralische Falkenblick <strong>de</strong>s Herrn Reimers ent<strong>de</strong>ckt<br />

haben soll —, habe ich lei<strong>de</strong>r nicht mitgemacht, aber ich glaube insofern<br />

nicht viel versäumt zu haben, als starke Spuren aus jener Epoche noch<br />

vorhan<strong>de</strong>n zu sein scheinen. In meinem ganzen an Theatereindrücken so reichen,<br />

wenn auch zuletzt versäumnisreichen Leben bin ich einer Humorlosigkeit<br />

von <strong>de</strong>rart breiter Spur nicht begegnet wie bei diesem Steirer, <strong>de</strong>r immer<br />

wie<strong>de</strong>r letzten Versuch macht, doch mit jener bekannten Schlichtheit, die aus<br />

<strong>de</strong>r Leere nur so zu geben braucht, um <strong>de</strong>r Wirkung in allen Fällen sicher zu<br />

sein. Bloß Bergauer wirkt ähnlich auf mich ein, obwohl er doch etwas mehr<br />

»macht«, während Maierhofer (<strong>de</strong>r kein Doktorat hat) <strong>das</strong>teht wie er ist <strong>und</strong><br />

einfach, ohne sich beirren zu lassen, nonchalant o<strong>de</strong>r vielmehr pomali, wie in<br />

diesen Humorgegen<strong>de</strong>n gesagt wird, aber seiner Sache sicher die Weimb'rin<br />

9


aus <strong>de</strong>m Sterz klaubt, in <strong>de</strong>n seine Zunge Ambrosia verwan<strong>de</strong>ln könnte. Ich<br />

glaube allen Ernstes, daß <strong>das</strong> christlich—soziale Parteibekenntnis vorliegen<br />

muß, um eine Empfänglichkeit für diesen Humor, die unbestreitbar im heutigen<br />

<strong>Burgtheater</strong>publikum vorhan<strong>de</strong>n ist, zu bewirken, <strong>und</strong> daß die an<strong>de</strong>rsgesinnte<br />

Kritik (einschließlich <strong>de</strong>s Berufsisraeliten, <strong>de</strong>r sich gekugelt haben will,<br />

obgleich zwischen <strong>de</strong>m h<strong>und</strong>ertjährigen Humor <strong>und</strong> <strong>de</strong>m tausendjährigen<br />

Schmerz keine wesentliche Beziehung gegeben sein dürfte) — ich glaube, daß<br />

sie diesmal nicht aus Überzeugung gelogen haben, son<strong>de</strong>rn aus Furcht vor einem<br />

Pogrom. In<strong>de</strong>s, <strong>Nestroy</strong>s Sprache auf steirisch ist natürlich schon ein<br />

Hauptjux (wiewohl ich mir <strong>de</strong>n Knieriem weit eher auf mecklenburgisch, auf<br />

gabillonisch, <strong>de</strong>nken könnte); jetzt erst, wenn je<strong>de</strong>r dieser Tira<strong>de</strong>n <strong>das</strong> Rückgrat<br />

gebrochen, wenn <strong>de</strong>r Satz in eine Lautmolluske verwan<strong>de</strong>lt <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />

Frosch, <strong>de</strong>r als Rakete aufsteigen sollte, mit <strong>de</strong>m Röhrenstiefel zu Brei getreten<br />

wird.<br />

Das alles merken sie nicht. Auf <strong>das</strong> Stroh, <strong>das</strong> die Dummheit <strong>de</strong>r alten<br />

Lobreportage drischt, hat <strong>de</strong>r Vortrag <strong>de</strong>s Kometenlieds »zün<strong>de</strong>nd« gewirkt;<br />

ein ahnungsloser Engel will gesehen haben, daß »die Tradition schmunzelte«;<br />

<strong>und</strong> einer von <strong>de</strong>r neuen Psychologie, ein Pseudonym, <strong>das</strong> eher nach <strong>de</strong>r Fülle<br />

einer ungarischen Krautspeise schmeckt als nach einer Beziehung zu <strong>Nestroy</strong>,<br />

versichert, daß die Herren Thaller <strong>und</strong> Maierhofer aus <strong>de</strong>m dionysischen Urelement<br />

<strong>de</strong>s Theaters stammen. Herr Liebstöckl ist <strong>de</strong>r Meinung, daß <strong>Nestroy</strong>s<br />

Wesen <strong>de</strong>r Hamur <strong>de</strong>r Buschenschenke sei, <strong>und</strong> lehnt es darum als seiner<br />

mehr metaphysischen A<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rsprechend ab. Immerhin versteht er,<br />

wenn er will, etwas mehr vom Theater als die an<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> räumt darum die<br />

Möglichkeit ein, daß <strong>das</strong> <strong>Burgtheater</strong> schuld sei, wenn er sich bei einem so<br />

verzerrten <strong>Nestroy</strong> »zu To<strong>de</strong> langweile«, natürlich mit Ausnahme <strong>de</strong>s Herrn<br />

Maierhofer, »in <strong>de</strong>ssen Hand sich alles« (nebst <strong>de</strong>r Tarockkarte) »in urwüchsiges<br />

Leben verwan<strong>de</strong>lt.«, <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Herrn Thaller, <strong>de</strong>r »nur so zu sein braucht,<br />

wie ihn Gott erschuf«. Höchstens daß sich jener im Coupletvortrag, <strong>de</strong>r auf<br />

alle an<strong>de</strong>rn zün<strong>de</strong>nd gewirkt hat, »nicht zu Hause fühlt«:<br />

— — In dieser Art, ein Couplet vorzutragen, statt vom Couplet<br />

selbst vorgetragen zu wer<strong>de</strong>n, ist Karl Kraus sicher ein Meister.<br />

Die Müllersche Musik hat <strong>de</strong>n Fehler, daß sie zum Text nicht immer<br />

paßt; sie hüpft zu sentimentalen <strong>und</strong> elegischen Gedankengängen.<br />

Man müßte also eigentlich versuchen, <strong>das</strong> <strong>Nestroy</strong>'sche<br />

Couplet neu zu komponieren, <strong>und</strong> <strong>de</strong>r junge Kapellmeister <strong>und</strong><br />

Komponist Rudolf Tlascal scheint auch etwas ähnliches versucht<br />

zu haben, dabei aber <strong>de</strong>m Wi<strong>de</strong>rstand Höblings begegnet zu sein.<br />

Einer <strong>de</strong>r verbroigtesten Loibusche 1 , <strong>de</strong>r schon durch <strong>das</strong> Vorhergehen<strong>de</strong><br />

vorbereitet ward:<br />

Merkwürdigerweise sind just die bei<strong>de</strong>n Eckpfeller <strong>de</strong>s lie<strong>de</strong>rlichen<br />

Kleeblattes die lustigsten <strong>und</strong> sympathischesten Figuren,<br />

während <strong>de</strong>r Leim, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Leim <strong>de</strong>r Ehe geht, als bie<strong>de</strong>rer<br />

Durchschnittsmensch nur kümmerlich durch Gesang am Leben erhalten<br />

wird. — — Seit diesem Stück aber, <strong>de</strong>m man sein Alter ansieht,<br />

hat sich die Welt gründlich geän<strong>de</strong>rt, <strong>und</strong> wenn es auch <strong>de</strong>n<br />

Anschein gewinnt, als ob <strong>Nestroy</strong>s berühmte Witzworte noch auf<br />

die heutige Zeit paßten, so ist <strong>das</strong> natürlich nur eine Einbildung.<br />

Leute, die am tiefsten in <strong>Nestroy</strong> eingedrungen sind, wie Karl<br />

Kraus, empfin<strong>de</strong>n <strong>das</strong> Bedürfnis, seine Couplets durch neue Strophen,<br />

zu erweitern. Inzwischen freilich ist die Kunst <strong>de</strong>r Schau-<br />

1 s. Heft 668 »Verbroigter Loibusch«<br />

10


spieler, ein Couplet zu singen, überhaupt fast verlorengegangen.<br />

— —<br />

Ehe ich Herrn Liebstöckl mit <strong>de</strong>r von ihm anerkannten Führerhand aus <strong>de</strong>m<br />

Wirrsal seiner <strong>Nestroy</strong>kenntnis geleite, sei festgestellt, daß es wirklich außer<br />

mir noch an<strong>de</strong>re gibt, die <strong>das</strong> Bedürfnis empfin<strong>de</strong>n, <strong>Nestroy</strong>couplets durch<br />

neue Strophen zu erweitern, <strong>und</strong> daß <strong>de</strong>r Satz, <strong>de</strong>n er von <strong>de</strong>m Erweiterer für<br />

<strong>Burgtheater</strong>zwecke an an<strong>de</strong>rer Stelle schreibt:<br />

Seinen Namen darf man nicht nennen, doch verrieten ihn die<br />

vollen<strong>de</strong>ten Verse <strong>und</strong> feingeschliffenen Pointen<br />

sich nicht, wie somit zu vermuten wäre, auf mich bezieht, <strong>de</strong>r in die <strong>Burgtheater</strong>aufführung<br />

bloß durch Zischen eingegriffen hat. Aber <strong>das</strong> Bedürfnis nach<br />

Zusatzstrophen zu <strong>de</strong>n Couplets ist weit entfernt, auch nur <strong>das</strong> Geringste gegen<br />

die Tatsache zu beweisen, daß <strong>Nestroy</strong>s berühmte Witzworte noch auf die<br />

heutige Zeit passen. In <strong>de</strong>n Couplets sind sie nicht enthalten, <strong>und</strong> darum von<br />

mir auch nicht durch an<strong>de</strong>re ersetzt. Was ersetzt wird, ist bloß <strong>das</strong> stofflich<br />

Zeitgeb<strong>und</strong>ene, jene hinfällige Aktualität — <strong>de</strong>r »Backenbärt' von tull anglais«<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>s »Pfennigmagazins« —, die sich für <strong>das</strong> Couplet jeweils hervorragend<br />

eignet, aber dann wie<strong>de</strong>r in meinen Ersatzstrophen selbst, trotz <strong>de</strong>ren blutigerer<br />

Zeitfülle, immer wie<strong>de</strong>r, je<strong>de</strong>nfalls für <strong>de</strong>n Hörer, ersetzt wer<strong>de</strong>n muß.<br />

Meine Zusätze, nur für mich <strong>und</strong> meinen Vortrag bestimmt, im M<strong>und</strong>e eines<br />

Schauspielers unmöglich, be<strong>de</strong>uten aber mehr noch als die Aktualisierung die<br />

Fortsetzung <strong>Nestroy</strong>s in einem allerpersönlichsten Sinne. Keines <strong>de</strong>r berühmten<br />

<strong>Nestroy</strong>schen Witzworte, die allerdings nicht auf die heutige Zeit, son<strong>de</strong>rn<br />

auf je<strong>de</strong> passen, kann darunter lei<strong>de</strong>n, davon aufgefrischt, davon überhaupt<br />

berührt wer<strong>de</strong>n. Was die Müllersche Musik betrifft, so ist sie in dieser Jugendleistung<br />

— im Gegensatz zu aller späteren Kapellmeisterarbeit, die ich nunmehr<br />

mit <strong>de</strong>r viel zeitechteren Musik von Mechtil<strong>de</strong> Lichnowsky <strong>und</strong> Viktor<br />

Junk zu vergleichen Gelegenheit hatte — ist sie im »Lumpazivagab<strong>und</strong>us«<br />

noch von einer so naturgewachsenen Liebenswürdigkeit, daß man gar nicht<br />

verstün<strong>de</strong>, wie da etwas weggewünscht wer<strong>de</strong>n kann, wenn man nicht sofort<br />

merkte, daß Herr Liebstöckl die Ersatzstücke für die vormärzlichen Strophenhälften<br />

<strong>de</strong>s Kometenlie<strong>de</strong>s, zu <strong>de</strong>nen die Musik tatsächlich hüpft, die Ergänzung<br />

<strong>de</strong>r »astronomischen« Teile, nun wie<strong>de</strong>r für ein <strong>Nestroy</strong>sches Produkt<br />

hält. Da läge also <strong>de</strong>r »Fehler« nicht an <strong>de</strong>r vorhan<strong>de</strong>nen Musik, zu <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Text neu gemacht wur<strong>de</strong>, <strong>und</strong> man müßte nicht versuchen, <strong>das</strong> Kometenlied<br />

neu zu komponieren, son<strong>de</strong>rn an<strong>de</strong>rs zu ergänzen. Aber in Wahrheit kommt<br />

es ausschließlich auf <strong>de</strong>n Vortragen<strong>de</strong>n an, um die Musik mit <strong>de</strong>m geistigen<br />

Inhalt in Einklang zu bringen. Was nun <strong>de</strong>r <strong>Burgtheater</strong>kapellmeister versucht<br />

hat, ist eine Komposition für <strong>de</strong>n Leim, aber nicht wie Herr Liebstöckl<br />

vermutet, zu einem <strong>Nestroy</strong>—Text, <strong>de</strong>r früher die Müllersche hatte, son<strong>de</strong>rn<br />

zu <strong>de</strong>m Wagnis, aus <strong>de</strong>n Bestandteilen <strong>de</strong>r entzücken<strong>de</strong>n Erinnerungsprosa<br />

<strong>de</strong>s Leim—Monologs ein Entreelied zu kleistern (mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Akt einsetzt,<br />

nach<strong>de</strong>m man ihm die wichtige Szene <strong>de</strong>s Stellaris als »Ein Frem<strong>de</strong>r« abgesägt<br />

hat). Der Leim also ist jene <strong>de</strong>r drei Figuren, die keineswegs kümmerlich<br />

durch Gesang am Leben erhalten, son<strong>de</strong>rn im <strong>Burgtheater</strong> gewalttätig durch<br />

Gesang geschädigt wird, eine Figur, die, in ihrer Erdhaftigkeit doch von einer<br />

Raim<strong>und</strong>schen Melancholie umflossen, im volkspoetischen <strong>und</strong> im theatralischen<br />

Sinn vollgestaltet, einen seelischen Hintergr<strong>und</strong> eröffnet, <strong>de</strong>n freilich<br />

die <strong>Burgtheater</strong>regie selbst dort ver<strong>de</strong>ckt, wo <strong>de</strong>r Darsteller, Herr Höbling,<br />

besser sein könnte als sein Ruf. Wer entzöge sich <strong>de</strong>r visionären Innerlichkeit<br />

<strong>de</strong>s Seufzers, die wie alles Gesichthafte <strong>und</strong> innen Geschaute aus dieser Aufführung<br />

weggejuxt war:<br />

11


Ihr wer<strong>de</strong>t mir's nicht glauben — ich seh' einem lustigen Kerl<br />

gleich, aber <strong>das</strong> is alles nur auswendig, inwendig schaut's famos<br />

aus bei mir. Wie ich trink', glaub' ich, ein je<strong>de</strong>r Tropfen ist Gift —<br />

wie ich iß, so ißt <strong>de</strong>r Tod mit mir — wenn ich spring' <strong>und</strong> tanz', so<br />

ist mir inwendig, als wenn ich mit meiner Leich' ging' — wie ich<br />

ein' Kamera<strong>de</strong>n seh', <strong>de</strong>r nix hat, so gib ich ihm gleich alles, obwohl<br />

ich selber nix hab', <strong>und</strong> <strong>das</strong> bloß, weil ich in Gedanken alleweil<br />

mein Testament mach'.<br />

Und wie w<strong>und</strong>ervoll reflektiert auf die Gestalt, die in ihrem Bie<strong>de</strong>rwesen ganz<br />

<strong>und</strong> gar nicht so unproblematisch ist <strong>und</strong> nicht bloß die Fläche hat, die <strong>de</strong>r<br />

untiefe Blick bemerkt, <strong>de</strong>r Moment, wo mitten im wil<strong>de</strong>sten Aufhauen die Musik<br />

abbricht:<br />

Leim. Ah wart', Schnei<strong>de</strong>r, du sollst mich nicht spotten! (Nimmt<br />

Hannerl, welche ihm <strong>das</strong> Bier bringt, <strong>und</strong> tanzt mit ihr ein paarmal<br />

herum, endlich sieht er einen Handwerksburschen sehr ärmlich<br />

<strong>und</strong> traurig <strong>das</strong>itzen — er hört zu tanzen auf <strong>und</strong> spricht zu<br />

ihm.) Ich glaube gar, <strong>das</strong> ist ein Tischler? (Die Musik hört auf.)<br />

Handwerksbursch. Ja, lei<strong>de</strong>r.<br />

Leim. Wo fehlt's <strong>de</strong>nn?<br />

Handwerksbursch. Überall.<br />

Leim. Mir auch; aber wer wird <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>swegen traurig sein? —<br />

Heda! Eing'schenkt da für <strong>de</strong>n eine Halbe Wein auf meine Rechnung.<br />

Dieser Herzschlag war im <strong>Burgtheater</strong> erdrosselt; kein Mensch hat ihn gehört,<br />

niemand auch nur verstan<strong>de</strong>n, was da vorgehe. Und wie im zweiten Akt<br />

<strong>de</strong>r Tischlergesell — in je<strong>de</strong>m Zug <strong>de</strong>s Grams <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Glücks Verkörperung<br />

<strong>de</strong>s Girardi—Tons — mit seiner Peppi, die er »in die Kiste auf die Geldsäcke<br />

hebt«, gera<strong>de</strong>nwegs ins Märchen abgeht, davon war nichts zu spüren, <strong>und</strong><br />

nur <strong>de</strong>r intelligente Auernheimer fand, daß <strong>de</strong>r Leim von <strong>de</strong>n Dreien »<strong>de</strong>r<br />

Dümmste« sei. Man könnte zweifeln, ob sie weniger die fehlen<strong>de</strong>n Feinheiten<br />

gemerkt haben o<strong>de</strong>r mehr von <strong>de</strong>r vorhan<strong>de</strong>nen Verdickung entzückt waren,<br />

<strong>und</strong> es wür<strong>de</strong> sich wohl lohnen, an je<strong>de</strong>r Zeile, die da geschrieben wur<strong>de</strong>, mit<br />

<strong>de</strong>m Unwert <strong>de</strong>r Leistung zugleich <strong>das</strong> Niveau <strong>de</strong>r Besprechung darzustellen.<br />

Wenn ich aber die Proben, die ich gewähren kann, neben <strong>das</strong> Maß meiner eigenen<br />

Begehrlichkeit halte, so kann ich nur ein <strong>Nestroy</strong>—Wort zitieren, vor<br />

<strong>de</strong>ssen Zeitlosigkeit auch Herrn Liebstöckl die Eignung für die »heutige Zeit«<br />

unerheblich scheinen wird: »Das ist grad so viel, als wenn man einem Walfisch<br />

eine Biskoten gibt.« Er kann zur Not noch Herrn Salten verschlingen,<br />

<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Aufführung »strömen<strong>de</strong>s Behagen« feststellt <strong>und</strong> an Herrn Thallers<br />

Zwirn, in <strong>de</strong>ssen Wesen »wie ein leises Echo die ungeheure Heiterkeit <strong>de</strong>s alten<br />

Wien tönt«, mit beson<strong>de</strong>rem Entzücken seinen Abgang mit <strong>de</strong>m wie<strong>de</strong>rholten<br />

»I halt's net aus«' »zugleich komisch <strong>und</strong> ergreifend«, beobachtet. Dieses<br />

»Ich halt's nicht aus«, <strong>das</strong> meiner Stimmung an diesem Abend entsprach<br />

<strong>und</strong> beson<strong>de</strong>rs beim Abgang dieses Zwirn, war ganz wie <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Knieriem völlig<br />

pathosfrei gehalten <strong>und</strong> ohne je<strong>de</strong> Fernsicht in <strong>de</strong>n Abgr<strong>und</strong>, aus <strong>de</strong>m es<br />

nur eine Rettung durch die Geistermacht gibt. Es ist ein Schrei <strong>de</strong>r Herzensangst,<br />

<strong>de</strong>n man <strong>de</strong>m Experiment Kainz in dieser Rolle geglaubt haben mag.<br />

Daß sich die thebanische K<strong>und</strong>igkeit <strong>de</strong>s Herrn Salten wie die aller an<strong>de</strong>ren<br />

auch auf die Dinge <strong>de</strong>s theaterhistorischen Wissens erstreckt, versteht sich<br />

von selbst. Wenngleich er unter <strong>de</strong>n Doppelkollegen <strong>Nestroy</strong>s zwar Molière,<br />

aber nicht auch Aristophanes hervorhebt, so ist ihm doch an<strong>de</strong>rseits bekannt,<br />

daß Adolph Müller, <strong>de</strong>r 1886 gestorben ist, »ein Zeitgenosse Beethovens <strong>und</strong><br />

12


Schuberts« war. (Hier weiß man wenigstens gleich daß es sich um eine Verwechslung<br />

mit Wenzel Müller han<strong>de</strong>lt, so daß nicht annähernd solche Schwierigkeiten<br />

entstehen wie mit <strong>de</strong>m Proteus.) Gegen <strong>de</strong>n Strom <strong>de</strong>s Behagens,<br />

<strong>de</strong>r sie alle fortreißt, schwimmt eigentlich nur Alfred Polgar, <strong>de</strong>r <strong>das</strong> Bekenntnis<br />

»Ich halt's nicht aus«, von <strong>de</strong>m ich einen aktiven Gebrauch gemacht habe,<br />

wenigstens <strong>Nestroy</strong> gegen <strong>das</strong> <strong>Burgtheater</strong> in <strong>de</strong>n M<strong>und</strong> legt <strong>und</strong> die Feinfühligkeit<br />

hat, »Langeweile« zu wittern, die »um die bei<strong>de</strong>n Hauptdarsteller herum«<br />

war, <strong>de</strong>m ich aber gera<strong>de</strong> in diesem Falle die Lust zugetraut hätte, aufs<br />

Ganze zu gehen <strong>und</strong> insbeson<strong>de</strong>re zu merken, welchen Scha<strong>de</strong>n <strong>das</strong> »Naturhafte«<br />

<strong>de</strong>s Herrn Maierhofer an <strong>de</strong>r <strong>Nestroy</strong>schen Diktion angerichtet hat,<br />

eine Art, an <strong>de</strong>r ja vor allem die Wahrnehmung berechtigt erscheint: »Der<br />

Textklang wie ausgew<strong>und</strong>en, kein Tropfen Saft mehr in ihm 1 «. Denn von wel-<br />

1 Bei jener scheinbaren Fülle, die <strong>de</strong>r vortreten<strong>de</strong> Dialekt hat. Und hier muß, lei<strong>de</strong>r zuungunsten<br />

eines <strong>de</strong>r ehrlichsten <strong>und</strong> fleißigsten Arbeiter an <strong>de</strong>r so verwahrlosten Sache <strong>Nestroy</strong>s,<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich gesagt wer<strong>de</strong>n, daß nicht nur die steirische, nein, je<strong>de</strong> ausgeprägte<br />

Färbung <strong>de</strong>r <strong>Nestroy</strong>schen Sprachwelt, also auch die stark wienerische, ihr im Innersten<br />

ungemäß ist: die förmliche Übersetzung ins Wienerische als in ein Idiom, <strong>das</strong> graphisch<br />

umso weiter hinter <strong>de</strong>r phonographischen Vollendung zurückbleibt, je näher sie ihr kommen<br />

möchte. Dies gilt für <strong>das</strong> gesamte <strong>Nestroy</strong>sche Sprachgut, auch für <strong>das</strong> nicht so hochwertige,<br />

welches nur die soziale Nie<strong>de</strong>rung als solche m<strong>und</strong>artlich abspiegelt <strong>und</strong> von <strong>de</strong>m<br />

man noch annehmen könnte, hier sei die lautliche Echtheit wesentlich <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Dichter<br />

habe sie, wenn schon nicht selbst vorgeschrieben, so doch beabsichtigt <strong>und</strong> gewünscht.<br />

Nun hat aber Leopold Liegler mit einer an <strong>und</strong> für sich bew<strong>und</strong>ernswerten Emsigkeit sich<br />

bei solcher Erfüllung, die <strong>de</strong>n Leser verwirrt <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Darsteller Sprechprothesen liefert,<br />

über die er strauchelt, <strong>und</strong> die mit ihrem unaufhörlichen Zuaspruch eher einem nord<strong>de</strong>utschen<br />

Gelüste entgegenkommt, lei<strong>de</strong>r keineswegs beruhigt, son<strong>de</strong>rn auch jene Sphäre <strong>de</strong>r<br />

dialektischen Bearbeitung unterzogen, die ihr von innen her mit aller Macht <strong>de</strong>s Witzes wi<strong>de</strong>rstrebt.<br />

Also nicht nur gegen <strong>de</strong>n Text <strong>Nestroy</strong>s, wofür sich ja eine philologische Absicht<br />

die Rechtfertigung nimmt, son<strong>de</strong>rn gegen <strong>Nestroy</strong>s Sprachgeist. In »<strong>Nestroy</strong> <strong>und</strong> die<br />

Nachwelt« schrieb ich: »Anzengrubers <strong>und</strong> seiner Nachkommen Wirkung ist von <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>s Dialekts ohne Gefahr nicht loszulösen. <strong>Nestroy</strong>s Dialekt ist Kunstmittel, nicht<br />

Krücke. Man kann seine Sprache nicht übersetzen, aber man könnte die Volksstückdichter<br />

auf einen hoch<strong>de</strong>utschen Kulissenwert reduzieren«. <strong>Nestroy</strong>, <strong>de</strong>r kein österreichischer Dialektdichter,<br />

son<strong>de</strong>rn ein <strong>de</strong>utscher Satiriker ist, ins Wienerische übersetzen heißt ihm eine<br />

Anzengrube graben. Was wird aus <strong>de</strong>m Schillerpathos seiner Domestiken? Wie nimmt sich<br />

<strong>de</strong>r klischeezersetzen<strong>de</strong> Witz dieser Geschwollenheiten im Einheitsdialekt aus? Titus Feuerfuchs<br />

wird sich ausdrücklich <strong>de</strong>r Verpflichtung bewußt, im Gespräch mit einer Literaturdame<br />

seiner Re<strong>de</strong> »ein Feiertagsg'wandl anzuziehen«, <strong>und</strong> bleibt darum vor <strong>de</strong>r Möglichkeit<br />

bewahrt, in <strong>de</strong>m an <strong>und</strong> für sich dichterischen Satz über <strong>de</strong>n »Verweser seiner selbst«<br />

<strong>und</strong> <strong>das</strong> »stille, abgeschie<strong>de</strong>ne Geschäft, bei <strong>de</strong>m die Ruhe <strong>das</strong> einzige Geschäft ist«, es in<br />

ein solches verwan<strong>de</strong>ln zu müssen, bei <strong>de</strong>m d' Ruah dös anzige G'schäft is. Aber Liegler<br />

hat lei<strong>de</strong>r übersehen, daß alle die eigentlichen <strong>Nestroy</strong>—Typen <strong>das</strong> Feiertagsg'wandl über<br />

ihrer Re<strong>de</strong> tragen; <strong>de</strong>nn je<strong>de</strong> strebt aus <strong>de</strong>m terminologisch festgehaltenen Inventar ihres<br />

spezifischen Berufs in eine höhere sprachliche Region, was ja die große Eigenart <strong>und</strong> <strong>de</strong>n<br />

komischen Habitus dieser Figuren bil<strong>de</strong>t. Hier nun, in diese — gleich Shakespeareschen<br />

Sentenzen, mit <strong>de</strong>nen auf <strong>de</strong>r Lippe auch noch keine Lebensfigur je gestorben ist — überrealistische<br />

Welt philologisch einzugreifen, in diesen unvergleichlichen Läuferpassagen die<br />

dialektisch nur irgend erreichbaren Zwischenworte auszuwechseln, heißt die Hauptsache<br />

schädigen, <strong>das</strong> abstrus Gedachte absurd machen, <strong>de</strong>n Wortschwall <strong>de</strong>r Figur zum isolierten<br />

Schwulst <strong>de</strong>s Autors, kurzum be<strong>de</strong>utet: <strong>de</strong>r Seele <strong>de</strong>s <strong>Nestroy</strong>schen Sprachwitzes an<br />

<strong>de</strong>n Leib gehen, entgegen jener genial wi<strong>de</strong>rspruchsvollen Weisung, die für alle diese Typen<br />

gilt: »ohne Scheu zu sprechen, wie ihnen <strong>de</strong>r Schnabel wuchs«, <strong>und</strong> eben nicht, wie er<br />

ihnen g'wachsen is. Allerdings triumphiert in ihnen <strong>de</strong>r Dialekt, aber ganz an<strong>de</strong>rs als <strong>de</strong>r<br />

Übersetzer will: nämlich so, daß <strong>das</strong> getragene, von ihnen getragene Hoch<strong>de</strong>utsch zur Parodie<br />

wird. Wenn <strong>de</strong>r Herr von G<strong>und</strong>lhuber zu seiner Gattin sagt: »Ich weiß nicht, du<br />

schaust nicht recht reizend aus«, so wird die Schraube dieser Wendung, diese kostbare<br />

Unmöglichkeit, die eben <strong>das</strong> Maß <strong>de</strong>r Kritik eines Simandls <strong>und</strong> die Höflichkeit eines Nörglers<br />

bezeichnet, während <strong>das</strong> Gera<strong>de</strong>zu <strong>de</strong>s Dialekts mit einem »Du schaust schiach aus«<br />

vorlieb nehmen wür<strong>de</strong>, nicht nur heillos abgeflacht, son<strong>de</strong>rn im Realen unmöglich <strong>und</strong> unverständlich<br />

durch die Übersetzung: »I waß net, du schaust net recht reizend aus«. Wann<br />

13


14<br />

chem Kritiker wäre eine ernsthaftere Zurückweisung <strong>de</strong>r Ohnmacht, die sich<br />

am Wort vergriffen hat, zu erwarten gewesen? Einer Regie, die bloß handwerksmäßig,<br />

doch keineswegs im ehrlichen Sinne dieser Handwerkertypen,<br />

<strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgr<strong>und</strong> bestellte <strong>und</strong> alles Wesen, szenisch wie sprachlich, ins Man<strong>de</strong>lbogige<br />

übertrug, <strong>Nestroy</strong> ausgebaut <strong>und</strong> verflacht hat, so daß nirgends, in<br />

keinem Satz <strong>und</strong> in keiner Bewegung, ein Hintergr<strong>und</strong> war <strong>und</strong> nirgends ein<br />

Abgr<strong>und</strong>, nicht die Spur einer Verbindung szenischen Geschehens mit <strong>de</strong>r<br />

Geisterwelt <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>s Geistes, nur <strong>das</strong> Nebeneinan<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Albernheiten<br />

einer Zauberhandlung <strong>und</strong> einer Heurigenunterhaltung, Gschnas <strong>und</strong><br />

Gspaß. Der Prolog, wo <strong>de</strong>r Chor »Wir wer<strong>de</strong>n euch schon Mores lehren« als<br />

ein Grabgesang verzogen wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Feenkönig aus einem Vereinstheater<br />

hergezaubert schien, doch in <strong>de</strong>m Wettstreit <strong>de</strong>r Feen <strong>das</strong> hohlgemute <strong>Burgtheater</strong><br />

von heute zu erkennen war, weckte die Empfindung <strong>de</strong>s Richters in<br />

»Maß für Maß«: »Dies währt wohl eine Winternacht in Rußland, wenn Nächte<br />

dort am längsten sind. Ich geh <strong>und</strong> überlass' euch diese Untersuchung: Ich<br />

hoff', ihr fin<strong>de</strong>t Gr<strong>und</strong>, sie all' zu stäupen.« Ich blieb <strong>und</strong> fand ihn. Ein böser<br />

Geist stieg aus <strong>de</strong>r Versenkung auf, <strong>de</strong>r als ein Stück Burschenherrlichkeit bei<br />

Krambambuli <strong>und</strong> Pfeife an einem Tische saß, mit einem kleinen Hieb <strong>und</strong> etwas<br />

Hakenkreuz, <strong>und</strong> so wenig wie seinen Augen mochte man seinen Ohren<br />

trauen, als in diesem verblüffen<strong>de</strong>n Moment <strong>das</strong> Orchester statt <strong>de</strong>r Müllerhätte<br />

<strong>de</strong>r Ordinärwiener je so etwas über die Lippen gebracht? Nun gibt es vielfache<br />

Schichtungen <strong>de</strong>s Dialekts, auch eine solche, die nur auf hoch<strong>de</strong>utsch darzustellen wäre,<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Herr von G<strong>und</strong>lhuber, ganz abgesehen davon, daß er »ein Rentier« ist, tummelt<br />

sich gern in einer Sprachregion, in <strong>de</strong>r ihm die geschraubte Wendung wie angegossen<br />

sitzt. Nicht weniger unmöglich ist es, <strong>de</strong>n Hausmeister Kajetan, <strong>de</strong>r doch gewiß eine dialektische<br />

Färbung verträgt, in <strong>de</strong>r gewen<strong>de</strong>ten Opernpathetik <strong>de</strong>s Terzetts die Worte hervorbringen<br />

zu lassen: »Du gibst ma <strong>de</strong>n Glaubn an die Menschheit zurück!« Warum nicht<br />

gleich »zruck«? Doch wenn es ihm gelingt, sich auf die Stelzen <strong>de</strong>r Wendung zu schwingen,<br />

so trifft er es auch, »mir« zu sagen, <strong>das</strong> ja in <strong>de</strong>r Variation »Sie gab mir <strong>de</strong>n Glaubn<br />

an die Menschheit zurück« mit Recht, vielleicht auch mit Absicht, stehengeblieben ist.<br />

Aber selbst ohne <strong>das</strong> angemaßte Imperfektum war genug Hochstapelei <strong>de</strong>r Zunge vorhan<strong>de</strong>n,<br />

um — nebst <strong>de</strong>r stören<strong>de</strong>n Dialektnuance »Glaubn« — <strong>das</strong> »ma« auszuschließen, welches<br />

doch auch in <strong>de</strong>r realistischen Sprache ein Lautbild liefert, <strong>das</strong> <strong>de</strong>m phonetischen<br />

Zweck keineswegs gerecht wird. Das Plus ergibt hier ganz gewiß ein Minus, <strong>und</strong> wie die<br />

»ua« — es wäre <strong>de</strong>nn in Reimen wie »gnua <strong>und</strong> Ruah«, wo <strong>de</strong>rgleichen ja mitfließt — nur<br />

<strong>de</strong>r Berliner Aussprache <strong>de</strong>s Wienerischen nachhelfen, so fatal ist es, <strong>de</strong>m Stubenmädchen<br />

Lisette, die sprachlich ein Produkt ihrer Romanlektüre ist <strong>und</strong> ganz gewiß nicht singt: »Aa<br />

mir segn uns später, i muaß mi jetzt 'sküsiern«, die Worte in <strong>de</strong>n M<strong>und</strong> zu legen: » ... umsonst<br />

is Sei Zorn«. Das mutet wie<strong>de</strong>r eher jüdisch an, wie ferner »Gutscher« statt »Kutscher«<br />

sächsisch. Durch <strong>das</strong> Verfahren <strong>de</strong>r sprachlichen Verifizierung, die <strong>Nestroy</strong> auch an<br />

<strong>de</strong>n Figuren, <strong>de</strong>ren Wort in <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Nie<strong>de</strong>rung befangen bleibt, nicht für<br />

wichtig gehalten, son<strong>de</strong>rn mit Recht <strong>de</strong>m Schauspieler überlassen hat — da sich <strong>de</strong>r große<br />

Nuancenreichtum <strong>de</strong>s Wiener Dialekts ja unmöglich graphisch erschöpfen <strong>und</strong> festlegen<br />

läßt <strong>und</strong> je<strong>de</strong>r Versuch <strong>de</strong>r Festlegung nicht Hilfe, son<strong>de</strong>rn Schranke be<strong>de</strong>utet —, durch<br />

dieses Verfahren wird wahrscheinlich ein gut Teil <strong>de</strong>r spezifisch <strong>Nestroy</strong>schen Sprachwirkung<br />

aufgelöst wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> vieles ganz um Sinn <strong>und</strong> Seele kommen. Dies mit <strong>de</strong>r gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />

Wichtigkeit, die es hat, auszusprechen, ist mir umso unerläßlicher, als eine Arbeit<br />

Leopold Lieglers, abgesehen von <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Umstän<strong>de</strong>n ihrer Veröffentlichung,<br />

scheinbar mit vollem Recht mit mir <strong>und</strong> meiner Auffassung <strong>Nestroy</strong>s in Zusammenhang gebracht<br />

wird. In Wahrheit nur mit <strong>de</strong>m Recht einer Ahnungslosigkeit, welche an mein Nichtwissen<br />

um die Tatsache hinanreicht, daß Lieglers Fleiß <strong>de</strong>r lückenlosen Anwendung dieser<br />

Metho<strong>de</strong> oblag; wohl habe ich aus <strong>de</strong>ren Be<strong>de</strong>nklichkeit im Allgemeinen ihm gegenüber<br />

kein Hehl gemacht, ohne aber je einer Probe ansichtig zu wer<strong>de</strong>n, an <strong>de</strong>r mir die Gefahr<br />

für <strong>das</strong> Wesentliche offenbar gewor<strong>de</strong>n wäre. Ich kann nur, da ich sie am ersten Druck auf<br />

<strong>de</strong>n ersten Blick, nun doch zu spät, erkannt habe, wünschen, daß er auf diesen Radikalismus<br />

einer philologischen Absicht, <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>r fast so stark ist wie die sittliche Reinheit, die<br />

er an ihren Dienst wen<strong>de</strong>t, für die weiteren Bearbeitungen verzichte o<strong>de</strong>r sich stark genug<br />

fühle, ihre geistige Berechtigung theoretisch zu verteidigen. [KK]


schen Musik die Guschelbauerklänge »Weil i a alter Drahrer bin« rauschend<br />

anhub, zu <strong>de</strong>nen man sich doch wie<strong>de</strong>r eher eine Erscheinung, die <strong>de</strong>n Stößer<br />

schwenkt, gedacht hätte. Ein Einfall, so bunt wie dürftig, so sinnig wie schäbig,<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n künstlerischen Begebenheiten gleich zauberhaft<br />

enthüllte, gera<strong>de</strong>zu <strong>de</strong>n Vorsatz <strong>Nestroy</strong>s <strong>und</strong> aller Genien <strong>de</strong>s Hauses<br />

musikalisch illustrierte, sich im Grab umzudrahn, <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Kritiker <strong>de</strong>r<br />

Reichspost die Anerkennung einer zwar etwas kühnen, aber nicht üblen »Anachronie«<br />

abgewann, während ich mich still grämte, daß da nicht schon lieber<br />

die Begleitmusik von <strong>de</strong>r Resitant genommen war. Durchaus zufrie<strong>de</strong>n war jener<br />

mit Herrn Zeska, nicht nur als <strong>de</strong>m Regisseur von solcher I<strong>de</strong>enfülle, son<strong>de</strong>rn<br />

auch als Darsteller <strong>de</strong>s »naturgetreu gejü<strong>de</strong>lten Hausierers«. Denn eben<br />

darauf, also auf die abgetakelte Charge, die schon <strong>de</strong>n Hitler zum Philosemiten<br />

machen müßte, kommt es in <strong>de</strong>r Szene <strong>de</strong>s Loshan<strong>de</strong>ls bekanntlich an,<br />

<strong>und</strong> nicht etwa darauf, daß die Geisterwelt einen Versucher schickt. Den vermöchte<br />

Herr Zeska freilich we<strong>de</strong>r darstellerisch zu bewältigen noch regiemäßig<br />

in die Handlung einzustellen, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r dreifache Lotterietreffertraum zur<br />

Einfältigkeit wird, wenn <strong>de</strong>r Zufall so sich mit einer realistischen Figur verknüpft,<br />

die ihre zweifelhafte Komik im singen<strong>de</strong>n Abjü<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Losnummern<br />

betätigt. Der <strong>Burgtheater</strong>regisseur <strong>Nestroy</strong>s, <strong>de</strong>r dies Genre je<strong>de</strong>nfalls <strong>de</strong>m<br />

neuen Kurs zuliebe pflegt, weiß mit einem solchen, wenngleich stummen Hausierer<br />

auch eine Straßenszene im »Jux« zu beleben, wodurch er sich freilich<br />

<strong>das</strong> Verdienst erwirbt, die Aufmerksamkeit von <strong>de</strong>n Sprechern abzulenken;<br />

<strong>de</strong>nn mit <strong>de</strong>r Heiterkeit, die ein die Passanten in <strong>de</strong>n La<strong>de</strong>n zerren<strong>de</strong>r Jud erweckt,<br />

können es selbst die Komiker <strong>de</strong>s <strong>Burgtheater</strong>s nicht aufnehmen. Und<br />

wer unter diesem Publikum <strong>und</strong> seiner geistigen Elite wür<strong>de</strong>, da er eine geisterhafte<br />

Überhöhung <strong>de</strong>r Szene ja doch nicht spürte, sie im <strong>Burgtheater</strong> anno<br />

1924 vermissen? Selbst die im Natürlichen seßhafte Begabung, die sich episodisch<br />

hin <strong>und</strong> wie<strong>de</strong>r anzeigt o<strong>de</strong>r noch von früher vorhan<strong>de</strong>n ist, wird durch<br />

solche Führung gehemmt, wie etwa Fräulein Seidler als Peppi, die im Gespräch<br />

mit einem an<strong>de</strong>rn Knieriem wohl <strong>das</strong> Zeug hätte zur herzigen Ahnungslosigkeit<br />

<strong>de</strong>r Gestalt, die da »nicht an <strong>de</strong>n Kometen glaubt« <strong>und</strong> infolge<strong>de</strong>ssen<br />

»Augen machen wird«. Zu schmächtig für die Explosionen <strong>de</strong>s Vaters<br />

Hobelmann in <strong>de</strong>r berühmten Briefszene, hat Herr Moser doch als einer <strong>de</strong>r<br />

spärlichen <strong>Burgtheater</strong>reste echte sprachliche Politur. Ein gutes Bild machen<br />

auch die Darstellerinnen <strong>de</strong>r Familie Palpiti: Frau Lewinsky, ehe<strong>de</strong>m Gattin<br />

<strong>de</strong>s großen Namensträgers, heute nicht nur im Abstand <strong>de</strong>r dürftigen Generation,<br />

son<strong>de</strong>rn durch gereiftes Können <strong>de</strong>r edlen Erbschaft wert; Fräulein Glossy,<br />

die als Camilla bloß nicht durch italienischen Akzent, son<strong>de</strong>rn durch gestelztes<br />

Hoch<strong>de</strong>utsch vor <strong>de</strong>m Zwirn die Purkersdorferin kaschieren müßte,<br />

<strong>de</strong>r er dann schon die »wällische Aussprache« glauben wird; Fräulein Percy,<br />

ein parodistisches Talent, <strong>de</strong>ssen Schärfe man aber auch zur Zerstörung <strong>de</strong>s<br />

Köhlerhüttenzaubers im »Alpenkönig« beitragen läßt. Hauptsächlich durch<br />

sie war <strong>das</strong> Quodlibet <strong>de</strong>r erträglichste Moment <strong>de</strong>r Aufführung, wiewohl<br />

auch hier — vermutlich weil <strong>das</strong> dreifache Durchhalten <strong>de</strong>r Operntravestie<br />

nicht zu erlangen war — <strong>Nestroy</strong> verfälscht wur<strong>de</strong>, teils durch Benützung seiner<br />

an<strong>de</strong>ren Quodlibets (Motiv: Bin ich nicht a schöner Kerl Kerl Kerl, g'wachsen<br />

wie a Pfeifenröhrl —röhrl —röhrl), teils wohl auch durch frem<strong>de</strong> Zutat<br />

<strong>und</strong> in<strong>de</strong>m die Regie sich <strong>de</strong>n geschmackigen Einfall nicht versagte, die<br />

Selbstherrlichkeit <strong>de</strong>s theatralischen Unsinns mit einem noblen Straußwalzer<br />

zu krönen. Herr Auernheimer, <strong>de</strong>r nebst vielem an<strong>de</strong>rn nicht zu wissen<br />

scheint, daß diese Quodlibets, als Text nicht lesbar, als musikalischer Abschluß<br />

<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Wirrnis einer Situation erlösen<strong>de</strong> Purzelbaum waren <strong>und</strong><br />

15


durchaus zum <strong>Nestroy</strong>theater gehörig, ta<strong>de</strong>lt, daß dies »nicht mehr <strong>Nestroy</strong>,<br />

son<strong>de</strong>rn Offenbach« sei. Welch ein Ta<strong>de</strong>l! Sich aber in seiner eigenen Meinung<br />

nicht auskennend, fin<strong>de</strong>t er sowohl, daß »die Verse stumpfsinnig« seien,<br />

wie daß »die Geisteskraft <strong>de</strong>s Dichters uns am En<strong>de</strong> auch über solche Geschmacksentgleisungen<br />

<strong>de</strong>r Regie hinwegträgt«. Aber es war weiß Gott ihre<br />

geringste, sich einmal halbwegs an <strong>de</strong>n Stumpfsinn <strong>de</strong>s Dichters zu halten,<br />

wenn sie doch sonst nichts tat, als seine Geisteskraft durch ein Übermaß an<br />

Geschmack zu verleugnen. Kaum daß die o<strong>de</strong>r jene Episo<strong>de</strong> von Theaterluft<br />

angeweht war, wie <strong>de</strong>r Maler <strong>de</strong>s Herrn Huber (<strong>de</strong>r als »Weinberl« nach ihr<br />

schnappen muß <strong>und</strong> Erleichterung nur vom Schatten <strong>de</strong>s Herrn Treßler empfängt);<br />

während in <strong>de</strong>r gleichen Szene <strong>de</strong>m Herrn Sey<strong>de</strong>lmann an <strong>de</strong>m einen<br />

Satz <strong>de</strong>s Fleischermeisters sofort anzumerken war, daß er eine Generation<br />

von Schauspielern herangebil<strong>de</strong>t hat. Und da solch seltene Gelegenheit theatralischer<br />

Betrachtung <strong>das</strong> Gewissen zum Ausdruck <strong>de</strong>ssen zwingt, was <strong>de</strong>r<br />

Blick festhielt, <strong>und</strong> weil mir nun einmal ein Apostroph, <strong>de</strong>r übers Weltmeer<br />

kommt, beträchtlicher erscheint als ein Zeppelin, wenigstens in <strong>de</strong>m Sinne,<br />

daß die Menschheit jenem weit weniger noch als diesem gewachsen sein dürfte,<br />

so möchte ich schließlich auf <strong>de</strong>n »ersten Bedienten« <strong>de</strong>s Herrn Moncza<br />

hinweisen, <strong>de</strong>r wie <strong>das</strong> alte <strong>Burgtheater</strong> aussieht, <strong>das</strong> Arnsburgtheater <strong>und</strong><br />

mir in <strong>de</strong>r Bühnenluft weit zuständiger vorkommt als etwa die Gestalt <strong>de</strong>s<br />

Herrn Karlheinz Martin, die, für <strong>Nestroy</strong> noch nicht bemüht, vor jenem Eingang<br />

<strong>de</strong>r Entwicklung steht, welcher <strong>de</strong>n dort Beschäftigten lei<strong>de</strong>r nicht verboten<br />

ist. Alles in allem (<strong>und</strong> ehe mich besagte Entwicklung zu einem Seitenblick<br />

nötigt), möchte ich die unter <strong>de</strong>n k<strong>und</strong>igen Thebanern erörterte Doktorfrage,<br />

ob <strong>Nestroy</strong> ins <strong>Burgtheater</strong> gehört, nach meinen Eindrücken immerhin<br />

so beantworten, daß er dorthin gehören wür<strong>de</strong>, wenn ihn dort die Schauspieler<br />

<strong>de</strong>s Lustspieltheaters, die ich an <strong>de</strong>r Arbeit von »Eine Wohnung zu vermieten«<br />

gesehen habe, aufführen wollten <strong>und</strong> Herr Jarno die Regie hätte. Da<br />

wäre noch etwas wie ein Zusammenhang mit <strong>de</strong>m Element <strong>de</strong>r Dichtung gegeben<br />

o<strong>de</strong>r durchsetzbar, <strong>und</strong> wenn heute schon nicht gera<strong>de</strong> die gebieten<strong>de</strong><br />

Geste vorrätig wäre, mit welcher die nach <strong>de</strong>m Firmament weisen<strong>de</strong> <strong>und</strong> ein<br />

G'mischt's herbeiwinken<strong>de</strong> Gestalt <strong>Nestroy</strong>s bildhaft überliefert ist, <strong>de</strong>r Rüpel<br />

von Shakespearescher Unform, <strong>de</strong>r tief ins Glas blickt, um die Sterne zu betrachten,<br />

stän<strong>de</strong> doch bei Herrn Sachs wie bei Herrn Kneidinger statt eines<br />

Thaddädls da, ganz an<strong>de</strong>rs dränge dieses Schusterbasses Gr<strong>und</strong>gewalt zu Planeten<br />

<strong>und</strong> Kometen, <strong>und</strong> um <strong>und</strong> durch solchen Mittelpunkt wäre nicht die<br />

Langeweile zu spüren, die manche kritische Stimme zu bekennen nicht umhin<br />

konnte <strong>und</strong> die gleich beim Aufgehen <strong>de</strong>s Vorhangs als ein Zauberrahmen fixiert<br />

schien, in<strong>de</strong>m sich die Drohung »Wir wer<strong>de</strong>n euch schon Mores lehren«<br />

gegen diejenigen richtete, die vom heutigen <strong>Burgtheater</strong> mehr als solche verlangen,<br />

nämlich Humores. Denn es treibt sich ein böser Geist im Land herum,<br />

<strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Herzen unserer Söhne bemächtigt <strong>und</strong> sie vom Pfa<strong>de</strong> einer Ordnung<br />

gelockt hat, die <strong>das</strong> Unzulängliche Ereignis wer<strong>de</strong>n läßt. Wenn dieser<br />

böse Geist nicht gebannt wird, son<strong>de</strong>rn im Gegenteil <strong>de</strong>r Vorstellung <strong>de</strong>s<br />

»Lumpazivagab<strong>und</strong>us« beiwohnt, sind sie verloren <strong>und</strong> allen möglichen Erkenntnissen<br />

über die Lage <strong>de</strong>s heutigen Theaters zugänglich, die weiß Gott<br />

kein lustiges Elend ist.<br />

Denn was Schauspieler noch da <strong>und</strong> dort an Natur mitbringen mögen,<br />

um sie in die <strong>de</strong>s dramatischen Wortes, diesem <strong>und</strong> sich selbst zum Frommen,<br />

eingehen zu lassen, wird ihnen heillos wegbanalisiert <strong>und</strong> hinausdilettiert, so<br />

daß eine Wendung, die je<strong>de</strong>s Versatzstück beleben müßte, aus ihrer Luft <strong>und</strong><br />

Lyrik gerissen, zur Not die Funktion <strong>de</strong>r Aussage erlangt, <strong>de</strong>r recht o<strong>de</strong>r<br />

16


schlecht betonten, was dann schon gehupft wie gesprungen o<strong>de</strong>r auch geballt<br />

wie gestuft ist. Nichts bleibt als die Wortfassa<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>ren ö<strong>de</strong>n Fensterhöhlen<br />

<strong>das</strong> Grauen wohnt, <strong>und</strong> oft nicht einmal die. Während <strong>de</strong>r schöpferische<br />

Schauspieler <strong>das</strong> Wortgebil<strong>de</strong> eines Zeilenschiebers zu einem Shakespearevers<br />

macht, verfährt <strong>das</strong> Durchschnittstheater, in epigonischer o<strong>de</strong>r modischer<br />

Zurichtung, gera<strong>de</strong> umgekehrt. Und diesem am Uferlosen einer fragwürdigen<br />

Natürlichkeit gestran<strong>de</strong>ten Unwesen sind ohne Erfolg nacheinan<strong>de</strong>r<br />

zwei Helfer erstan<strong>de</strong>n: ein Aufmischer, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Shakespeare ausdichten<strong>de</strong><br />

<strong>und</strong> zu En<strong>de</strong> dichten<strong>de</strong> Kunstgewerbler, <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>s trockenen Tones satt, ihn<br />

beibehielt, aber je<strong>de</strong>n Gedanken zur szenischen Gebrauchsanweisung machte<br />

<strong>und</strong> in <strong>de</strong>n Text himmlische Rosen zu flechten <strong>und</strong> zu weben begann, was sehr<br />

viel Geld kostete; <strong>und</strong> <strong>de</strong>r expressionistische Fortinbras, auf so bunten Trümmern<br />

die Herrschaft antretend, <strong>de</strong>r aber, zeittechnisch verb<strong>und</strong>en, sich gleich<br />

entschloß, Hamlets Grab als Ba<strong>de</strong>wanne einzurichten, um die Sün<strong>de</strong>n einer<br />

geborstenen Welt abzuwaschen, <strong>und</strong> die Leichenschau, von <strong>de</strong>r höchsten Stufe<br />

einer Treppe abzuhalten, doch mit nacktem Oberleib, da ja nur so <strong>de</strong>r Gedanke,<br />

daß <strong>de</strong>r Mensch nackt geboren sei, auch <strong>de</strong>m durch Valuten zerstreutesten<br />

Zuschauer zur Vorstellung gebracht wer<strong>de</strong>n könnte. Was <strong>de</strong>n Text betrifft,<br />

so traf er noch Vorsorge, <strong>de</strong>r durch die naturalistische Entwicklung eingerissenen<br />

Zuchtlosigkeit durch <strong>das</strong> Tempo <strong>de</strong>s Stechschritts aufzuhelfen <strong>und</strong><br />

die Dilettanten durch Rekruten zu ersetzen, <strong>de</strong>m preußischen Reglement entsprechend<br />

nicht ohne leichte Betonung <strong>de</strong>r gleichgeschlechtlichen Mannszucht.<br />

Det Janze aber mit <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m unvermeidlichen Untergang <strong>de</strong>s<br />

Abendlan<strong>de</strong>s bezogenen Sicherheit, daß alles, was die Zeit bietet <strong>und</strong> was im<br />

»Querschnitt« <strong>de</strong>r Gehirne die Impotenz kubisch erhöht zeigt, nun mal auch<br />

auf <strong>das</strong> Theater gehört <strong>und</strong> daß schließlich nicht wir Regisseure für <strong>de</strong>n Humbug<br />

verantwortlich sind, son<strong>de</strong>rn die Zeit, <strong>de</strong>ren Betonfestigkeit uns über alle<br />

Wortproblematik hinweghilft, <strong>de</strong>ren amoralische, dynamoralische Tüchtigkeit<br />

unsere stärkste Hilfe ist gegen die Betriebsstörung durch jene Epigonen, die<br />

noch heute auf <strong>de</strong>m Schein bestehen, <strong>de</strong>n sie für <strong>das</strong> Wesen in Kunst <strong>und</strong> Natur<br />

halten. Warum sollte man in einer Zeit, wo <strong>das</strong> Theater tot ist, nicht wenigstens<br />

<strong>de</strong>n Leichnam obduzieren <strong>und</strong> dafür Entree einheben? Warum sollte<br />

man, wo nichts an<strong>de</strong>res mehr zu schauen ist, nicht <strong>das</strong> Gedärm <strong>und</strong> Gestänge<br />

herzeigen? Warum <strong>de</strong>m seine Kin<strong>de</strong>r verschlingen<strong>de</strong>n Zeitgott nicht <strong>de</strong>n uniformen<br />

Altar errichten, zu welchem ein zwischen Haarmann <strong>und</strong> Bubikopf orientierter<br />

Sinn auf Zwischenstufen gelangt? Und warum nicht auch die proletarischen<br />

Erben einer erledigten Kultur siebenmal in <strong>de</strong>r Woche in <strong>das</strong> Totenhaus<br />

zerren, wo <strong>de</strong>r sieghafte Ingenieur o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r als Ingenieur verklei<strong>de</strong>te Literat<br />

ihnen vor Augen führt, wie er <strong>de</strong>n Kunstmord vollzogen hat? Warum<br />

sollten sie, wenn sie schon generationsweise in <strong>de</strong>r Schnapsbu<strong>de</strong> auf die<br />

Genüsse <strong>de</strong>s Guckkastens verzichten mußten, ihren Eintritt in die Kultur nicht<br />

gleich als <strong>de</strong>n in die Raumbühne feiern?<br />

So, zwischen <strong>de</strong>n Polen einer zeitlosen Impotenz, die zum Wortwesen<br />

nicht mehr vordringen kann <strong>und</strong> darum die Oberfläche verkünstelt, <strong>und</strong> einer<br />

Gewalttätigkeit, die es an <strong>de</strong>r Wurzel angreift, um es durch einen schwin<strong>de</strong>lhaften<br />

Zeitbegriff zu ersetzen, wird die <strong>de</strong>naturierte Welt <strong>de</strong>s heutigen Theaters<br />

hin— <strong>und</strong> hergeworfen <strong>und</strong> nichts bleibt als die Hoffnung, daß <strong>de</strong>r Überdruß<br />

einer verwirrten K<strong>und</strong>schaft, <strong>de</strong>n vorläufig noch die Amüseure bändigen,<br />

daß <strong>de</strong>r allgemeine Krach einer innen <strong>und</strong> außen entehrten, auf die trübste<br />

Entwürdigung ihrer Teilnehmer angewiesenen Sphäre irgen<strong>de</strong>inmal reines<br />

Podium mache. Wohl wäre es mein Recht <strong>und</strong> meine Pflicht, wie <strong>de</strong>r Verlie<strong>de</strong>rlichung<br />

<strong>de</strong>s <strong>Nestroy</strong>schen Kleeblatts durch <strong>das</strong> <strong>Burgtheater</strong> auch <strong>de</strong>m<br />

17


apartem Mißbrauch, <strong>de</strong>r jetzt mit We<strong>de</strong>kinds Franziska getrieben wird, entgegenzutreten,<br />

<strong>de</strong>m entfesselten Mumpitz, <strong>de</strong>r ja an <strong>und</strong> für sich noch weit abstoßen<strong>de</strong>r<br />

ist als <strong>de</strong>r konventionelle Unfug; <strong>de</strong>r Dissolution geistigen Bestan<strong>de</strong>s,<br />

die <strong>de</strong>n Verfall als letzten Trumpf spielt, während die geistige Insolvenz<br />

zwar hinhalten, aber nicht betrügen kann. Doch mein Übermaß an Fähigkeit,<br />

theatralische Eindrücke zu empfangen, zwingt mich, ihnen wenigstens dann<br />

aus <strong>de</strong>m Wege zu gehen, wenn die Entfesselung <strong>de</strong>n Zuschauer in todsichere<br />

Mitlei<strong>de</strong>nschaft risse, wo die an<strong>de</strong>rn doch zuschauen wollen, da sie dafür<br />

dankbar sind, daß ihnen eine Jazzband nicht nur die Zeit, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>s<br />

Dichters Wort totschlägt. Vor dieser Schiebermusik schützt <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r noch Ohren<br />

hat, nicht zu hören, nichts als daß er sie sich zuhält, <strong>und</strong> wenn <strong>das</strong> ganze<br />

Ungeziefer <strong>de</strong>s Fortschritts auf <strong>de</strong>m Laufen<strong>de</strong>n wäre, <strong>de</strong>r Mut: es laufen zu<br />

lassen, je<strong>de</strong>n Tag, <strong>de</strong>r einem mit tausend Adjektiven <strong>de</strong>s Chaos die Zurückgebliebenheit<br />

attestiert, zu verschlafen <strong>und</strong> also noch treuer im Sachlichen, <strong>und</strong><br />

Geistigen zu beharren. Aber welcher Ernst, <strong>de</strong>r es gegen die Vergänglichkeit<br />

dieses Treibens mit <strong>de</strong>r Beständigkeit <strong>de</strong>s Wesens hält, <strong>das</strong> davon negiert<br />

wird, wäre ernsthaft genug, dieser wirken<strong>de</strong>n Ohnmacht zu imponieren, einer<br />

intellektuellen Anarchie, die nicht <strong>de</strong>r Ordnung <strong>de</strong>r Gesellschaft <strong>das</strong> Maß ihrer<br />

Freiheit, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Ordnung <strong>de</strong>r Naturkräfte <strong>das</strong> System ihrer Schwäche<br />

entgegenhält? Welcher Ernst vermöchte vor <strong>de</strong>m Selbstspott einer Skepsis<br />

zu bestehen, die sich keinen bessern Kronzeugen weiß als eben <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r<br />

am wenigsten von ihr wissen will? Da erfahre ich zunächst, daß <strong>de</strong>r szenische<br />

Unfug, zu <strong>de</strong>m sich die Wesenlosigkeit rettet <strong>und</strong> <strong>de</strong>r stolz darauf ist, ein<br />

»Zeitdokument« zu sein (als <strong>das</strong> selbst ich ihn doch nicht leugne), seiner I<strong>de</strong>e<br />

nach »<strong>das</strong> symbolische Gerüst eines Weltbil<strong>de</strong>s« ist, nämlich »die Bühne einer<br />

politischen Generation, die keine Privatangelegenheiten kennt <strong>und</strong> kein Geschehen<br />

an<strong>de</strong>rs als in seinem Verhältnis zum Ganzen <strong>de</strong>r Gesellschaft erleben<br />

<strong>und</strong> begreifen kann« (wozu ihr die Mitarbeit an <strong>de</strong>r Tratschpresse eben nicht<br />

genügt); daß er <strong>de</strong>r »Ausdruck eines steten Totalitätsbewußtseins« einer »be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n<br />

intellektuellen Generation« ist, <strong>das</strong> »Weltbild <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Intellektuellen«,<br />

die »Bühne <strong>de</strong>r anarchistischen Ironie«, <strong>de</strong>ren »Hinterdiekulissenschauen<br />

Weltanschauung ergibt, die Weltanschauung <strong>de</strong>r ironischen Skepsis«,<br />

<strong>und</strong> nicht, wie man meinen wür<strong>de</strong>, <strong>de</strong>s Neuen Wiener Journals. Welcher<br />

Dramatiker wäre nun heute so ganz geeignet für alle diese Möglichkeiten <strong>de</strong>r<br />

Weltanschaubühne <strong>und</strong> für welches Dramatikers Möglichkeiten diese, daß sie<br />

einan<strong>de</strong>r nichts schuldig bleiben? Denn man darf nicht etwa meinen, daß <strong>de</strong>r<br />

F<strong>und</strong>us <strong>de</strong>r Weltanschaubu<strong>de</strong> einfach die Klischees <strong>de</strong>s neuen Literaturjargons<br />

als Versatzstücke enthält, son<strong>de</strong>rn er muß, da <strong>das</strong> von ihnen verwaltete<br />

Weltbild doch ein chaotisches ist, gera<strong>de</strong> diesem Charakter Rechnung tragen:<br />

All diese Galerien <strong>und</strong> Stiegen, diese absichtlich wirren Linien zufälliger<br />

Richtungen haben keine konkrete <strong>und</strong> präzise Be<strong>de</strong>utung<br />

<strong>und</strong> stellen zwar ein Weltbild vor, aber es ist <strong>das</strong> abstrakte <strong>und</strong><br />

chaotische Bild einer in banger Hysterie erlebten, unbegreiflichen,<br />

unbezwingbaren Umwelt.<br />

Dazu brauchts aber doch, da <strong>das</strong> Gestänge allein noch nicht diesen Alpdruck<br />

vermittelt, <strong>de</strong>s Dramatikers. Auch die Weltanschauspieler müssen etwas zu<br />

tun bekommen. Und wiewohl die Raumbühne hauptsächlich <strong>de</strong>r Entfesselung<br />

ihres durch Jahrh<strong>und</strong>erte zurückgehaltenen Temperaments dient <strong>und</strong> <strong>de</strong>ssen<br />

Souveränität über <strong>das</strong> Dichterwort einweihen soll (woran völlig mißverstan<strong>de</strong>ne<br />

Aphorismen von mir schuld sind), so bedürfte sie doch einer textlichen Unterlage;<br />

<strong>de</strong>nn <strong>das</strong> fehlte noch, daß die Herrschaften, <strong>de</strong>ren Geistigkeit zulangt,<br />

<strong>de</strong>r Tratschpresse Auskunft zu geben, was sie zu Weihnachten bekom-<br />

18


men haben, auf <strong>de</strong>r Szene zu dichten beginnen. Also selbst die Raumbühne ist<br />

auf <strong>de</strong>n Autor angewiesen. Welcher Dramatiker wäre nun so recht geeignet,<br />

eine Weltanschauung, die durch <strong>das</strong> Hinterdiekulissenschauen befriedigt<br />

wird, mit einem Wort die <strong>de</strong>r ironischen Skepsis zu bedienen? Diese stellt Anfor<strong>de</strong>rungen:<br />

Damit, daß die Bühne die Mache zeigt, spricht die Bühne selbst<br />

ihr spöttisches Urteil über die dargestellte Szene, bevor <strong>de</strong>r Dichter<br />

noch zu Wort kommen kann, <strong>und</strong> sagt: »Seht, es ist nur Mache,<br />

<strong>und</strong> wäre auch an<strong>de</strong>rs möglich.« Aber eben dieses »es wäre<br />

auch an<strong>de</strong>rs möglich« ist die Betrachtungsweise <strong>de</strong>s Revolutionärs,<br />

<strong>de</strong>r die einzig gültige Notwendigkeit <strong>de</strong>s Bestehen<strong>de</strong>n nicht<br />

anerkennt.<br />

Auch nicht die Notwendigkeit <strong>de</strong>ssen, was er dafür setzt; <strong>und</strong> ich hatte geglaubt,<br />

daß die Betrachtungsweise <strong>de</strong>s Revolutionärs in einem »es ist nur an<strong>de</strong>rs<br />

möglich« zum Ausdruck komme. Der echte Revolutionär aber zweifelt<br />

nicht nur an <strong>de</strong>r Guckkastenbühne, son<strong>de</strong>rn auch an <strong>de</strong>r Raumbühne. Und<br />

welcher Dramatiker könnte heute von sich sagen, daß diese Gesinnung so<br />

recht sein Fall ist? Welcher wäre von Natur <strong>de</strong>r Entlarvung seiner Mache zugänglich<br />

<strong>und</strong> ihrer würdig? Welcher hätte <strong>und</strong> wäre für eine Bühne geschaffen,<br />

die, bevor er noch zu Wort kommen kann, ihn schon zum Hanswurst<br />

macht? Wessen Wortschöpfung trüge dieses »es wäre auch an<strong>de</strong>rs möglich«<br />

an <strong>de</strong>r Stirn? Da braucht man weiß Gott nicht lange zu suchen:<br />

Endlich eine Bühne, auf <strong>de</strong>r Karl Kraus' »Letzten Tage <strong>de</strong>r<br />

Menschheit« würdig aufgeführt wer<strong>de</strong>n können!<br />

»Außer <strong>das</strong>!« pflegte man in solchen Fällen hinter <strong>de</strong>n Kulissen <strong>de</strong>r Guckkastenbühne<br />

zu sagen. Denn es gibt wirklich keinen Witz, <strong>de</strong>n einem die ironische<br />

Skepsis dieser Zeitläufte nicht von <strong>de</strong>r Zunge nehmen wür<strong>de</strong>. Ja, es stellt<br />

sich heraus, daß aus <strong>de</strong>r Pandorabüchse meines Werkes gera<strong>de</strong>zu die I<strong>de</strong>e<br />

<strong>de</strong>r Raumbühne aufgestiegen ist, daß <strong>de</strong>ren Einbau in die Guckkastenbühne<br />

<strong>de</strong>s Herrn Beer (<strong>de</strong>r sich die Weltanschauung zur Not aber auch mit einer<br />

Schlageroperette abkaufen ließe) ebenso eine Konzession be<strong>de</strong>utet wie die<br />

Marterung <strong>de</strong>r Franziska <strong>und</strong> daß <strong>de</strong>r eigentliche Erfin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Raumbühne<br />

nicht jene journalbekannte. Thespis war, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Prokrustes. Aber ich<br />

wer<strong>de</strong> nicht sein Bettgeher sein. Ich schaue nicht einmal zu. Ich <strong>de</strong>nke mir, es<br />

wäre auch an<strong>de</strong>rs möglich, <strong>und</strong> bleibe <strong>de</strong>m Ausdruck <strong>de</strong>s steten Totalitätsbewußtseins<br />

einer Generation, die keine Privatangelegenheiten kennt, fern. Unsereinem<br />

erübrigt da nichts, als sich nicht persönlich zu überzeugen, ob die<br />

»Letzten Tage <strong>de</strong>r Menschheit« für die Raumbühne geeignet sind, <strong>und</strong> <strong>de</strong>n<br />

Erregungen eines persönlichen Protestes für <strong>de</strong>n toten Fre<strong>und</strong> aus <strong>de</strong>m Wege<br />

zu gehen. Den Weltanschauten, die, weil ein We<strong>de</strong>kindsches Lustmotiv <strong>de</strong>r<br />

Zirkus war, ihm nun wirklich seine Gedanken dressieren wollen <strong>und</strong>, weil <strong>das</strong><br />

Leben eine Rutschbahn ist, diese auf die Bühne bauen — sie auch frei zu geben!<br />

Sei es <strong>de</strong>r dumme August, <strong>de</strong>r hinter We<strong>de</strong>kinds heroischem Denken etwas<br />

Sensation ergattern möchte <strong>und</strong> <strong>de</strong>n er mit seiner sanglantesten Erdgeistpeitsche<br />

unfehlbar aus <strong>de</strong>r Manege gejagt hätte — <strong>de</strong>nn ich sehe <strong>und</strong><br />

höre ihn eine Probe erlei<strong>de</strong>n —; sei es <strong>de</strong>r kleine Moriz <strong>de</strong>r Kulissenwelt, <strong>de</strong>r<br />

eine Spirale legen muß, wenn er zu seinem linken Ohr gelangen will, mit <strong>de</strong>m<br />

er die Zukunftsmusik hört — ich lebe <strong>de</strong>m sicheren Vertrauen darauf, daß diese<br />

Bestrebungen die Saisonbedürfnisse einer moralischen Anstalt nicht überleben<br />

wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> nicht die Ansprüche einer K<strong>und</strong>schaft, die noch auf absehbare<br />

Zeit froh sein wird, wenn ihr ein spaßiger Kommis ein Libretto mit Grafen,<br />

Zigeunern, Separee <strong>und</strong> Haute volée bietet, <strong>und</strong> mögen alle Tinterln <strong>de</strong>r<br />

19


Welt sich ihr als Zerbrecher <strong>de</strong>r alten Formen offenbaren. Und mögen die ahnungslosesten<br />

Schöpsen <strong>de</strong>r Kritik gleich jenem Reporter in »Franziska« fortschrittlich<br />

die Treppe hinaufkeuchen, um nicht zurückzubleiben — ich weiß,<br />

daß diese Bereitschaft mitzugehen eine Alterserscheinung ist, <strong>und</strong> nicht die<br />

Bereitschaft, stehen zu bleiben <strong>und</strong> aus solchem Schauturnen zum unabän<strong>de</strong>rlich<br />

<strong>und</strong> unverwelklich alten Inhalt zu fliehen.<br />

Und weil es sinnlos wäre, <strong>das</strong> Ärgernis, <strong>das</strong> ich mit weit empfindlicheren<br />

Zeitnerven spüre, als seine Vertreter haben, auch noch zu empfangen, um<br />

es zu nehmen, so blieb ich <strong>de</strong>r Gelegenheit fern <strong>und</strong> ließ es mir genug sein,<br />

die schwere Schädigung, die <strong>de</strong>m größten Dichter dieses Lan<strong>de</strong>s durch <strong>de</strong>ssen<br />

erste Bühne, die Herabsetzung, die ihrem eigenen An<strong>de</strong>nken wi<strong>de</strong>rfuhr,<br />

zu beklagen <strong>und</strong>, was nützlicher ist, zu beweisen. Denn wenn ich in <strong>de</strong>r Sache<br />

<strong>Nestroy</strong>s, <strong>de</strong>ssen Wie<strong>de</strong>rgeburt ohne meine Hilfe nicht erfolgt wäre, zum Einspruch<br />

gegen seine Tötung berufen bin, so war ich auch verpflichtet, ein Beispiel<br />

<strong>de</strong>r Kritik zu geben <strong>und</strong> mit einer Kennzeichnung <strong>de</strong>s Niveaus, auf <strong>de</strong>m<br />

hierzulan<strong>de</strong> geurteilt wird, <strong>de</strong>r adjektivisch verbrämten Unwissenheit ein Urteil<br />

entgegenzustellen. Die Theaterkritik <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Zentren <strong>de</strong>utscher Unkultur,<br />

Schulter an Schulter torkelnd <strong>und</strong> die Leserschaften in die Irre nachziehend,<br />

sich nachgera<strong>de</strong> gegenseitig übertreffend als <strong>de</strong>r Ausdruck ihres Bestrebens,<br />

um ihre tiefe Nichtbeziehung zum Theater hinwegzukommen — sie<br />

ist in Wahrheit schuld daran, daß <strong>das</strong> Theater selbst einer Beziehung zum<br />

Theater entbehrt, <strong>und</strong> die Schauspielerschaft von heute hat von ihren Altvor<strong>de</strong>rn<br />

nichts als <strong>de</strong>n Fluch übernommen, dies Geschäft, <strong>das</strong> innerlich nur mit<br />

eigensüchtigem Interesse an <strong>de</strong>m ihrigen beteiligt ist, zu fürchten, weil seine<br />

Handlanger sich von ihren eigenen Vorgängern wie<strong>de</strong>r dadurch unterschei<strong>de</strong>n,<br />

daß sie zwar »scha<strong>de</strong>n«, aber nicht nützen können. Es ist eine <strong>de</strong>r perversesten,<br />

aber unbestreitbarsten Erscheinungen <strong>de</strong>r Zeit, daß, von all <strong>de</strong>ren<br />

Selbstwirkung abgesehen, <strong>das</strong> Niveau <strong>de</strong>r Besprechung <strong>das</strong> Niveau <strong>de</strong>r Leistung<br />

gesenkt hat; daß die Dinge schief stehen, weil allzulange schon schiefe<br />

Blicke sie betrachten. Die ganze Nichtigkeit eines von Natur zweifelhaften Berufes<br />

wur<strong>de</strong> mir, seit<strong>de</strong>m ich in Berlin seine Ausübung an Berthold Viertels<br />

<strong>und</strong> meinem Werk mitgemacht habe, noch nie so klar wie an <strong>de</strong>m Literaturstreit<br />

<strong>de</strong>r Gruppen Kerr <strong>und</strong> Ihering, <strong>de</strong>r erst jüngst über <strong>de</strong>n Expressionismus<br />

entbrannt ist <strong>und</strong> von <strong>de</strong>m sich freuen<strong>de</strong>n Dritten kurz so geschlichtet<br />

wer<strong>de</strong>n könnte, daß er mit <strong>de</strong>m kleinen Finger bei<strong>de</strong> hinlegt. Und an <strong>de</strong>r Harmonie,<br />

die in Wien um <strong>Nestroy</strong> <strong>und</strong> <strong>Burgtheater</strong> verbreitet war. Zu so positiver<br />

Kritik wäre ein Nie<strong>de</strong>rreißer, <strong>de</strong>r nur wünschen kann, daß man es besser<br />

mache, nur sagen kann, wie es besser zu machen wäre, nur zeigen kann, daß<br />

er es besser macht, nie befähigt. »Die Bejahung allein ist es, die för<strong>de</strong>rt« sagt,<br />

mit <strong>de</strong>m Schielblick <strong>de</strong>r feigen Beziehlichkeit, <strong>de</strong>n <strong>das</strong> Totschweigen gestattet,<br />

einer für alle, <strong>de</strong>ren auf nichts als auf Beziehung gegrün<strong>de</strong>te Existenz allein<br />

schon die unerbittliche Verneinung alles Kunstbegriffs darstellt. Ich<br />

selbst will davon schweigen, daß mein Nie<strong>de</strong>rreißen, von so vielfachem an<strong>de</strong>rn<br />

Wirken abgesehen, eine weit exaktere Kunstübung bil<strong>de</strong>t als sämtlicher<br />

Aufbau, <strong>de</strong>r im Gebiet heutigen Wortschaffens vorrätig ist. Allein ich glaube<br />

jenem <strong>und</strong> seinesgleichen ein Beispiel gegeben zu haben mit <strong>de</strong>m Bekenntnis,<br />

daß ich die Belebung <strong>Nestroy</strong>s, an <strong>de</strong>r ich fast so beteiligt bin wie die Bejaher<br />

an seiner Schändung, mir an<strong>de</strong>rs vorgestellt habe, <strong>und</strong> mit <strong>de</strong>m Bewußtsein,<br />

daß ich sie ihnen an<strong>de</strong>rs vorzustellen vermöchte. Doch weil sie dieses mein<br />

Beispiel nur schlecht befolgen könnte, so hoffe ich noch lange nicht an <strong>de</strong>r<br />

Gelegenheit zu ermü<strong>de</strong>n, die Bejahung, die da för<strong>de</strong>rt, <strong>de</strong>m vorgestellten Wesen<br />

<strong>und</strong> Wert zuzuwen<strong>de</strong>n, aber <strong>de</strong>n Schein <strong>und</strong> Unwert, <strong>de</strong>r an seiner Sphä-<br />

20


e schmarotzt, zu verneinen, zu verhin<strong>de</strong>rn, <strong>und</strong> wenn es die Zeit, ihm hingegeben,<br />

verwehrte, <strong>de</strong>m Abscheu <strong>de</strong>r Nachwelt zu überliefern.<br />

Notizen<br />

Dem letzten Heft war die folgen<strong>de</strong> Notiz beigeschlossen:<br />

Zu S. 49:<br />

Nach Fertigstellung <strong>de</strong>s Heftes wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Verlag <strong>de</strong>r Fackel vom Vertreter<br />

<strong>de</strong>r Klage gegen Herrn Robert verständigt, daß dieser nach Einleitung<br />

<strong>de</strong>s Exekutionsverfahrens, also unmittelbar bevor die Pfändung <strong>de</strong>s Pachtschillings<br />

seiner bei<strong>de</strong>n Wiener Unterpächter erfolgt wäre, sich entschlossen<br />

hat, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Autor von »Traumtheater« <strong>und</strong> »Traumstück« gerichtlich zugesprochenen<br />

Tantiemenbetrag K 9.716.100 nebst <strong>de</strong>n bis zum Zahlungstag erwachsenen<br />

10 % Zinsen (vom 7. Mai bis 5. Dezember) K 579.600 <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Kosten<br />

K 1.261.000, die vom Klagevertreter Dr. Oskar Samek <strong>de</strong>m gleichen wohltätigen<br />

Zweck gewidmet sind, zu bezahlen, insgesamt (außer <strong>de</strong>n advokatorischen<br />

Barauslagen) <strong>de</strong>n Betrag von K 11.556.700, <strong>de</strong>r inzwischen auch erlegt<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Sammelstelle für die Hinterbliebenen <strong>de</strong>r Opfer <strong>de</strong>s Gloggnitzer<br />

Bergwerkunglücks zugeführt wur<strong>de</strong>.<br />

Demnach auf S. 54:<br />

Gesamtsumme seit Mitte Juli 1922: K 192.100.207.<br />

In Sprüche <strong>und</strong> Wi<strong>de</strong>rsprüche, S. 47, Z. 9 statt »eifersüchtigt«: eifersüchtig;<br />

S. 84, Z. 8 statt »daß«: <strong>das</strong>.<br />

In Nr. 668 — 675, S. 2, Z. 14 v. u. statt »zu«: zur; ebda., Z. 12 v. u. statt<br />

»genötig«: genötigt; S. 25, Z. 14 statt »Balletonkel«: Ballettonkel; S. 54, Z. 8<br />

v. u. statt »Rauhensteingasse«: Rathausstraße; S. 71, in <strong>de</strong>r Druckfehlerberichtigung,<br />

ist (gemäß einer Zeilenzählung, die die Titel berücksichtigt) zu lesen:<br />

Z. 19 statt »7«: 9 <strong>und</strong> Z. 11 v. u. statt »24« (welches ein Druckfehler statt<br />

»14« war): 15; ebda., Z. 18 v. u. statt »infame!«: infâme! <strong>und</strong> Z. 9 v. u. statt<br />

»6«: 6 v. u.; S. 84, Z. 17 statt »l'Humanite«: l'Hmanité; S. 115, Z. 12 statt »Pupurmantel«:<br />

Purpurmantel; S. 133, Z. 5 statt »Hofmanns«: Hoffmanns; S. 147,<br />

Z. 7 v. u. fehlt nach <strong>de</strong>m Gedankenstrich ein Komma.<br />

Festsaal <strong>de</strong>s lngenieur— <strong>und</strong> Architektenvereines, 6. Dezember, 7 Uhr:<br />

I. Gerhart Hauptmann: Hannele Matterns Himmelfahrt. Musik<br />

nach Angabe <strong>de</strong>s Vortragen<strong>de</strong>n.<br />

II. Traumstück. Musik von Heinrich Jalowetz.<br />

Begleitung: Dr. Viktor Junk.<br />

Die Hälfte <strong>de</strong>s Ertrags (inkl. Programmerlös): K 2.495.700 für <strong>das</strong> Blin<strong>de</strong>n—Erziehungs—Institut<br />

(Wien II., Wittelsbachstraße 5) <strong>und</strong> <strong>das</strong> Israelitische<br />

Blin<strong>de</strong>n—Institut Hohe Warte.<br />

*<br />

Kleiner Musikvereinssaal, 8. Dezember, 7 Uhr:<br />

Gerhart Hauptmann: Die Weber.<br />

21


Der volle Ertrag (inkl. Programmerlös): K 6.044.800 für die Weihnachtsaktion<br />

1924 <strong>de</strong>r Kriegsopfer im Rainer—Spital, Wien, XIII., <strong>und</strong> für Unterstützungsbedürftige.<br />

*<br />

Kleiner Konzerthaussaal, 13. Dezember, 7 Uhr:<br />

I. Höher gehts nimmer. — Warum vadient <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong> schneller <strong>und</strong><br />

mehr Jeld als <strong>de</strong>r Christ / Die Zauberlehrlinge / Jackie / Jung is er<br />

halt! / Die Thespis / Als ich in die österreichische Sektion <strong>de</strong>s Internationalen<br />

Schriftstellerklubs aufgenommen wer<strong>de</strong>n sollte / Ja<br />

was lacht mir <strong>de</strong>nn da / Ausgebaut <strong>und</strong> vertieft! — Ein kalter<br />

Schau<strong>de</strong>r über <strong>de</strong>n Rücken.<br />

II. Ein Spaßvogel / Ein Schwachkopf / Programm eines Hofmannsthal—Films<br />

— Alte Musik, neue Erkenntnisse. — Seeigeleies.<br />

III. Verbroigter Loibusch. — Das Mangobaumw<strong>und</strong>er.<br />

Ein Teil <strong>de</strong>s Ertrags (inkl. Programmerlös): K 566.800 wur<strong>de</strong> als Weihnachtsspen<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r Reichsanstalt für Mutter— <strong>und</strong> Säuglingsfürsorge (Prof. Dr.<br />

Moll, Wien, XVIII., Glanzinggasse 37 [ScheckKonto Nr. B 42.604]) zugeführt.<br />

Auf <strong>de</strong>m Programm die Erklärung:<br />

Dem neuen Heft <strong>de</strong>r Fackel ist — vor S. 49 — ein Zettel mit einer Notiz,<br />

die <strong>de</strong>n Abschluß <strong>de</strong>r Prozeßsache Robert mitteilt, beigelegt. Sonst nichts.<br />

Daß eine Anzahl Exemplare — 202 —, die am 11. Dezember in einer Buchhandlung<br />

verkauft wur<strong>de</strong>n, auch die Beilage <strong>de</strong>s illustrierten Prospekts eines<br />

Wiener Verlegers enthielten, ist keiner Absicht o<strong>de</strong>r Duldung <strong>de</strong>s Verlags <strong>de</strong>r<br />

Fackel, son<strong>de</strong>rn lediglich einem gutgemeinten Mißgriff <strong>de</strong>s Verkäufers zuzuschreiben.<br />

Daß die Fackel, wie keine Annoncen, auch keine Beilagen gegen<br />

Entgelt annimmt, ist bekannt. Dagegen könnte <strong>de</strong>r Käufer <strong>de</strong>s Heftes wohl<br />

glauben, daß sie eine <strong>Nestroy</strong>—Ausgabe propagieren wolle. Wäre dies <strong>de</strong>r<br />

Fall, so wür<strong>de</strong> sie <strong>de</strong>n Text <strong>de</strong>r Empfehlung selber bestimmen <strong>und</strong> keineswegs<br />

bei dieser Gelegenheit auch Anzengruber <strong>und</strong> Grillparzer mitempfehlen 1 . Je-<br />

1 Es hat sich um einen Prospekt <strong>de</strong>s Verlags Schroll, & Co. gehan<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>r nebst einer Anzeige<br />

seiner »Wiener Klassiker« die <strong>de</strong>r historisch—kritischen Gesamtausgabe von Fritz<br />

Brukner <strong>und</strong> Otto Rommel enthielt, von <strong>de</strong>r bis jetzt zwei Bän<strong>de</strong> erschienen sind. Diese<br />

Ausgabe scheint in manchem Punkt, soweit sie <strong>de</strong>r Verwahrlosung <strong>Nestroy</strong>s durch die bisherigen<br />

Drucke entgegenwirkt, zu einem verdienstvollen Werk zu erwachsen. Freilich<br />

zeigt sich auch hier, daß <strong>de</strong>r blin<strong>de</strong> Zufall — <strong>de</strong>r die handlichere Chiavacci—Ausgabe redigiert<br />

hat — mit allem, was er im weiten Gebiet <strong>de</strong>r Schlamperei <strong>und</strong> Druckerwillkür auszurichten<br />

vermag, gelin<strong>de</strong>res Unheil stiftet als <strong>de</strong>r literarhistorische Plan. Wohl haben die<br />

Herausgeber schon in <strong>de</strong>n ersten zwei Bän<strong>de</strong>n auch Tüchtiges an Textverbesserung geleistet.<br />

Aber wie bedauerlich ist es z. B., daß sie die sprachlich so unvergleichliche zweite<br />

Strophe im Knieriem—Entree <strong>de</strong>r Fortsetzung <strong>de</strong>s »Lumpazivagab<strong>und</strong>us« aus <strong>de</strong>m Text,<br />

<strong>de</strong>r hier wie auch sonst vielfach auf die schwächere Urfassung zurückgeht, in <strong>de</strong>n wissenschaftlichen<br />

Anhang verbannt haben, <strong>de</strong>r doch nur einer geringeren Beachtung teilhaft<br />

wer<strong>de</strong>n dürfte. Und was soll man zu <strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong>n, fast von einem <strong>Nestroy</strong>teufel erf<strong>und</strong>enen<br />

Abenteuer <strong>de</strong>r Wissenschaft sagen. »Der Tod am Hochzeitstage o<strong>de</strong>r Mann, Frau,<br />

Kind« heißt ein hier zum erstenmal veröffentlichtes Zauberspiel aus <strong>de</strong>m Jahr 1829, ein bis<br />

auf die Langwierigkeit <strong>de</strong>r Traumeinkleidung überaus köstlicher F<strong>und</strong>, für <strong>de</strong>n man <strong>de</strong>n<br />

Herausgebern dankbar sein muß. Mit jener großen Fachgenauigkeit nun, für die nur <strong>de</strong>r<br />

Fachmann dankt, wer<strong>de</strong>n hierzu, wie auch sonst, alle Quellen <strong>de</strong>r Textgestaltung, alle Zensurstriche<br />

u. dgl. im Anhang mitgeteilt. Dann folgt die Anmerkung: »Ein Einlegeblatt im<br />

Manuskript zeigt, daß eine zweite Fassung dieses Stockes vorhan<strong>de</strong>n war; es läßt sich<br />

aber lei<strong>de</strong>r nicht feststellen, ob diese Fassung je zur Aufführung kam. Das erhaltene Fragment<br />

lautet: — — « Folgt die ganz kurze Skizze einiger Szenen. Das Stück selbst, also die<br />

»erste Fassung«, en<strong>de</strong>t auf S. 217 <strong>de</strong>s Ban<strong>de</strong>s. Auf <strong>de</strong>m nächsten Blatt beginnt »Der konfuse<br />

Zauberer« (aufgeführt 1832), <strong>de</strong>r durch mehr als vierzig Seiten fast wörtlich <strong>de</strong>nselben<br />

Dialog enthält, <strong>de</strong>r, einzig mit <strong>de</strong>n durch die Personennamen (Dappschädl=Schmafu, Stixlmann=Konfusius<br />

etc.) bewirkten Verschie<strong>de</strong>nheiten <strong>und</strong> geringen Verschiebungen, Zelle<br />

für Zeile <strong>das</strong> gleiche Satzbild ergibt. Wenn dieses Stück wirklich nicht die »zweite Fas-<br />

22


<strong>de</strong>nfalls aber bleibt es ausschließlich <strong>de</strong>m Herausgeber <strong>de</strong>r Fackel überlassen,<br />

mit welchen Erscheinungen er in o<strong>de</strong>r neben <strong>de</strong>m Text <strong>de</strong>r Fackel die<br />

Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Vorstellung <strong>de</strong>s Lesers zu beschäftigen wünscht. Nichts,<br />

was er nicht selbst einfügt, hat in <strong>de</strong>r Fackel außer ihrem Text enthalten zu<br />

sein — nicht die Empfehlung Goethes, nicht <strong>Nestroy</strong>s, nicht seiner eigenen<br />

Schriften. Der gutgläubige <strong>und</strong> nachweislich selbstlose Irrtum jener Buchhandlung<br />

hat in dankenswerter Weise auf die Gefahr aufmerksam gemacht,<br />

daß die Praxis <strong>de</strong>r Beilegung von Literaturprospekten auch Verkäufern belieben<br />

könnte, <strong>de</strong>nen sich die Verleger, die beim Verlag <strong>de</strong>r Fackel eine solche<br />

Gunst nicht um Geld <strong>und</strong> nicht einmal umsonst zu erlangen vermöchten, hierfür<br />

dankbar erweisen, <strong>und</strong> in Fällen, die weit be<strong>de</strong>nklicher wären als die Empfehlung<br />

eines <strong>Nestroy</strong>—Druckes. Sie mögen <strong>de</strong>m Käufer <strong>de</strong>r Fackel zugleich<br />

mit ihr einhändigen, was sie wollen — sie bleibe außer <strong>de</strong>m Zusammenhang.<br />

Sollten Käufer eines Heftes jemals von einem parasitischen Gebrauch <strong>de</strong>r Verbreitung<br />

<strong>und</strong> Geltung <strong>de</strong>r Fackel Kenntnis bekommen, so wer<strong>de</strong>n sie ersucht,<br />

es unverzüglich <strong>de</strong>m Verlag mitzuteilen. Der Herausgeber <strong>de</strong>r Fackel zweifelt<br />

ja nicht, daß die Gelegenheit, namentlich vor Weihnachten, günstig ist <strong>und</strong><br />

daß er auf diese Art die ganze zeitgenössische Literatur, welche sein Dasein<br />

verheimlicht, unter die Leute bringen könnte. Er will dies aber an<strong>de</strong>rs als<br />

durch die Beilage ihrer Prospekte besorgen.<br />

*<br />

Ebenda, 28. Dezember, 7 Uhr:<br />

[Zur Entschädigung <strong>Nestroy</strong>s für die ihm durch <strong>das</strong> <strong>Burgtheater</strong> wi<strong>de</strong>rfahrene<br />

Aufführung.]<br />

Johann <strong>Nestroy</strong>: Der böse Geist Lumpazivagab<strong>und</strong>us o<strong>de</strong>r Das lie<strong>de</strong>rliche<br />

Kleeblatt. Musik von Adolph Müller sen.<br />

Begleitung: Dr. Viktor Junk.<br />

Der volle Ertrag (inkl. Programmerlös <strong>und</strong> einer Spen<strong>de</strong> von K 100.000):<br />

K 5.600.900 für <strong>das</strong> Lan<strong>de</strong>rziehungsheim Obritzberg <strong>de</strong>r »Bereitschaft«, <strong>das</strong><br />

Kin<strong>de</strong>rasyl »Kahlenbergerdorf«, für notlei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Witwen nach Gemein<strong>de</strong>ärzten<br />

in N—Ö. (Sammlung Oberamtsrat Dr. Ziegler, N.—Ö. Lan<strong>de</strong>sregierung, I.<br />

Hertengasse 13) <strong>und</strong> an<strong>de</strong>re Unterstützungsbedürftige.<br />

*<br />

sung« vorstellen sollte — <strong>und</strong> es ist doch einfach <strong>das</strong>selbe Stück mit <strong>de</strong>nselben Figuren,<br />

nur daß die Traumhandlung in eine Zauberhandlung verän<strong>de</strong>rt ward —: wie konnte <strong>de</strong>r unübersehbar<br />

wichtige Zusammenhang, in nächster Vergleichsnähe offenbart, <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung<br />

o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Feststellung durch die je<strong>de</strong>r kleinsten Variation habhaften Herausgeber<br />

entgehen? (Wozu noch kommt, daß etliche Szenen ganz geringer Variationen wegen im Anhang<br />

zum »Konfusen Zauberer« noch einmal, also ein drittes Mal erscheinen <strong>und</strong> an<strong>de</strong>re<br />

Stellen wie<strong>de</strong>r als Variationen zum »Zauberer«, die ganz so sich nur im »Hochzeitstag« fin<strong>de</strong>n.<br />

Überdies wird hier schon <strong>de</strong>r »Dappschädl« einmal ausdrücklich »Schmafu« genannt,<br />

<strong>und</strong> einige Personennamen, wie Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Punschington, sind überhaupt nicht verän<strong>de</strong>rt.)<br />

Es ist ein so konfuser Zauber, <strong>de</strong>r da eingetreten ist, daß man fast <strong>de</strong>n Eindruck hat, die<br />

Sphäre müsse ihn bewirkt haben: <strong>de</strong>r Konfusius hat wie<strong>de</strong>r einmal »verkehrt gezaubert«,<br />

so daß die Wissenschaft die Sätze nicht mehr hörte <strong>und</strong> nicht mehr sah. Die I<strong>de</strong>ntität ist<br />

aber so unverkennbar, daß fast die Druckwie<strong>de</strong>rholung, die unmittelbare, problematisch<br />

wird. Es ist zu hoffen, daß einer <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Bän<strong>de</strong> min<strong>de</strong>stens die Lücke, die durch <strong>das</strong><br />

kommentarlose Plus entstan<strong>de</strong>n ist, rechtschaffen ausfüllt. O<strong>de</strong>r sollte es ein literarhistorisches<br />

Prinzip sein, nur die Variationen, nicht aber die I<strong>de</strong>ntitäten festzustellen? Auch die<br />

Altwiener Theaterkritik, freilich in einem Zeitabstand von drei Jahren <strong>und</strong> nicht vor <strong>de</strong>r<br />

räumlichen Nachbarschaft ihres Amtes waltend, hat am »Konfusen Zauberer« nicht die<br />

motivische <strong>und</strong> dialogische Wie<strong>de</strong>rholung, also die zweite Fassung bemerkt, sonst wäre sie<br />

mit <strong>de</strong>m Prachtstück noch dummdreister verfahren. Denn was sich <strong>de</strong>r kritische Vormärz<br />

an Blödsinn über <strong>Nestroy</strong> geleistet hat, reicht schon in die Gegenwart hinein. [KK]<br />

23


Im Kometenlied dreizehn Strophen, die erste mit <strong>de</strong>r Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s<br />

Schlusses:<br />

Die Welt steht auf kein' Fall mehr lang lang lang lang lang lang,<br />

Aber die Kontrolle die dauert noch lang.<br />

Die zweite mit <strong>de</strong>r Än<strong>de</strong>rung:<br />

— — — — — — — — — — — — — — —<br />

Doch ins Theater da gehen s' noch lang.<br />

Neu vier Strophen:<br />

Tut's auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>n drunter <strong>und</strong> drüber gehn,<br />

Wir hab'n trotz allem doch <strong>de</strong>n Vaugoen.<br />

Der halt's noch z'samm, daß droben ganz neidig sein:<br />

Wo hab'n s' am Mars <strong>de</strong>nn einen Vaugoein!<br />

Wer macht a so a Wehrmacht wie in Wien,<br />

Am ganzen Himmel hab'n s' kein' Vaugoin.<br />

Der Republiktag hat's ihm angetan,<br />

Da spielt <strong>de</strong>n Prinz Eugen <strong>de</strong>r Vaugoan.<br />

Kommt die Zeit, zieht die Zita auf ihren eigenen Stern,<br />

Wie gern hätten s' im Himmel dazu <strong>de</strong>n Vaugoern.<br />

Er bekennt seine Farb' <strong>und</strong> drum sind sie ihm grün,<br />

Denn so schwarzgelb kann <strong>de</strong>r Himmel nicht sein wie <strong>de</strong>r<br />

[Vaugoün.<br />

Zu schlagen eine Brucken ihm gelang —<br />

Noch vom Train <strong>de</strong>r Vaugoen für'n Eugen hat einen Hang<br />

Gottseidank mit Klingklang <strong>de</strong>r Vaugoang ang ang ang.<br />

Jetzt halt' mr bald so weit, daß wir was hör'n<br />

Speziell vom Mars <strong>und</strong> von die bessern Stern'.<br />

Sie selber freu'n sich, uns zu hören, <strong>und</strong><br />

»Wie spricht <strong>de</strong>r Mensch?« frag'n s'; wir: »Wie spricht <strong>de</strong>r H<strong>und</strong>?«<br />

Doch eh' sie noch vernehmen unsre Sprach',<br />

Mach'n s' uns ak'rat schon fleißig alles nach.<br />

Bei Tag sind jetzt schon weniger Stern' zu schau'n.<br />

Warum? Sie fangen halt schon auch an, abzubau'n.<br />

Sie wollen ein irdisches Leben jetzt führen,<br />

Und kommen, um ihre Seel'n'zu sanieren,<br />

Vom H<strong>und</strong> auf <strong>de</strong>n B<strong>und</strong>, <strong>und</strong> bald sind sie schon da,<br />

Und im vorigen Sommer war <strong>de</strong>r Mars uns ganz nah.<br />

Und sein erstes Wort, was glauben S!, welches war's?<br />

»Habt's uns gern, uns am Mars Mars Mars Mars Mars Mars<br />

[Mars Mars Mars<br />

Habt's uns gern, uns am Mars Mars Mars Mars!«<br />

Im Himmelstheater spiel'n s' auch bei Nacht,<br />

Man hört schon, daß es oben wie unten kracht.<br />

Mit'n Repertoire, da haben s' ein rechtes Gfrett,<br />

Der kleine Bär spitzt auf die Operett'.<br />

Die Musik <strong>de</strong>r Sphären hat zu wenig Schlager,<br />

Das Buch <strong>de</strong>r Schöpfung ist als Text zu mager.<br />

's is unbegreiflich, wozu so viel G'schichten,<br />

Statt gleich die Weltenraumbühn' einzurichten!<br />

Das höchste Theater wird’s im Himmel nie geben,<br />

24


Die stell'n sich nicht vor, was wir täglich erleben.<br />

Mit Radio <strong>und</strong> Kino, mit Sport <strong>und</strong> mit Mord<br />

Erreicht jetzt die Er<strong>de</strong> <strong>de</strong>n höchsten Rekord.<br />

Und damit die Hölle frohlock',<br />

Gibt <strong>de</strong>r Papst seinen Segen durch <strong>de</strong>n Schmock Schmock<br />

[Schmock Schmock Schmock Schmock<br />

Gibt <strong>de</strong>r Papst seinen Segen durch <strong>de</strong>n Schmock.<br />

(Die letzte Strophe auf S. 1 dieses Heftes.)<br />

*<br />

Mittlerer Konzerthaussaal, 1. Januar 1925, 7 Uhr:<br />

200. Wiener Vorlesung.<br />

I. Der Traum ein Wiener Leben (1910). — Das Ehrenkreuz (1909).<br />

— Wiener Faschingsleben 1913. — Couplet <strong>de</strong>s Schwarz—Drucker<br />

(Mit <strong>de</strong>m Schluß <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong>. Musik nach Angabe <strong>de</strong>s Verfassers). —<br />

Fast erraten. — »Kometenlied« (12 Strophen, mit <strong>de</strong>m Monolog<br />

<strong>de</strong>s Knieriem. Musik von Adolph Müller).<br />

II. Aus »Die letzten Tage <strong>de</strong>r Menschheit«: Die Schalek <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />

Chor <strong>de</strong>r Offiziere (Musik nach Angabe <strong>de</strong>s Verfassers). — Die<br />

Balla<strong>de</strong> vom Papagei (Musik nach Angabe <strong>de</strong>s Verfassers) / Jugend.<br />

III. Zweih<strong>und</strong>ert Vorlesungen <strong>und</strong> <strong>das</strong> geistige Wien.<br />

Ein Teil <strong>de</strong>s Ertrags (inkl. Programmerlös): K 1.091.400 für <strong>das</strong> Israelitische<br />

Blin<strong>de</strong>n—Institut Hohe Warte.<br />

Seit Dezember wur<strong>de</strong>n die folgen<strong>de</strong>n Beträge abgeführt:<br />

Den Hinterbliebenen <strong>de</strong>r Opfer <strong>de</strong>s Gloggnitzer Bergwerkunglücks:<br />

K 11.556.700 <strong>und</strong> Vorabdruckshonerar <strong>de</strong>r 'Arbeiter—Zeitung' K 300.000.<br />

Dem Lan<strong>de</strong>rziehungsheim Obritzberg <strong>de</strong>r »Bereitschaft« (Erlös aus Rezensionsexemplaren,<br />

Programmen, Überzahlung <strong>und</strong> Nachdruckshonorar <strong>de</strong>s<br />

Prager 'Sozial<strong>de</strong>mokrat' 50 K č): K 150.000.<br />

Dem Wiener Jugendhilfswerk, Wien I. Rathausstraße 9, durch drei unbekannte<br />

Spen<strong>de</strong>r »anläßlich <strong>de</strong>r 200. Wiener Vorlesung Karl Kraus«:<br />

K 300.000.<br />

Diversen Zwecken K 130.000.<br />

Von <strong>de</strong>m Ertrag <strong>de</strong>r Vorlesungen 6., 8., 13., 28. Dezember <strong>und</strong> 1. Januar<br />

an die unter <strong>de</strong>n Programm—Notizen angegebenen Zwecke: K 15.799.600.<br />

Gesamtsumme seit Mitte Juli 1922: K 208.779.807.<br />

Zweih<strong>und</strong>ert Vorlesungen <strong>und</strong> <strong>das</strong> geistige Wien<br />

Gesprochen am 1. Januar 1925<br />

Ich wünsche mir einen einzigen Erfolg. Es möge endlich auch meinen<br />

dümmsten Lesern dämmern, daß <strong>de</strong>r Autor, <strong>de</strong>r mehr von sich selbst gesprochen<br />

hat als ein Dutzend über die Welt, in Wahrheit weniger seine eigene Sache<br />

führte als ein Dutzend von solchem Dutzend. Daß ich bereit war, je<strong>de</strong>n<br />

an<strong>de</strong>ren Fall von geistiger Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r Welt, <strong>de</strong>r eben <strong>das</strong>,<br />

worauf es ankam, besser zur Gestalt brächte, für <strong>de</strong>n meinen zu setzen. Aber<br />

25


ich habe in einem Vierteljahrh<strong>und</strong>ert keinen gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> niemand, kein Todfeind<br />

von mir, hätte ihn gef<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> es gehört in <strong>das</strong> Armutszeugnis, welches<br />

ich dieser Welt anhefte: daß sie mich zum Prahler gemacht hat, zum<br />

Wortführer seiner selbst, zu <strong>de</strong>r Figur, vor <strong>de</strong>r sie sich nicht einmal <strong>de</strong>s armseligsten<br />

Beweises ihrer flachen Optik schämen muß. Denn nichts kommt <strong>de</strong>nen,<br />

die kein Werk zu vollbringen haben, hinter <strong>de</strong>m sie beschei<strong>de</strong>n zurücktreten<br />

können, gelegener, als einen, <strong>de</strong>r hinter seinem Werk sichtbar bleibt,<br />

<strong>de</strong>r Anmaßung zu überführen, wiewohl er sich doch nur anmaßt, was er ist,<br />

<strong>und</strong>, verzichtend auf je<strong>de</strong>s Außenmaß, nichts will als mit <strong>de</strong>m eigenen Werk<br />

gemessen wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> ein Beispiel geben, wie Mann <strong>und</strong> Werk für einan<strong>de</strong>r<br />

haften. Als wüßte ich nicht selbst, daß ich selbstbewußt bin; auch wenn ichs<br />

nicht so oft schon von ihnen gehört hätte. Doch besser als sie weiß ich: daß<br />

mein Zweifel stärker ist als mein Glaube, daß <strong>de</strong>r Zerstörer vor sich selbst<br />

nicht halt macht, <strong>und</strong> wieviel einer, <strong>de</strong>r nur sich gelten läßt, an sich auszusetzen<br />

fin<strong>de</strong>t. Es ficht mich nicht an, ob mein Kunstprinzip <strong>de</strong>r Anfechtung unterliegt.<br />

Aber die Berechtigung dazu, sein unerbittlicher Sachwalter zu sein, erbringe<br />

ich dadurch, daß ich es am schonungslosesten gegen mich selbst anwen<strong>de</strong><br />

<strong>und</strong> weiß Gott ein selbstzersetzen<strong>de</strong>s Element bin. Eitel <strong>und</strong> negativ:<br />

die Welt ahnt ja nicht, wie tief in eben diesen Eigenschaften ihre Kritik an mir<br />

wurzelt. Denn sie wird doch nicht zugeben, daß sie ein Problem ist? Daß <strong>de</strong>r,<br />

<strong>de</strong>r sie betrachtet, eine Aufgabe vollbringt? Nein, sie wird eher bereit sein,<br />

sich selbst herabzusetzen, ehe sie <strong>de</strong>n bejaht, <strong>de</strong>r sie negiert. Ihre letzte Finte<br />

<strong>de</strong>r Einwand: Was kann an einem sein, <strong>de</strong>r solchen Dreck wie uns angreift?<br />

Sie wird <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r ihr falsches Gold enthüllt, die Nichtigkeit dieses Tuns an<br />

<strong>de</strong>r Nichtigkeit ihres Werts beweisen. Und <strong>de</strong>nnoch nicht aufhören, als Gold<br />

zu glänzen. Sie, die zu ihrem Fortkommen nichts braucht als Eitelkeit, hat<br />

mich beschuldigt, daß ich von ihrem Lebensmittel lebe, <strong>und</strong> sie weiß nicht,<br />

spürt nicht <strong>und</strong> h<strong>und</strong>ert Erzengel könnten es ihr nicht in die Seele posaunen,<br />

daß die willige Aufnahme dieses Vorwurfs die stärkste Probe <strong>de</strong>r Selbstentäußerung<br />

ist. Nie bin ich vor <strong>de</strong>m Schimpf, <strong>de</strong>n ich zeitlebens als <strong>de</strong>n ärgsten<br />

empf<strong>und</strong>en habe, mit <strong>de</strong>m <strong>das</strong> Motiv eines Weltkampfs verkleinert wer<strong>de</strong>n<br />

kann. eine Eigenschaft <strong>de</strong>r Welt zu haben, zurückgewichen. Um wieviel leichter<br />

hätte ich es gehabt, wenn ichs getan hätte. Aber ich hätte kein an<strong>de</strong>res<br />

Gegenbild zur Hand gehabt, als <strong>das</strong> meine, um <strong>de</strong>r Welt zu zeigen, wie sie beschaffen<br />

ist, also <strong>das</strong> Außerpersönlichste zu sagen, <strong>das</strong> es nur geben kann;<br />

<strong>und</strong> solange ich nicht ein Teil von ihr bin <strong>und</strong> sie nicht an<strong>de</strong>rs darstellen kann<br />

als in<strong>de</strong>m ich sie mit mir konfrontiere, erfülle ich <strong>das</strong> Maß einer Objektivität,<br />

wie es keinem Lebenswerk eines zeitgenössischen Autors abzusehen sein wird<br />

<strong>und</strong> möge er nie sein Ich zum Subjekt eines Satzes gemacht haben <strong>und</strong> immer<br />

nur die Welt zum Objekt. Ja, ich hätte gar nichts an<strong>de</strong>res zu ihrer sachlichen<br />

Einschätzung von ihr aussagen müssen, als daß sie mir, da ich sie in mir spiegle,<br />

Selbstbespiegelung vorwirft, <strong>und</strong> es wäre ein Bild, so vollgültig wie es<br />

kein Ironiker <strong>de</strong>r Distanz zu schaffen vermöchte. Doch solange nicht jener<br />

Ausnahme eines Kreters geglaubt wird, daß alle Kreter lügen <strong>und</strong> er die<br />

Wahrheit sage, wird je<strong>de</strong> dieser Aufstellungen fortzeugend üble Nachre<strong>de</strong> gebären,<br />

<strong>de</strong>nn es ist <strong>de</strong>n Kretern auch wesentlich, nicht zu glauben <strong>und</strong> wenn<br />

sie mit eigenen Augen vor <strong>de</strong>m Schauplatz jener ruhmlosen Taten <strong>de</strong>r Wortwelt<br />

stün<strong>de</strong>n, die mit unvorstellbarer Konsequenz bis zum Schluß <strong>und</strong> darüber<br />

hinaus getan, noch nie einen Laut <strong>de</strong>r gemeinen Anerkennung geerntet<br />

haben, welche zu erstreben doch <strong>de</strong>r ganze Sinn meines Tuns sein müßte,<br />

wenn die Welt recht hätte gegen mich.<br />

26


Aber dieses Gebiet eines geistigen Privatlebens wollen wir nicht betreten,<br />

<strong>de</strong>ssen verborgene Lei<strong>de</strong>nschaften zwar werkaufregend sind wie die Glut<br />

eines Prometheus, <strong>de</strong>s noch, nicht schon wachen<strong>de</strong>n, <strong>und</strong> sich doch einmal in<br />

<strong>de</strong>n Erfolg umschmie<strong>de</strong>n, daß ihr flammen<strong>de</strong>r Atem in die Seele <strong>de</strong>r wenigen<br />

übergreift — was ja mehr ist als wenn er <strong>das</strong> Wasser <strong>de</strong>r vielen bewegte.<br />

Nein, wir wollen <strong>das</strong> Gebiet betreten, wo sich die Energie, »mit Guß <strong>und</strong><br />

Schlag auszubil<strong>de</strong>n«, in unmittelbare Werkwirkung, zweckhafter <strong>und</strong> <strong>de</strong>m<br />

Prometheus gefälliger, umsetzt: <strong>das</strong> Erfolgsgebiet <strong>de</strong>s gesprochenen Wortes.<br />

Und hier, im Angesicht <strong>de</strong>r persönlichen Wirkung, wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Verdacht gegen<br />

einen Lebenskampf, daß er aus persönlichem Gr<strong>und</strong> zu persönlichem Zweck<br />

geführt wer<strong>de</strong>, einen schweren Stand haben, wenn er <strong>de</strong>n Mut hätte, <strong>de</strong>n<br />

Stand zu beziehen, <strong>und</strong> nicht die Feigheit, <strong>de</strong>r Probe auszuweichen. Wüßte<br />

ich diesen Verdacht, <strong>de</strong>r landläufig ist <strong>und</strong> darum nie zu stellen, in diesem<br />

Saale vertreten, ich müßte ihn wohl erst darüber beruhigen, daß einer, <strong>de</strong>r<br />

zum zweih<strong>und</strong>ertsten Mal spricht, zur Sache spricht, wenn er persönlich wird,<br />

<strong>und</strong> vielleicht sogar pro m<strong>und</strong>o, was er pro domo spricht. Aber <strong>das</strong> Land, <strong>das</strong><br />

meinen Horizont für <strong>de</strong>n seinen hält, ist unbesiegbar in einem Vorurteil <strong>und</strong><br />

tauscht keine Tradition für ein Erlebnis. Der Doppeladler <strong>de</strong>r Banalität, unter<br />

<strong>de</strong>ssen Ägi<strong>de</strong> ich mein Werk begonnen habe <strong>und</strong> <strong>de</strong>ssen Schnabel nach <strong>de</strong>r<br />

einen Seite mit <strong>de</strong>m Argument meiner Eitelkeit, nach <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn mit <strong>de</strong>m<br />

meiner negativen Anlage gewetzt wur<strong>de</strong>, ist unter verän<strong>de</strong>rten Daseinsbedingungen<br />

als Phönix erstan<strong>de</strong>n <strong>und</strong> kein Tag vergeht, wo ich nicht h<strong>und</strong>ertfach<br />

Gelegenheit hätte, diese Argumente entgegenzunehmen, <strong>de</strong>ren wahre Beschei<strong>de</strong>nheit<br />

<strong>und</strong> Nullität doch wie kein an<strong>de</strong>res Symptom <strong>de</strong>s geistigen Zustands<br />

meiner Umwelt mich dazu berechtigen wür<strong>de</strong>n, eitel <strong>und</strong> negativ zu<br />

sein <strong>und</strong> meinem Herrgott zu danken, daß ich nicht bin wie jene. Und manchmal<br />

stehe ich wirklich mit etwas wie andächtiger Bew<strong>und</strong>erung vor dieser<br />

Zeit— <strong>und</strong> Ortsgenossenschaft, die mir ihre beispielgeben<strong>de</strong> Selbstlosigkeit<br />

vor Augen führt, in<strong>de</strong>m sie an mir ta<strong>de</strong>lt, daß ich so kleine Gegenstän<strong>de</strong> wie<br />

sie <strong>de</strong>r Beachtung für würdig halte. Und wenn ich doch mein Lebtag eigentlich<br />

nichts an<strong>de</strong>res tue <strong>und</strong> besorge als wörtlich abzuschreiben, was sie sprechen<br />

<strong>und</strong> tun, so sagen sie, ich sei ein Nie<strong>de</strong>rreißer. Es genügt offenbar, daß<br />

ich auf die Welt gekommen bin, sie anzuschauen, so fühlen sie sich schon getroffen<br />

— <strong>und</strong> da soll einer nicht selbstbewußt wer<strong>de</strong>n! Gebär<strong>de</strong>n sie sich, als<br />

ob sie etwas wären, <strong>und</strong> stelle ich sie beileibe nicht hin, wie sie sind, son<strong>de</strong>rn<br />

nur wie sie tun als wären sie, so sagen sie, sie hätten doch schon immer gewußt,<br />

daß sie nichts seien, <strong>und</strong> wie ich mich nur mit so etwas abgeben könne.<br />

Ich habe es also schwerer mit ihnen als sie mit mir, ich nehme nur an <strong>de</strong>n Taten<br />

Anstoß, sie schon an <strong>de</strong>n Zitaten, <strong>und</strong> wenn es eines Beweises bedürfte<br />

für <strong>de</strong>ren völlige Wirkungslosigkeit, die ich wahrlich mit zerknirschter Beschei<strong>de</strong>nheit<br />

erkenne, so wäre er wohl damit erbracht, daß sie, nach<strong>de</strong>m ich<br />

es nachgebil<strong>de</strong>t, noch immer nicht aufhören, <strong>das</strong> zu sein, was sie sind, nein,<br />

sich für <strong>das</strong> auszugeben, was sie nicht sind, um immer wie<strong>de</strong>r, wenn ichs ihnen<br />

sage, mir zu erwi<strong>de</strong>rn, sie wüßten es so wie so, <strong>das</strong> sei doch nichts Neues<br />

<strong>und</strong> von einer Zeitschrift wie die Fackel wolle man Neuigkeiten erfahren. Ich<br />

mag ja nicht davon sprechen, daß die stärkste Polemik (<strong>de</strong>ren Autor <strong>de</strong>m Verdacht<br />

<strong>de</strong>s Größenwahns die Stirn bietet, wenn er behauptet, in <strong>de</strong>r polemischen<br />

Literatur <strong>de</strong>r Deutschen vergebens nach einem Pendant zu suchen)<br />

nicht imstan<strong>de</strong> war, irgen<strong>de</strong>ines <strong>de</strong>r sachlichen <strong>und</strong> persönlichen Übel, die sie<br />

betroffen, geschmerzt <strong>und</strong> vor <strong>de</strong>r Welt entblößt hat, unmöglich zu machen,<br />

vielmehr dazu beigetragen hat, sie vielfach erst möglich zu machen. Denn<br />

hier steht eine Interessensolidarität auf, nach <strong>de</strong>ren Gesetz alle, die in die<br />

27


gleiche Lage kommen könnten, zum Schutz <strong>de</strong>s jeweiligen Opfers alles aufbieten,<br />

um keine Lücke im Weltbild merken zu lassen, eine Art Unfallversicherung,<br />

die sogar über <strong>de</strong>n Scha<strong>de</strong>n hinaus Entschädigung gewährt. Aber an<strong>de</strong>rs<br />

wäre in einer feinfühligeren Welt die Reaktion auf Satire. Die Akustik eines<br />

Zeitalters für künstlerische Wirkung ist keiner Übereinkunft, keinem gesellschaftlichen<br />

Plan unterworfen, <strong>und</strong> nichts vermag besser darzutun, daß sie<br />

abgestorben ist, daß wir einfach in einer Welt <strong>de</strong>r Apparate leben, die diese<br />

Naturkraft nicht mehr haben, die keinem psychischen Antrieb mehr gehorchen<br />

<strong>und</strong> gera<strong>de</strong>zu aus solchem Mangel konstruiert sind — nichts kann es<br />

besser dartun als <strong>das</strong> Fazit meines künstlerischen Wirkens, <strong>das</strong> ein Dummkopf<br />

ganz zutreffend mit <strong>de</strong>n Worten formuliert hat: »Verspielt <strong>und</strong> vertan«.<br />

Macht Polemik heute möglich, so verschafft Satire <strong>das</strong> Ernstgenommenwer<strong>de</strong>n.<br />

Lächerlich wird nur <strong>de</strong>r Glaube, daß sie die ihr gemäße Wirkung haben<br />

könnte. Personen, die ich in szenische Gestalten <strong>und</strong> in die Romanfiguren<br />

meiner Glossenwelt transformiert habe, treten nach <strong>de</strong>m ersten Schock frohgemut<br />

aus <strong>de</strong>m Satzbau, in <strong>de</strong>n ich sie einfing <strong>und</strong> <strong>de</strong>r doch zumeist ihr eigener<br />

war, kehren zurück ins brausen<strong>de</strong> Leben, <strong>das</strong> ihnen ganz <strong>und</strong> gar gehört,<br />

<strong>und</strong> wer<strong>de</strong>n <strong>das</strong>elbst von <strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>nsgenossen o<strong>de</strong>r Anwärtern <strong>de</strong>s gleichen<br />

Schicksals mit Akklamation empfangen. Denn man hält auch die Satire für Polemik<br />

<strong>und</strong> assekuriert sich hier wie dort. Nehmen wir die Schalek. Sie ist gewiß<br />

ein geringfügiger Gegenstand <strong>de</strong>r Betrachtung, gera<strong>de</strong>zu einer, <strong>de</strong>n man<br />

schlechthin »Gegenstand« nennen könnte, wenn man sowohl <strong>de</strong>m Niveau wie<br />

<strong>de</strong>m Jargon <strong>de</strong>r Auffassung entgegenkommen will, die in <strong>de</strong>r Kunst <strong>de</strong>n Begriff<br />

<strong>de</strong>s Gegenstands <strong>und</strong> nur diesen anerkennt. Aber wenn ich be<strong>de</strong>nke, daß<br />

ich eine Szene aus ihr gemacht habe, in <strong>de</strong>r ich mit <strong>de</strong>n eigenen Worten ihrer<br />

Kriegsplau<strong>de</strong>reien <strong>de</strong>n unsagbarsten Schau<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n wir erlebt haben, zur Gestalt<br />

bringe, daß ich nur mit je<strong>de</strong>m Nerv bebend diese Szene <strong>de</strong>m Ohr vermitteln<br />

kann, <strong>und</strong> daß die Heldin <strong>de</strong>nnoch <strong>de</strong>r beglaubigt fortwirken<strong>de</strong> Teil <strong>de</strong>r<br />

Menschheit geblieben ist, an die sie sich nach wie vor wen<strong>de</strong>t, so schau<strong>de</strong>rt<br />

mir wahrlich noch mehr als vor <strong>de</strong>m Erlebnis <strong>de</strong>s lorgnettierten Kriegsgreuels.<br />

Und nichts was ich je, im Tragischen o<strong>de</strong>r obenhin Heitern, in <strong>de</strong>r Richtung<br />

<strong>de</strong>r Satire geschrieben habe, hat eine an<strong>de</strong>re Fortsetzung in <strong>das</strong> Seelenleben<br />

<strong>de</strong>r Gegenwart gef<strong>und</strong>en. Ja, ich kann wohl sagen, daß es eine solche<br />

Massenerzeugung von Rohstoff aus <strong>de</strong>m Kunstprodukt noch nie gegeben hat<br />

wie in diesen Tagen, wo die Neue Freie Presse <strong>de</strong>n päpstlichen Segen <strong>und</strong> die<br />

Reichspost <strong>das</strong> Nachsehn hat, <strong>und</strong> wo die Originale nur Plagiate an mir sind,<br />

die mir zuvorkommen. Und da man schon bei <strong>de</strong>r nachbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Art, in <strong>de</strong>r<br />

ich Satire treibe, schwer genug Natur <strong>und</strong> Kunst auseinan<strong>de</strong>rhalten kann, so<br />

tritt <strong>das</strong> gespenstische Wirrsal ein, daß man glaubt, alle diese Leute schrieben<br />

für die Fackel <strong>und</strong> nur <strong>das</strong>, was sie dann doch in <strong>de</strong>r Neuen Freien Presse<br />

schreiben, wäre von mir. Aber die Leser, die in solcher Verwirrung leben, die<br />

haben wenigstens eine Wirkung von mir empfangen. Das Trostlosere ist die<br />

völlige Unverb<strong>und</strong>enheit <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Welten, <strong>de</strong>r einen, in <strong>de</strong>r die Satire entsteht<br />

<strong>und</strong> wirkt, <strong>und</strong> <strong>de</strong>r umfänglicheren, die <strong>de</strong>r natürlichen Wirkung zum<br />

Trotz nicht aufhört, die Objekte o<strong>de</strong>r Anlässe <strong>de</strong>r Satire ernst zu nehmen.<br />

Stellen wir uns also getrost auf ein völliges Mißlingen ein, <strong>das</strong> ich, uneitel wie<br />

ich da bin, zugebe, auf <strong>de</strong>n Sachverhalt eines Nebeneinan<strong>de</strong>r, auf ein Verhängnis<br />

<strong>de</strong>r Unwirksamkeit, <strong>das</strong> we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m polemischen Angriff noch <strong>de</strong>r<br />

künstlerischen Abziehung <strong>de</strong>r Gestalt von <strong>de</strong>m irdischen Getriebe irgen<strong>de</strong>inen<br />

Eindruck auf dieses ermöglicht. Und wenn es mir gelänge, <strong>de</strong>n Acheron zu bewegen,<br />

die Teufel dieser Er<strong>de</strong> wer<strong>de</strong> ich nicht erweichen — kann ich von mir<br />

sagen<br />

28


Aber gera<strong>de</strong> diese Trennung <strong>de</strong>r Sphären gewährt mir, die an<strong>de</strong>re mit<br />

jener Klarheit zu erkennen, die sie mir durch keinen Wi<strong>de</strong>rstand abhan<strong>de</strong>ln<br />

wird. Und wenn es ihr möglich wäre, mich auf <strong>de</strong>m Gebiet meiner literarischen<br />

Betätigung kleinmütig zu stimmen <strong>und</strong> vor die Frage zu stellen, ob<br />

<strong>de</strong>nn nicht vielleicht meine Betrachtung die Schuld trage <strong>und</strong> <strong>das</strong> Bild schiefer<br />

sei als die Wirklichkeit — doch mich wan<strong>de</strong>lt innerhalb meines Wortwirkens<br />

wahrlich ganz an<strong>de</strong>rer Kleinmut an <strong>und</strong> ganz an<strong>de</strong>re Zweifel machen<br />

mich beschei<strong>de</strong>n —: ein Gebiet gibt es, auf <strong>de</strong>m ich sie ihrer Unzulänglichkeit<br />

an mir mit Beweiskraft überführen kann, <strong>das</strong> Gebiet <strong>de</strong>s gesprochenen Wortes,<br />

<strong>das</strong> doch die Probe jener unmittelbaren Wirkung ermöglicht, die <strong>de</strong>n Wert<br />

als Macht einsetzt <strong>und</strong> also von dieser Welt ist <strong>und</strong> ihres Verständnisses sicher<br />

— <strong>das</strong> Gebiet, aus <strong>de</strong>m sie mit <strong>de</strong>r ganzen verlegenen Feigheit, mit <strong>de</strong>r<br />

sie sonst vor meinem Dasein verweilt, einfach davongerannt ist. Auch hier<br />

noch will ich ihr nach <strong>de</strong>m Maß <strong>de</strong>r menschlichen Schwäche eine Ausflucht<br />

gönnen. Ich stehe heute zum zweih<strong>und</strong>ertsten Mal vor Ihnen. Zu welchem Demonstrator<br />

<strong>de</strong>r eigenen Macht müßte ich wer<strong>de</strong>n, wenn ich mit <strong>de</strong>r gelassensten<br />

Objektivität diese in keinem Kulturzentrum erlebte Tatsache würdigen<br />

wollte <strong>und</strong> eben mit <strong>de</strong>r stellvertreten<strong>de</strong>n Verpflichtung für sämtliche geistigen<br />

Instanzen, die sie unbeachtet lassen. Es wür<strong>de</strong>, wollte ich nur als einer<br />

<strong>de</strong>r M<strong>und</strong>e, die darüber zu sprechen hätten, <strong>und</strong> für alle, die es schweigen,<br />

mit lei<strong>de</strong>nschaftsloser Sachlichkeit, mit einer Aufzählung <strong>de</strong>r äußeren Erfolgstatsachen<br />

mich vernehmen lassen, eine wahre Orgie <strong>de</strong>r Selbstbespiegelung.<br />

Sie bleibt mir erlassen; <strong>de</strong>nn wenn <strong>das</strong> gedruckte. Wort sich über <strong>das</strong> vorausgesetzte<br />

Mitwissen <strong>und</strong> Mitfühlen <strong>de</strong>r Anhänger getrost erheben mag <strong>und</strong> immer<br />

wie<strong>de</strong>r die bekannte Handlung zwischen mir <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Gegenwelt zum<br />

neuen Werk erhöhen — <strong>das</strong> gesprochene, vor <strong>de</strong>n förmlich Stoffbeteiligten gesprochene,<br />

muß ihnen in <strong>de</strong>r Tat nicht sagen, was sie nicht nur wissen, son<strong>de</strong>rn<br />

woran sie selbst gewirkt haben. Wenn <strong>das</strong> gedruckte Wort auch ohne Leser<br />

wür<strong>de</strong> <strong>und</strong> wäre, die Hörer gehören zum Vortrag, <strong>de</strong>r ohne sie nicht wäre,<br />

nicht wegen <strong>de</strong>s fehlen<strong>de</strong>n Ohrs, son<strong>de</strong>rn wegen <strong>de</strong>s fehlen<strong>de</strong>n Elements.<br />

Aber nicht um Sie han<strong>de</strong>lt es sich, son<strong>de</strong>rn um die, die nicht hören. Nicht was<br />

diese zweih<strong>und</strong>ert Vorlesungen waren, aber was die Gesellschaft ist, die um<br />

sie wissend sie floh, weil sie in ihrer unvernichtbaren Tatsache <strong>de</strong>n Ausdruck<br />

<strong>de</strong>r eigenen Ohnmacht erkannte — <strong>das</strong> bleibt zu sagen übrig. Und <strong>de</strong>n Drang,<br />

diese Fülle von Absenz auszuschöpfen <strong>und</strong> <strong>das</strong> publizistische Phänomen dieser<br />

Tatsache darzustellen, <strong>de</strong>n Antrieb, über <strong>das</strong> große Schweigen zu re<strong>de</strong>n,<br />

wird <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r es nicht abzuän<strong>de</strong>rn trachtet <strong>und</strong> <strong>de</strong>r eine kulturhistorische<br />

Pflicht auch dann erfüllen muß, wenn sie ihn selbst betrifft <strong>und</strong> sie kein an<strong>de</strong>rer<br />

erfüllt — solche Herzenslust kann ihm die Mißgunst als Selbstbespiegelung,<br />

doch nicht als Selbstgespräch verkleinern.<br />

Ich habe <strong>de</strong>n Angehörigen <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn Welt, die da mit weniger Neugier<strong>de</strong><br />

an meiner Vortragstätigkeit beteiligt sind als die Er<strong>de</strong>nbewohner an <strong>de</strong>n<br />

Vorgängen auf <strong>de</strong>m Mars (<strong>de</strong>r aber zum Unterschied von mir Annäherungsversuche<br />

macht), eine Ausflucht gelassen. Ich bin noch weit mehr als sie<br />

selbst durchdrungen von <strong>de</strong>r Unvorstellbarkeit <strong>de</strong>s Falles, daß einer von ihnen<br />

einer Vorlesung aus meinen eigenen Schriften beiwohne, die doch in <strong>de</strong>r<br />

Regel eine aus ihren eigenen Schriften ist. Als Kenner <strong>und</strong> Hüter <strong>de</strong>r Gesetze,<br />

auf <strong>de</strong>nen die Wirkung innerhalb eines Auditoriums zustan<strong>de</strong>kommt, als einer,<br />

<strong>de</strong>r diese Strömungen zwischen Podium <strong>und</strong> Publikum mit <strong>de</strong>m Ton, ja<br />

mit Hand <strong>und</strong> Blick regulieren kann, weiß ich um die Gefahren, die <strong>de</strong>m dargestellten<br />

Wort, <strong>und</strong> wäre es noch so stark, von <strong>de</strong>r Ablenkung durch jene<br />

akustischen Fremdkörper drohen, zu welchen vor allem die optischen Augen-<br />

29


merke gehören. War in <strong>de</strong>r Monarchie etwa die Möglichkeit, daß ein kunstsinniger<br />

Erzherzog, baumlang, in einem Saal Platz nehme — die ja für mich keineswegs<br />

zu befürchten war —, <strong>das</strong> stärkste Beispiel für solche Gefahr, so hätte<br />

für meine Vorlesungen je<strong>de</strong>rzeit <strong>das</strong> persönliche Erscheinen eines <strong>de</strong>r vielen,<br />

<strong>de</strong>ren bloßer Name ein satirisches Inventarstück bil<strong>de</strong>t <strong>und</strong> gleich die<br />

heiterste Assoziation erweckt — so hätte diese persönliche Begegnung <strong>de</strong>s<br />

Stoffs mit <strong>de</strong>r Satire eine vollkommen unerwünschte Sensation be<strong>de</strong>utet. Ich<br />

hatte eine solche noch weniger zu fürchten als <strong>de</strong>n Besuch aus <strong>de</strong>m Erzhaus,<br />

<strong>und</strong> <strong>das</strong> ist in Ordnung. Daß <strong>das</strong> ganze geistige Wien, vom ersten Dichter bis<br />

zum letzten Reporter, an <strong>de</strong>r Tatsache dieser Vorlesungen vorbeilebt <strong>und</strong> nur<br />

weiterschafft, um ihr Programm zu bereichern; daß selbst Neugier<strong>de</strong>, wo sie<br />

vorhan<strong>de</strong>n wäre, in Schranken gehalten wür<strong>de</strong> durch <strong>de</strong>n Selbsterhaltungstrieb,<br />

<strong>de</strong>r doch nicht zuläßt, daß noch die leibliche Materie in <strong>de</strong>n Mahlstrom<br />

dieser satirischen Wirkung gerissen wer<strong>de</strong>, versteht niemand besser als ich.<br />

Daß sie von <strong>de</strong>r Tatsache als solcher in ihren Drucksorten, mit <strong>de</strong>ren Inhalt<br />

sie die öffentliche Meinung auszudrücken <strong>und</strong> nicht zu betrügen glauben, keine<br />

Notiz nehmen, verstehe ich eo ipso, da sie <strong>das</strong> Glück, bei ihrer Hinrichtung<br />

nicht persönlich anwesend zu sein, doch nicht dadurch verringern wer<strong>de</strong>n,<br />

an<strong>de</strong>rn dazu zu verhelfen. Auch wenn ich von <strong>de</strong>r gr<strong>und</strong>sätzlichen Weigerung,<br />

sie mit Freikarten zu versorgen, Abstand nähme — daß sie diesen Saal nicht<br />

betreten können, solange die Tarnkappen in <strong>de</strong>r Gar<strong>de</strong>robe abgegeben wer<strong>de</strong>n<br />

müssen, <strong>und</strong> selbst wenn sie sie aufbehalten dürften, ihnen unbehaglich<br />

zumute wür<strong>de</strong>, begreife ich ganz <strong>und</strong> gar. Also da wer<strong>de</strong>n wir, um mit <strong>Nestroy</strong><br />

zu sprechen, uns schon zusammenseparieren. Ich bin — mag ich auch manche<br />

Worte in Versen geschrieben haben — ein Nie<strong>de</strong>rreißer <strong>und</strong> wenngleich diese<br />

meine Praxis eine größere Kunstleistung bieten dürfte als sämtlicher in <strong>de</strong>r<br />

Wiener Literatur vorrätige Aufbau — daß die Aufbauer <strong>und</strong> eben als solche<br />

von mir Nie<strong>de</strong>rgerissenen nicht Lust <strong>und</strong> Nervenkraft haben, die unkeuschen<br />

Blicke eines Auditoriums auf sich zu lenken, <strong>das</strong> Gegenteil sich nur vorzustellen,<br />

geschweige zu erwarten o<strong>de</strong>r gar zu wünschen, wäre schon eine Gemütsroheit.<br />

Ich kann von <strong>de</strong>r Schalek nicht verlangen, daß sie dabei ist, wenn ich<br />

sie im Chor <strong>de</strong>r Offiziere auftreten lasse, ich kann vom Hans Müller nicht erwarten,<br />

daß er gute Miene zum Kriegsarchiv mache, ich könnte nicht unbefangen<br />

Darwin <strong>und</strong> Haeckel <strong>und</strong> Richard Wagner <strong>und</strong> lbsen <strong>und</strong> Bruckner,<br />

<strong>und</strong> Edison <strong>und</strong> Marconi, Feuerbach <strong>und</strong> Nietzsche, Marx <strong>und</strong> Lassalle an<br />

Franz Joseph vorbei<strong>de</strong>filieren lassen, wenn Herr Salten im Saal sitzt; <strong>und</strong> wie<br />

sollte ich Karpath zumuten, daß er Decsey einen Platz verschaffe, wenn es<br />

ausverkauftissimo ist <strong>und</strong> ich Seeigeleies vorlese? Dies alles sei ferne von mir!<br />

Aber innerhalb <strong>de</strong>s Gebiets, auf <strong>de</strong>m ich <strong>das</strong> Versagen <strong>de</strong>r offiziellen Mächte<br />

an mit dartun will, gibt es noch eines, zu <strong>de</strong>m mit Haltung Distanz zu wahren<br />

ihnen kein Motiv bleibt als die blanke Wut. Das sind jene Vorträge, in <strong>de</strong>nen<br />

ich nicht mein eigenes Wort bediene <strong>und</strong> nicht <strong>de</strong>n geringsten Spielraum<br />

habe, an<strong>de</strong>re als positive Fähigkeiten zu beweisen, zu welchen man doch wohl<br />

die Gabe <strong>de</strong>r Darstellung <strong>und</strong> die Bereitschaft, <strong>de</strong>m frem<strong>de</strong>n Dichterwort zu<br />

huldigen, wird rechnen müssen. Jene Vorträge, zu <strong>de</strong>nen ich mein eigenes Publikum<br />

erst im Lauf <strong>de</strong>r Jahre völlig bekehrt habe, welches vielleicht noch<br />

heute nicht glauben wird, daß sie mir selbst die genußvolleren, erholungsreicheren,<br />

die einzig erwünschten sind, weil solche, die mich zu keiner an<strong>de</strong>ren<br />

Verantwortung als zu <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Leistung verpflichten, <strong>de</strong>r unbedingten Hingabe<br />

an <strong>das</strong> zu gestalten<strong>de</strong> Wort, <strong>und</strong> nicht über die Anfor<strong>de</strong>rung an mein Können<br />

hinaus mich zwingen, Eigenstes, Innerstes noch einmal aus <strong>de</strong>m seelischen<br />

Zusammenhang <strong>und</strong>, was beklemmen<strong>de</strong>r ist, unter die Kontrolle <strong>de</strong>s Wortge-<br />

30


wissens zu nehmen. Denn es wer<strong>de</strong>n mir ja wenige unter meinen überzeugten<br />

Hörern nachempfin<strong>de</strong>n, daß ich im scheinbar ungehemmten <strong>und</strong> auch innerlich<br />

fortgelebten Vortrag noch mit <strong>de</strong>r längst verhallten Zeile beschäftigt bin<br />

<strong>und</strong> daß endlich beruhigte o<strong>de</strong>r erst erwachte Zweifel festgelegten Textes im<br />

Sprechen wie<strong>de</strong>r die Attacke beginnen, weil sie sich eben die Reproduktion<br />

zur Gelegenheit nehmen, <strong>de</strong>r noch nie eine häusliche Vorbereitung, Leseprobe<br />

o<strong>de</strong>r auch nur Durchsicht, bloß die Arbeit an <strong>de</strong>r Gruppierung für <strong>das</strong> Programm<br />

vorausgegangen ist. Als mein angespanntester Leser bis zum Augenblick<br />

<strong>de</strong>r Druckvollendung, nach welcher ich noch keine Zeile von mir außer<br />

coram publico gelesen habe, nehme ich willig einen solchen Zwang nur auf<br />

mich, wenn es die Redigierung fürs Buch, also die Rückverwandlung ins Manuskript<br />

gilt. Unwillig gehorche ich ihm für die doch sachlich tief empf<strong>und</strong>ene<br />

Notwendigkeit, Kampf <strong>und</strong> Kunst auch persönlich <strong>und</strong> zu unmittelbarer Wirkung<br />

auszutragen. Vor <strong>de</strong>m tiefen Mißgefühl dieser Unterwerfung, über die<br />

<strong>das</strong> sichtbare Behagen an <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rholung <strong>de</strong>s satirischen Erlebnisses täuschen<br />

könnte, wahrt mich befreiend <strong>de</strong>r Vortrag <strong>de</strong>s frem<strong>de</strong>n Textes, <strong>de</strong>m ich,<br />

wiewohl ihm gleichfalls noch nie eine an<strong>de</strong>re Vorbereitung als die <strong>de</strong>r Bearbeitung<br />

vorausgegangen ist, nichts schuldig bleibe, ohne daß er an<strong>de</strong>re Rechte<br />

an mich geltend machte als die <strong>de</strong>s Textes an seinen Darsteller.<br />

Wer<strong>de</strong>n wir uns nun, einmal für ein Dezennium, <strong>de</strong>r hier zuwegegebrachten<br />

Leistung in <strong>de</strong>n höchsten Regionen <strong>de</strong>s geistigen Schaffens reiner<br />

<strong>und</strong> positiver als alles was sämtliche Bühnen <strong>und</strong> Podien dieser Landschaft<br />

heute geben können, bewußt! Nicht um <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r Gabe zu messen — <strong>de</strong>ssen<br />

bedarf's vor <strong>de</strong>n Empfangen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Teilnehmern nicht —, nein, um uns<br />

<strong>de</strong>n Unwert einer verschworenen Gewalttätigkeit vorzustellen, die, wissend,<br />

daß hier jahraus jahrein mit einer seelischen <strong>und</strong> leiblichen Unerschöpflichkeit,<br />

für die in ihren Reihen kein Beispiel aufzubringen wäre, <strong>de</strong>r wahrhafteste<br />

Kunstbesitz im Gebiet <strong>de</strong>s gesprochenen Wortes, <strong>de</strong>r einzige in <strong>de</strong>m ihrer<br />

Stadt, dargeboten wird, eben solchem Beginnen <strong>de</strong>n Boykott in je<strong>de</strong>r Form<br />

angesagt hat. Nicht daß sie es totschweigen; nicht daß sie nicht <strong>de</strong>n Finger<br />

rühren, um ihr großes Publikum, welches sie re<strong>de</strong>nd <strong>und</strong> schweigend belügen,<br />

auf diese Möglichkeit, ohne Taschenraub zu Kunstwerten zu gelangen,<br />

aufmerksam zu machen; nicht daß sie alles dazu tun, um diese Verständigung,<br />

diese Verbreitung zu hin<strong>de</strong>rn — nein, <strong>das</strong> Schmählichste von allem ist <strong>de</strong>r<br />

schon heroische Verzicht auf je<strong>de</strong> selbst im elen<strong>de</strong>sten Schreibhandwerker<br />

noch nicht erstickte Lust, einen künstlerischen Eindruck auf sich wirken zu<br />

lassen, ist die Preisgabe eines Informationsdranges, <strong>de</strong>r keinen Humbug im<br />

Kunstgebiet unversorgt läßt, ist die Selbstverleugnung <strong>de</strong>r persönlichen Neugier<strong>de</strong>,<br />

welche doch da <strong>und</strong> dort vorhan<strong>de</strong>n sein muß. Wahrlich, über <strong>das</strong>,<br />

was sich in meinem Rayon an künstlerischen Ereignissen begibt, ziehen sie es<br />

vor, auf <strong>de</strong>m Davonlaufen<strong>de</strong>n zu sein! Noch nie — mit ganz spärlichen, kaum<br />

von <strong>de</strong>r Erinnerung kontrollierbaren Ausnahmen — noch nie haben die Angehörigen<br />

dieses geistigen Wien, Dichter, Literaten, Journalisten, auch nur einer<br />

dieser 200 Vorlesungen, einer von jenen, wo ihnen, bei Shakespeare <strong>und</strong> <strong>Nestroy</strong>,<br />

Goethe <strong>und</strong> Hauptmann, bei Raim<strong>und</strong> <strong>und</strong> Altenberg, bei <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen<br />

Lyrikern, doch kein Haar gekrümmt wer<strong>de</strong>n konnte, beigewohnt, nicht einer<br />

einzigen dieser h<strong>und</strong>ert Gelegenheiten, bei <strong>de</strong>nen ich meiner Eitelkeit <strong>und</strong><br />

meinem Zerstörerdrang im Dienst am frem<strong>de</strong>n, so vielfach erst von mir zur<br />

Geltung gebrachten, wenn nicht von mir erst ent<strong>de</strong>ckten Dichterwort frönen<br />

konnte. Und mußten doch nicht einmal fürchten, daß sie durch <strong>de</strong>n Ankauf einer<br />

Karte zu diesen Aben<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ren ganzer Ertrag bis zu vielen h<strong>und</strong>ert Millionen<br />

Zwecken zufloß, für die sie alle zusammen noch keinen Heller geopfert<br />

31


haben, die Tasche <strong>de</strong>s Todfein<strong>de</strong>s unterstützen. Welche Schmach in alle<br />

Nachwelt, auf die ich, wie mir einer aus ihrer geistigen Gegend am Weihnachtstag<br />

schrieb, mir keine Hoffnungen machen soll, auf die aber immerhin<br />

durch meine Vermittlung sie selbst gelangen wer<strong>de</strong>n! Denn eine Hohnfalte<br />

meines Gesichtes hat ausgereicht, sie zu begraben <strong>und</strong> daß ihr An<strong>de</strong>nken daraus<br />

fröhliche Urständ' feiere. Welche Schmach in alle Nachwelt, <strong>de</strong>r jene Tatsache<br />

allein <strong>und</strong> mehr als die Dokumente <strong>de</strong>r zeitlichen Nichtswürdigkeit, die<br />

ich ihr überliefere, Aufschluß geben wird über die Beschaffenheit <strong>de</strong>s Wiener<br />

Geisteslebens in diesem ersten Viertel <strong>de</strong>s Jahrh<strong>und</strong>erts, zu <strong>de</strong>ssen letzter<br />

Vollendung ich Ihnen am heutigen Tag nur eben <strong>das</strong> Glück wünschen kann,<br />

welches die Geistigkeit <strong>de</strong>r Insel, auf <strong>de</strong>r wir uns begegnen, bis heute von<br />

<strong>de</strong>m Pesthauch dieser Seelenlosigkeit abgeson<strong>de</strong>rt hat! Glauben Sie mir, ich<br />

fühle weniger Abscheu als Erbarmen mit dieser sich selbst ausstoßen<strong>de</strong>n Sorte,<br />

die da wähnt, mich ausgestoßen zu haben, die vor ihren Leserschaften die<br />

geistige Autorität verkörpert <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Angst vor <strong>de</strong>n wirken<strong>de</strong>n Mächten<br />

<strong>de</strong>r eigenen Koterie, <strong>de</strong>ren Furcht, es könnte ihr eine Lüge entw<strong>und</strong>en wer<strong>de</strong>n,<br />

ihr verbietet, sich ein Erlebnis zu verschaffen, nach <strong>de</strong>m sie manchmal<br />

verlangen mögen <strong>und</strong> vor <strong>de</strong>m, selbst wenn sie in diesen Saal gezwungen<br />

wür<strong>de</strong>n <strong>und</strong> wenn man Säue vor Perlen würfe, aller Haß schweigen müßte.<br />

Mein Erbarmen könnte mich dazu hinreißen, ihnen, unter <strong>de</strong>r Bedingung, daß<br />

sie davon nicht in ihren Zeitungen sprechen, freien Eintritt zu gewähren, ja<br />

ich gedachte schon, einen Saal mit Inkognito—Logen o<strong>de</strong>r versteckten Ausgängen<br />

zu mieten, wo, wenn ihnen Goethe keine Sicherheit gewährleistet,<br />

doch zum Schutz ihrer Abhängigkeit <strong>und</strong> zur Wahrung ihres Anspruchs, unerkannt<br />

zu bleiben, alles aufs Beste eingerichtet wäre, die Gelegenheit selbst<br />

vom Feind nicht eingesehen <strong>und</strong> für <strong>de</strong>n Zutritt, <strong>de</strong>n Aufenthalt <strong>und</strong> auch <strong>de</strong>n<br />

Abtritt mit aller Diskretion gesorgt. Aber ich weiß, sie wür<strong>de</strong>n trotz<strong>de</strong>m nicht<br />

kommen. Denn sie haben weniger Mut als selbst <strong>de</strong>r Beruf, <strong>de</strong>m die Preßfurcht<br />

eingeboren ist, die Schauspielerschaft, die die Gelegenheit etwas zuzulernen<br />

doch schon gelegentlich, wenn auch selten genug, nicht ungenützt vorübergehen<br />

ließ. Die Literatur entsagt gr<strong>und</strong>sätzlich <strong>de</strong>r Möglichkeit, Dichterwerke<br />

in einer Gestaltung zu erleben, die ihrem kritischen Sinn die Vereinigung<br />

sämtlicher Ensembles <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Theaterbetriebe vorenthielte.<br />

Sie wer<strong>de</strong>n nie <strong>Nestroy</strong> rehabilitiert sehen, nie Lumpazivagab<strong>und</strong>us <strong>und</strong> Lear,<br />

Hannele <strong>und</strong> Helena hören <strong>und</strong> schauen, sie wer<strong>de</strong>n sterben — man stelle<br />

sich <strong>das</strong> vor —, ohne die »Weber« an<strong>de</strong>rs als in <strong>de</strong>r Regie <strong>de</strong>s Herrn Karlheinz<br />

Martin kennengelernt zu haben, anstatt sie von <strong>de</strong>r wahren Raumbühne <strong>de</strong>s<br />

Geistes <strong>und</strong> <strong>de</strong>r entfesselten Lei<strong>de</strong>nschaft zu empfangen. Sie wer<strong>de</strong>n nie die<br />

in <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r theatralischen Entwicklung unerlebte Tatsache überprüfen,<br />

daß ein Menschenm<strong>und</strong> alle diese Gestalten mit aller sie umgeben<strong>de</strong>n<br />

Vielheit <strong>und</strong> Vielfältigkeit zu Gehör, nein zu Gesicht gebracht hat. Selbst nicht<br />

die feindselige Absicht <strong>de</strong>r Kontrolle, ob <strong>de</strong>nn dies alles wahr sei, was ihnen<br />

da seit Jahren <strong>das</strong> Gerücht zuträgt; nicht die Lust, mit Kompetenz einen verhaßten<br />

Prahler zu entlarven, <strong>de</strong>r sich da vermißt, auf Programmen die Entsühnung<br />

dramatischer Werke von <strong>Burgtheater</strong>aufführungen zu verheißen;<br />

nicht einmal die Neugier<strong>de</strong> nach <strong>de</strong>r abson<strong>de</strong>rlichen, aus sich selbst wirken<strong>de</strong>n<br />

Tatsache <strong>de</strong>r Publizität dieser Vorlesungen, <strong>de</strong>r »vollen Häuser«, die<br />

ohne ihre Mitwirkung zustan<strong>de</strong>gekommen sind, nichts, nichts, nichts, kein edler<br />

<strong>und</strong> kein gemeiner Trieb wird sie stacheln, einmal <strong>de</strong>m Schauspiel so vielfacher<br />

Erwartung, so vielfacher Erfüllung beizuwohnen. Nein, sie glauben alles,<br />

was man ihnen davon sagt, <strong>und</strong> eben darum bleiben sie fern. Kein Gedanke<br />

wür<strong>de</strong> mir eine ärgere Pein verursachen als daß die Gesellschaft diese Ver-<br />

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anstaltungen in ihren Mün<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> in ihren Rubriken führte gleich <strong>de</strong>m<br />

Kunstkram, zu <strong>de</strong>ssen Aburteilung sie metiermäßig zu haben ist, <strong>und</strong> wenn es<br />

ihre Pflicht wäre, auf meinen Verdruß nicht Rücksicht zu nehmen, ich wür<strong>de</strong><br />

sie ihnen, um Ruhe zu haben, noch abkaufen, Nein, sie sollen, solange ich<br />

lebe, <strong>das</strong> Schweigen nicht brechen. Aber die korporative Entschlossenheit, einem<br />

geistigen Erlebnis aus <strong>de</strong>m Weg zu gehen, macht sie, wenn sie es nicht<br />

schon durch ihre Existenz waren, schuldig <strong>de</strong>s Hochverrats an <strong>de</strong>r Wahrheit,<br />

<strong>und</strong> kein Pfuiruf dränge stark genug von <strong>de</strong>m Podium <strong>de</strong>s Selbstbewußtseins<br />

in <strong>das</strong> unsichtbare Parterre dieser Menschenfurcht! Es sollen nicht darstellerische<br />

Kunstwerte als solche, zugunsten <strong>de</strong>s einen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>rn, verglichen<br />

wer<strong>de</strong>n, wenn ich zu <strong>de</strong>r Vorstellung auffor<strong>de</strong>re, daß diese Zunft sich<br />

verschworen hätte, aus irgen<strong>de</strong>inem Gr<strong>und</strong>e, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Darstellung <strong>de</strong>r Gioconda<br />

nichts zu tun hat — sagen wir, weil einer einmal aus <strong>de</strong>m Hotel hinausgeworfen<br />

wur<strong>de</strong> —, die Erscheinung <strong>de</strong>r Duse nicht allein aus ihrer kritischen<br />

Tätigkeit, nein aus ihrer menschlichen Empfänglichkeit, nein aus <strong>de</strong>m zeitgenössischen<br />

Bewußtsein auszumerzen. Aber sie können nicht mehr an<strong>de</strong>rs. Sie<br />

wür<strong>de</strong>n je<strong>de</strong>n Fluch im »Timon«, <strong>de</strong>n ich spreche, persönlich nehmen, je<strong>de</strong>n<br />

Satz im »Lear« als eine Anspielung empfin<strong>de</strong>n, die »Pandora« als einen Angriff<br />

auf die Neue Freie Presse, <strong>und</strong> im Sinne <strong>de</strong>r kosmischen Zusammenhänge<br />

zwischen <strong>de</strong>n Höhen <strong>de</strong>r Kunst <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Tiefen <strong>de</strong>r Zeit hätten sie ja Wahrscheinlich<br />

recht. Es möchte kein H<strong>und</strong> so länger leben.<br />

Aber ihre Absenz ist doch nur eine kleine Entschädigung für <strong>de</strong>n großen<br />

Schmerz, <strong>de</strong>n sie durch ein Faktum erlei<strong>de</strong>n, welches durch sich selbst <strong>und</strong><br />

nicht durch die Gna<strong>de</strong> besteht, die von ihrer Macht verliehen wird. H<strong>und</strong>ertfach<br />

verschärft durch <strong>das</strong> h<strong>und</strong>ertfältige Erlebnis, daß diese Macht in ihrem<br />

eigensten Gebiet zur Wirkungslosigkeit verdammt ist <strong>und</strong> nicht nur nicht imstan<strong>de</strong>,<br />

mit <strong>de</strong>r ihr zu Gebot stehen<strong>de</strong>n Quantität <strong>de</strong>m Schein <strong>de</strong>r Qualität<br />

aufzuhellen, son<strong>de</strong>rn nicht einmal fähig, von ihr etwas an die Quantität abzugeben,<br />

an <strong>das</strong> Geschäft. Denn es stellt sich immer klarer heraus, daß Kitsch<br />

<strong>und</strong> Sch<strong>und</strong> stark genug sein können, um <strong>das</strong> Publikum, zu <strong>de</strong>m die geistigen<br />

Autoritäten sprechen, auch ohne <strong>de</strong>ren Empfehlung zu gewinnen. Das ist bei<br />

<strong>de</strong>m Amüsiergewerbe <strong>de</strong>r neuen Operetten <strong>und</strong> »Revuen« <strong>de</strong>r Fall <strong>und</strong> bei all<br />

<strong>de</strong>m Genre, zu <strong>de</strong>ssen Ausübung eine angeborene Min<strong>de</strong>rwertigkeit gehört,<br />

etwa wie mir einmal ein Athlet von seinem Metier bekannte: »Dazu muß man<br />

von Natur prostituiert sein«. Wenn die Manager dieser Fertigkeit noch mit<br />

Freikarten <strong>und</strong> Annoncen zahlen, so ist <strong>das</strong> hinausgeworfenes Geld, weil auf<br />

solchen Leim die Fliegen auch ohne Zucker fliegen. Aber jegliche an<strong>de</strong>re<br />

Kunstbetätigung <strong>de</strong>r Mittelmäßigkeit, die scheinbar <strong>de</strong>r publizistischen Nachhilfe<br />

bedarf, kann sich <strong>de</strong>ren Kosten ersparen, weil sie völlig wirkungslos<br />

bleibt. Die Konzert— <strong>und</strong> Vortragssäle stehen leer <strong>und</strong> die sogenannten<br />

Künstler bezahlen ihre Impresarios dafür, daß sie die Bezahlung einer Presse<br />

vermitteln, die mit täglicher Reklame <strong>de</strong>m Zustand nicht abzuhelfen vermag.<br />

Einer <strong>de</strong>r Auguren (<strong>de</strong>n ich aber bitte, einen Augur nicht für einen Argus anzusehen,<br />

o<strong>de</strong>r gar für <strong>de</strong>n Proteus, mit <strong>de</strong>m er ihn verwechselt haben dürfte),<br />

also Herr Salten weiß diesen Zustand als Sanierungssymptom zu <strong>de</strong>uten <strong>und</strong><br />

sagt, es sei gut, daß die Zeit <strong>de</strong>r ausverkauften Theater <strong>und</strong> Konzertsäle vorbei<br />

sei, <strong>de</strong>nn es sei die Zeit <strong>de</strong>r Inflation gewesen:<br />

Die Leute ... drängen sich nicht mehr zu je<strong>de</strong>m Schmarrn — — Wir<br />

nähern uns ja in manchen Belangen, so nach <strong>und</strong> nach, halbwegs<br />

<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Bedingungen wie<strong>de</strong>r, die einst, in Frie<strong>de</strong>nstagen,<br />

geherrscht haben, <strong>und</strong> wir müssen Gott sei Dank dazu sagen.<br />

Der Pianist, <strong>de</strong>r eine bekannte Dame mit <strong>de</strong>r Scherzanwendung in<br />

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sein Konzert lud: »Kommen Sie doch, sonst sind wir dreizehn«,<br />

hat die Situation, die heute, wie in <strong>de</strong>n Theatern auch in <strong>de</strong>n Konzertsälen<br />

herrscht, nicht allzusehr übertrieben. Geigt <strong>de</strong>r Hubermann<br />

o<strong>de</strong>r Prihoda, singt Battistini o<strong>de</strong>r Selma Kurz o<strong>de</strong>r Julie<br />

Culp, mit einem Worte, wenn eine Größe ersten Ranges auf <strong>de</strong>m<br />

Podium steht, dann gibt es einen ausverkauften Saal, sonst aber<br />

gähnen<strong>de</strong> Leere o<strong>de</strong>r Wattierung mit Freikarten, wie im Theater.<br />

Der Geldstrom rauscht eben nicht mehr in so hohen Wellen wie<br />

einst, als noch alle Welt vom Börsentaumel besessen war.<br />

Auf meine dreißig— bis vierzigmal im Jahre gefüllten Säle, auf die ja die Verstimmung<br />

<strong>de</strong>r Börse so wenig Einfluß hat wie die <strong>de</strong>r Presse, scheint Herr<br />

Salten hier nicht angespielt zu haben. Aber selbst er, <strong>de</strong>r allerdings kürzlich<br />

auf meine Eitelkeit angespielt hat, wird es mir glauben, daß mir nichts weniger<br />

nahe geht als dieser alleräußerlichste Ausdruck meiner Vortragswirkung<br />

<strong>und</strong> daß ich in ihr einen ganz an<strong>de</strong>rn Erfolg als <strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Kassenausweises<br />

schätze. Aber kein an<strong>de</strong>rer als eben dieser fasziniert ja die Welt, zu <strong>de</strong>r Herr<br />

Salten spricht, <strong>und</strong> es wäre doch einmal interessant, wie sie sich zu <strong>de</strong>r Tatsache<br />

stellt, daß, was eingestan<strong>de</strong>nermaßen in ihrem Machtbereich <strong>de</strong>r Quantität<br />

nicht gelingen kann, hier ohne die leiseste Aufbietung ihres Apparats zustan<strong>de</strong>kommt,<br />

<strong>und</strong> daß <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rreißer, auf <strong>de</strong>n Herr Salten kürzlich angespielt<br />

hat — <strong>de</strong>nn so weit dürfen sie notiznehmen — eben <strong>das</strong> vermag, was sie<br />

als die positivste Leistung schätzen, aber nicht vermögen: »Häuser machen«,<br />

also aufbauen. Daß die von Herrn Salten genannten Künstler ein— o<strong>de</strong>r zweimal<br />

in <strong>de</strong>r Saison ihren, abzüglich <strong>de</strong>r Journalistenplätze, ausverkauften Saal<br />

haben, ist ein Resultat, <strong>das</strong> sie wahrscheinlich einer wochenlangen Presse—<br />

<strong>und</strong> Plakatreklame verdanken <strong>und</strong> <strong>das</strong> ihre Impresarios vielleicht auch mit<br />

weniger Kosten, an <strong>de</strong>ren Aufwendung sie verdienen, erzielen wür<strong>de</strong>n. Aber<br />

wie geht es nur zu, daß die Presse selber die gähnend leeren o<strong>de</strong>r wattierten<br />

Säle all <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn Künstler zugibt, für <strong>de</strong>ren Empfehlung sie doch an je<strong>de</strong>m<br />

Tag Unsummen, nie einbringbare, aus ihren Taschen zieht? Es ist wahr, die<br />

Leute drängen sich nicht zu je<strong>de</strong>m Schmarrn, auch wenn sie noch so oft durch<br />

Kreuzelnotizen auf ihn gestoßen wür<strong>de</strong>n. Und daß <strong>de</strong>m so ist, hat einer mit einer<br />

Eindringlichkeit erfahren müssen, <strong>de</strong>ren Beispiel in <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r<br />

Wiener Vortragssäle fortleben wird. Denn wenn Herr Salten meint, daß die<br />

Auffor<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Pianisten, in sein Konzert zu kommen, weil wir sonst dreizehn<br />

sind, nicht übertrieben sei, so sind seine eigenen Versuche, vor <strong>das</strong> Publikum<br />

zu treten, ein Beweis dafür, daß zwar nicht eine solche Auffor<strong>de</strong>rung,<br />

aber die approximative Schätzung, daß es dreizehn sein wer<strong>de</strong>n, sehr übertrieben<br />

ist. Die Anekdote muß erzählt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn ihr Witz besteht eben<br />

darin, daß sie nicht erf<strong>und</strong>en ist. Nach<strong>de</strong>m ich zugunsten <strong>de</strong>r hungern<strong>de</strong>n<br />

Russen einige Vorlesungen gehalten hatte, <strong>de</strong>ren materielles Ergebnis die<br />

Schufterei <strong>de</strong>r Wiener Presse beschämte, welche <strong>de</strong>n Leitern <strong>de</strong>r russischen<br />

Nothilfe je<strong>de</strong> Notiz verweigert hatte, fühlte sich <strong>das</strong> Komitee angeregt, auch<br />

an<strong>de</strong>re Künstler <strong>und</strong> Schriftsteller zu einer Betätigung aufzufor<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>ren<br />

Wirksamkeit für <strong>de</strong>n edlen Zweck zwar nicht vorweg gesichert war, aber von<br />

<strong>de</strong>r Mitwirkung <strong>de</strong>r publizistischen Gunst erhofft wer<strong>de</strong>n konnte. Mit Ausnahme<br />

<strong>de</strong>s Herrn Richard Strauß ließen sie sich nicht vergebens bitten. Das Ergebnis<br />

war eine Vermehrung <strong>de</strong>r russischen Hungersnot, an <strong>de</strong>r Herr Salten<br />

insoferne <strong>de</strong>n hervorragendsten Anteil hatte, als seine Vorlesung im Künstlerhaus<br />

abgesagt wer<strong>de</strong>n mußte, weil die Ankündigung in <strong>de</strong>r Presse, die in diesem<br />

Fall, wenn nicht wegen <strong>de</strong>r hungern<strong>de</strong>n Russen, so doch wegen <strong>de</strong>s Vortragen<strong>de</strong>n,<br />

spontan <strong>und</strong> kostenlos erfolgte, ein gera<strong>de</strong>zu sensationelles Resul-<br />

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tat gezeitigt hat: es waren zwei Stehplätze verkauft wor<strong>de</strong>n. Eine Rarität, die<br />

doch allein schon einen Massenbesuch <strong>de</strong>r Vorlesung gelohnt hätte. Wohl um<br />

<strong>das</strong> Aufsehen nicht zu vermehren, haben sich die bei<strong>de</strong>n Verlustträger bis<br />

heute nicht zum Empfang <strong>de</strong>r Eintrittsgebühr gemel<strong>de</strong>t, <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Veranstalter<br />

hofft, daß es durch meine Vermittlung geschehen wer<strong>de</strong>; <strong>de</strong>nn es war kein an<strong>de</strong>rer<br />

als jener, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Mithilfe an <strong>de</strong>n wohltätigen Werken, <strong>de</strong>nen meine<br />

eigenen Vorträge gewidmet sind, so viel Selbstlosigkeit beweist <strong>und</strong> <strong>de</strong>m ich<br />

<strong>das</strong> Arrangement eines Salten—Abends für einen so guten Zweck wie <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

russischen Nothilfe keineswegs verwehrt hatte. »Kommen Sie doch, sonst<br />

sind wir dreizehn« wäre also in diesem Fall schier eine Renommage gewesen.<br />

Nein, freuen wir uns, daß wir zwei solche Kerle haben! Aber ich fürchte, als<br />

Besitzer <strong>de</strong>r Stehplätze, die sie so vorsichtig waren sich rechtzeitig zu sichern,<br />

bestehen sie auf ihrem Schein <strong>und</strong> wer<strong>de</strong>n sich nicht mel<strong>de</strong>n. Es heißt,<br />

sie stehen noch heute <strong>und</strong> warten auf die Vorlesung, bis sich die Sage um sie<br />

spinnt. Um Mitternacht, wenn ich nachhause gehe, sehe ich sie zuweilen um<br />

<strong>das</strong> Künstlerhaus herumschleichen, <strong>das</strong> ja an <strong>und</strong> für sich <strong>de</strong>r Sagenbildung<br />

zugänglich ist, gesenkten Hauptes, sie sind traurig, <strong>und</strong> harren <strong>de</strong>r Erlösung,<br />

daß ihnen einmal Herr Salten begegnet, an <strong>de</strong>n sie eine alte For<strong>de</strong>rung haben.<br />

Neulich, als ich sie sah, mußte ich an die bei<strong>de</strong>n Grenadiere <strong>de</strong>nken, die<br />

in Rußland gefangen waren. Sie hörten die traurige Mär, daß die Vorlesung<br />

abgesagt sei, <strong>und</strong> weinten zusammen wohl ob <strong>de</strong>r kläglichen K<strong>und</strong>e. Der eine<br />

hat Weib <strong>und</strong> Kind zuhaus, die ohne ihn ver<strong>de</strong>rben, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re trägt weit besseres<br />

Verlangen, nämlich nach <strong>de</strong>r Vorlesung zugunsten <strong>de</strong>r Russen, die er<br />

aber gleichfalls betteln gehn ließe, wenn sie hungrig sind. Bei<strong>de</strong> wären aus<br />

Treue gegen Salten entschlossen, <strong>de</strong>n Kaiser, <strong>de</strong>n Kaiser zu schützen! Wenn<br />

ich noch hinzufüge, daß die Begebenheit in <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>r Inflation spielt, wo<br />

die Leute sich doch zu je<strong>de</strong>m Schmarrn gedrängt haben, <strong>und</strong> nicht erst in <strong>de</strong>r<br />

Zeit <strong>de</strong>r Sanierung, so mag man ermessen, wie es um die einzige Kulturmission,<br />

die dieser Presse noch geglaubt wer<strong>de</strong>n könnte: Säle zu füllen, in Wahrheit<br />

bestellt ist. Sie ist nicht einmal imstan<strong>de</strong>, <strong>das</strong> Publikum zu betrügen. Sie<br />

kann nur die Künstler betrügen, <strong>de</strong>nen sie unter <strong>de</strong>r Vorspiegelung, jenes<br />

noch zu können, Reklamegel<strong>de</strong>r abknöpft. Sie versagt selbst als Propaganda<br />

<strong>de</strong>r künstlerischen Tatsachen, als Reklamegelegenheit, als Litfaßsäule, sie<br />

versagt in ihrem ureigensten publizistischen Bezirk. Sie lebt nur vom Betrug<br />

<strong>de</strong>r Schwachen, <strong>de</strong>nen sie ihre Macht einre<strong>de</strong>t, <strong>und</strong> sie mästet sich von <strong>de</strong>r<br />

Furcht <strong>de</strong>r Wissen<strong>de</strong>n, daß sie, wo sie schon nicht nützen kann, doch scha<strong>de</strong>n<br />

könnte. Aber daß sie ihren Lieblingen, ihren eigenen Autoren, <strong>de</strong>ren Namen<br />

sie täglich auch gratis unter die Leute bringt, nicht zu helfen vermag, ist die<br />

weit blamablere Entblößung ihrer Scheinmacht als daß meine Gegenwelt <strong>de</strong>s<br />

ganzen Pl<strong>und</strong>ers ihrer Reklame entraten kann, um zu bestehen, um nach Belieben<br />

<strong>de</strong>n größten Saal <strong>de</strong>r Stadt bis auf die letzten zwei Stehplätze zu füllen,<br />

ohne ihren Lockruf, ohne die Unsummen, die er kosten wür<strong>de</strong>, auf die schlichte<br />

Programmnotiz hin, die bloße Schleife im Schaufenster <strong>de</strong>s Kartenbüros, ja<br />

auf Gerücht <strong>und</strong> mündliche Überlieferung hin, die einfach jene, die hören wollen,<br />

zu <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>r Gelegenheit aufruft. Es muß doch etwas gegen die<br />

Reinheit <strong>de</strong>s Spiegels beweisen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Leuten meinen Solipsismus vorspiegelt,<br />

daß ich für meine Vorlesungen sogar meine eigene Publizität nur im<br />

Nachhinein, für die Notierung ihrer Tatsache, in Anspruch nehme, aber die so<br />

ergiebige wie billige Annoncengelegenheit <strong>de</strong>r Fackel fast durchaus verschmähe;<br />

<strong>und</strong> wenn eine Ankündigung gelegentlich in <strong>de</strong>r Arbeiter—Zeitung<br />

erfolgte, war es klar, daß <strong>de</strong>r Veranstalter nicht <strong>de</strong>n Zweck <strong>de</strong>r Werbung im<br />

Auge hatte, son<strong>de</strong>rn bloß <strong>de</strong>r Verständigung würdiger Interessenten über<br />

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einen Termin, <strong>de</strong>n sie nicht versäumen wollten. Man kann, ohne einer Übertreibung<br />

schuldig zu wer<strong>de</strong>n gleich <strong>de</strong>m Vorgeben, daß dreizehn bei <strong>de</strong>r Veranstaltung<br />

eines Wiener Autors zugegen seien, ohneweiteres sagen, daß mit<br />

<strong>de</strong>n Personen, die in meinen Sälen keinen Platz mehr erhalten, die <strong>de</strong>r Wiener<br />

Literatur gefüllt wer<strong>de</strong>n könnten. Aber selbst die wollen nicht vorliebnehmen,<br />

<strong>de</strong>nn die Zeit <strong>de</strong>r Inflation ist eben vorbei. Man versteht, daß ich <strong>das</strong> Ereignis<br />

einer »Zugkraft«, die mich als äußere Erfolgstatsache bei Gott selbst nicht<br />

zum heutigen Anlaß feierlich stimmen wür<strong>de</strong>, ausschließlich aus <strong>de</strong>m Gr<strong>und</strong><br />

erörtert habe, weil es weit <strong>und</strong> breit keinen kulturellen Umstand geben könnte,<br />

aus <strong>de</strong>m sich die Problematik <strong>de</strong>r Presse in ihrer eigentlichen Funktion so<br />

sinnfällig herausstellt — so kraß, daß selbst die Werbekraft meines Programms<br />

für einen beliebigen Liebling stärker wäre als die <strong>de</strong>r ganzen ihm zugänglichen<br />

Reklame —, <strong>und</strong> weil doch nichts so sehr in <strong>das</strong> Gebiet meiner Diskussion<br />

gehört wie die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s Verfalls <strong>de</strong>r käuflichen Autorität.<br />

Doch wenn es je eine kulturelle Beson<strong>de</strong>rheit gegeben hat, die <strong>de</strong>r öffentlichen<br />

Darstellung wert <strong>und</strong> würdig war, so ist es nicht <strong>das</strong> äußere Maß<br />

meiner Wirkung, son<strong>de</strong>rn <strong>das</strong> Ereignis <strong>de</strong>r innersten Teilnahme, dieses W<strong>und</strong>er<br />

einer aus sich selbst bewegten, nie ermü<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n, oft genug opferwilligen<br />

<strong>und</strong> unter Ausschluß an<strong>de</strong>rn Kunstgenusses bewährten Anhänglichkeit an ein<br />

geistiges Erlebnis, <strong>de</strong>m sie die Treue geschworen hat, die ich ihr mit <strong>de</strong>m<br />

Dank <strong>de</strong>r Leistung vergelte. Wenn es ein Schauspiel in diesem elen<strong>de</strong>n Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

gab, <strong>das</strong> <strong>de</strong>r Betrachtung wahrlich wert war, so war es die Begeisterung<br />

dieser Jugend, war es <strong>de</strong>r immer wie<strong>de</strong>r ergreifen<strong>de</strong> Anblick dieses Zudrangs<br />

<strong>de</strong>r Seelen, <strong>de</strong>r hoffen<strong>de</strong>n <strong>und</strong> hoffnunggewähren<strong>de</strong>n, zu dieser Inselwelt,<br />

auf <strong>de</strong>r doch nichts als die Verzweiflung an <strong>de</strong>r umgeben<strong>de</strong>n Schmach<br />

<strong>und</strong> Lüge laut wird. Aber nie wird solchem Schauspiel, <strong>das</strong> alle musischen Begebenheiten<br />

dieser Außenwelt überstrahlt, aus ihr ein Lobredner erstehen,<br />

nie ein an<strong>de</strong>rer als eben <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n noch die Dankbarkeit in <strong>de</strong>n Verdacht <strong>de</strong>r<br />

Eitelkeit bringen wird. Wir wollen stolz diesen Verdacht teilen, stolz auf <strong>de</strong>n<br />

Beweis, daß wenn es überhaupt ein geistiges Wien gibt, es in diesem Saal,<br />

zwischen <strong>de</strong>m Tisch auf <strong>de</strong>m Podium <strong>und</strong> <strong>de</strong>m letzten Stehplatz, versammelt<br />

ist, stolz auf die Berechtigung, diesen Namen einer geistigen Fälscherban<strong>de</strong><br />

entreißen zu können, am stolzesten aber darauf, daß wir, um uns zu begegnen,<br />

nicht ihrer För<strong>de</strong>rung brauchen, <strong>und</strong> um uns in glücklichster Wechselwirkung<br />

zu erleben, frei sind von <strong>de</strong>r Anwesenheit jener, die nicht hören wollen,<br />

weil sie zu fühlen fürchten.<br />

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