"Das Ich und sein Gehirn - Revolutioniert die Hirnforschung das ...
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http://www.mediaculture-online.de<br />
Autor: Caspary, Ralf.<br />
Titel: <strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>und</strong> <strong>sein</strong> <strong>Gehirn</strong> - <strong>Revolutioniert</strong> <strong>die</strong> <strong>Hirnforschung</strong> <strong>das</strong> Menschenbild?<br />
Quelle: SWR 2 Wissen; Manuskript<strong>die</strong>nst Stuttgart 2004. 12<br />
Verlag: Südwestr<strong>und</strong>funk.<br />
Die Veröffentlichung erfolgt mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung des Autors <strong>und</strong> des Verlags<br />
Ralf Caspary<br />
"<strong>Das</strong> <strong>Ich</strong> <strong>und</strong> <strong>sein</strong> <strong>Gehirn</strong> - <strong>Revolutioniert</strong> <strong>die</strong><br />
<strong>Hirnforschung</strong> <strong>das</strong> Menschenbild?"<br />
O-Ton 1a (ZDF - Philosophisches Quartett):<br />
(Musik <strong>und</strong> Klatschen) „Guten Abend, meine Damen <strong>und</strong> Herren. <strong>Ich</strong> begrüße Sie zu einer<br />
neuen Folge unserer Sendung <strong>das</strong> Philosophische Quartett'. Unsere Gäste diskutieren<br />
heute über <strong>die</strong> Frage: Wie frei ist <strong>das</strong> <strong>Gehirn</strong>?"<br />
Sprecher:<br />
Wer hätte <strong>das</strong> gedacht: Eine wissenschaftliche Disziplin, <strong>die</strong> dem Laien Angst macht, weil<br />
sie kühl <strong>und</strong> sachlich unser edelstes Organ, <strong>das</strong> <strong>Gehirn</strong>, mit großem technischem<br />
Raffinement durchleuchtet, scheint in den letzten Monaten eine gesellschaftliche<br />
Relevanz erhalten zu haben, <strong>die</strong> sie sogar tauglich macht für den Diskurs in<br />
Fernsehtalkshows. Im „Philosophischen Quartett" des ZDF zerbrachen sich <strong>die</strong><br />
Fernsehphilosophen Peter Sloterdijk <strong>und</strong> Rüdiger Safranski zusammen mit geladenen<br />
Gästen <strong>die</strong> gelehrten Köpfe über einige Ergebnisse der <strong>Hirnforschung</strong>.<br />
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O-Ton 1 b (ZDF - Philosophisches Quartett):<br />
„Es scheint ja, <strong>das</strong>s in Europa immer irgendein unheimlicher Gast vor der Tür steht, im 18.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert war es der Wilde, der an unsere Türen klopfte, <strong>und</strong> an der Wende vom 20.<br />
zum 21. stellt sich ein neuer Gast vor, <strong>das</strong> <strong>Gehirn</strong>."<br />
Sloterdijk sprach im Philosophischen Fernseh-Quartett nicht nur von einem neuen<br />
unheimlichen Gast, sondern auch von einer neuen Kränkung. Seine These lautet: Die<br />
moderne <strong>Hirnforschung</strong> verunsichere uns zutiefst, weil sie liebgewordene Sicherheiten<br />
<strong>und</strong> vielfach eingeübte Denkmuster <strong>und</strong> Denkbilder rigoros in Frage stelle, vielleicht sogar<br />
ein für allemal auf den Schutthaufen der Geschichte verbanne.<br />
Fern von jeglichem medialen Geplauder arbeitet Thomas Metzinger als Philosoph an der<br />
Universität Mainz <strong>und</strong> verfolgt <strong>die</strong> Fortschritte innerhalb der Neurowissenschaften<br />
aufmerksam <strong>und</strong> kritisch. Den Begriff Kränkung hält er zwar für überzogen, dennoch sagt<br />
auch er, <strong>das</strong>s <strong>die</strong> <strong>Hirnforschung</strong> unser traditionelles Selbstverständnis in entscheidenden<br />
Punkten korrigiert:<br />
O-Ton 2 - Thomas Metzinqer:<br />
Die <strong>Hirnforschung</strong> verändert unser Menschenbild gegenwärtig so stark wie keine andere<br />
wissenschaftliche Theorie, vor allem auch in einem Tempo, wie es in der Geschichte der<br />
Menschheit noch nie stattgef<strong>und</strong>en hat.<br />
Bisher hatten wir immer <strong>die</strong> Idee, <strong>das</strong>s es doch zumindest einen Rest, einen Kern gibt, ein<br />
transzendentales Subjekt, <strong>das</strong> nicht natürlich ist im Menschen. Und jetzt gerät <strong>das</strong> erste<br />
Mal ein Bild in Umlauf, <strong>das</strong> auch sehr überzeugend ist, <strong>das</strong> zeigt, wie wir auch in unseren<br />
geistigen Eigenschaften, in unserem Selbstgefühl ganz von unten uns entwickelt haben<br />
<strong>und</strong> nur natürliche Wurzeln haben in unserem Kern. Diese Erkenntnisse berühren uns auf<br />
verschiedene Weise in unserer geistigen Intimsphäre. Und vielen Menschen widerstrebt<br />
es intuitiv, <strong>das</strong>s auch unser Geist etwas <strong>sein</strong> soll, was letztlich einfach aus der<br />
Selbstorganisation heraus aus biologischen Zufallsprozessen entstanden <strong>sein</strong> soll.<br />
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Sprecher:<br />
Metzinger spricht den Kern der Debatte an, <strong>die</strong> in Deutschland seit Monaten geführt wird<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> zugleich auf <strong>das</strong> vermeintliche Innovationspotenzial der <strong>Hirnforschung</strong> verweist.<br />
Ihre Exponenten lehnen sich weit aus ihren Laborfenstern <strong>und</strong> verkünden selbstbewusst<br />
<strong>und</strong> manchmal auch mit ein wenig Revolutions-Pathos ein neues Menschenbild, <strong>das</strong> man<br />
mit wenigen starken Strichen folgendermaßen skizzieren kann: Wir Menschen sind nichts<br />
weiter als ein Haufen Neuronen, unser Geist ist nichts anderes als unser <strong>Gehirn</strong>, wir sind<br />
Bioautomaten, <strong>die</strong> sich lediglich einbilden, eine metaphysische Dimension zu haben.<br />
Nicht alle Hirnforscher proklamieren unisono <strong>die</strong>se Hypothese, es ist nur ein kleiner, dafür<br />
aber wichtiger Teil. Zu nennen sind Gerhard Roth, Leiter des Hanse Wissenschaftskollegs<br />
in Delmenhorst, <strong>und</strong> Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für <strong>Hirnforschung</strong> in Frankfurt<br />
am Main. Diese beiden Hirnforscher stehen im Mittelpunkt der Debatte über <strong>das</strong> neue<br />
Menschenbild. Ihre Thesen klingen radikal <strong>und</strong> revolutionär, aber sie sind in der<br />
Forschergemeinschaft auch umstritten.<br />
Wenn alle geistigen Prozesse <strong>und</strong> Akte quasi bessere Abfallprodukte neuronaler<br />
Prozesse sind, wenn sich hinter dem menschlichen Geist nur Naturgesetze verbergen <strong>und</strong><br />
keine rätselhafte unbekannte Metaphysik, dann steht gleichzeitig ein f<strong>und</strong>amentales<br />
Beschreibungsmuster unseres Selbstbildes zur Disposition: Es geht um <strong>die</strong><br />
Willensfreiheit, um <strong>die</strong> von der idealistischen philosophischen Tradition postulierte<br />
Möglichkeit des Menschen, sich qua rationaler Handlung von der Welt der Naturgesetze<br />
zu befreien <strong>und</strong> ins Reich der Vernunftordnung vorzudringen.<br />
Der Hirnforscher Gerhard Roth macht unmissverständlich deutlich, was er von <strong>die</strong>sem<br />
traditionellen Handlungs-Konzept hält:<br />
0-Ton 3 - Gerhard Roth:<br />
Jeder normale Mensch, wenn er gefragt wird, wer hat da deinen Arm bewegt, sagt: ich<br />
war <strong>das</strong>. Und wenn man fragt, ja wer ist denn <strong>das</strong> ich, dann sagen sie, der der gerade<br />
denkt <strong>und</strong> fühlt, <strong>die</strong>ses bewusste <strong>Ich</strong>. <strong>Das</strong> ist der Akteur, der Verursacher, der mentale<br />
geistige Verursacher meiner Handlungen, so wie Kant <strong>das</strong> auch geschrieben hat <strong>und</strong><br />
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Descartes <strong>und</strong> alle Philosophen. Und <strong>die</strong> moderne Forschung zeigt, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> eine Illusion<br />
ist. Und zwar aufgr<strong>und</strong> ganz einfacher Experimente. Man kann jemanden im Labor <strong>die</strong><br />
Wahl geben, mit der linken oder rechten Hand einen linken oder rechten Knopf zu<br />
drücken. Entweder ich muss links einen Knopf drücken oder rechts den Knopf drücken.<br />
Und ich muss <strong>das</strong> so schnell wie möglich tun. Aber ich habe <strong>die</strong> Wahl. Da kommen<br />
bestimmte Stimuli, <strong>und</strong> ich muss darauf reagieren, <strong>und</strong> <strong>die</strong> sind uneindeutig. Und dann<br />
wird kurz vorher, bevor ich reagieren kann, wird mir für 30 Millisek<strong>und</strong>en, d. h. unbewusst<br />
ein großer Pfeil nach links oder nach rechts gezeigt. Und jetzt kann man zeigen, wenn <strong>die</strong><br />
Wahl vorher Fifty-Fifty war, dann reagieren <strong>die</strong> Leute bevorzugt in <strong>die</strong> Richtung, in der der<br />
unbewusst wahrgenommene Pfeil führt.<br />
Sprecher:<br />
Roths These lautet: Unser Handeln folgt primär unbewussten Impulsen, <strong>und</strong> er beruft sich<br />
vor allem auf ein klassisches Experiment des US-amerikanischen Neuropsychologen<br />
Benjamin Libet. Libet wollte herausfinden, wie menschliches Handeln strukturiert ist,<br />
welche zeitliche Chronologie dabei eine Rolle spielt. Er entwickelte eine<br />
Versuchsanordnung, bei der <strong>die</strong> Probanden aufgefordert wurden, irgendeinen Körperteil<br />
zu bewegen. Libet erwartete folgenden Ablauf: An erster Stelle steht der<br />
Willensentschluss, der sich in Aussagen wie „<strong>Ich</strong> werde jetzt meine rechte Hand heben"<br />
artikuliert. Dann baut sich im <strong>Gehirn</strong> ein Bereitschaftspotenzial auf, <strong>das</strong> ist der messbare<br />
neuronale Prozess der Vorbereitung einer Körperbewegung, <strong>und</strong> dann kommt es<br />
schließlich zur Ausführung der Körperbewegung.<br />
Als Libet <strong>das</strong> Experiment durchführte, zeigte sich überraschenderweise, <strong>das</strong>s <strong>die</strong><br />
angenommene Chronologie falsch war: <strong>Das</strong> Bereitschaftspotenzial ging nämlich der<br />
bewussten Willentscheidung um r<strong>und</strong> ein Fünftel Sek<strong>und</strong>e voraus, <strong>das</strong> heißt: <strong>Das</strong> <strong>Gehirn</strong><br />
hatte <strong>die</strong> Handlung bereits eingeleitet <strong>und</strong> geplant, bevor sich <strong>die</strong> Person auf bewusste<br />
Weise zu ihr entschließen konnte.<br />
Manche Hirnforscher ziehen aus Libets Experiment den Schluss: Wir tun nicht was wir<br />
wollen, sondern wir wollen, was wir tun. Sie negieren damit <strong>das</strong> herkömmliche Konzept<br />
des freien Willens, weil <strong>das</strong> handelnde Subjekt im Gr<strong>und</strong>e von einer neuronalen Maschine<br />
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gesteuert wird, <strong>die</strong> im vorhinein <strong>die</strong> Handlung festlegt. Der USamerikanische Psychologe<br />
<strong>und</strong> Neurowissenschaftler Michael Gazzaniga geht sogar so weit zu behaupten: Wir sind<br />
<strong>die</strong> letzten, <strong>die</strong> erfahren, was unser <strong>Gehirn</strong> vorhat.<br />
Gerhard Roth argumentiert ähnlich:<br />
O-Ton 4 - Gerhard Roth:<br />
Wenn ich nach einer Kaffeetasse greifen will <strong>und</strong> fest entschlossen bin, <strong>das</strong> zu tun, wird<br />
zwei Sek<strong>und</strong>en vorher noch einmal abgeprüft, ob mein unbewusstes<br />
Handlungsgedächtnis, <strong>das</strong> in den Basal-Ganglien sitzt, einverstanden ist damit, <strong>das</strong> auch<br />
jetzt zu tun <strong>und</strong> zusätzlich auch genau in der Weise zu tun. Da sitzt nämlich sozusagen<br />
<strong>die</strong> Anweisung, wie man <strong>das</strong> zu tun hat aus der Erfahrung. Und wenn <strong>die</strong> Basal-Ganglien<br />
aus irgendwelchen Gründen „Nein" sagen, dann findet <strong>das</strong> nicht statt, weil mein<br />
bewusster Wille alleine <strong>das</strong> nicht in Gang setzen kann.<br />
Insofern ist es von philosophischer Seite nur verständlich, wenn man sagt, mit Kant zu<br />
sprechen, es ist absurd in der Welt des Naturgeschehens <strong>die</strong> Willensfreiheit suchen <strong>und</strong><br />
finden zu wollen. <strong>Das</strong> ist absurd. Absurd erscheint es aber, dann zu sagen, es gibt sie<br />
doch. Obwohl es keinen Beweis dafür gibt. <strong>Ich</strong> fühle es eben. <strong>Das</strong> ist lächerlich.<br />
Sprecher:<br />
Gerhard Roth ist davon überzeugt, <strong>das</strong>s man aus neurobiologischer Perspektive nicht<br />
mehr vom freien Willen sprechen kann, weil <strong>das</strong> bewusste rationale <strong>Ich</strong> nicht <strong>die</strong> Instanz<br />
ist, <strong>die</strong> <strong>das</strong> Handeln steuert, sondern <strong>das</strong> limbische System, also unser „unbewusstes<br />
Handlungsgedächtnis", <strong>das</strong>, wie Roth eben ausgeführt hat, in den Basal-Ganglien sitzt<br />
<strong>und</strong> tief im Innern des <strong>Gehirn</strong>s zu lokalisieren ist. Dieses System kann man als<br />
neurobiologisches Korrelat zu Freuds Konzept des Unbewussten verstehen. Es agiert<br />
jenseits des Bewusst<strong>sein</strong>s <strong>und</strong> hat einen direkten Zugriff auf <strong>die</strong>jenigen Systeme in<br />
unserem <strong>Gehirn</strong>, <strong>die</strong> letztendlich unser Handeln bestimmen. <strong>Das</strong> rationale Subjekt ist<br />
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aufgr<strong>und</strong> <strong>die</strong>ser Theorie nicht mehr Herr im eigenen Haus, nicht mehr der Steuermann,<br />
der <strong>das</strong> Ruder fest in der Hand hält. Es ist höchstens noch ein geduldeter Hausknecht,<br />
der <strong>sein</strong>e Befehle vom limbischen System erhält. Roth geht sogar so weit zu behaupten,<br />
<strong>das</strong>s selbst bei Handlungen, <strong>die</strong> aus einem langen Prozess des rationalen Abwägens<br />
resultieren, ebenfalls <strong>das</strong> limbische System darüber entscheide, ob <strong>die</strong>se Handlungen<br />
letztlich ausgeführt werden.<br />
Gewiss: Roths Ansatz ist nicht neu. Schon Sigm<strong>und</strong> Freud entmachtete <strong>das</strong> rationale <strong>Ich</strong>,<br />
schon Nietzsche versuchte <strong>das</strong> rationalistische Menschenbild zu attackieren, indem er<br />
provokant anmerkte: Man solle nicht sagen: „<strong>Ich</strong>" denke, sondern „Es" denkt. Dennoch<br />
beunruhigt <strong>die</strong> Vorstellung, wir seien alle fremdgesteuert, <strong>und</strong> <strong>das</strong> autonome <strong>Ich</strong>, <strong>das</strong> wir<br />
gemeinhin als metaphysisches Prinzip definieren, sei eine pure Illusion.<br />
Der Philosoph Thomas Metzinger macht darauf aufmerksam, <strong>das</strong>s <strong>die</strong>ses Menschenbild<br />
der Neurobiologie unvereinbar ist mit unserem subjektiven Erleben:<br />
O-Ton 5 - Thomas Metzinqer:<br />
Wenn wir versuchen wollten, uns auch so zu erleben wie <strong>die</strong> Hirnforscher uns in der<br />
Zukunft vielleicht mal beschreiben, wenn wir <strong>die</strong> objektive Sicht sozusagen integrieren<br />
sollten in <strong>die</strong> subjektive Sicht, dann könnte es tatsächlich <strong>sein</strong>, <strong>das</strong>s wir uns in einem viel<br />
größeren Ausmaß als fremdgesteuert erleben müssten, als wir <strong>das</strong> jetzt tun. Und<br />
Menschen, <strong>die</strong> sich plötzlich wie Maschinen, wie Automaten oder als fremdgesteuert<br />
empfinden, <strong>die</strong> gehen sehr häufig zum Psychiater. Jeden Tag tauchen solche Leute bei<br />
Psychiatern auf, <strong>und</strong> es gibt auch Fachbegriffe dafür, wie z. B. den der Depersonalisation.<br />
Also wenn man nicht mehr in der Lage ist, sich als frei entscheidende Person, <strong>die</strong><br />
Ursachen setzt aus vernünftigen Einsichten heraus, zu erleben in der Lage ist, dann kriegt<br />
man normalerweise Angst. Und ich denke, <strong>das</strong> ist auch ein Kern, den viele nicht deutlich<br />
formuliert haben, des Unbehagens, <strong>das</strong>s Leute <strong>das</strong> Gefühl haben, also wenn <strong>das</strong> stimmt,<br />
so wie <strong>die</strong> <strong>das</strong> da verkünden <strong>und</strong> ich soll mich so erleben, <strong>das</strong> ist ja ein bisschen wie<br />
verrückt <strong>sein</strong>.<br />
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Sprecher:<br />
<strong>Das</strong> Unbehagen an den Neurowissenschaften hat auch damit zu tun, <strong>das</strong>s mit den neuen<br />
Konzepten weitreichende soziale <strong>und</strong> kulturelle Konsequenzen verb<strong>und</strong>en sind, <strong>die</strong> nicht<br />
nur unser Menschenbild verändern könnten, sondern möglicherweise auch unseren<br />
sozialen Wertekanon. <strong>Das</strong> limbische System ist für den Hirnforscher Roth auch der<br />
Bereich der emotionalen Prägung. In <strong>die</strong>sem Areal wird festgelegt, ob ein Mensch in<br />
bestimmten Situationen aggressiv reagiert, ob er gerne lernt; ob er Lust empfindet, wenn<br />
er Gewalt konsumiert, ob er Glücksgefühle hat, wenn er andere schlecht behandelt. Im<br />
limbischen System bildet sich <strong>die</strong> emotionale Gr<strong>und</strong>struktur des Charakters heraus, hier<br />
fällt sehr früh, schon im Kindesalter, <strong>die</strong> Entscheidung: Wird man ein ganz normaler<br />
Erwachsener oder einer, der permanent durch abweichendes Verhalten auffällt.<br />
O-Ton 6 - Gerhard Roth:<br />
Man kann sagen, <strong>das</strong>s im Alter bis zu 6/7 Jahren, oder wenn man sehr optimistisch ist,<br />
bis 10 Jahren <strong>das</strong> limbische System sehr plastisch ist. Dann zieht sich <strong>das</strong> zu, <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
Chancen, an solchen Menschen oder auch uns völlig normalen irgendwas noch ändern zu<br />
wollen, was Persönlichkeit <strong>und</strong> Charakter betrifft, ist gering. Also eine Zahl wäre 20<br />
Prozent, <strong>die</strong> so gehandelt wird. Ist gering. Aber nicht Null. Also <strong>das</strong> wichtigste wäre, sehr<br />
früh, im Kindergarten schon, <strong>die</strong> Kinder zu beobachten, was ja auch zum Teil gemacht<br />
wird, <strong>und</strong> zu sehen, ob sie ein abnormes Verhalten an den Tag legen <strong>und</strong> therapeutisch<br />
einzugreifen. Ein Drittel der verhaltensauffälligen Jugendlichen, Jungens werden schwere<br />
Gewalttäter. Da findet man eben immer etwas. Man findet physiologische Störungen, man<br />
findet insbesondere frühkindlich traumatisierende Ereignisse. Man findet immer was.<br />
Sprecher:<br />
Dieses Konzept der frühkindlichen Prägung auf Gr<strong>und</strong>lage des limbischen Systems<br />
beinhaltet konkrete sozialpsychologische <strong>und</strong> auch strafrechtliche Aspekte. Roth fordert<br />
nicht nur dazu auf, schon im Kindergarten präventiv auf verhaltensauffällige Kinder zu<br />
achten, er macht auch Vorschläge zum Umgang mit Straftätern:<br />
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O-Ton 7 - Gerhard Roth:<br />
<strong>Das</strong> ist ja ein so kompliziertes System, <strong>das</strong> ist ja nicht so ein Uhrwerk, sondern da sind<br />
Milliarden von Nervenzellen, <strong>die</strong> jede Sek<strong>und</strong>e arbeiten, <strong>und</strong> <strong>das</strong> kann häufig schief<br />
gehen. Also 10 Prozent unserer Bevölkerung haben eine schwere Macke, sage ich mal<br />
so. Und deshalb gibt es eben Gewalttäter oder Pädophile oder sonst was, <strong>und</strong> <strong>die</strong> können<br />
natürlich im metaphysischen Sinne nichts dafür, im ethischen Sinne, aber <strong>die</strong> Gesellschaft<br />
hat <strong>das</strong> Recht, sich <strong>das</strong> zu verbitten. D. h. sie zu therapieren versuchen, sie<br />
umzuerziehen versuchen, oder wenn <strong>das</strong> nicht geht, sie weg zu schließen. <strong>Das</strong> wird ja<br />
auch gemacht. D. h. <strong>das</strong> Strafrecht müsste viel ernster genommen werden. Nicht als<br />
Strafrecht, sondern als Therapierecht. Oder als Wegschlussrecht.<br />
Sprecher:<br />
Auch <strong>die</strong>ser Ansatz von Roth ist umstritten. Psychiater, Juristen <strong>und</strong> Ethiker befürchten,<br />
<strong>das</strong>s irgendwann einmal <strong>die</strong> ersten Verteidiger im Rahmen eines Prozesses damit<br />
beginnen, <strong>die</strong> Schuldfähigkeit ihrer Mandanten mit Verweis auf <strong>die</strong> <strong>Hirnforschung</strong> in Frage<br />
zu stellen. Wer ist schon für <strong>sein</strong>e Taten verantwortlich, wenn er vom limbischen System<br />
gesteuert wurde? Und welche Rolle spielen in Zukunft Willensbek<strong>und</strong>ungen, <strong>die</strong><br />
Menschen in Patientenverfügungen hinterlegt haben, wenn der freie Wille eine Illusion ist.<br />
Der Wissenschaftshistoriker Olaf Breidbach von der Universität Jena, der sich<br />
schwerpunktmäßig mit der Geschichte der <strong>Hirnforschung</strong> beschäftigt, hält den<br />
Zusammenhang von Neurowissenschaft <strong>und</strong> Moral prinzipiell für problematisch; <strong>sein</strong><br />
Vorwurf lautet: Die Hirnforscher arbeiten manchmal mit zu einfachen Methoden <strong>und</strong><br />
Freiheitskonzepten <strong>und</strong> erwecken dadurch den Eindruck, sie könnten schwierige<br />
moralische Probleme in den Griff bekommen:<br />
0- Ton 8 - Olaf Breidbach:<br />
Es ist ein falscher Freiheitsbegriff, es ist ein Personenbegriff, der <strong>die</strong> Person auf <strong>das</strong><br />
reduziert, was abbildbar ist, <strong>und</strong> zu sehr kuriosen Entwicklungen kommt, <strong>die</strong> einem<br />
Medizinhistoriker bekannt sind <strong>und</strong> <strong>die</strong> zurückgehen auf etwas, was einmal Schädellehre<br />
hieß, <strong>und</strong> <strong>das</strong> in ganz ähnlicher Weise funktionierte. Und zwar wird in der Psychologie, <strong>die</strong><br />
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Aussagen über Schuldfähigkeit von Tätern machen muss, zunehmend auf <strong>die</strong><br />
<strong>Hirnforschung</strong> rekurriert. Man kann nun folgendes machen. Man nimmt <strong>das</strong> Hirn von<br />
einem Mörder, macht dann Fotos, macht von einem anderen Mörder-<strong>Gehirn</strong> ebenfalls<br />
Fotos <strong>und</strong> nimmt sich vier normale Leute <strong>und</strong> macht von deren Hirnen Fotos. Dann macht<br />
man Statistik. Und dann gibt es bestimmt irgendetwas, was <strong>die</strong>se beiden Mörder von den<br />
Normalen unterscheidet, na ja, dann sagt man, jetzt habe ich einen Filter, alle <strong>die</strong> dem<br />
Typus Mörder entsprechen sind unschuldig, weil <strong>die</strong> eine neurophysiologische Störung<br />
haben, <strong>und</strong> <strong>die</strong> anderen sind der Normwert. <strong>Das</strong> ist genau <strong>das</strong>, was <strong>die</strong> Schädellehre<br />
auch gemacht hat, es wurde versucht, mit einem kruden Freiheitsbegriff den Charakter zu<br />
beschreiben <strong>und</strong> dann hat man behauptet, man habe einen Knochen des Bösen gef<strong>und</strong>en<br />
oder einen Bereich im <strong>Gehirn</strong> für Liebe oder für <strong>die</strong> Fähigkeit Kant zu lesen.<br />
Sprecher:<br />
Auch Manfred Spitzer rät im Umgang mit den Thesen einiger Neurowissenschaftler zu<br />
mehr Besonnenheit <strong>und</strong> kritischer Distanz. Er ist Leiter der Psychiatrischen<br />
Universitätsklinik in Ulm <strong>und</strong> arbeitet an der Schnittstelle zwischen Neurobiologie <strong>und</strong><br />
Psychologie:<br />
O-Ton 9 - Manfred Spitzer:<br />
<strong>Ich</strong> denke mir, <strong>die</strong> Neurobiologie zeigt uns einfach Funktionsweisen des <strong>Gehirn</strong>s auf, <strong>die</strong><br />
uns einen Anstoß geben, noch einmal darüber nachzudenken, ob <strong>das</strong>, was wirbislang so<br />
als Gr<strong>und</strong>festen angenommen haben, ob <strong>das</strong> stimmt. <strong>Ich</strong> glaub nicht, <strong>das</strong>s <strong>die</strong><br />
Neurobiologie jetzt so ganz schnell alles umwirft oder <strong>das</strong> man philosophische Probleme<br />
eben mal schnell im Scanner lösen könnte, ich glaube auch nicht, <strong>das</strong>s damit <strong>die</strong><br />
Willensfreiheit gleich ad absurdum geführt wird, ich denke mir, da wird vieles auch ein<br />
bisschen zu schnell <strong>und</strong> zu wenig bedacht. <strong>Das</strong>s man jetzt Leute in den Scanner legt <strong>und</strong><br />
sie mit oder ohne Inbrunst beten lässt, um etwas über Gott zu erfahren, <strong>das</strong> wiederum<br />
halte ich für fast nen bisschen naiv, muss man sagen.<br />
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Sprecher:<br />
Die Neurobiologen suchen, wie Spitzer andeutet, in ihren Labors nicht nur nach dem Sitz<br />
religiöser Gefühle im <strong>Gehirn</strong>; ein US-amerikanischer Neuropsychiater schiebt neuerdings<br />
Probanden in einen Kernspintomografen <strong>und</strong> zeigt ihnen währenddessen Werbespots von<br />
Präsident Bush <strong>und</strong> <strong>sein</strong>em Herausforderer, um herauszufinden auf welche Themen <strong>die</strong><br />
<strong>Gehirn</strong>e positiv oder negativ reagieren. Beide Beispiele zeigen, wie prekär es ist, wenn<br />
eine naturwissenschaftliche Disziplin ihre Grenzen übersteigt <strong>und</strong> sich in moralischmetaphysische<br />
Höhen hinaufschwingen möchte, als könne man aus der Neurobiologie<br />
eine neue Neuropolitik hervorzaubern, oder demnächst sogar eine Neuroreligion.<br />
In <strong>die</strong>sem Zusammenhang warnt auch der Philosoph Thomas Metzinger vor voreiligen<br />
Schlussfolgerungen <strong>und</strong> zu simplen Thesen.<br />
O-Ton 10 - Thomas Metzinqer:<br />
Also <strong>die</strong> zwei wichtigsten Fehler, <strong>die</strong> in <strong>die</strong>ser öffentlichen Diskussion <strong>die</strong>ser zwei Jahren<br />
über <strong>die</strong> Willensfreiheit tobt, immer gemacht werden, sind <strong>das</strong>s <strong>die</strong> Leute entweder<br />
denken, <strong>die</strong> Antwort muss ja oder nein <strong>sein</strong>: wir haben Willensfreiheit oder wir haben sie<br />
nicht. <strong>Das</strong> ist falsch. Die meisten Philosophen würden sagen, es gibt eine dritte Lösung.<br />
Die sagt, ja, <strong>die</strong> Gesetze der Physik gelten auch im <strong>Gehirn</strong>. <strong>Das</strong> <strong>Gehirn</strong> ist ein<br />
physikalisch determiniertes System, <strong>und</strong> wir können vernünftig <strong>und</strong> moralisch sensitiv, wie<br />
Philosophen sagen, empfindsam für normative ethische Probleme <strong>sein</strong>. <strong>Das</strong> ist kein<br />
Widerspruch. Der zweite Hauptfehler, der immer von allen Leuten gemacht wird ist,<br />
anzunehmen, jeder wüsste, was eigentlich ein Wille ist. <strong>Ich</strong> habe noch nie einen gesehen.<br />
Man weiß auch nicht, wie viel er wiegt oder was für eine Farbe er hat. D. h. Willen sind<br />
erst mal keine objektiv beobachtbaren Ereignisse in der Welt.<br />
Sprecher:<br />
Mit anderen Worten: Es ist wenig fruchtbar einen neuen Reduktionismus verkünden zu<br />
wollen, der behauptet, Geist, Bewusst<strong>sein</strong> <strong>und</strong> Wille seien den Naturgesetzen<br />
unterworfen, <strong>und</strong> irgendwann in der Zukunft werde <strong>die</strong> blumige Rede von <strong>die</strong>sen<br />
Kategorien überflüssig, wenn nämlich empirische Wissenschaften alle geistigen<br />
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Phänomene umfassend beschreiben könnten. Dann könnte <strong>das</strong> Zeitalter der Illusionen<br />
<strong>und</strong> der metaphysischen Windbeuteleien endlich zu Grabe getragen werden. <strong>Das</strong> ist<br />
schon deshalb eine gefährliche Vereinfachung, weil <strong>das</strong> Verhältnis von Geist <strong>und</strong> Materie,<br />
an dem sich Generationen von Philosophen bis heute abarbeiten, längst nicht geklärt ist.<br />
<strong>Das</strong> weiß wiederum auch der Hirnforscher Gerhard Roth:<br />
O-Ton 11 - Gerhard Roth:<br />
Geistige Anstrengung ist eine physiologische Anstrengung. Und kein Dualist kann mir<br />
erklären, weshalb Gedanken haben <strong>und</strong> Konzentration besonders viel Sauerstoff <strong>und</strong><br />
Glukose verbrauchen. Und <strong>die</strong> Neuronen besonders stark feuern müssen. Warum? <strong>Das</strong><br />
kann ein Dualist, der an <strong>die</strong> völlige Autonomie des Geistes glaubt, mir nicht erklären. <strong>Das</strong><br />
alles heißt aber nicht, <strong>das</strong>s wir erklären könnten, was Geist ist als Neurobiologen. <strong>Das</strong><br />
einzige, was wir nur sagen können, <strong>das</strong> ist aber auch schon mehr als man jemals glaubte<br />
erreichen zu können, unter bestimmten physikalischchemisch-physiologischen<br />
Bedingungen tritt Geist <strong>und</strong> Bewusst<strong>sein</strong> notwendig auf. Geist <strong>und</strong> Bewusst<strong>sein</strong> sind aber<br />
nur introspektiv erfahrbar. D. h. ich werde neurobiologisch nicht erklären können, was es<br />
ist, bewusst zu <strong>sein</strong>. <strong>Das</strong> kann ich nur introspektiv. <strong>Ich</strong> kann erklären, welche Funktion<br />
Bewusst<strong>sein</strong> hat. Wie sich Menschen verhalten, wenn sie Bewusst<strong>sein</strong> haben, wenn sie<br />
nicht Bewusst<strong>sein</strong> haben. <strong>Das</strong> Gefühl, bewusst zu <strong>sein</strong>, kann ich nicht erklären. <strong>Ich</strong> kann<br />
auch nicht erklären, wie es ist, grün oder blau oder gelb oder rot zu sehen.<br />
Sprecher:<br />
Hier liegen also <strong>die</strong> Grenzen der Neurowissenschaften, <strong>die</strong> eben nicht zu erklären<br />
vermögen, was es für ein Subjekt heißt, <strong>sein</strong>en freien Willen zu erleben. Diese radikal<br />
subjektive Perspektive bleibt der Neurowissenschaft verborgen; sie kann immer nur <strong>das</strong><br />
<strong>Gehirn</strong> aus der, wie es im Wissenschaftsjargon heißt, Dritten-PersonPerspektive<br />
beschreiben; <strong>und</strong> auf <strong>die</strong>ser Ebene spielen Kategorien wie Seele, Freiheit, Bewusst<strong>sein</strong>,<br />
Geist als metaphysische Prinzipien keine Rolle. <strong>Das</strong> heißt aber nicht, <strong>das</strong>s <strong>die</strong>se<br />
Kategorien, nur weil man sie mittels empirischer Experimente nicht nachweisen kann,<br />
auch keine Bedeutung hätten. Der Medizinhistoriker Olaf Breidbach verweist auf eine<br />
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Anekdote, <strong>die</strong> er dem australischen Physiologen <strong>und</strong> Medizin-Nobelpreisträger Sir John<br />
Eccles verdankt:<br />
O-Ton 12 - Olaf Breidbach:<br />
Die Geschichte mit der Seele, <strong>die</strong> ich nicht sehen kann, da erinnere ich mich an eine<br />
Geschichte mit Eccles, den musste ich bei einer Diskussion einführen <strong>und</strong> der zeigte zum<br />
Schluss ein Dia mit einem Hirnschnitt, ein normales elektronenmikroskopisches Abbild,<br />
<strong>und</strong> er zeigte auf eine Stelle: „Und da ist jetzt <strong>die</strong> Seele". <strong>Ich</strong> sagte: „Sir John, <strong>das</strong> ist ne<br />
normale Färbung". Ja, <strong>das</strong> wüsste er auch, aber er könnte doch nicht alles verraten. Also<br />
so kann man mit dem Zeug nicht umgehen, man muss sich auch mal beschränken <strong>und</strong><br />
sagen, es gibt bestimmte Sachen, <strong>die</strong> kann ich in <strong>die</strong>ser Wissenschaft nicht abbilden, <strong>die</strong><br />
sind aber deswegen nicht da, weil ich sie nicht abbilden kann.<br />
Sprecher:<br />
Bis zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich in keiner Weise ein abschließendes Urteil fällen für<br />
oder gegen <strong>die</strong> neuen Konzepte der <strong>Hirnforschung</strong>, für oder gegen den metaphysischen<br />
Kern im Menschen, für oder gegen Willensfreiheit. Die Zukunft ist offen. Aber <strong>die</strong><br />
<strong>Hirnforschung</strong> hat einen Weg eingeschlagen, auf dem Gefahren lauern. Thomas<br />
Metzinger:<br />
O-Ton 13 - Thomas Metzinger:<br />
Es gibt <strong>die</strong>se psychosozialen Folgekosten. Also wir wissen alle nicht, was würde denn mit<br />
unserer Gesellschaft werden, wenn sich neue Einsichten, mal angenommen, <strong>die</strong> ließen<br />
sich halten <strong>und</strong> stabilisieren, über uns selbst durchsetzen würden, könnte <strong>das</strong> nicht - ich<br />
karikiere jetzt mal - <strong>die</strong> Folge haben, <strong>das</strong>s niemand mehr zuhört, was <strong>die</strong> Philosophen <strong>und</strong><br />
<strong>die</strong> Hirnforscher wirklich im Einzelnen sagen, sondern <strong>das</strong>s sich wie so ein Lauffeuer, wie<br />
ein Gerücht ein Vulgärmaterialismus verbreitet, der sagt: Also hört mal zu Kinder, es gibt<br />
keinen Gott, es gibt keine Seele, <strong>das</strong> ist ein kaltes leeres Universum, <strong>und</strong> wir sind 'ne<br />
bessere Art von Bioautomaten, wir sind nie gefragt worden, ob wir leben wollen, wir<br />
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werden nie gefragt werden, ob wir sterben wollen, <strong>und</strong> es gibt wirklich nur eins: Jeder<br />
gegen Jeden <strong>und</strong> versuchen, so viel wie möglich für sich selbst raus zu holen in den<br />
verbleibenden Jahren noch. D. h. <strong>das</strong> Stichwort heißt hier: Ent-Solidarisierung.<br />
Sprecher:<br />
Dieser Vulgärmaterialismus könnte sich quasi hinter unserem Rücken dann etablieren,<br />
wenn <strong>die</strong> Ergebnisse der <strong>Hirnforschung</strong> simplifiziert werden, sei es durch <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>n oder<br />
durch <strong>die</strong> Forscher selbst, <strong>die</strong> unter Druck schnell mal plakative, radikale Thesen <strong>und</strong><br />
Revolutionen verkünden, um letztlich mehr Forschungsgelder zu bekommen.<br />
Und noch etwas ist wichtig: Die <strong>Hirnforschung</strong> versucht <strong>das</strong> Rätsel <strong>und</strong> <strong>die</strong> Mechanik des<br />
menschlichen Bewusst<strong>sein</strong>s zu ergründen. Sie könnte damit den Weg frei machen für <strong>die</strong><br />
Entwicklung <strong>und</strong> Anwendung neuer Bewusst<strong>sein</strong>stechnologien, mit denen eine geschickt<br />
operierende Bewusst<strong>sein</strong>sindustrie subjektives Erleben manipulieren könnte.<br />
O-Ton 14 - Thomas Metzinqer:<br />
Wenn es ein neuronales Korrelat von Bewusst<strong>sein</strong> gibt, d. h. eine minimale Menge von<br />
Eigenschaften im <strong>Gehirn</strong>, nicht <strong>das</strong> ganze <strong>Gehirn</strong>, <strong>die</strong> hinreichend ist, um Bewusst<strong>sein</strong> zu<br />
erzeugen, nach <strong>die</strong>ser Menge suchen im Moment alle Bewusst<strong>sein</strong>sforscher, dann gibt es<br />
auch für einzelne Bewusst<strong>sein</strong>sinhalte, sagen wir, für ein rotes Farberlebnis oder für ein<br />
Glücksgefühl, hinreichende neuronale Korrelate. Wenn man <strong>die</strong> kennt, braucht man nur<br />
<strong>das</strong> Korrelat zu aktivieren, <strong>das</strong> ist natürlich nichts Anatomisches, sondern ein ganz<br />
kompliziertes Muster, <strong>das</strong> sich da bewegt. Wenn man <strong>die</strong>ses Muster im <strong>Gehirn</strong> herstellen<br />
kann, dann kann man den Bewusst<strong>sein</strong>sinhalt herstellen. Daran sieht man gleich, wie weit<br />
<strong>das</strong> gehen kann. Die erste Frage ist <strong>die</strong>, wenn <strong>das</strong> Subjekt jetzt durch neue Arten von<br />
Manipulation auch aus den Me<strong>die</strong>n, neue Art <strong>und</strong> Weise, <strong>sein</strong> <strong>Gehirn</strong> zu beeinflussen,<br />
bedroht ist, wie erhöhen wir <strong>die</strong> Autonomie des Subjekts, d. h. wie geben wir dem<br />
Menschen, z. B. in der Schule frühzeitig schon Mittel an <strong>die</strong> Hand, um sich zu verteidigen<br />
gegen solche Manipulationsmöglichkeiten. <strong>Ich</strong> finde aber, wir sollten noch einen Schritt<br />
weiter gehen. Wir sollten auch fragen, wie können wir <strong>das</strong> denn nutzen in <strong>sein</strong>en positiven<br />
Effekten. Es gibt im Gr<strong>und</strong>e ein neues Diskussionsthema. Und ganz vereinfacht gesagt,<br />
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heißt <strong>die</strong>ses Thema, was ist denn ein guter Bewusst<strong>sein</strong>szustand, <strong>und</strong> was ist ein<br />
schlechter Bewusst<strong>sein</strong>szustand? Welche Bewusst<strong>sein</strong>szustände wollen wir unseren<br />
Kindern zeigen, welche wollen wir ihnen beibringen, welche sollen in unserer Gesellschaft<br />
verboten <strong>sein</strong>?<br />
Sprecher:<br />
Thomas Metzinger plä<strong>die</strong>rt also für eine neue Bewusst<strong>sein</strong>sethik <strong>und</strong> damit auch für eine<br />
Verzahnung von Naturwissenschaft <strong>und</strong> Geisteswissenschaft, <strong>die</strong> dringend geboten ist.<br />
Wenn man <strong>sein</strong>e These weiter denkt, könnte man sagen: Die Geisteswissenschaften<br />
haben in Zukunft <strong>die</strong> wichtige Aufgabe, <strong>die</strong> Ergebnisse der <strong>Hirnforschung</strong> kritisch zu<br />
kommentieren <strong>und</strong> zu korrigieren, auf mögliche gesellschaftliche, soziale <strong>und</strong> kulturelle<br />
Gefahren aufmerksam zu machen. Dies könnte dazu führen, <strong>das</strong>s <strong>die</strong> <strong>Hirnforschung</strong> den<br />
Nimbus der revolutionären Disziplin, <strong>die</strong> alles auf den Kopf stellen will, verliert.<br />
<strong>Das</strong> Werk einschließlich aller <strong>sein</strong>er Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung<br />
außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des<br />
Rechteinhabers unzulässig <strong>und</strong> strafbar. <strong>Das</strong> gilt insbesondere für Vervielfältigungen,<br />
Übersetzungen, Mikroverfilmungen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Speicherung <strong>und</strong> Verarbeitung in<br />
elektronischen Systemen.<br />
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