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12 Andreas Fischer – Reden über HIV. Reden über HIV? Blickpunkt Aids Reden über HIV. Reden über HIV? Andreas Fischer Als Harvey Milk im November 1977 zum ersten offen schwulen Stadtrat von San Francisco gewählt wurde, war das ein Meilenstein für die Homosexuellenbewegung. Schwulsein bedeutete damals noch, einen Großteil seiner Energie darauf zu verwenden, seine sexuelle Orientierung zu verbergen, um Anfeindungen zu vermeiden. Milk war eine charismatische Persönlichkeit und wurde zum Hoffnungsträger der Homosexuellen nicht nur in den USA. Als Stadtrat kämpfte er für die Rechte Homosexueller und anderer Minderheiten in San Francisco. Einer seiner größten Erfolge war sein politischer Kampf gegen die so genannte Vorlage 6 der Republikaner, die es ermöglichen sollte, gegen homosexuelle Lehrer ein Berufsverbot auszusprechen. Die Vorlage wurde, trotz aller Anfeindungen und Bedrohungen seitens der Konservativen, von der Bevölkerung mit überraschend großer Mehrheit abgelehnt. Erstmals war es einem Schwulen, der den Mut zum Coming-out hatte, gelungen, auch konservative Menschen zu überzeugen. Nachdem der Wahlausgang feststand, wandte sich Harvey Milk an seine Wähler: “Den vielen, die uns unterstützt haben, sind wir etwas schuldig. Wir sind ihnen schuldig, unsere Aufklärungskampagne fortzusetzen. Schluss mit den ganzen Märchen, ein für allemal. Wir müssen weiter offen unsere Meinung sagen, und, was am wichtigsten ist: Jeder Homosexuelle muss sich zu erkennen geben! So schwer es auch ist, ihr müsst es der Familie sagen, den Verwandten, müsst es euren Freunden erzählen, wenn es Freunde sind, den Nachbarn, erzählt es euren Arbeitskollegen und auch da, wo ihr einkauft! Wenn sie begreifen, dass wir wirklich ihre Kinder sind und überall, dann werden alle Lügen, jeder Spott ein für allemal beseitigt sein. Wenn Ihr das schafft, dann werdet Ihr euch so viel besser fühlen!“ Harvey Milk konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass nur wenige Jahre später die Aidskatastrophe über uns hereinbrechen sollte, die ganz andere Herausforderungen stellen sollte als den Mut zum Coming-out. Er hat das alles nicht mehr mitbekommen, denn nach nur elfmonatiger Amtszeit wurde er von dem neiderfüllten, homophoben Stadtrat Dan White in der City Hall erschossen. Die Aufforderung zum Coming-out wurde so zu Harvey Milks Vermächtnis. Aids war radikaler als alle Appelle von Harvey Milk und zerrte todkranke Homosexuelle, ohne sie zu fragen, in das Blickfeld der Öffentlichkeit: “Der hat Aids, dann ist er ja wohl auch schwul!” Ein prominentes Opfer war Rock Hudson, Hollywood-Schönling, Frauenheld in unzähligen Rollen. Sein aidsbedingter körperlicher Verfall machte seine Homosexualität ungefragt und schonungslos öffentlich. Ein Nebeneffekt der Aidstragödie war aber auch, dass Homosexualität endlich zu einer in der Öffentlichkeit wahrgenommenen und in breiten Kreisen akzeptierten Lebensform wurde. HIV-Positive, Aidskranke und Aids-Aktivisten traten in Talkshows auf; Aufklärungsarbeit, Safer-Sex-Kampagnen und dauernde Berührung mit den Themen der Homosexuellen haben
engagieren Andreas Fischer – Reden über HIV. Reden über HIV? 13 zu Freiheiten beigetragen, die jungen Homosexuellen heute schon fast selbstverständlich erscheinen. Was damals noch als Utopie angesehen wurde, ist heute Realität: Wir haben offen schwule Bürgermeister und Parteivorsitzende, die mit ihrem Partner in der Öffentlichkeit auftreten können, ohne dadurch Nachteile zu haben. Harvey Milk hätte an dieser gesellschaftlichen Entwicklung seine Freude gehabt. Wie aber ist es um die gesellschaftliche Situation der Positiven im Jahr 2005 bestellt, nach nunmehr 20 Jahre andauernder Aidskrise, nach beträchtlichen Fortschritten in Wissenschaft und Medizin und angesichts der Veränderungen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung homosexueller Lebenswelten? Ein kurzer Blick in das Jahr 1984. Damals wurde aus Angst vor Ansteckung überlegt, an Aids Verstorbene in Zinksärgen zu beerdigen. Eltern beleidigten ihre verstorbenen Söhne mit Nachrufen, die so sehr die Todesursache zu kaschieren versuchten, dass diese jedem klar wurde. Man holte sich heimlich, einsam und voller Panik sein Testergebnis mit dem Gedanken an den letzten, womöglich sogar lediglich vermeintlichen Fehltritt und der in Stein gemeißelten Gewissheit „Gleich Jubel oder Todesurteil“. 20 Jahre später profitieren in unseren Breitengraden viele von der antiretroviralen Therapie (HAART). Viele, wenn auch nicht alle Betroffene kommen mit dem Medikamentencocktail so gut zurecht, dass sie eine klare Zukunftsperspektive haben und Aids für sie eine mögliche Todesursache unter anderem ist. Die Kombitherapie hat trotz ihrer Nebenwirkungen und vieler ungelöster Fragen in medizinischer Hinsicht die Lebenssituation vieler Positiver entscheidend verbessert. Alles ist gut? Die HIV-Infektion nur noch ein überschaubares medizinisches Problem? Eine Krankheit, über die wir also reden können, so wie ein Snowboarder über gerissene Kreuzbänder? Davon sind wir weit entfernt! HIV und Aids kommen in Gesprächen unter Homosexuellen kaum vor und existieren eigentlich nur noch im Kreis der Aktivisten. Gut geschützt durch eine funktionierende Kombitherapie bemühen sich die meisten Positiven heute im Wesentlichen darum, als Positive unsichtbar zu sein. Nach dem Drama der letzten 20 Jahre ist es verständlich, dass wir das Thema aus unserem Alltag heraushalten und leben wollen, ohne ständig an Viruslast und Immunwerte zu denken. Das ist auch bei anderen Krankheiten so. Mittlerweile scheint aber aus diesem berechtigten Wunsch eine starke und für uns alle eher nachteilige Verdrängung geworden zu sein. Die folgenden Erfahrungen aus den letzten Monaten zeigen, wie unterschiedlich die Reaktionen auf das Thema HIV sind und wie schwer es vielen fällt, mit HIV rational umzugehen und offen über die Infektion zu reden. Albert (alle Namen sind fiktiv) war intelligent, beruflich erfolgreich, voller Lebensfreude und Energie. Er wirkte perfekt. Ich erzählte ihm, dass ich HIV-positiv bin, dadurch viel lernen musste und jetzt dank der Therapie wieder weitestgehend so leben kann wie vor der Infektion. In dem Moment brach es aus ihm heraus: ein ungeschützter sexueller Kontakt, seit Monaten die Angst vor der Infektion, die Scham vor den Eltern, die doch gerade erst akzeptiert hatten, dass er schwul ist, die Sorge um die berufliche Zukunft. Er hatte kein Testergebnis, keine Gewissheit, keine Krankheitssymptome. Und mit wem hatte er bis dahin über seine aufgestauten Ängste gesprochen? Mit niemandem. Ich wünsche mir mehr Mut zum Dialog, damit diese lähmende Angst vor HIV, die ich von mir selbst aus der Zeit vor meiner Infektion kenne und jetzt nicht mehr habe, langsam verschwindet. Reden über HIV sollte Menschen wie Albert helfen, HIV so wahrzunehmen, wie es sich meines Erachtens heute darstellt: Vorsicht und Safer Sex sind weiterhin notwendig, aber die Panik der ersten Jahre nach der Entdeckung von HIV ist nicht mehr angebracht. Wie schwer das Reden jedoch fällt, lässt sich daran ermessen, dass sich Albert nach unserem Gespräch wieder völlig zurückgezogen hat, wohl um das Thema in Zukunft wieder zu verdrängen. Bernhard wollte einfach nur Sex. Als ich über meine Infektion sprach, ging jedoch nichts mehr. Einerseits habe ich mich natürlich über die entgangene „Gelegenheit“ geärgert, vor allem, weil es vor einem One Night Stand absolut nicht notwendig ist, über seine HIV-Infektion zu reden, solange ich mich an die Safer-Sex- Regeln halte. Andererseits hat sich das Reden dann doch gelohnt, denn mittlerweile ruft er mich zuweilen mit Fragen zu HIV und Aids an. Chris hat mich erst mal tröstend in seine Arme genommen. Von den Therapien wusste er nicht viel. Auch wenn er heute noch ab und zu besorgt nachfragt, wie es mir geht, merkt er doch nach und nach, dass ich dank HAART ziemlich problemlos mit meiner Infektion leben kann. Vielleicht steigt sein Mut, den aus Panik vermiedenen und doch so wichtigen HIV-Test zu machen, wenn er sieht, wie man heute mit den Medikamenten nicht nur überleben, sondern leben kann. Mit Frank konnte ich mir eine Beziehung vorstellen. Also war es mir besonders wichtig, sehr bald über meine Infektion zu reden, um nicht in die unangenehme Situation zu geraten, erst lange Zeit nach dem Kennenlernen zugeben zu müssen, dass ich nicht genügend Vertrauen und Mut zur Offenheit hatte. Ich weiß nicht mehr, ob ich noch überrascht war, als er mir daraufhin sagte, er sei auch positiv. Überrascht war ich auf jeden Fall darüber, dass
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