Gewalt auf den Strassen von Rio - CARITAS - Schweiz
Gewalt auf den Strassen von Rio - CARITAS - Schweiz
Gewalt auf den Strassen von Rio - CARITAS - Schweiz
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Nr. 3/September 2013<br />
Menschen<br />
Wir helfen<br />
«Unser <strong>Gewalt</strong> <strong>auf</strong> Klima <strong>den</strong> spielt <strong>Strassen</strong> verrückt.» <strong>von</strong> <strong>Rio</strong>.<br />
Amanda Die Familie (6) und Dembele Andressa in Mali (9) leben kämpft heute gegen bei Erosion der Grossmutter. und Übernutzung.
:<br />
Inhalt<br />
100 Bis 150 Millionen<br />
So hoch wird die Zahl der <strong>Strassen</strong>kinder weltweit geschätzt. Genaue Zahlen fehlen.<br />
In vielen Ländern fehlt das Bewusstsein für die Not der <strong>Strassen</strong>kinder – so auch in Brasilien,<br />
wie unsere Reportage zeigt. Seite 6<br />
AUSSERDEM<br />
4 Echo/Impressum<br />
16 Ohne Worte<br />
18 <strong>Schweiz</strong><br />
20 Welt<br />
23 Ein Blick ins Leben <strong>von</strong><br />
25 Gastkolumne<br />
26 In Kürze<br />
28 Fotorätsel<br />
29 Fairtrade<br />
31 youngCaritas<br />
Brennpunkt:<br />
Schul<strong>den</strong>prävention<br />
Etwa 660000 Menschen<br />
in der <strong>Schweiz</strong> sind<br />
verschuldet. Auf vielen<br />
<strong>von</strong> ihnen lasten Konsumkredite.<br />
Caritas<br />
leistet Beratung und<br />
Prävention.<br />
Seite 17<br />
Offener Brief:<br />
Mehr Hilfe für Syrien<br />
Sieben Millionen Menschen<br />
im Nahen Osten<br />
sind <strong>auf</strong> humanitäre<br />
Hilfe angewiesen, vier<br />
Millionen <strong>auf</strong> direkte<br />
Nahrungsmittelhilfe. Die<br />
<strong>Schweiz</strong> zögert,<br />
kritisiert Hugo Fasel.<br />
Seite 5<br />
1.6 mio<br />
USA<br />
<strong>Schweiz</strong>-Rumänien:<br />
Care Migration<br />
Bei Maria Veres ist die<br />
betagte Frau Baumgartner<br />
aus dem Freiburgischen<br />
wahrlich in guten Hän<strong>den</strong>.<br />
Und Maria, die rumänische<br />
Krankenschwester,<br />
ist bei Frau Baum gartner<br />
gut <strong>auf</strong>gehoben.<br />
Seite 30<br />
40 Mio<br />
Mittel- un<br />
Südamerik<br />
2 Caritas «Menschen» 3/13<br />
Titelbild: Luca Zanetti; Bilder: Shutterstock, Sam Tarling, Flurin Bertschinger/Ex-Press<br />
Weltkarte: OneMarketing; Quellen: Office of the High Commissioner for Human Rights OHCHR, Unesco; Unicef; OneWorld
Editorial<br />
Ein Leben in<br />
Freiheit<br />
d<br />
a<br />
1.5 Mio<br />
Pakistan<br />
18 mio<br />
indien<br />
1.5 mio<br />
philippinen<br />
Freiheit: Nichts geht in Wohlstandsgesellschaften<br />
über diesen Wert. Dabei handelt es<br />
sich bei weitem nicht nur darum, sich frei zu<br />
bewegen. Es geht darum, sich frei im eigenen<br />
Leben zu bewegen, dieses zu gestalten.<br />
Wir wählen, wie wir leben wollen, wo wir<br />
leben wollen. Wir wählen zwischen Chancen<br />
und Perspektiven. Und wir sind wählerisch.<br />
Die Mehrheit der Menschen <strong>auf</strong> der<br />
Welt aber können sich nichts aussuchen.<br />
Am wenigsten ihre Lebensumstände. Sie<br />
wer<strong>den</strong> in diese hineingeboren. So wie die<br />
100 Millionen Kinder, die laut Unicef weltweit<br />
<strong>auf</strong> der Strasse leben. Hinter der nüchternen<br />
Zahl verbergen sich Schicksale voller<br />
<strong>Gewalt</strong>, Not, Perspektivlosigkeit, bar jeder<br />
Geborgenheit, Sicherheit, Kindheit. Es sind<br />
Lebensumstände, in <strong>den</strong>en das blosse Überleben<br />
die ganze Kraft eines Menschen beansprucht.<br />
Seit 10 Jahren versucht Lucimar Correa,<br />
die Koordinatorin der Hilfsorganisation<br />
São Martinho in Brasilien, die Kinder<br />
<strong>von</strong> der Strasse zu holen und ihnen ein<br />
Stück Kindheit zurückzugeben – manchmal<br />
ein Sandwich, vielleicht schulische Bildung,<br />
im besten Fall eine Familie. Die Umstände<br />
sind widrig, wie unsere Hauptreportage<br />
zeigt: Das Bewusstsein für die Not der<br />
<strong>Strassen</strong>kinder in der brasilianischen Gesellschaft<br />
so gut wie nicht vorhan<strong>den</strong>; anlässlich<br />
der sportlichen Grossanlässe wer<strong>den</strong><br />
die Kinder unter Einsatz polizeilicher Kräfte<br />
<strong>von</strong> der Strasse weggeräumt, wie Müll. Sie<br />
stören die Bilder, die im HD-Format um die<br />
Welt gehen und ein neues, modernes, <strong>auf</strong>geräumtes<br />
Brasilien zeigen wer<strong>den</strong>.<br />
Armut ist eine Form <strong>von</strong> Unfreiheit, wie<br />
Nationalrätin Jacqueline Fehr in ihrer Gastkolumne<br />
ausführt – ein <strong>Strassen</strong>leben eine<br />
Form <strong>von</strong> moderner Gefangenschaft. Deswegen<br />
ist Armut <strong>von</strong> Kindern und Jugendlichen<br />
einer modernen Gesellschaft unwürdig.<br />
Sie verletzt deren höchsten Wert: die<br />
Freiheit, ein würdiges und selbstbestimmtes<br />
Leben führen zu können.<br />
Iwona Swietlik<br />
Für die Redaktion «Wir helfen Menschen»<br />
«Menschen» 3/13 Caritas 3
Echo<br />
PRESSE<br />
6. 6. 2013<br />
«Man muss hartnäckig sein»<br />
Sie stellt ihr Leben in <strong>den</strong> Dienst benachteiligter<br />
kurdischer Kinder im Nordirak.<br />
Dafür ist die Engländerin Rachel Newton<br />
mit dem Prix Caritas ausgezeichnet wor<strong>den</strong>.<br />
Den Preis überreichte ihr (…) Bundesrätin<br />
Simonetta Sommaruga im KKL. (….)<br />
Seit 2008 unterstützt Caritas <strong>Schweiz</strong> die<br />
Organisation Step finanziell wie beratend.<br />
Bisher hat sie rund 600 000 Franken investiert.<br />
Neu wird auch ein mobiles Drop-in-<br />
Zentrum eröffnet, um direkt an die Kinder<br />
in <strong>den</strong> Lagern der Vertriebenen zu gelangen.<br />
Ziel ist es, betteln<strong>den</strong> Kindern mit Nachhilfestun<strong>den</strong><br />
<strong>den</strong> Wiedereinstieg in die Schule<br />
zu erleichtern.<br />
4. 7. 2013<br />
Ethik und Ästhetik<br />
Die Textilien des Modelabels Unica bestehen<br />
aus Naturmaterialien und wer<strong>den</strong><br />
nach <strong>den</strong> Kriterien des fairen Handels hergestellt.<br />
Das bedeutet, dass alle am Produktionsprozess<br />
beteiligten Arbeiterinnen <strong>von</strong><br />
sozialen Arbeitsbedingungen und einer angemessenen<br />
und gerechten Entlöhnung profitieren.<br />
Erhältlich in Unica-Lä<strong>den</strong> (Zürich,<br />
Luzern, Basel, Altdorf) oder im Online-Shop.<br />
www.caritas-fairtrade.ch<br />
IMPRESSUM<br />
«Menschen». Magazin der Caritas <strong>Schweiz</strong>, erscheint<br />
viermal im Jahr: jeweils März, Juni, September, Dezember.<br />
Redaktionsadresse: Caritas <strong>Schweiz</strong>, Kommunikation,<br />
Löwenstrasse 3, Postfach, CH-6002 Luzern,<br />
E-Mail: info@caritas.ch, www.caritas.ch, Tel. +41 41 419 22 22<br />
Redaktion: Dominique Schärer (dos), Iwona Swietlik (imy), Leitung;<br />
Jörg Arnold (ja); Stefan Gribi (sg); Vérène Morisod Simonazzi (vm);<br />
Odilo Noti (on); Katja Remane (kr); Ulrike Seifart (use)<br />
Abopreis: Das Abonnement kostet sechs Franken pro Jahr und wird<br />
einmalig <strong>von</strong> Ihrer Spende abgezogen.<br />
Auflage: 78847 (deutsch und französisch, Wemf-Beglaubigte Auflage)<br />
Konzept: Spinas Civil Voices, Zürich<br />
Grafik: Urban Fischer<br />
Druckerei: Kyburz, Dielsdorf<br />
Papier: Carisma Silk, 100 % recycling<br />
Spen<strong>den</strong>konto: PC 60-7000-4<br />
Scharf sehen und solidarisch handeln<br />
Die Optiker <strong>von</strong> Optic 2000 spen<strong>den</strong> bei jeder zweiten Brille einen Franken zugunsten der<br />
Caritas-Schul<strong>den</strong>beratung. Sie übernehmen damit soziale Verantwortung und engagieren sich<br />
aktiv für eine solidarische <strong>Schweiz</strong>. Und sie unterstützen Caritas bei ihrem Ziel, die Armut in<br />
der <strong>Schweiz</strong> bis 2020 zu halbieren. Fast 27 000 Franken sind 2012 dabei zusammengekommen.<br />
Herzlichen Dank!<br />
Im Bild: Michel Sonnard <strong>von</strong> Optic 2000 <strong>Schweiz</strong> (links), übergibt <strong>den</strong> Scheck an Jörg Arnold,<br />
Leiter Fundraising und Marketing <strong>von</strong> Caritas <strong>Schweiz</strong>.<br />
7. 7. 2013<br />
Essen spen<strong>den</strong> statt vernichten<br />
«Bei Reis oder Mehl hat früher niemand<br />
an ein Verfallsdatum gedacht – heute lan<strong>den</strong><br />
diese Lebensmittel im Abfall», ärgert<br />
sich Ida Glanzmann. Die CVP-Nationalrätin<br />
will nicht einfach hinnehmen, dass in der<br />
<strong>Schweiz</strong> geschätzte 2 Millionen Tonnen Nahrungsmittel<br />
pro Jahr weggeschmissen wer<strong>den</strong>.<br />
In einem neuen Vorstoss erinnert die Luzernerin<br />
daran, dass verschie<strong>den</strong>e karitative<br />
Einrichtungen abgel<strong>auf</strong>ene, aber <strong>den</strong>noch<br />
geniessbare Nahrungsmittel für wohltätige<br />
Zwecke einsetzen möchten. (…) «Wenn es<br />
überhaupt regelbar ist, sollte man es regeln»,<br />
pflichtet Rolf Maurer bei, Geschäftsleiter<br />
<strong>von</strong> «Caritas Markt».<br />
15. 7. 2013<br />
Dieser Boom freut nieman<strong>den</strong>!<br />
Die noch unveröffentlichten Zahlen der<br />
Caritas-Märkte würde man lieber gar nicht<br />
hören: 5,2 Millionen Franken setzten die 23<br />
Lä<strong>den</strong> mit dem roten Schriftzug im ersten<br />
Halbjahr um. «Die Verkäufe haben gegenüber<br />
derselben Zahl im Vorjahr um 13 Prozent<br />
zugelegt», sagt Rolf Maurer, Geschäftsführer<br />
der Caritas-Märkte, zu Blick. Im Vergleich<br />
zum Mini-Wachstum <strong>von</strong> Coop und<br />
Migros haben diese Lä<strong>den</strong> Hochkonjunktur.<br />
Und das nicht nur in diesem Jahr. «Das<br />
geht schon längere Zeit so», sagt Maurer.<br />
Trotz geringer Arbeitslosigkeit und Krisenresistenz<br />
in der <strong>Schweiz</strong>. (…) Für mehr<br />
Umsatz sorgt Mund-zu-Mund-Propaganda<br />
und eine stetig wachsende Bekanntheit der<br />
Märkte. «Es besteht ein grosses Bedürfnis<br />
nach diesem Angebot», sagt Maurer.<br />
4 Caritas «Menschen» 3/13<br />
Bild: optic2000
Offener Brief<br />
Sehr geehrte<br />
Parlamentarierinnen<br />
und Parlamentarier<br />
Hugo Fasel,<br />
Direktor<br />
Caritas <strong>Schweiz</strong><br />
Medien folgen ihrer eigenen Logik: Im Minutentakt<br />
wer<strong>den</strong> die <strong>auf</strong>fallendsten Ereignisse<br />
rund um die Welt zu News in Flashform<br />
verdichtet und ins Internet gestellt.<br />
Wenig bleibt verborgen, fast alles findet <strong>den</strong><br />
Weg in die Öffentlichkeit. So könnte man<br />
meinen. Doch Wichtiges wird zugemüllt<br />
durch neue News. Vor allem Ereignisse und<br />
Entwicklungen, die sich über längere Zeit<br />
hinziehen, geraten in <strong>den</strong> Hintergrund; sie<br />
langweilen, weil ihnen der Newscharakter<br />
fehlt.<br />
Opfer dieser Logik ist auch der Syrienkrieg.<br />
Die Beachtung nimmt ab, trotz katastrophaler<br />
Zustände. Die Zahl der Toten<br />
hat die Grenze <strong>von</strong> 100 000 Opfern überschritten.<br />
Rund sieben Millionen Menschen<br />
sind <strong>auf</strong> humanitäre Hilfe angewiesen; vier<br />
Den Menschen vor Ort helfen:<br />
Den Worten müssen Taten folgen.<br />
Millionen da<strong>von</strong> brauchen Nahrungsmittelhilfe,<br />
<strong>den</strong>n sie haben alles verloren. Das<br />
menschliche Leid ist riesig. Millionen Menschen<br />
sind <strong>auf</strong> der Flucht, entweder innerhalb<br />
des eigenen Landes oder sie suchen<br />
Schutz in <strong>den</strong> Nachbarländern.<br />
Die Situation im Libanon und in Jordanien<br />
macht die dramatische Lage deutlich:<br />
der Libanon zählt vier Millionen Einwohner.<br />
Gegenwärtig sind rund 700 000 Flüchtlinge<br />
aus Syrien im Lande und wollen überleben.<br />
Das gleiche Verhältnis gilt für Jordanien:<br />
Das Land zählt sieben Millionen Einwohner;<br />
inzwischen sind mehr als 500 000 Syrer<br />
als Schutzsuchende im Lande. Libanon und<br />
Jordanien haben gemessen an ihrer Bevölkerung<br />
innerhalb <strong>von</strong> zwei Jahren mehr als<br />
zehn Prozent Flüchtlinge <strong>auf</strong>genommen.<br />
Stellen wir uns Ähnliches für die <strong>Schweiz</strong><br />
vor: Was wür<strong>den</strong> wir tun, wenn unser Land<br />
mit acht Millionen Einwohnern ebenso innerhalb<br />
<strong>von</strong> zwei Jahren 800 000 Flüchtlinge<br />
<strong>auf</strong>nehmen müsste…?<br />
Ich möchte deshalb allen National- und<br />
Ständeräten zwei Anliegen nahe legen: Beachten<br />
Sie bei der l<strong>auf</strong>en<strong>den</strong> Asylgesetzrevision,<br />
dass andere Länder genauso, oder<br />
noch weit mehr, mit Flüchtlingsströmen zurechtkommen<br />
müssen und enorme Leistungen<br />
für Asylsuchende erbringen. Unsere Betroffenheit<br />
ist im Vergleich dazu eher klein.<br />
Bisher sind weniger als 100 Syrienflüchtlinge<br />
in die <strong>Schweiz</strong> gekommen. Und daran<br />
ändert selbst der allfällige Entscheid des<br />
Parlaments, zusätzlich rund 100 so genannte<br />
Kontingentflüchtlinge <strong>auf</strong>zunehmen, nichts<br />
Wesentliches – auch wenn dieser Schritt sehr<br />
zu begrüssen ist.<br />
Und das Parlament sollte seiner eigenen<br />
Argumentation bei Asyldebatten Taten folgen<br />
lassen. Immer wieder wird betont, dass<br />
es wichtig und richtig sei, <strong>den</strong> Menschen vor<br />
Ort zu helfen, statt sie bei uns als Flüchtlinge<br />
<strong>auf</strong>zunehmen. Dies könnte nun bewiesen<br />
wer<strong>den</strong>. Die 30 Millionen Franken, die<br />
für dieses Jahr für die Syrienhilfe vorgesehen<br />
sind, sind mager, der Betrag müsste verdreifacht<br />
wer<strong>den</strong>. Den Worten sollten Taten<br />
folgen, die <strong>Schweiz</strong> kann es sich leisten. Ich<br />
danke allen Parlamentarierinnen und Parlamentariern,<br />
die sich dafür einsetzen.<br />
Hugo Fasel<br />
Bild: Franca Pedrazzetti<br />
«Menschen» 3/13 Caritas 5
«DIE POLIZEI HAT<br />
UNS ALLE<br />
TERRORISIERT»<br />
Die neunjährige Andressa hat wieder eine<br />
Familie gefun<strong>den</strong> – dank der brasilianischen<br />
Organisation São Martinho, die sich für<br />
<strong>Strassen</strong>kinder einsetzt. Andressa lebt jetzt<br />
mit ihrer jüngeren Schwester Amanda bei<br />
ihrer Grossmutter. Längst nicht für alle <strong>Strassen</strong>kinder<br />
in Brasilien geht die Geschichte<br />
so gut aus. Im Vorfeld der Fussball-Weltmeisterschaft<br />
2014 stören diese Kinder das positive<br />
Bild, welches das Land der Öffentlichkeit<br />
vermitteln will.
Reportage: <strong>Strassen</strong>kinder in <strong>Rio</strong> de Janeiro<br />
Text: Katja Remane<br />
Bilder: Luca Zanetti<br />
Brasilien, Confederation’s Cup. Die Regierung<br />
möchte der Welt das positive Bild eines<br />
dynamischen Landes in vollem Aufschwung<br />
präsentieren, doch zahlreiche unerwartete<br />
Demonstrationen in allen grossen Städten<br />
des Landes ziehen ihr einen Strich durch die<br />
Rechnung. Die Brasilianer und Brasilianerinnen<br />
haben genug <strong>von</strong> der Korruption und<br />
<strong>den</strong> horren<strong>den</strong> Baukosten für die Fussball-<br />
Weltmeisterschaft 2014, wenn gleichzeitig<br />
zu wenig Geld für Schulen und Gesundheit<br />
da ist und der öffentliche Transport immer<br />
teurer wird. Bereitschaftspolizei in Kampfmontur<br />
ist im Zentrum <strong>von</strong> <strong>Rio</strong> allgegenwärtig.<br />
Am schlimmsten ist die Situation für<br />
die <strong>Strassen</strong>kinder, <strong>den</strong>n diese wer<strong>den</strong> <strong>von</strong><br />
der Polizei in Gewahrsam genommen und<br />
kurzerhand in Internierungszentren verfrachtet.<br />
«2011 begann die Stadtverwaltung<br />
damit, <strong>Strassen</strong>kinder in Spezialzentren zu<br />
internieren. Laut offizieller Politik wer<strong>den</strong><br />
die Kinder dort <strong>von</strong> Krankheiten und Drogensucht<br />
geheilt und ausgebildet. In Wahrheit<br />
geht es einfach nur darum, das <strong>Strassen</strong>bild<br />
vor der Weltmeisterschaft 2014<br />
zu säubern», erklärt Lucimar Correa, die<br />
Die Kinder leben zwischen Drogenhandel und Polizeirazzien.<br />
Koordinatorin <strong>von</strong> São Martinho, einer <strong>von</strong><br />
Caritas <strong>Schweiz</strong> unterstützten Nichtregierungsorganisation<br />
(NGO). «Wir sind uns<br />
alle einig, dass Kinder nicht <strong>auf</strong> der Stras se<br />
leben sollten, aber wir sind uns nicht einig<br />
über das Vorgehen. Wir wollen diesen Kindern<br />
helfen und sie wieder in die Gesellschaft<br />
eingliedern. Wir versuchen, sie zurück<br />
zu ihren Familien und in die Schule zu<br />
bringen, <strong>den</strong>n so stehen ihre Chancen am<br />
Die Kinder <strong>von</strong> São Martinho<br />
– Die Sozialarbeiterinnen und -arbeiter nahmen<br />
im Jahr 2012 mit 288 Kindern Kontakt<br />
<strong>auf</strong>, mit 381 Kindern im Jahr 2011 und mit<br />
523 Kindern im Jahr 2010. Seit dem politischen<br />
Beschluss, <strong>Strassen</strong>kinder in Zentren<br />
zu internieren, hat die Anzahl <strong>Strassen</strong>kinder<br />
stark abgenommen.<br />
– Das Kulturzentrum Educagente betreut gegenwärtig<br />
228 Kinder aus <strong>den</strong> Favelas.<br />
– Das Projekt Arbeitswelt vermittelte bisher<br />
677 Jugendlichen aus unterprivilegierten<br />
Kreisen eine Lehrstelle.<br />
Bild rechts: Brenda lebt in <strong>den</strong> <strong>Strassen</strong> <strong>von</strong> <strong>Rio</strong><br />
de Janeiro mit einer Zehnergruppe <strong>von</strong> Buben.<br />
Bild unten: In São Martinho lernen die<br />
<strong>Strassen</strong> kinder durch Fussball und andere<br />
Freizeitaktivitäten friedlich mit Konflikten<br />
umzugehen.<br />
8 Caritas «Menschen» 3/13
«Menschen» 3/13 Caritas 9
Reportage: <strong>Strassen</strong>kinder in <strong>Rio</strong> de Janeiro<br />
Brenda, 13 Jahre<br />
«Ich habe keinen Vater. Meine Mutter nimmt Drogen. Wir sind<br />
alle süchtig in der Familie. In der Favela wur<strong>den</strong> wir <strong>von</strong> Drogendealern<br />
bedrängt, die uns verjagt haben. Also bin ich mit meinen<br />
Geschwistern <strong>auf</strong> die Strasse geflüchtet. Wir haben uns alle<br />
aus <strong>den</strong> Augen verloren.»<br />
Diogo, 15 Jahre<br />
«Ich leide weniger <strong>auf</strong> der Strasse als zu Hause. Mein Vater ist<br />
ein Säufer und raucht Marihuana. Er hat uns verlassen, als ich<br />
noch ein Baby war, kommt aber manchmal zurück, um mich zu<br />
verprügeln. Das Leben in der Favela ist zu hart. Manchmal gehe<br />
ich zurück, aber ich will nicht mehr dort leben. Wir schlafen jede<br />
Nacht an einem anderen Ort, aus Angst, dass die Polizei uns in<br />
ein Heim bringt. In unserer Gruppe nehmen alle Drogen.»<br />
besten. Ist die familiäre Situation zu hoffnungslos,<br />
so suchen wir nach Verwandten,<br />
die das Kind <strong>auf</strong>nehmen können, wie beispielsweise<br />
im Fall <strong>von</strong> Andressa.»<br />
Drogenabhängige Mutter<br />
Andressa lebte in einem besetzen Haus, zusammen<br />
mit ihrer drogenabhängigen Mutter<br />
und sieben Geschwistern. Die Mutter<br />
verschwand des Öfteren während mehrerer<br />
Tage. Das Gebäude wird <strong>von</strong> rund hundert<br />
Personen besetzt und verfügt nur über ein<br />
einziges Badezimmer. Reste <strong>von</strong> Lebensmitteln,<br />
die <strong>auf</strong> dem Bo<strong>den</strong> herumliegen, ziehen<br />
Ratten an. Die Kinder lebten dort in einem<br />
Klima der <strong>Gewalt</strong>, zwischen Drogenhandel<br />
und Polizeirazzien. Das besetzte Haus befindet<br />
sich im Zentrum <strong>von</strong> <strong>Rio</strong>, nur einige<br />
Blocks <strong>von</strong> São Martinho entfernt. Ein Cousin<br />
brachte Andressa zum ersten Mal zu São<br />
Martinho. Dort bat das Mädchen die Sozialarbeiterinnen,<br />
ihm dabei zu helfen, zu seiner<br />
Grossmutter und in die Schule zurückzukehren.<br />
Nach zwei Stun<strong>den</strong> Fahrt gelangen wir<br />
zur Grossmutter Rosemary Oliveira Moura.<br />
Sie wohnt in Parque Anchieta, einem beschei<strong>den</strong>en,<br />
aber ruhigen Quartier <strong>von</strong> <strong>Rio</strong><br />
de Janeiro. «Andressa kam im Mai zu mir.<br />
Ihre jüngere Schwester Amanda lebt schon<br />
seit Ende 2012 hier», erzählt die 53-jährige<br />
Bild rechts oben: Favela in <strong>Rio</strong> de Janeiro –<br />
wegen der Immobilienspekulation im Vorfeld<br />
der Fussball-Weltmeisterschaft wer<strong>den</strong> viele<br />
Einwohner aus ihren Häusern vertrieben.<br />
Bilder rechts unten: Nach der Schule gehen<br />
Andressa und ihre kleine Schwester zu ihrer<br />
Grossmutter. Sie wohnen heute in einem<br />
sicheren Aussenquartier <strong>von</strong> <strong>Rio</strong> mit Spielplatz.<br />
10 Caritas «Menschen» 3/13
«Menschen» 3/13 Caritas 11
Reportage: <strong>Strassen</strong>kinder in <strong>Rio</strong> de Janeiro<br />
Grossmutter. «Ich habe schon einmal vor<br />
vier Jahren für sie gesorgt, aber die Mutter<br />
kam ihre Kinder holen, weil sie die staatliche<br />
Familienzulage wollte, und ich liess die<br />
Mädchen gehen.» Die Regierung <strong>von</strong> Präsi<strong>den</strong>t<br />
Lula hat eine Familienzulage in der<br />
Höhe <strong>von</strong> 90 Brasilianischen Reais (BRL)<br />
pro Kind für bedürftige Familien eingeführt<br />
(rund 38 <strong>Schweiz</strong>er Franken).<br />
Vater im Gefängnis<br />
«Jetzt habe ich die Fürsorge für Andressa<br />
und Amanda beantragt und die bei<strong>den</strong> in<br />
der Schule angemeldet. Andressa hat ein<br />
Jahr verloren. Ihr Vater, mein Sohn, ist<br />
wegen eines bewaffneten Überfalls im Gefängnis.<br />
Die anderen Kinder sind <strong>von</strong> einem<br />
anderen Vater», fügt die Grossmutter hinzu.<br />
«Mein Sohn kann wegen guter Führung das<br />
Gefängnis schon bald verlassen und wird<br />
dann hier mit uns leben.»<br />
Um 15 Uhr kommen die Mädchen <strong>von</strong><br />
der Schule heim. Amanda, sechs Jahre alt,<br />
unbekümmert und fröhlich, die neunjährige<br />
Schwester mit traurigem Blick und abwesen<strong>den</strong><br />
Gesichtsausdruck. Fragt man sie nach<br />
ihrer Mutter, so wird ihr Ausdruck ernst: «Ich<br />
<strong>den</strong>ke, sie ist okay, <strong>den</strong>n sie hat ein wenig zugenommen,<br />
sie war sehr mager. Meine Geschwister<br />
fehlen mir. Manchmal kommt mich<br />
meine grosse Schwester holen und wir gehen<br />
zusammen zum besetzten Haus. Hier bei<br />
meiner Grossmutter muss man keine Angst<br />
vor der Polizei haben. Wir waren alle terrorisiert.<br />
Die Polizisten waren sehr brutal, sie<br />
schlugen alle, auch uns Kinder.»<br />
Die Kinder schlafen <strong>auf</strong> dem Bo<strong>den</strong>, in Decken eingewickelt.<br />
Bereitschaftspolizei<br />
Bei unserer Rückkehr ins Stadtzentrum sind<br />
die <strong>Strassen</strong> voller Bereitschaftspolizisten.<br />
Erneut wurde eine Demonstration angekündigt.<br />
«Bei all diesen Polizisten haben die<br />
<strong>Strassen</strong>kinder Angst, zu São Martinho zu<br />
12 Caritas «Menschen» 3/13
kommen», erklärt Koordinatorin Lucimar<br />
Correa. Die Vorbereitungen für die Weltmeisterschaft<br />
machen die Arbeit der Sozialhelferinnen<br />
komplizierter. «Es wird immer<br />
schwieriger, die <strong>Strassen</strong>kinder zu fin<strong>den</strong>.<br />
Aus Furcht, in einem Internierungszentrum<br />
zu lan<strong>den</strong>, teilen sie sich in kleine Gruppen<br />
<strong>auf</strong> und sind viel mobiler.»<br />
Bilder: Die <strong>Strassen</strong>kinder leben und schlafen<br />
in kleinen Gruppen. Sie wechseln oft<br />
<strong>den</strong> Standort, aus Angst vor der Polizei. Die<br />
Sozialarbeiterin Rita geht morgens zu<br />
<strong>den</strong> Kindern und ermuntert sie zum Zeichnen,<br />
Spielen und Re<strong>den</strong> über ihre Situation.<br />
«Menschen» 3/13 Caritas 13
Reportage: <strong>Strassen</strong>kinder in <strong>Rio</strong> de Janeiro<br />
«DIE STRASSENKINDER IN IHRE FAMILIEN EINGLIEDERN»<br />
Lucimar Correa ist seit zehn Jahren die<br />
Koor dinatorin <strong>von</strong> São Martinho, wo<br />
sie früher als Sozialarbeiterin tätig war.<br />
Die Fünfzigjährige kämpft seit <strong>den</strong><br />
1980er-Jahren für die Rechte <strong>von</strong> benachteiligten<br />
Kindern. Sie stammt<br />
aus einer armen Arbeiterfamilie und<br />
konnte mit 30 Jahren dank eines<br />
Stipendiums studieren.<br />
haben Kinder, die nicht mehr zur Schule gehen<br />
und seit mehreren Jahren <strong>auf</strong> der Stras se<br />
leben, keine Perspektive. Das Beste ist deshalb,<br />
sie wieder in ihre Familie zurückzuführen<br />
und dafür zu sorgen, dass sie zur Schule<br />
gehen. Ein Bezug zur Ursprungsfamilie besteht<br />
immer. Wenn sie nicht zu ihrer Mutter heimkehren<br />
können oder wollen, versuchen wir Verwandte<br />
zu fin<strong>den</strong>, die sie <strong>auf</strong>nehmen können.<br />
Was tut São Martinho, um die Lage <strong>von</strong><br />
<strong>Strassen</strong>kindern zu verbessern?<br />
São Martinho wurde vor 29 Jahren gegründet,<br />
mit einem Begegnungsprojekt für die <strong>Strassen</strong>kinder<br />
<strong>von</strong> <strong>Rio</strong> de Janeiro. Bis heute ziehen<br />
unsere Sozialarbeiterinnen und -arbeiter je<strong>den</strong><br />
Morgen durch die <strong>Strassen</strong>, um Kontakte zu<br />
diesen Kindern <strong>auf</strong>zubauen. Sie bringen ihnen<br />
etwas zu Essen und Getränke, la<strong>den</strong> sie ins<br />
Zentrum <strong>von</strong> São Martinho ein und sprechen<br />
mit ihnen über ihre Lage. Ziel ist es, sie <strong>von</strong> der<br />
Strasse wegzubringen. Die Strasse ist für Kinder<br />
ein sehr gefährlicher Ort, es gibt so viel <strong>Gewalt</strong><br />
und Drogen.<br />
Wir haben mehrere Projekte. In einem Armenquartier<br />
<strong>von</strong> <strong>Rio</strong> betreibt unser Kulturzentrum<br />
Educagente Prävention. Vor und<br />
nach der Schule wer<strong>den</strong> Kinder aus der Favela<br />
betreut, damit sie nicht dem <strong>Strassen</strong>leben<br />
ausgesetzt sind. Es wer<strong>den</strong> ihnen diverse<br />
Aktivitäten angeboten, wie Capoeira,<br />
Fussball, Judo, Spiele, Musikunterricht und<br />
Kochen. Nur eingeschulte Kinder wer<strong>den</strong> zugelassen.<br />
Der Tag beginnt damit, dass <strong>Strassen</strong>kinder<br />
<strong>auf</strong>gesucht wer<strong>den</strong>. Je<strong>den</strong> Morgen, <strong>von</strong><br />
Montag bis Freitag, durchstreift ein kleines<br />
Team <strong>von</strong> Sozialarbeiterinnen und -arbeitern<br />
die <strong>Strassen</strong>, alle im gelben T-Shirt mit<br />
dem Logo <strong>von</strong> São Martinho. Sie bringen <strong>den</strong><br />
Kindern, die die Nacht <strong>auf</strong> der Strasse verbracht<br />
haben, ein Frühstück. São Martinho<br />
verteilt je<strong>den</strong> Monat 400 bis 500 Sandwichs<br />
an Stras senkinder. Wir begleiten die bei<strong>den</strong><br />
Helfer Rita de Cassia Ferreira Moraes und<br />
Luiz Carlos. In der Nähe des Hauptbahnhofs<br />
schlafen ein paar Jugendliche <strong>auf</strong> dem Bo<strong>den</strong>,<br />
eingewickelt in Decken. Zu dieser Jahreszeit<br />
sind die Nächte kühl. Ein Hund bellt und verrät<br />
unser Kommen. Die Kinder sind misstrauisch<br />
und wollen nicht mit uns sprechen.<br />
Das Projekt Arbeitswelt hingegen hilft Jugendlichen<br />
aus benachteiligten Kreisen, eine<br />
Lehrstelle zu fin<strong>den</strong>. Sie besuchen erst einen<br />
viermonatigen Vorbereitungskurs <strong>von</strong> São Martinho,<br />
und dann begleiten wir sie während der<br />
Lehrzeit. Wir haben mit 43 Unternehmen eine<br />
Partnerschaft abgeschlossen.<br />
Wie gut stehen die Chancen für ein<br />
<strong>Strassen</strong>kind, eine Lehre zu machen und<br />
Arbeit zu fin<strong>den</strong>?<br />
Zuerst stand das Projekt Arbeitswelt auch<br />
Jugendlichen <strong>von</strong> der Strasse offen. Wir stellten<br />
aber fest, dass Firmen Jugendliche <strong>von</strong><br />
der Stras se nicht anstellen wollen. Tatsächlich<br />
Vertrauen <strong>auf</strong>bauen<br />
Etwas weiter, <strong>auf</strong> einem grünen Dreieck<br />
zwischen <strong>den</strong> <strong>Strassen</strong>, befindet sich eine<br />
zweite Gruppe <strong>von</strong> etwa zehn Jugendlichen,<br />
darunter ein Mädchen. Einige begrüs sen<br />
die Sozialarbeiter mit einer freudigen Umarmung.<br />
Die anderen sind zurückhaltender<br />
oder schlafen noch. Die Sozialarbeiter ziehen<br />
regelmässig durch die <strong>Strassen</strong>, um zu<br />
diesen sehr misstrauischen und gewaltbereiten<br />
Kindern ein Vertrauensverhältnis <strong>auf</strong>zubauen.<br />
Bevor Sandwichs und kalte Schokoladegetränke<br />
verteilt wer<strong>den</strong>, ermuntern<br />
Rita und Luiz die Kinder, mit ihnen zu zeichnen<br />
oder zu spielen. Es sind wohl die einzigen<br />
Partien, die diese Kinder immer gewinnen.<br />
Dabei kommt es zu Gesprächen, die<br />
Wie wer<strong>den</strong> <strong>Strassen</strong>kinder in Brasilien<br />
wahrgenommen?<br />
Die brasilianische Gesellschaft hat überhaupt<br />
keine Bewusstsein für die Situation dieser Kinder.<br />
Es gibt viel <strong>Gewalt</strong> in unserem Land, deren<br />
Ursache oftmals <strong>den</strong> <strong>Strassen</strong>kindern in die<br />
Schuhe geschoben wird, genau wie der Drogenhandel.<br />
Kinder verüben aber viel weniger<br />
Verbrechen als Erwachsene. Aufgrund dieser<br />
verzerrten Wahrnehmung begegnet man ihnen<br />
mit enorm viel Misstrauen. Dabei zeigt sich<br />
gerade bei der Situation dieser Kinder, wie<br />
schwach unser Service Public ist. Von 30 Millionen<br />
jungen Einwohnern zwischen 15 und<br />
24 Jahren befin<strong>den</strong> sich neun Prozent in einer<br />
prekären Situation. Die Mehrheit der <strong>Strassen</strong>kinder<br />
sind Schwarze oder Mestizen. In Brasilien<br />
gibt es zwei Welten. Einige wenige verfügen<br />
über einen immensen Reichtum, während<br />
in der schwarzen Bevölkerung grosse<br />
Armut herrscht. Es gibt bei uns immer noch<br />
eine starke Rassendiskriminierung gegenüber<br />
Schwarzen, bloss spricht man nicht darüber.<br />
Kinder wer<strong>den</strong> ins Zentrum <strong>von</strong> São Martinho<br />
eingela<strong>den</strong>. Dort können sie duschen,<br />
ihre Kleider waschen und bei verschie<strong>den</strong>en<br />
Aktivitäten mitmachen: Zeichnen, Basteln,<br />
Spielen und Sport.<br />
«Die Mehrheit der <strong>Strassen</strong>kinder sind<br />
zwischen 10 und 17 Jahre alt. Sie haben<br />
das Leben <strong>auf</strong> der Strasse gewählt, weil<br />
das Leben in ihrer Familie viel schlimmer<br />
ist. Vater unbekannt oder abwesend, Mutter<br />
drogenabhängig und Stiefvater gewalttätig.<br />
Bei solchen Zustän<strong>den</strong> erlaubt ihnen<br />
das Leben <strong>auf</strong> der Strasse ihre seelische Gesundheit<br />
zu wahren. In <strong>den</strong> Favelas sind sie<br />
ständig der <strong>Gewalt</strong> ausgesetzt, ob <strong>von</strong> Eltern<br />
oder <strong>von</strong> Drogendealern», erzählt Rita.<br />
«Es ist schwierig, Kinder <strong>von</strong> der Strasse<br />
14 Caritas «Menschen» 3/13
Andressa, 9 Jahre<br />
«Im besetzten Gebäude lebte ich mit meiner Mutter und meinen<br />
Geschwistern, wir wur<strong>den</strong> <strong>von</strong> der Polizei terrorisiert. Bei<br />
Razzien wegen Drogenfahndung waren die Polizisten sehr brutal.<br />
Sie schlugen alle, auch die Kinder. Wir versuchten zu São<br />
Martinho zu fliehen, oder wir versteckten uns im Keller unter<br />
Decken. Ich habe São Martinho gefragt, ob sie mir helfen können,<br />
zu meiner Grossmutter zurückzukehren und wieder in die<br />
Schule zu gehen.»<br />
Silvester, 26 Jahre<br />
«Meine Eltern sind arm, sie sind aus dem Nordosten eingewandert.<br />
Ich bin in einer Vorstadt <strong>von</strong> <strong>Rio</strong> <strong>auf</strong>gewachsen, zusammen<br />
mit meinen Eltern und zwei jüngeren Schwestern. Meine Eltern,<br />
die bloss knapp ihren Namen schreiben können, haben uns<br />
immer ermuntert zur Schule zu gehen, <strong>den</strong>n sie waren überzeugt,<br />
dass Bildung ein Weg aus der Armut ist. Mit 15 Jahren konnte<br />
ich dank dem Projekt Arbeitswelt <strong>von</strong> São Martinho eine Lehre<br />
machen. Dann hat mich diese NGO beim Studium unterstützt.<br />
Ich arbeite jetzt als Sozialarbeiter für die Stadt. Ich stelle fest,<br />
dass der Staat eine Segregations- und Säuberungspolitik durchführt,<br />
so dass <strong>Strassen</strong>kinder praktisch keine Chance haben.»<br />
wegzubringen, wenn die Rückkehr in die<br />
Familie nicht möglich ist. Jene Kinder, die<br />
<strong>auf</strong> der Strasse am meisten gelitten haben,<br />
sind leichter zu überzeugen. Einige kehren<br />
hin und wieder nach Hause zurück. Wir<br />
sprechen mit der Familie und mit <strong>den</strong> Kindern,<br />
um bei diesen das Vertrauen zu ihren<br />
Eltern wieder <strong>auf</strong>zubauen, sofern die Familien<br />
nicht allzu zerrüttet sind. Die Familie ist<br />
der Schlüssel, um die Kinder <strong>von</strong> der Stras se<br />
zu nehmen.» <<br />
Weltmeisterschaft 2014 und Olympiade 2016<br />
Im Sommer 2014 fin<strong>den</strong> in Brasilien die Fussball-Weltmeisterschaft<br />
und 2016 die Olympischen<br />
Spiele in <strong>Rio</strong> de Janeiro statt. Die Gesamtinvestitionen<br />
für Infrastrukturen bis 2016<br />
wer<strong>den</strong> <strong>auf</strong> 36 Milliar<strong>den</strong> BRL (14,9 Milliar<strong>den</strong><br />
<strong>Schweiz</strong>er Franken) geschätzt (Quelle:<br />
www.osec.ch). Die brasilianische Bevölkerung<br />
befürchtet grosse Budgetüberschreitungen,<br />
mitunter wegen der starken Korruption.<br />
Die 64 Fussballspiele wer<strong>den</strong> in zwölf Städten<br />
ausgetragen. Fünf Stadien mit nahezu<br />
50 000 Plätzen wer<strong>den</strong> komplett neu gebaut,<br />
die anderen sieben ausgebaut. Zudem wer<strong>den</strong><br />
öffentlicher Nahverkehr und die Flughäfen erweitert.<br />
Wegen der Weltmeisterschaft sind die<br />
Mieten und Bo<strong>den</strong>preise explodiert. Die ersten<br />
Leidtragen<strong>den</strong> sind die Einwohner der Favelas,<br />
die <strong>von</strong> ihren Häusern vertrieben wer<strong>den</strong>,<br />
<strong>den</strong>n nur wenige sind im Grundbuch eingetragen.<br />
Man rechnet mit rund 1,7 Millionen Vertriebenen<br />
bis im Jahr 2014. 2011 zählte Brasilien<br />
196,6 Millionen Einwohner.<br />
«Menschen» 3/13 Caritas 15
Ohne Worte<br />
In Spanien steigen wegen der Wirtschaftskrise die sozialen Spannungen. Madrid, Dezember 2012<br />
Die Frau <strong>auf</strong> dem Bild protestiert gegen<br />
Zwangsräumungen. Zusammen mit anderen<br />
Mitgliedern einer Vereinigung für Opfer<br />
<strong>von</strong> Hypotheken besetzte sie eine Bank. Der<br />
Fotograf Daniel Ochoa de Olza studierte<br />
in Pamplona und Barcelona Fotografie und<br />
arbeitet seit 2005 für Associated Press. Für<br />
seine Arbeit hat er zahlreiche Auszeichnungen<br />
erhalten. Daniel Ochoa de Olza (35)<br />
16 Caritas «Menschen» 3/13<br />
Bild: Daniel Ochoa de Olza; Porträtbild: zVg
Brennpunkt: <strong>Schweiz</strong><br />
Wenn Schul<strong>den</strong> die<br />
Existenz bedrohen<br />
Dass Überschuldung in der <strong>Schweiz</strong> ein<br />
grosses Problem ist, kommt immer mehr<br />
ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Auch<br />
die Politik nimmt sich des Themas an:<br />
Es läuft eine Vernehmlassung für einen<br />
Gesetzesentwurf, der aggressive Werbung<br />
für Konsumkredite verbieten soll.<br />
In der Werbung wird die Botschaft verbreitet:<br />
Es ist leicht, sich kleine und grosse<br />
Träume zu verwirklichen. Konsumkredite<br />
machen es möglich. Das kommt an: Eine<br />
Million Menschen leben in einem Haushalt<br />
mit mindestens einem Konsumkredit.<br />
Rückstände bei Steuern und Kassen<br />
Von der Schattenseite ist in der Werbung<br />
keine Rede: Viele Menschen, die einen Konsumkredit<br />
<strong>auf</strong>nehmen, geraten in existentielle<br />
Schwierigkeiten. Oder sie waren es bereits<br />
und versuchten so ihre Situation zu<br />
verbessern. Dies bestätigen neue Zahlen,<br />
die das Bundesamt für Statistik <strong>auf</strong> Anfrage<br />
der Caritas ermittelt hat: Von 660 000<br />
Personen, die in einem Haushalt mit Zahlungsrückstän<strong>den</strong><br />
bei Steuern leben, haben<br />
190 000 mindestens einen Konsumkredit.<br />
Und <strong>von</strong> 300 000 Personen, die in einem<br />
Haushalt mit Rückstän<strong>den</strong> bei Krankenkassenprämien<br />
leben, haben 90 000 mindestens<br />
einen Konsumkredit. Aus Sicht der Caritas<br />
ist diese Situation alarmierend.<br />
Zahlungsrückstän<strong>den</strong> betroffen. Viele <strong>von</strong><br />
ihnen gehören zu <strong>den</strong> untersten Einkommensklassen,<br />
sind Einelternfamilien, Familien<br />
mit drei oder mehr Kindern oder Erwerbslose.<br />
Zu wenige Beratungsstellen<br />
Auf je<strong>den</strong> Schul<strong>den</strong>berater der gemeinnützigen<br />
Schul<strong>den</strong>beratungsstellen der <strong>Schweiz</strong><br />
Ein Unfall, der Verlust der Arbeit, eine Scheidung kann dazu<br />
führen, dass Kreditschul<strong>den</strong> nicht abbezahlt wer<strong>den</strong> können.<br />
Ein Unfall, der Verlust der Arbeit, eine<br />
Scheidung können dazu führen, dass Kreditschul<strong>den</strong><br />
nicht abbezahlt wer<strong>den</strong>. Immer<br />
mehr wird sichtbar, wie stark die wachsende<br />
Überschuldung in der <strong>Schweiz</strong> eine soziale<br />
Frage ist. 570 000 Personen in der <strong>Schweiz</strong><br />
sind <strong>von</strong> kritischen Kontoüberzügen und<br />
kommen heute knapp 10 000 überschuldete<br />
Menschen. Auch die Caritas-Beratungsstellen<br />
verzeichnen eine starke Zunahme der<br />
Anfragen. Der Bedarf an Schul<strong>den</strong>beratung<br />
ist bei weitem nicht gedeckt. Aus Sicht der<br />
Caritas ist ein Ausbau dringend nötig. Aber<br />
auch Prävention ist wichtig.<br />
Bild: Konsumkredite machen alles möglich –<br />
diese Werbebotschaft kann verhängnisvolle<br />
Folgen haben.<br />
Bedauerlicherweise hat sich der Nationalrat<br />
im Juni dagegen ausgesprochen, <strong>auf</strong><br />
Konsumkredite eine Abgabe für die Schul<strong>den</strong>prävention<br />
zu einzuführen. Im Moment<br />
läuft <strong>auf</strong> Bundesebene die Vernehmlassung<br />
für einen Gesetzesentwurf, der aggressive<br />
Werbung für Konsumkredite verhindern<br />
soll. Caritas spricht sich klar für ein solches<br />
Verbot aus. (sg)<br />
Link zur Online-Schul<strong>den</strong>beratung:<br />
www.caritas-schul<strong>den</strong>beratung.ch<br />
Link zum neuen Caritas-Positionspapier<br />
«Wenn Schul<strong>den</strong> die Existenz bedrohen»:<br />
www.caritas.ch/positionspapiere<br />
Bild: Shutterstock<br />
«Menschen» 3/13 Caritas 17
<strong>Schweiz</strong><br />
Johanna Konyo Veen (52)<br />
Deutsch für Asylsuchende<br />
Anja Rieger (30)<br />
Bergeinsatz<br />
Janine Friedli (53)<br />
Verkäuferin in einem Secondhand-La<strong>den</strong><br />
Wo Freiwillige aktiv wer<strong>den</strong><br />
Sie schenken Caritas ihre Zeit und engagieren sich für ihre Mitmenschen: Drei Freiwillige erzählen.<br />
«Mein Traumjob»<br />
«Neben meiner sehr befriedigen<strong>den</strong> Arbeit<br />
als Primarlehrerin unterrichte ich zusätzlich<br />
je<strong>den</strong> Montagnachmittag Asylsuchende in<br />
der deutschen Sprache. Ich möchte dazu<br />
beitragen, dass sie in der <strong>Schweiz</strong> besser zurechtkommen<br />
und eine Stelle fin<strong>den</strong>. Als<br />
Kind <strong>von</strong> eingewanderten Eltern weiss ich<br />
um die Schwierigkeit, in einem frem<strong>den</strong><br />
Land zu leben. Das Gefühl, anders zu sein,<br />
hat auch mich stets begleitet.<br />
Meine Schüler stammen derzeit aus<br />
Tibet, Afghanistan und verschie<strong>den</strong>en afrikanischen<br />
Ländern. Sie bringen ganz unterschiedliche<br />
Bildungsniveaus mit. Ihnen<br />
gemeinsam ist ihre hohe Motivation und<br />
ihr Wissensdurst. Während dem Unterricht<br />
entstehen auch Freundschaften. Darum ist<br />
diese Arbeit mein Traumjob, <strong>den</strong> ich gerne<br />
unbezahlt ausübe. Doch es schmerzt, wenn<br />
jemand plötzlich nicht mehr im Unterricht<br />
erscheint, weil er die <strong>Schweiz</strong> verlassen<br />
musste.» (dos)<br />
«Eine tolle Woche»<br />
«Ich bin <strong>auf</strong> einem Bauernhof bei Nürnberg<br />
<strong>auf</strong>gewachsen und arbeite heute als Fachfrau<br />
für Radiologie in der Region Zürich.<br />
Ich habe sehr Heimweh nach dem Leben <strong>auf</strong><br />
dem Land, nach <strong>den</strong> Tieren und der Natur.<br />
Darum habe ich mich als Freiwillige bei Caritas<br />
Bergeinsatz gemeldet und eine Woche<br />
bei einer Familie im Scharnachtal verbracht.<br />
Ich konnte dabei helfen, die Ställe vorzubereiten,<br />
die Tiere <strong>von</strong> der Weide zu holen und<br />
zu striegeln, Käse zu machen. Daneben habe<br />
ich auch viel Spass mit <strong>den</strong> Kindern gehabt,<br />
<strong>von</strong> Wasserschlachten bis hin zu Spielen <strong>auf</strong><br />
dem Trampolin. Es war eine tolle Woche:<br />
Körperlich anstrengend, aber mental eine<br />
Erholung. Zudem habe ich eine andere Lebensweise<br />
kennen gelernt, da die <strong>Schweiz</strong>er<br />
Bergbauern in einer ganz anderen Situation<br />
als die Nürnberger Schweinezüchter sind.<br />
Kurz und gut: Ich würde mich sofort wieder<br />
mel<strong>den</strong> und hoffe, <strong>den</strong> Kontakt zur Familie<br />
zu behalten.» (dos)<br />
«Mir gefällt der Kontakt»<br />
«Seit sieben Jahren arbeite ich je<strong>den</strong> Freitag<br />
als Freiwillige im ‘LeMagasin’ <strong>von</strong> Caritas<br />
Jura in Pruntrut. Die Arbeit ist sehr vielfältig<br />
und ich mag <strong>den</strong> Kontakt mit <strong>den</strong> Kun<strong>den</strong>.<br />
Wir sind nicht nur da, um Waren zu<br />
verk<strong>auf</strong>en: Manchmal brauchen die Menschen<br />
auch jeman<strong>den</strong>, der ihnen zuhört, sie<br />
haben es oft nicht gerade einfach. Ich arbeite<br />
sonst zu 50 Prozent als Spitex-Krankenschwester,<br />
<strong>von</strong> daher kann ich leicht eine<br />
Verbindung schaffen zu meinem Einsatz als<br />
Freiwillige. Dieser Secondhand-La<strong>den</strong> ist an<br />
vier Nachmittagen pro Woche geöffnet. Es<br />
gibt Kleider, Geschirr, Schuhe, Spielzeug,<br />
Bücher. Im Moment hat es mehr Kundschaft<br />
als sonst, ältere Menschen und Familien,<br />
aber auch junge Menschen, Studierende.<br />
Mehr Menschen haben finanziell zu<br />
kämpfen, aber man muss auch sagen, dass<br />
sich das Image des La<strong>den</strong>s verändert hat,<br />
es ist dynamischer gewor<strong>den</strong>. Wir machen<br />
an öffentlichen Anlässen mit, zum Beispiel<br />
<strong>auf</strong> dem St. Martinsmarkt. Es ist sehr wichtig,<br />
wie man <strong>den</strong> Menschen begegnet.» (vm)<br />
18 Caritas «Menschen» 3/13<br />
Bilder: Jack Konyo; Pia Zanetti; Sandra Hüsser
<strong>Schweiz</strong><br />
sorge<strong>auf</strong>trag ein wichtiges Instrument, mit<br />
dem Eingriffe der Erwachsenenschutzbehörde<br />
in die Privatsphäre vermie<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>.<br />
Das neue Erwachsenenschutzrecht hat<br />
mit dem Vorsorge<strong>auf</strong>trag eine Möglichkeit<br />
geschaffen, Vertretungspersonen zu bestimmen,<br />
die im Falle der eigenen Urteilsunfähigkeit<br />
aktiv wer<strong>den</strong>.<br />
Menschen mit Demenz gelten ab einem<br />
gewissen Grad ihrer Krankheit als nicht<br />
mehr urteilsfähig. Deshalb ist es besonders<br />
wichtig, Vorsorgedokumente frühzeitig auszufüllen.<br />
Im Alter das Richtige tun<br />
Sich mit der eigenen Endlichkeit<br />
aus einander zu setzen, fällt <strong>den</strong> meisten<br />
Menschen schwer. Unangenehmes<br />
verdrängen wir lieber und lassen die<br />
Chancen ungenützt, die das neue<br />
erwachsenenschutzrecht bietet. Dieses<br />
Gesetz gilt in der <strong>Schweiz</strong> seit Anfang<br />
Jahr. Es macht die Patientenverfügung,<br />
welche Caritas seit 1988 anbietet,<br />
schweizweit verbindlich.<br />
Wenn ich meine Patientenverfügung schreibe,<br />
tauchen unweigerlich Fragen nach der eigenen<br />
Beerdigung <strong>auf</strong>. Wenn ich meine Erbschaft<br />
regeln möchte, interessiert mich, wer<br />
meine finanziellen Dinge in die Hände nehmen<br />
soll, wenn ich aus irgendeinem Grund<br />
nicht mehr dazu in der Lage bin. Die Beschäftigung<br />
mit dem eigenen Tod ist etwas<br />
Urpersönliches, ein Prozess, <strong>den</strong> jede und<br />
jeder selber durchl<strong>auf</strong>en muss. Das ist vielen<br />
nicht bewusst: Manche betagten Eltern<br />
wollen eine Patientenverfügung zusammen<br />
ausfüllen. Pro Person braucht es aber eine<br />
Verfügung, weil die individuellen Wünsche<br />
trotz enger Beziehung sehr verschie<strong>den</strong> sein<br />
können.<br />
Demenz und Selbstbestimmung<br />
Caritas ergänzt ihr Angebot um <strong>den</strong> Vorsorge<strong>auf</strong>trag<br />
und um eine Broschüre, in der<br />
Bestattungswünsche festgehalten wer<strong>den</strong><br />
können. Für Menschen, die an einer beginnen<strong>den</strong><br />
Demenz erkrankt sind, ist der Vor-<br />
Persönliche «Grenze» ist individuell<br />
Es geht darum, für sich festzulegen, was Lebensqualität<br />
bedeutet. Die Antworten sind<br />
so zahlreich, wie es Menschen gibt. Denn<br />
die Einstellungen zu Krankheit, Sterben<br />
und Tod gehen weit auseinander. Darum<br />
appelliert der Palliativmediziner Roland<br />
Kunz: «Jede und jeder soll sich persönlich<br />
fragen, wie viel medizinische Möglichkeiten<br />
und Behandlungen man für sich in Anspruch<br />
nehmen und wo man Grenzen setzen<br />
möchte.»<br />
Vier Elemente, die zusammen gehören<br />
Neu bietet Caritas eine Mappe an, in der alle<br />
vier Angebote <strong>auf</strong>bewahrt sind: Die Patientenverfügung,<br />
der Vorsorge<strong>auf</strong>trag, die Bestattungswünsche<br />
und das Testament. Die<br />
Dokumente sind auch einzeln erhältlich.<br />
Valeska Beutel<br />
Weitere Informationen:<br />
www.caritas.ch/vorsorge<br />
Bild: Raum für individuelle Wünsche und<br />
Vorstellungen mit der Patientenverfügung.<br />
Die neuen Dokumente der praktischen Caritas-Sammelmappe<br />
Die Patientenverfügung Der Vorsorge<strong>auf</strong>trag Die letzten Dinge regeln Der Leitfa<strong>den</strong><br />
zum Testament<br />
Bild: Urs Siegenthaler<br />
«Menschen» 3/13 Caritas 19
Welt: Äthiopien<br />
Achtung vor sich selbst lernen<br />
In zahlreichen Ländern wer<strong>den</strong> Kinder,<br />
meist Mädchen, sehr jung verheiratet.<br />
Damit wer<strong>den</strong> die elementarsten Kinderrechte<br />
verletzt – das Recht <strong>auf</strong> Gesundheit,<br />
<strong>auf</strong> Bildung, <strong>auf</strong> Spiel und Erholung.<br />
Sebhatu Seyoum Halibo <strong>von</strong> Caritas<br />
Adigrat in Nordäthiopien geht gegen<br />
Kinderheirat mit Bildungsprojekten an.<br />
Trotz Verbot wird<br />
Kinderheirat in Äthiopien<br />
praktiziert. Wie<br />
verbreitet ist sie?<br />
Je nach Volksgruppe<br />
und Region wer<strong>den</strong> fast<br />
zwei Drittel der Mädchen<br />
minderjährig verheiratet. In Nordäthiopien<br />
hat sich die Lage aber sehr gebessert.<br />
Erklärt die Tradition alles?<br />
Nein. Auch wenn das Argument der Tradition<br />
oft herbeigeführt wird, stecken hinter<br />
der Kinderheirat häufig handfeste ökonomische<br />
Gründe.<br />
Heirat aus Armut?<br />
Gerade arme Familien können sich die Ausbildung<br />
ihrer Töchter nicht leisten. Mit der<br />
Verheiratung meinen die Eltern mehrere<br />
Probleme zu lösen: die Kosten der Ausbildung<br />
und des Unterhalts, das Risiko, dass<br />
das Mädchen ungewollt schwanger wird,<br />
aber auch das Risiko, dass es unverheiratet<br />
bleibt. Oft wird sozialer Aufstieg erhofft.<br />
Unverheiratete Töchter wer<strong>den</strong> stigmatisiert,<br />
weswegen die frühe Heirat eben doch<br />
nicht nur ein Problem der Armut ist.<br />
Was unternimmt der Staat dagegen?<br />
Gesetzlich ist die Kinderheirat verboten, im<br />
Jahre 2000 wurde das gesetzliche Heiratsalter<br />
für Frauen <strong>auf</strong> 18 Jahre hochgesetzt.<br />
Es drohen zwar Konsequenzen wie Bussen<br />
oder gar Haft, doch allein mit Strafen bewirkt<br />
man die Veränderung nicht. Deswegen<br />
wirken wir über Bildungsprogramme.<br />
Was können Bildungsprogramme<br />
bewirken?<br />
Zuerst einmal zeigen wir die gesundheitsschädlichen<br />
Folgen der Kinderheirat <strong>auf</strong>.<br />
Den Müttern und Vätern ist es oft nicht bewusst,<br />
welche Gesundheitsrisiken die frühe<br />
Verheiratung mit sich bringt. Der Körper<br />
der Mädchen ist meist noch nicht ausreichend<br />
entwickelt, um die Belastung einer<br />
Schwangerschaft oder Geburt zu verkraften.<br />
Die Mädchen tragen schwere Verletzungen<br />
da<strong>von</strong>.<br />
Sie wirken über Schulen und<br />
sprechen damit die Mädchen und<br />
nicht ihre Eltern an.<br />
Es ist nötig, beide anzusprechen – die Töchter<br />
wie ihre Eltern. Die Mädchen lernen in<br />
Kursen, selbständig zu entschei<strong>den</strong>; sie lernen<br />
ihre Rechte kennen. Die Eltern sprechen<br />
wir anlässlich anderer Programme an.<br />
So zum Beispiel erreichen wir sie dort, wo<br />
es um Gesundheit und Hygiene geht – ein<br />
guter Anlass, um über Gesundheitsrisiken<br />
früher Heirat zu informieren.<br />
Was spornt Sie an?<br />
Die Achtung vor Menschenrechten. Ich<br />
wünsche mir, dass die Menschen dazu befähigt<br />
wer<strong>den</strong>, ihre Rechte selbst wahrzunehmen,<br />
im Sinne der Achtung vor sich selbst.<br />
Das Interview führte Iwona Swietlik<br />
Bild: Gerade arme Familien können sich die<br />
Ausbildung ihrer Töchter nicht leisten.<br />
20 Caritas «Menschen» 3/13<br />
Bilder: Iwona Swietlik; Andreas Schwaiger
Welt: Bangladesch<br />
Welt: Vietnam<br />
Die Katastrophe abwen<strong>den</strong><br />
Die Unwetterkatastrophe in Südasien ist<br />
ausgeblieben, vermeldeten die Medien<br />
im Frühjahr. Tatsache aber ist: Der<br />
Zyklon «Mahasen» hat enormen Scha<strong>den</strong><br />
angerichtet. Die Projekte der Katastrophenprävention<br />
der Caritas konnten<br />
deren Ausmass reduzieren.<br />
«Die Katastrophe erst gar nicht entstehen<br />
lassen: Das ist unser Ziel», sagt Pintu<br />
Gomes, verantwortlich für die Katastrophenprävention<br />
bei Caritas Bangladesch.<br />
Die Folgen des Zyklons Mahasen im vergangenen<br />
Frühjahr führen zweierlei vor<br />
Augen: Erstens, dass die Präventionsprogramme<br />
im Ernstfall wirken, und zweitens,<br />
dass es noch ein langer Weg zum Ziel ist.<br />
Menschen besser vorbereiten<br />
Caritas <strong>Schweiz</strong> und Caritas Bangladesch<br />
sind in katastrophengefährdeten Gemein<strong>den</strong><br />
in 20 Distrikten in Bangladesch aktiv.<br />
Die Projekte haben zum Ziel, die Schä<strong>den</strong><br />
durch wiederkehrende Naturkatastrophen<br />
zu reduzieren und die Menschen <strong>auf</strong> die Folgen<br />
des Klimawandels besser vorzubereiten.<br />
Seit drei Jahren wur<strong>den</strong> in 360 Gemein<strong>den</strong><br />
die notwendigen Strukturen <strong>auf</strong>gebaut, in<br />
<strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> zweieinhalb Jahren begleitet<br />
Caritas 216 Gemein<strong>den</strong> in 14 Distrikten.<br />
Ziel der Projekte ist eine bessere Vorbereitung<br />
<strong>auf</strong> Katastrophen, Vernetzung mit <strong>den</strong><br />
zuständigen Behör<strong>den</strong> und Aufbau eines eigenen<br />
Katastrophenmanagements.<br />
«Dank unserer Präventionsarbeit konnten<br />
wir die Zahl der Todesopfer reduzieren»,<br />
bilanziert Pintu Gomes. Sechs Todesopfer<br />
forderte der Frühjahrs-Zyklon. «Dennoch<br />
verzeichnen wir Verluste und Schä<strong>den</strong>.» In<br />
<strong>den</strong> zwei am meisten betroffenen Küstendistrikten,<br />
in Barguna und Patuakhali, kamen<br />
insgesamt 300 000 Menschen zu Scha<strong>den</strong>;<br />
über 2500 Häuser wur<strong>den</strong> vollständig und<br />
rund 35 000 Häuser teilweise zerstört.<br />
Die Armen wer<strong>den</strong> ärmer<br />
«Das Unwetter traf die Ärmsten am meisten»,<br />
sagt Pintu Gomes. Da gleichzeitig die<br />
Reisernte zerstört wurde, fällt in <strong>den</strong> betroffenen<br />
Bezirken die Hälfte der Arbeitsplätze<br />
in der Landwirtschaft aus. Caritas <strong>Schweiz</strong><br />
unterstützt die Armutsbetroffenen mit<br />
einem «Cash for Work»-Programm. Damit<br />
erhalten 360 Familien während drei Monaten<br />
Zugang zu bezahlter Beschäftigung,<br />
welche <strong>den</strong> Verlust der Arbeit im Landwirtschaftsbereich<br />
kompensiert. (imy)<br />
Bild: Um die Häuser vor Überschwemmungen<br />
zu schützen, wer<strong>den</strong> sie <strong>auf</strong> kleine künstliche<br />
Hügel gestellt.<br />
E-Bikes<br />
für kleine<br />
Budgets<br />
In westlichen Städten wie Berlin, Paris oder<br />
Barcelona boomen E-Bikes. Das reduziert<br />
<strong>den</strong> Stau und senkt <strong>den</strong> Ausstoss <strong>von</strong> Abgasen.<br />
Mit einem innovativen Pilotprojekt<br />
will Caritas <strong>Schweiz</strong> in Vietnam die Bevölkerung<br />
für die umweltfreundlichen Räder<br />
gewinnen. «In Hanoi ist der öffentliche Verkehr<br />
schlecht. Darum brauchen die meisten<br />
Leute eines der unzähligen Moto-Taxis,<br />
welche die Luft verpesten», sagt Hoang<br />
Van Tu, Direktor des Caritas-Büros Vietnam.<br />
Mit einer Machbarkeitsstudie und<br />
einem Feldversuch prüft sein Team derzeit,<br />
ob Stu<strong>den</strong>ten da<strong>von</strong> überzeugt wer<strong>den</strong> können,<br />
<strong>auf</strong> günstige gemietete E-Bikes umzusteigen.<br />
Der Fahrradverleih, die solarbetriebenen<br />
Ladestationen sowie Unterhalt und<br />
Reparatur der Bikes sollen <strong>von</strong> Behinderten<br />
betreut wer<strong>den</strong>, die so Zugang zum Arbeitsmarkt<br />
erhalten. «Unser Ziel ist es, Behör<strong>den</strong><br />
und Öffentlichkeit für ökologische<br />
Transportmöglichkeiten zu sensibilisieren<br />
und interessierten Akteuren einen fertigen<br />
Businessplan zur Verfügung stellen», bilanziert<br />
Hoang Van Tu. (dos)<br />
Bild: Statt Motos E-Bikes: In Hanoi soll die Luft<br />
besser wer<strong>den</strong>.<br />
Bilder: Caritas Bangladesch, Daniel Bächtold<br />
«Menschen» 3/13 Caritas 21
_Forum 2014<br />
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Die sozialpolitische Tagung der Caritas<br />
Freitag, 24. Januar 2014<br />
9.30–15.30 Uhr, Kultur-Casino, Bern<br />
Kosten (inklusive Mittagessen):<br />
Fr. 220.–, bei Anmeldung bis zum 19.12. 2013<br />
Fr. 250.–, Solidaritätstarif und ab dem 20.12. 2013<br />
Fr. 100.–, mit Legi und KulturLegi<br />
Anmeldung und Detailprogramm:<br />
www.caritas.ch/forum/d<br />
Bild: © Ezio Gutzemberg – Fotolia.com<br />
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«Advent»<br />
«In der Stille»<br />
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Weitere Sujets fin<strong>den</strong> Sie <strong>auf</strong> dem Deckblatt oder unter www.caritas.ch/karten.<br />
22 Caritas «Menschen» 3/13
Ein Blick ins Leben <strong>von</strong><br />
NADEZHDA ALEKSANDROVNA,<br />
TADSCHIKISTAN<br />
Die tadschikische Pädagogin und Psychologin<br />
Nadezhda Amelina Aleksandrovna wird<br />
im Dezember 60 Jahre alt. Sie könnte sich<br />
pensionieren lassen, doch sie will weiter arbeiten,<br />
weil sie Kinder gern hat. Sie ist zuständig<br />
für die Integration <strong>von</strong> behinderten<br />
Kindern in die Kindergärten und öffentlichen<br />
Schulen in Duschanbe, ein Projekt,<br />
das <strong>von</strong> Caritas <strong>Schweiz</strong> unterstützt wird.<br />
Daneben gibt sie Kurse in einem methodistischen<br />
Kindergarten. Ihre Ausbildung erhielt<br />
die Psychologin in Russland, wo sie<br />
mit ihrem ersten, verstorbenen Ehemann<br />
fünf Jahre lang lebte. Sie hat eine Tochter,<br />
einen Sohn und ein Enkelkind. Ihr Sohn hat<br />
ebenfalls ein paar Jahre lang in Russland gearbeitet.<br />
Nadezhda Aleksandrovna lebt mit<br />
ihrem zweiten Ehemann in der Hauptstadt<br />
Duschanbe.<br />
Das Interview führte Katja Remane.<br />
Wie sieht Ihr Alltag aus?<br />
Während der Woche arbeite ich <strong>von</strong> 8 bis<br />
17 Uhr. Ich bin als Psychologin für das Caritas-Projekt<br />
angestellt und helfe behinderten<br />
Kindern, ihre kognitiven und kommunikativen<br />
Fähigkeiten zu entwickeln. Daneben<br />
arbeite ich in einem methodistischen Kindergarten,<br />
für <strong>den</strong> ich Unterrichtsmaterial<br />
erarbeite. Am Wochenende nehme ich mir<br />
Zeit für meine Familie oder gehe Verwandte<br />
und Freunde besuchen.<br />
Weshalb haben Sie sich entschie<strong>den</strong>,<br />
mit behinderten Kindern zu arbeiten?<br />
Ich liebe Kinder. Auch behinderte Kinder<br />
haben ein Potenzial, das sie entwickeln können.<br />
Früher versteckten Eltern in Tadschikistan<br />
ihre behinderten Kinder, sie betrachteten<br />
sie als Strafe Gottes. Ich gehörte zu<br />
einem Team aus Fachleuten, das die Haushalte<br />
besuchte, um solche Kinder zu fin<strong>den</strong>.<br />
Oft mussten wir diese vernachlässigten<br />
Kinder zuerst <strong>auf</strong> <strong>den</strong> Umgang mit andern<br />
Menschen vorbereiten, bevor wir sie<br />
zur Schule schicken konnten.<br />
Was verdienen Sie?<br />
Für meine staatliche Stelle im Kindergarten<br />
bekomme ich ein Monatssalär, das rund 76<br />
<strong>Schweiz</strong>er Franken entspricht. Im Projekt<br />
<strong>von</strong> Caritas verdiene ich 270 Franken im<br />
Monat. Ich gebe das ganze Geld aus, um<br />
Lebensmittel zu k<strong>auf</strong>en und unsere Rechnungen<br />
für Strom, Miete und Medikamente<br />
gegen Bluthochdruck zu bezahlen.<br />
Was schätzen Sie an Ihrer Heimat?<br />
Ich liebe die Natur und das warme Klima.<br />
Womit kämpft Ihr Land besonders?<br />
Mit der sozialen Verletzlichkeit, <strong>den</strong> sehr<br />
niedrigen Löhnen, die nicht für ein Leben in<br />
Würde ausreichen. Zudem ist die Arbeitslosigkeit<br />
so hoch, dass jeder zweite Ehemann<br />
im Ausland arbeiten muss und seine Frau<br />
als alleinerziehende Mutter zurücklässt. Unsere<br />
Gesellschaft hat auch Mühe, behinderte<br />
Menschen im Alltag zu integrieren.<br />
Wor<strong>auf</strong> sind Sie besonders stolz?<br />
Auf meine Kinder und meine Enkeltochter.<br />
Ich bin stolz, dass ich behinderten Kindern<br />
helfen kann, sich auszudrücken und in unserer<br />
Gesellschaft ihren Platz zu fin<strong>den</strong>. Ich<br />
lehre sie lesen, verstehen und ihre Gefühle<br />
wahrzunehmen.<br />
Was macht Sie glücklich?<br />
Gute Gesundheit und das Wohlergehen <strong>von</strong><br />
Kindern und betagten Menschen in meinem<br />
Land. Ich möchte sie alle zufrie<strong>den</strong> und lächelnd<br />
sehen.<br />
Was ist Ihr Lieblingsessen?<br />
Ich liebe Fleisch.<br />
Was ist Ihre Lieblingsbeschäftigung?<br />
Ich lese gerne spannende Bücher.<br />
Tadschikistan in Zahlen<br />
– Fläche: 143100 km 2<br />
– Hauptstadt: Duschanbe<br />
– Einwohnerzahl: 7,3 Millionen<br />
– Ausgewanderte Arbeiter: mehr als 1 Million<br />
(vor allem nach Russland)<br />
– Landessprachen: Tadschikisch (Amtssprache),<br />
Russisch<br />
– Religion: Islam (da<strong>von</strong> 80% Sunniten)<br />
– Währung: Somoni (TJS)<br />
– Preis für ein Mittagessen: 25 TJS (5 Franken)<br />
– Miete plus Nebenkosten in Duschanbe:<br />
140 TJS (27,40 Franken)<br />
– Lohn einer Lehrerin in Duschanbe:<br />
490 TJS (96 Franken)<br />
Bild: Pia Zanetti<br />
«Menschen» 3/13 Caritas 23
Ihr Stück gerechtere Welt.<br />
Übernehmen Sie eine Patenschaft<br />
«Kinder <strong>von</strong> der Strasse»<br />
Weltweit leben Millionen <strong>von</strong> Kindern <strong>auf</strong> der Strasse und sind dort schutz- und wehrlos<br />
dem Recht des Stärkeren und der Kriminalität ausgeliefert. <strong>Gewalt</strong> und Drogen zerstören<br />
ihr Leben schon früh. Machen Sie die Welt ein Stück gerechter. Mit nur einem Franken<br />
pro Tag geben Sie <strong>Strassen</strong>kindern die Chance <strong>auf</strong> eine bessere Zukunft.<br />
Karte weg? Besuchen Sie uns im Internet <strong>auf</strong> www.caritas.ch oder rufen Sie uns<br />
an unter 041 419 22 22.
Gastkolumne<br />
Armut zerstört Chancen<br />
Man kann sich nicht aussuchen, wo man<br />
zur Welt kommt. Es gibt viele Flecken <strong>auf</strong><br />
unserer Erde, wo Kinder nur unter widrigsten<br />
Bedingungen überleben und ihr Wohl<br />
massiv verletzt wird: Bilder <strong>von</strong> Kriegsgebieten,<br />
wo Familien auseinandergerissen<br />
wer<strong>den</strong> und <strong>auf</strong> der Flucht sind, oder <strong>von</strong><br />
Ländern, die <strong>von</strong> Hungersnöten gebeutelt<br />
wer<strong>den</strong>, tauchen vor unseren Augen <strong>auf</strong>,<br />
wenn wir an Kinderarmut <strong>den</strong>ken. Wer<br />
diese Bilder vor sich sieht und im Kontrast<br />
dazu an unsere Kinderstuben <strong>den</strong>kt, zieht<br />
schnell <strong>den</strong> Schluss: Unsere Kinder wachsen<br />
glücklich <strong>auf</strong>! Bei uns gibt’s keine Not.<br />
Doch dieser Schein trügt. Jedes zehnte<br />
Kind in der <strong>Schweiz</strong> lebt unter oder knapp<br />
an der Armutsgrenze. Einverstan<strong>den</strong>: Diese<br />
Kinder haben ein Dach über <strong>den</strong> Kopf und<br />
ihre Leben ist nicht unmittelbar bedroht.<br />
Die Situation dieser Kinder jedoch zu verharmlosen,<br />
nur weil es anderen Kindern<br />
noch viel schlechter geht, wäre fatal. Denn<br />
das Leid <strong>von</strong> Armut liegt im Einzelschicksal.<br />
Wenn sich der 14-jährige Max mit seinen<br />
bei<strong>den</strong> jüngeren Geschwister ein kleines<br />
Zimmer teilen und die 6-jährige Lara mehrmals<br />
in der Woche Spaghetti ohne Sauce<br />
essen muss, dann misst sich ihr Alltag am<br />
Alltag der hier gültigen Normen und nicht<br />
an jenen eines Landes in der Sahelzone. Wir<br />
sind es deshalb diesen Kindern schuldig, das<br />
Kinder lei<strong>den</strong> als erste und am stärksten unter Armut.<br />
Problem der Armut in Familien auch in der<br />
<strong>Schweiz</strong> anzuerkennen.<br />
Im Jahre 1997 hat die <strong>Schweiz</strong> die Kinderrechtskonvention<br />
ratifiziert und somit<br />
die Bereitschaft gezeigt, die Rechte der<br />
Kinder in unserer Gesellschaft zu stärken.<br />
Die Bekämpfung der Kinderarmut ist eines<br />
der wichtigen Ziele der Konvention. Denn<br />
Armut beeinträchtigt die Bildungschancen,<br />
sie grenzt aus und verringert das Selbstwertgefühl.<br />
Armut steigert zudem die Gefahr,<br />
krank oder Opfer <strong>von</strong> <strong>Gewalt</strong> und Misshandlung<br />
zu wer<strong>den</strong>. Kurz gesagt: Armut<br />
zerstört Chancen.<br />
Wir müssen <strong>den</strong> Kindern diese Chance<br />
zurückgeben, indem wir die Armut bekämpfen.<br />
Dazu haben wir gute Instrumente:<br />
1. Kinder in Armut sollen Anrecht<br />
<strong>auf</strong> Ergänzungsleistungen haben, um aus<br />
der finanziellen Not herauszukommen.<br />
2. Mindestlöhne sollen ihre Eltern vor<br />
Armut schützen und verhindern, dass weiterhin<br />
eine halbe Million Menschen in unserem<br />
reichen Land Vollzeit arbeiten und keinen<br />
existenzsichern<strong>den</strong> Lohn dafür erhalten.<br />
3. Es müssen im ganzen Land genügend<br />
Bild: Jacqueline Fehr ist Nationalrätin und<br />
Vizepräsi<strong>den</strong>tin der SP <strong>Schweiz</strong>. Sie wohnt in<br />
Winterthur.<br />
Plätze in Kindertagesstätten und Tagesschulen<br />
in guter Qualität und zu bezahlbaren<br />
Preisen zur Verfügung stehen, in <strong>den</strong>en<br />
die Kinder altersgerecht gefördert und betreut<br />
wer<strong>den</strong> und die <strong>den</strong> Eltern eine faire<br />
Chance geben, für ihre Existenz selber <strong>auf</strong>zukommen.<br />
Kinder lei<strong>den</strong> als erste und am stärksten<br />
unter Armut. Überall <strong>auf</strong> der Welt und auch<br />
hier in der <strong>Schweiz</strong>. Bekämpfen wir sie deshalb<br />
wirksam und geben wir <strong>den</strong> armutsbetroffenen<br />
Kindern ihre Chancen zurück!<br />
Jacqueline Fehr<br />
Bild: zVg<br />
«Menschen» 3/13 Caritas 25
In Kürze<br />
Ecopop-Initiative – der falsche Weg<br />
Hilfe für syrische Flüchtlinge<br />
8,3 Millionen Menschen sind nach Angaben<br />
der Uno in Syrien und <strong>den</strong> Nachbarländern<br />
<strong>auf</strong> humanitäre Hilfe angewiesen. Rund die<br />
Hälfte da<strong>von</strong> sind Kinder. Caritas <strong>Schweiz</strong><br />
leistet mit Unterstützung der Glückskette<br />
Hilfe in einem Umfang <strong>von</strong> rund 5,8 Millionen<br />
Franken. So startete Caritas im Libanon<br />
im Mai 2013 ein neues Projekt in<br />
der Bekaa-Ebene: Bis Ende des Jahres wer<strong>den</strong><br />
an 2000 Familien Lebensmittel, Lebensmittel-Gutscheine,<br />
Hygieneartikel und Decken<br />
abgegeben. Dabei erhalten auch 100<br />
bedürftige libanesische Gastfamilien Nahrungsmittelhilfe.<br />
Weitere 150 syrische Familien,<br />
die <strong>von</strong> Obdachlosigkeit bedroht sind,<br />
bekommen Unterstützung bei <strong>den</strong> Mietzahlungen.<br />
Psychologen und Sozialarbeiter der<br />
Caritas Libanon kümmern sich um das psychische<br />
Wohl, <strong>den</strong>n viele haben besondere<br />
seelische Belastungen erlebt. In Jordanien<br />
wurde die Hilfe der örtlichen Caritas mit<br />
Unterstützung durch Caritas <strong>Schweiz</strong> ebenfalls<br />
ausgeweitet. Seit Juli 2013 erhalten<br />
1000 Familien Gutscheine für Nahrungsmittel,<br />
Kleider, Schuhe, Kleinkindartikel<br />
und Säuglingsnahrung. Zudem wer<strong>den</strong> Unterkünfte<br />
ausgebessert, Beiträge an Mieten<br />
geleistet und traumatisierte Flüchtlinge via<br />
eine Psychologin an kompetente Institutionen<br />
verwiesen. (dos)<br />
Bild: Die Lage der syrischen Flüchtlinge ist<br />
prekär. Caritas weitet ihre Hilfe aus.<br />
In einem neuen Positionspapier legt Caritas<br />
<strong>Schweiz</strong> dar, warum die Ecopop-Initiative<br />
«Stopp der Übervölkerung» aus ihrer Sicht<br />
untauglich ist. Sie trägt nicht zur Lösung der<br />
demographischen und Migrations-Herausforderungen<br />
der <strong>Schweiz</strong> bei, da sie zu einer<br />
rigi<strong>den</strong> Beschränkung der Zuwanderung<br />
führt und strukturelle Probleme hinsichtlich<br />
der Sicherung natürlicher Ressourcen<br />
nicht angeht. Richtig wäre es, <strong>den</strong> Ressourcenverschleiss<br />
zu bremsen und in Berufsbildung<br />
zu investieren. Die Initiative dient<br />
auch nicht einer menschenwürdigen und sozial<br />
gerechten Armutsbekämpfung in <strong>den</strong><br />
Entwicklungsländern: Sie untergräbt entsprechende<br />
Anstrengungen der <strong>Schweiz</strong>er<br />
Entwicklungszusammenarbeit, indem sie<br />
zur Senkung des Bevölkerungswachstums<br />
in <strong>den</strong> ärmsten Ländern Afrikas zehn Prozent<br />
der Entwicklungsgelder <strong>auf</strong> freiwillige<br />
Familienplanung lenken will. Richtig wäre<br />
es, in Bildung, Gesundheit und Beschäftigung<br />
zu investieren. (dos)<br />
Zum Positionspapier:<br />
www.caritas.ch/positionspapiere<br />
neue häuser für roma-familien<br />
Im Rahmen eines grossen Integrationsprojektes<br />
hat Caritas <strong>Schweiz</strong> im kosovarischen<br />
Gjakova im Juni 35 Häuser an Roma-Familien<br />
übergeben. Durch die verbesserten Wohn- und<br />
Infrastrukturbedingungen – mit dem Anschluss<br />
an Wasser, Strom und an das städtische Kanalisationssystem<br />
– wird deren soziale Integration<br />
wesentlich erleichtert. Caritas konnte damit die<br />
zweite Phase des umfangreichen Projektes abschliessen:<br />
64 Häuser wur<strong>den</strong> bisher gebaut<br />
und 52 wer<strong>den</strong> bis im Frühling 2014 erstellt<br />
sein, sodass insgesamt 120 Roma-Familien<br />
eine gesicherte Wohnsituation erhalten. Daneben<br />
fördert Caritas die Integration der Kinder in<br />
die Volksschule. Sie erreichte zudem im Rahmen<br />
einer Reorganisation der städtischen Mülldeponie<br />
und durch Unterstützung <strong>von</strong> Kleinbetrieben,<br />
dass 33 Roma feste Anstellungen<br />
mit gesicherten Verdiensten erhielten. Caritas<br />
arbeitet für dieses Projekt mit der Gemeinde<br />
Gjakova, mit der Roma-Gemeinschaft, Caritas<br />
Kosovo und der Regierung im Kosovo zusammen.<br />
Das Projekt wird finanziell <strong>von</strong> der<br />
Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit,<br />
dem Bundesamt für Migration, der österreichischen<br />
Entwicklungsagentur ADA, der<br />
Regierung <strong>von</strong> Liechtenstein und dem Kanton<br />
St. Gallen unterstützt.<br />
Gerhard Meili<br />
Bild: Im Juni konnten in Gjakova 35 Roma-<br />
Familien ihre neuen Häuser beziehen.<br />
26 Caritas «Menschen» 3/13<br />
Bild: Sam Tarling
Konzert zu Gunsten <strong>von</strong> Kindern im<br />
syrischen Kriegsgebiet<br />
Mit einer kulturell vielseitigen Nacht im Perron<br />
1 in Brig haben Walliser Künstler 2000<br />
Franken für Kinder im syrischen Kriegsgebiet<br />
gesammelt. Die Spen<strong>den</strong>aktion verband<br />
syrische Musik mit Walliser Klängen und<br />
Lesungen. Der Initiant Jean-Marc Briand<br />
wollte <strong>den</strong> Menschen in Syrien eine Stimme<br />
geben. Die Mitwirken<strong>den</strong> Künstler Bahur<br />
Ghazi (Syrischer Oud-Meister), Walliser Seemaa<br />
und z’Hansrüedi (Liedermacher), Stefanie<br />
Ammann (Schauspielerin, syrische Texte)<br />
und DJ Giggs verzichteten <strong>auf</strong> ihre Gagen.<br />
Nadine Urech<br />
Bild: Walliser Künstler sammelten<br />
2000 Franken für syrische Kinder.<br />
youngCaritas-Award 2013<br />
Charity-Konzert für eine gute Sache? Vorlesestun<strong>den</strong><br />
im Altersheim? Grümpelturnier<br />
mit Obdachlosen? youngCaritas sucht<br />
junge Leute, die ihr eigenes soziales Projekt<br />
<strong>auf</strong> die Beine stellen. Egal ob Ein-Frau-Projekt<br />
oder schulübergreifende Aktion – wenn<br />
das Projekt ein soziales Ziel verfolgt, kann<br />
es für <strong>den</strong> youngCaritas-Award angemeldet<br />
wer<strong>den</strong>. Die Gewinner reisen in ein Schwerpunktland<br />
der Caritas <strong>Schweiz</strong>, besuchen<br />
vor Ort Projekte und gewinnen Einblick in<br />
die Arbeit der Caritas!<br />
Bis zum 30. September 2013 können<br />
Projekte für <strong>den</strong> Award 2013 online eingereicht<br />
wer<strong>den</strong>. Die Award-Verleihung findet<br />
am 16. November 2013 im Treibhaus<br />
in Luzern statt.<br />
Andriu Deflorin<br />
Weitere Informationen:<br />
www.youngcaritas.ch/award/<br />
mitmachen-award-2013<br />
Fundride: mit Fahrgemeinschaften<br />
doppelt profitieren<br />
Bis jetzt war klar, dass Fahrgemeinschaften<br />
die Umwelt schonen und <strong>Strassen</strong> entlasten.<br />
Neu ist, dass mit der fairen Abrechnung <strong>von</strong><br />
Fahrtkosten Menschen in Not geholfen wer<strong>den</strong><br />
kann. Die kostenlose App «Fundride»<br />
des Luzerner Unternehmers Beat Brühwiler<br />
bietet die einfache Abrechnung <strong>von</strong> Fahrtkosten<br />
an. Per GPS wer<strong>den</strong> die gefahrenen<br />
Kilometer und umgehend die Kosten pro<br />
Mitfahrer errechnet. Der Fahrer entscheidet<br />
selber, ob und wie viel er Caritas spen<strong>den</strong><br />
möchte. Ausprobieren und mehr Informationen:<br />
www.caritas.ch/fundride.<br />
Nadine Urech<br />
Bilder: zVg, Caritas <strong>Schweiz</strong><br />
«Menschen» 3/13 Caritas 27
Fotorätsel<br />
Wie viele Freiwillige?<br />
Sie ermöglichen Kindern einen Ausflug,<br />
unterstützen Bergbauern oder verk<strong>auf</strong>en<br />
Secondhand-Kleider: Wie viele Freiwillige<br />
engagieren sich in der <strong>Schweiz</strong> für Caritas?<br />
A Rund 500<br />
B Rund 3000<br />
C Rund 8000<br />
Wettbewerb:<br />
Gewinnen Sie ein Paar Pulswärmer<br />
aus peruanischer Alpaca-Wolle!<br />
Schicken Sie die richtige Antwort mit dem Vermerk «Fotorätsel»<br />
bis zum 30. September 2013 an fotoraetsel@caritas.ch oder an<br />
Caritas <strong>Schweiz</strong>, Redaktion Caritas-Magazin, Löwenstrasse 3,<br />
Postfach, 6002 Luzern. Unter <strong>den</strong> richtigen Antworten wer<strong>den</strong><br />
dreimal peruanische Pulswärmer aus farbiger Alpaca-Wolle verlost,<br />
siehe Artikel rechts. Die Lösung findet sich ab Oktober<br />
2013 <strong>auf</strong> www.caritas.ch/fotoraetsel sowie in der Dezember-<br />
Ausgabe des Magazins «Wir helfen Menschen». (Lösung zum<br />
Fotorätsel im Magazin 2/2013: Hirse)<br />
28 Caritas «Menschen» 3/13<br />
Bild: Andreas Schwaiger
Caritas-Fairtrade /claro fair trade<br />
Warm und fair<br />
Kunsthandwerk erhalten und faire<br />
Arbeitsbedingungen bieten: Diesem ziel<br />
hat sich die peruanische Organisation<br />
Raymisa verschrieben. Für Caritas-<br />
Fairtrade liefert sie Textilien aus bester<br />
Alpacawolle und Baumwolle.<br />
«Kommen Sie, kommen Sie», fordert uns Or -<br />
lando Vásquez <strong>auf</strong> und winkt uns energisch<br />
in sein Büro. Orlando ist Geschäftsführer<br />
und Gründer <strong>von</strong> Raymisa, einer Organisation,<br />
die peruanisches Kunsthandwerk vermarktet.<br />
Einige dieser Handwerksprodukte<br />
sind im Büro zu sehen: dick bauchige Keramikvasen,<br />
bunt geknüpfte Wandteppiche,<br />
Kissenhüllen mit floralen Mustern und <strong>auf</strong>wändig<br />
verzierte Kleinmöbel.<br />
«Mit Caritas verbindet uns eine 26 Jahre alte Partnerschaft.»<br />
Handwerk erhalten<br />
«Wir wollen, dass unser Kunsthandwerk<br />
bekannter wird», erklärt er. «Denn nur so<br />
wird es überleben und nur so können unsere<br />
Leute etwas verdienen.» «Unsere Leute»,<br />
das sind, seit Gründung <strong>von</strong> Raymisa im<br />
Jahr 1981, mittlerweile 400 Handwerksbetriebe<br />
aus ganz Peru, die <strong>von</strong> der Organisation<br />
betreut wer<strong>den</strong>. Fairness ist zentraler<br />
Bestandteil der Zusammenarbeit. Raymisa<br />
berät die Handwerker in der Betriebsführung,<br />
gibt finanzielle Unterstützung bei der<br />
Anschaffung <strong>von</strong> Werkzeugen, bietet Weiterbildungen<br />
und exportiert schliesslich die<br />
Produkte in die ganze Welt. Faire Entlöhnung<br />
der Handwerker inbegriffen.<br />
Was Europa trägt<br />
Orlando führt uns in <strong>den</strong> hinteren Teil des<br />
Raumes. Hier liegen Textilien in verschie<strong>den</strong>sten<br />
Ausführungen: Jacken, Kappen,<br />
Schals, Pulswärmer, in allerlei Farben, uni<br />
und gemustert. «Das sind Produkte, die wir<br />
für Caritas herstellen», erklärt Orlando.<br />
Vorsichtig nimmt der kräftige Mann mit seinen<br />
grossen Hän<strong>den</strong> einen zarten Schal <strong>auf</strong>.<br />
Stolz spricht aus ihm. Aus seiner Stimme,<br />
seinen Augen, seinen Gesten. «Mit Caritas<br />
verbindet uns eine 26 Jahre alte Partnerschaft»,<br />
erzählt er. «So vieles haben wir zusammen<br />
erreicht, so viele Fortschritte gemacht.»<br />
Raymisa beliefert Caritas ganzjährig<br />
mit Ware. Für jede Saison wird eine neue<br />
Kollektion entwickelt, die die Handwerksbetriebe<br />
<strong>von</strong> Raymisa umsetzen. Caritas<br />
Designerin Eva Michaela Froehli reist dazu<br />
vor Ort mit vielen Ideen im Gepäck. «Erst<br />
durch Eva Michaela wissen wir, was Europa<br />
überhaupt trägt, welche Farben und Muster<br />
gewünscht sind», so Orlando.<br />
Bilder: Die feine Alpaca-Wolle braucht <strong>den</strong><br />
Vergleich mit Kaschmir nicht zu scheuen:<br />
Winterkollektion 2013.<br />
Die Winterkollektion 2013 besteht aus<br />
hochwertiger Alpacawolle, die <strong>den</strong> Vergleich<br />
mit Kaschmir nicht scheuen muss.<br />
Die Alpacas, zur Familie der Kamele gehörend,<br />
sind in <strong>den</strong> peruanischen Höhen widrigsten<br />
Wetterbedingungen ausgesetzt. Die<br />
hohe Qualität der Wolle sichert ihnen das<br />
Überleben. Die feinste Schur ist die Baby-<br />
Alpaca, und da<strong>von</strong> wird nur die beste Qualität<br />
versponnen. Das ist auch für Raymisa<br />
ein wichtiges Anliegen: «Wir liefern Handarbeit<br />
<strong>von</strong> höchster Qualität.» (use)<br />
Weitere Informationen zu <strong>den</strong> Produkten<br />
fin<strong>den</strong> Sie <strong>auf</strong> der Bestellkarte.<br />
Bilder: UNICA Fair Trade<br />
«Menschen» 3/13 Caritas 29
Caritas-Menschen<br />
Alle kennen Maria<br />
Die rumänische Pflegerin Maria Veres<br />
betreute während drei Monaten eine<br />
betagte Frau in der Region Fribourg. Der<br />
Abschied fiel bei<strong>den</strong> schwer.<br />
Heute hat Maria Veres zum ersten Mal Aprikosenkuchen<br />
nach <strong>Schweiz</strong>er Art zubereitet.<br />
«Maria backt wunderbar und überhaupt<br />
kann ich nur Gutes sagen», lobt Marianne<br />
Baumgartner* die rumänische Pflegerin, die<br />
derzeit mit ihr <strong>den</strong> Alltag teilt. «Alle kennen<br />
hier Maria.»<br />
«Wir haben lange diskutiert, ob ich<br />
gehen soll», erzählt Maria Veres (36), gelernte<br />
Krankenschwester. In ihrer Heimat<br />
verdient sie zusammen mit ihrem Mann –<br />
er ist in der Konfektionsbranche tätig – gut<br />
500 Franken. Das ist genug, um kurzfristig<br />
über die Run<strong>den</strong> zu kommen, aber es reicht<br />
nicht, um <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Töchtern (10 und 16)<br />
später ein Studium zu finanzieren. «Das<br />
Leben wird teurer, aber unser Lohn bleibt<br />
tief.» Den Entscheid, in der <strong>Schweiz</strong> ihr<br />
Gehalt zu verbessern, bereut Maria Veres<br />
nicht. Nach einem zweimonatigen Deutschkurs<br />
in der Heimat meistert sie die sprachlichen<br />
Hür<strong>den</strong> gut. Und die Ortschaft inmitten<br />
der grünen Berge sei gar nicht so anders<br />
Personen betreut und daneben <strong>den</strong> eigenen<br />
Haushalt besorgt. «Letzteres macht derzeit<br />
mein Mann mit Unterstützung meiner Mutter,<br />
und es läuft gut», lacht Maria Veres –<br />
mit ihrer Familie steht sie via Skype täglich<br />
im Kontakt.<br />
«Das Leben in Rumänien wird teurer, aber unser Lohn bleibt tief.»<br />
als ihr Heimatdorf in der siebenbürgischen<br />
Region Miercurea Ciuc, einer ungarischsprachigen<br />
Region im Herzen Rumäniens.<br />
Freundschaftlich und doch professionell<br />
Maria Veres besorgt für Frau Baumgartner<br />
<strong>den</strong> Haushalt und unterstützt sie bei täglichen<br />
Verrichtungen. Es ist ein gemeinsames<br />
Wohnen und Leben, vom Konfitüre-Kochen<br />
bis zu <strong>den</strong> regelmässigen Spaziergängen. Der<br />
Alltag sei gemächlicher als bei der Spitex in<br />
Rumänien, wo Veres täglich bis zu sieben<br />
«Es war für mich schwer zu akzeptieren,<br />
dass ich <strong>auf</strong> Hilfe angewiesen bin», sagt<br />
Marianne Baumgartner, die mit ihren neunzig<br />
Jahren vital wirkt und möglichst selbstbestimmt<br />
zu Hause zu leben möchte. «Doch<br />
ich muss eingestehen: Marias Unterstützung<br />
entlastet mich wirklich.» Die bei<strong>den</strong> Frauen,<br />
die einen sichtlich herzlichen Umgang miteinander<br />
pflegen, sind sich einig: Maria soll<br />
bald für weitere drei Monate wiederkommen.<br />
(dos)<br />
*Name geändert<br />
Bild: Meistert nach einem Deutschkurs<br />
sprachliche Hür<strong>den</strong> ausgezeichnet: Maria Veres,<br />
Krankenschwester aus Rumänien.<br />
Faire Bedingungen für Pflegende<br />
und Betreute<br />
Mit dem Pilotprojekt «In guten Hän<strong>den</strong>» vermittelt<br />
Caritas <strong>auf</strong> einer fairen Anstellungsbasis<br />
Fachleute aus Rumänien in die <strong>Schweiz</strong>, wo sie<br />
betagte und kranke Menschen zu Hause unterstützen.<br />
In der <strong>Schweiz</strong> wer<strong>den</strong> so Qualität<br />
und korrekte Anstellungsbedingungen sichergestellt,<br />
und die Betreuerinnen können dank<br />
dem höheren Gehalt aus der <strong>Schweiz</strong> ihren Familien<br />
in der Heimat eine bessere Zukunft ermöglichen.<br />
Nach drei Monaten kehren sie in die<br />
alte Anstellung bei der Spitex der Caritas-Partnerorganisation<br />
Alba Iulia zurück. Dadurch bleiben<br />
der Region wichtige Arbeitskräfte erhalten.<br />
30 Caritas «Menschen» 3/13<br />
Bild: Flurin Bertschinger/Ex-Press
Trotz einer «verlorenen Generation»<br />
Jugendlicher in Europa setzen<br />
sich unzählige junge Leute für soziale<br />
Anliegen ein.<br />
Generation Praktikum, Jugendarbeitslosigkeit,<br />
Prekariat: Wenn <strong>von</strong> Jugendlichen<br />
in Europa die Rede ist, steht meist ihre<br />
schwierige Situation <strong>auf</strong> dem Arbeitsmarkt<br />
im Zentrum. Millionen junger Menschen<br />
gehen als Opfer der Wirtschaftskrise leer<br />
aus und gehören zu einer «verlorenen Generation».<br />
Trotzdem: Abseits der Schlagzeilen<br />
gibt es überall junge Leute, die sich unverdrossen<br />
für soziale Anliegen engagieren.<br />
Junges<br />
Engagement<br />
in Europa<br />
youngCaritas wächst<br />
Caritas <strong>Schweiz</strong> bietet seit 2001 mit dem<br />
Bereich youngCaritas Jugendlichen eine<br />
Plattform für Informationen und Aktionen.<br />
Seit 1999 gibt es youngCaritas auch<br />
in Österreich und im Südtirol; 2010 wurde<br />
sie in Luxemburg gegründet und seit diesem<br />
Jahr existiert youngCaritas auch in<br />
Deutschland <strong>auf</strong> nationaler Ebene.<br />
In all diesen Ländern ist youngCaritas<br />
Bestandteil der nationalen Caritas-Organisationen;<br />
die Angebote und Aktivitäten unterschei<strong>den</strong><br />
sich entsprechend <strong>den</strong> «Mutter-<br />
Organisationen». So sind in <strong>den</strong> unzähligen<br />
Heimen und Spitälern der deutschen Caritas<br />
Sozial-Einsätze und Praktika möglich und<br />
bei youngCaritas Luxemburg wer<strong>den</strong> spezielle<br />
Projekte für Stu<strong>den</strong>ten entwickelt, die<br />
sich als soziale Jungunternehmer engagieren.<br />
In Österreich wird das «L<strong>auf</strong>wunder»<br />
organisiert – eine Reihe <strong>von</strong> gros sen Sponsorenläufen<br />
mit Tausen<strong>den</strong> <strong>von</strong> Teilnehmern.<br />
Daneben gibt es einen «Action Pool»<br />
mit jungen Aktivisten, die ähnlich wie die<br />
SolidaritäterInnen in der <strong>Schweiz</strong> soziale<br />
Aktionen und Events unterstützen oder eigene<br />
Projekte <strong>auf</strong> die Beine stellen.<br />
Sinn und Spass<br />
Die Einsätze reichen <strong>von</strong> Veloputzaktionen<br />
für armutsbetroffene Kinder, Begegnungen<br />
mit unbegleiteten minderjährigen Asylsuchen<strong>den</strong>,<br />
Benefizkonzerten, Fair trade-Bars,<br />
internationalen youngCaritas-Lagern bis<br />
zum Aufbau veritabler Wasserprojekte in<br />
Sambia. Bei all diesen Projekten sind junge<br />
Leute aktiv, weil sie neugierig sind, Verantwortung<br />
übernehmen und die Welt verbessern<br />
möchten. Und natürlich gilt es Antworten<br />
zu fin<strong>den</strong>: Wieso verhungern noch immer<br />
Menschen? Wie funktioniert Entwicklungszusammenarbeit?<br />
Was passiert mit <strong>den</strong> Kleidern<br />
im Caritas-Kleidercontainer? Die Einsätze<br />
sollen aber auch Spass machen und<br />
<strong>den</strong> Kontakt zu anderen Menschen schaffen.<br />
Das freiwillige Engagement ist wichtig<br />
für die gesamte Gesellschaft und ermöglicht<br />
einen Blick über <strong>den</strong> eigenen Tellerrand. Für<br />
die Caritas sind die Einsätze schliesslich<br />
eine hochwillkommene Unterstützung<br />
und eine Quelle neuer Ideen.<br />
Andriu Deflorin<br />
www.youngcaritas.ch/partner<br />
Bilder: zVg<br />
«Menschen» 3/13 Caritas 31
... seit 40 Jahren fair unterwegs.<br />
www.unica-fairtrade.ch