Stahlhausen, Goldhamme - Alte Schmiede
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(21) text des monats, liesl ujvary : Florian Neuner<br />
aus: „Dérive I: <strong>Stahlhausen</strong>, <strong>Goldhamme</strong>“<br />
Siedlung <strong>Stahlhausen</strong>. Die Stahlhauser Straße läuft auf eine Backsteinmauer zu. Durchblicke, die an<br />
Bullaugen gemahnen, lassen auf eine riesige Brachfläche blicken. Das Industriegelände ist<br />
abgeräumt, an der Mauer, der eine Siedlung mit akkurat gemähten Rasenflächen zwischen den<br />
Wohnhäusern gegenüberliegt, wucherndes Unkraut. 793 <strong>Stahlhausen</strong>. Was bedeutet die Zahl? Obere<br />
Stahlindustrie. Am ehemaligen Tor 3 ein aufgegebenes Gebäude, Torhaus, dessen Fenster mit<br />
Holzplatten vernagelt sind. Dann eine Belehrung über die Siedlung <strong>Stahlhausen</strong>: vom Bochumer<br />
Verein ab 1866 errichtet, drei verschiedene Haustypen mit Kreuzgrundriß (Mühlhausener Typ), im<br />
letzten Krieg zerstört das Kost- & Logierhaus für 1500 Arbeiter. In der Baarestraße eine<br />
Friedenskirche & eine Akademie für Kampfkunst & Gesundheit. Weiters wird Louis Baare gedacht, der<br />
von 1854–95 Generaldirektor des Bochumer Vereins für Bergbau & Gußstahlfabrikation war, aber<br />
auch ein Wirtschafts- & Sozialpolitiker & dessen Denkmal im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde<br />
zusammen mit größeren Teilen der Siedlung. Das kann der Passant, so er alphabetisiert & interessiert<br />
ist, hier lesen, en passant. Auf der Straße in <strong>Stahlhausen</strong>. Lesen kann man auch die Forderung:<br />
Rüttgers verpiß dich!! Joyce on tour. Jetzt gerade allerdings nicht, denn das Auto mit dem<br />
Hundeaufkleber steht geparkt. In <strong>Stahlhausen</strong>. Im Hochbunker am Springerplatz Bodos Bunker Basar<br />
sowie die Bastion, in der sich u.a. Bochums kleinstes Kino befindet, no budget. Am anderen Ende des<br />
langgestreckten Platzes steht Hexenkessel über den Toiletteneingängen eines pavillonartigen<br />
Gebäudes. Wenn man weitergeht, das Gebäude umrundet & von der Vorderseite betrachtet, dann<br />
wird klar, daß es sich um den Namen eines Imbisses handelt: griechische & deutsche Spezialitäten.<br />
Aufschwung für alle! Für Mindestlöhne! Leere Versprechungen am Springerplatz. (Sie täuschen sich in<br />
allem & können nur noch Lügen faseln. Wie hat die Produktionsweise ihnen doch übel mitgespielt!) In<br />
der Kneipe Am Springerplatz wird geraucht, & zwar offensiv & als Protest gegen alle<br />
Rauchverbotspläne, die man hier fürchtet. Dafür steht die Wirtin gerade. Denn die Erde bebt. Es ist zu<br />
spät oder so ähnlich. Oder es ist nie zu spät. Der Junge im Muskelshirt ist ein ungewöhnlich junger<br />
Kneipenbesucher, wenn er nicht zum Haus gehört. In dem die Farbe orange dominiert. Orange sind<br />
die Vorhänge, aber auch bei den Kunstblumen ist diese Farbe dominant. Ein Gast trägt ein oranges T-<br />
Shirt, & habe ich nicht draußen, am Springerplatz vorhin ein Metallteil im Gras liegen gesehen, ein<br />
Kunstwerk möglicherweise, das auch in so einem merkwürdigen, knalligen Orange gestrichen war?<br />
Ich glaube ja & höre in diesem Moment, daß irgend jemand den Verstand verloren haben soll oder so<br />
ähnlich. Wann wird alles, wie es war? Artikuliert sich eine rückwärtsgewandte Utopie.<br />
veröffentlicht in IDIOME Nr. 1, Wien 2007, aus Florian Neuners „Ruhrtext-Projekt“.<br />
Florian Neuner, geboren 1972 in Wels, Oberösterreich. Lebt als Schriftsteller und Journalist in Berlin<br />
und Bochum. „china daily“, prosa, kleine idiomatische reihe, wien 2006, „zitat ende“, ritter verlag,<br />
klagenfurt wien, 2007.
Liesl Ujvary, Kommentar<br />
„Geht es um Imagination oder um so genannte Fakten?“, fragt Florian Neuner an anderer Stelle in<br />
seinem Text „Dérive I: <strong>Stahlhausen</strong>, <strong>Goldhamme</strong>“ und man ist versucht zu antworten, natürlich um<br />
beides. Neuner hat es sich in seinem „Ruhrtext-Projekt“ zur Aufgabe gemacht, das Ruhrgebiet –<br />
diese riesige Industriebrache – in seiner gegenwärtigen desolaten Erscheinungsform und seiner<br />
überall spürbaren heroischen Vergangenheit, als eines der fortschrittlichsten Industriegebiete<br />
Europas, zu dokumentieren. In einem Gestus teilnehmender Beobachtung durchstreift er die<br />
Strassenzüge, Kneipen und Bibliotheken der Region und bietet uns ein sprachlich exaktes und<br />
detailliertes Abbild der Wirklichkeit, wie sie sich ihm darbietet. Seine Schilderungen sind durchaus<br />
auch gefühlvoll und mit gesellschaftskritischen Zwischenrufen versehen, ohne je ideologisch zu<br />
erstarren. Verwahrlost sind ja im Ruhrgebiet nicht nur die riesigen stillgelegten Zechen und<br />
Industrieanlagen, nicht nur die Fassaden der Häuser, verwahrlost und heruntergekommen sind auch<br />
die Perspektiven der Bewohner. Und niemand spricht darüber. Florian Neuners dokumentarische<br />
Prosa entwirft etwas, was vor ihm keiner so intensiv und beharrlich probiert hat: Das exemplarische<br />
Porträt einer für Deutschland früher massgeblichen Industrielandschaft samt ihrem menschlichem<br />
Inventar, die heute beide nicht mehr gebraucht werden.