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Dokumentation der Predigt vom 20. November: à la carte

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St. Markus, München<br />

GOTTES GASTLICHKEIT<br />

<strong>à</strong> <strong>la</strong> <strong>carte</strong><br />

Prof. Dr. Christian Albrecht<br />

<strong>20.</strong> <strong>November</strong> 2011<br />

<strong>Predigt</strong> über Psalm 145,15-16<br />

Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit.<br />

Du tust deine Hand auf und sättigst alles, was lebt, nach deinem Wohlgefallen.<br />

Liebe Gemeinde,<br />

(1.)<br />

„Was darf’s denn sein?“<br />

Man muss nicht erst beim Aumeister sitzen o<strong>der</strong> im Franziskaner, um sich diese Frage gefallen<br />

zu <strong>la</strong>ssen. „Was darf’s denn sein?“ Da fiele einem doch manches ein. Man kann sich diese<br />

Frage, die wir aus den Wirtshäusern kennen, ja auch mal stellen <strong>la</strong>ssen von <strong>der</strong> Gastlichkeit<br />

Gottes, um die es in dieser Semesterreihe geht. Man kann sich die Frage <strong>vom</strong> göttlichen Gastgeber<br />

stellen <strong>la</strong>ssen, gerade an einem Tag wie dem Ewigkeitssonntag, <strong>der</strong> zugleich <strong>der</strong> Gedenktag<br />

<strong>der</strong> Entsch<strong>la</strong>fenen ist, <strong>der</strong> Totensonntag, ein Tag, <strong>der</strong> so sehr einlädt zum Sehnen und<br />

zum Wünschen. Man kann sich die Frage stellen <strong>la</strong>ssen, zum Beispiel am Anfang des Lebens<br />

o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Mitte des Lebens o<strong>der</strong> am Ende des Lebens: „Was darf’s denn sein?“ Man kann<br />

sich die Frage stellen <strong>la</strong>ssen im Glück, ausgeglichen und voller Heiterkeit; und man kann sie<br />

sich stellen <strong>la</strong>ssen in <strong>der</strong> Ausgezehrtheit und <strong>der</strong> Kraftlosigkeit, im Kummer und in <strong>der</strong> Einsamkeit.<br />

„Was darf’s denn sein?“ Man kann sich fragen <strong>la</strong>ssen in Momenten <strong>der</strong> Erwartungslosigkeit<br />

ebenso wie in Momenten kräftigen Sehnens, in Momenten <strong>der</strong> Fülle ebenso wie des<br />

Mangels.<br />

Höchst Unterschiedliches käme heraus, wenn wir uns unsere Antworten vorstellen, unsere<br />

Wünsche an den göttlichen Gastgeber gewissermaßen. Erlösung mag <strong>der</strong> eine sich erbitten,<br />

Erlösung von <strong>der</strong> Krankheit o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Trauer o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Sehnsucht nach einem an<strong>der</strong>en<br />

Leben. Erfüllung dagegen wünscht <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e sich, Erfüllung eben genau <strong>der</strong> Sehnsucht nach<br />

einem an<strong>der</strong>en Leben o<strong>der</strong> Erfüllung <strong>der</strong> Hoffnung auf ein besseres Leben. Ein Ende wünscht<br />

<strong>der</strong> eine sich, ein Ende dieser Lebensphase, dieser Trauerzeit, dieser Durststrecke – einen Anfang<br />

wünscht <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e sich, einen Anfang des Lebens am neuen Ort, im neuen Stand, im<br />

neuen Selbstbewusstsein. Dass sich nichts än<strong>der</strong>te, dass alles so gesegnet bliebe, wie es ist,<br />

wünscht sich <strong>der</strong> eine; dass Gott selbst käme und das Leben von Grund auf wandelte, wünscht<br />

sich <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e. Höchst Unterschiedliches käme heraus, nachgerade Gegensätzliches, wenn<br />

wir uns unsere Antworten vorstellen auf die Frage.<br />

(2.)<br />

„Was darf’s denn sein?“<br />

Unterschiedliches, auch Gegensätzliches käme heraus aus dem schlichten Grunde, dass wir<br />

unterschiedliche Menschen sind und, g<strong>la</strong>ubt man dem Psalm, auch sein sollen. Es ist vielleicht<br />

die wichtigste Voraussetzung von Gottes Gastlichkeit, dass „aller“ Augen warten: Nicht nur


die Augen einer bestimmten Gruppe: <strong>der</strong> Trauernden, <strong>der</strong> Kranken, <strong>der</strong> Studenten o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Pensionäre; auch nicht die Augen <strong>der</strong> Menschheit insgesamt, als Kollektiv gedacht.<br />

Nein, aller Augen, das sind die Augen eines jeden einzelnen Menschen, das sind die bestimmten,<br />

einzelnen und identifizierbaren Augenpaare, von denen bekanntlich keins dem an<strong>der</strong>en<br />

gleicht, son<strong>der</strong>n jedes hoch individuell ist. Das Auge ist <strong>der</strong> Spiegel <strong>der</strong> Seele und als solches<br />

so individuell wie die Seele. Aller Augen, das sind, um im Bild zu bleiben, die braunen Augen<br />

ebenso wie die b<strong>la</strong>uen und die grünen und die grauen; es sind die müden Augen ebenso<br />

wie die wachen, die einsch<strong>la</strong>fenden Augen ebenso wie die erwachenden, die neugierigen<br />

ebenso wie die resignierten, die Greisenaugen wie die Kin<strong>der</strong>augen, die rot verweinten wie<br />

auch die strahlenden. Es sind die Augen eines jeden einzelnen und bestimmten Menschen mit<br />

seiner spezifischen Lebensgeschichte, seinen spezifischen Erfahrungen und Einsichten, seinen<br />

beson<strong>der</strong>en Erwartungen, Sorgen und Hoffnungen, seinen höchst eigenen Ängsten.<br />

Aber eines haben all diese Augen, mögen sie noch so individuell sein, gemeinsam: sie warten.<br />

Sie warten auf denselben, einen und umfassenden Gott, und sie haben Grund zum Vertrauen,<br />

dass sie nicht umsonst warten, dass Gott für jeden die rechte Speise haben wird. Dazu wird<br />

später noch etwas zu sagen sein. Vorläufig aber ist von etwas an<strong>der</strong>em die Rede: aller Augen<br />

warten.<br />

Das Bild ist nicht schief, we<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> semantischen Ebene noch auf <strong>der</strong> sachlichen. Man<br />

könnte auch übersetzen, dass die Augen Ausschau halten, Ausschau halten nach Gott, den sie<br />

erwarten. Vor allem aber sieht man es dem Menschen insbeson<strong>der</strong>e an seinen Augen an, dass<br />

er wartet – und wie er wartet.<br />

(3.)<br />

„Was darf’s denn sein? – Es kann aber ein bisschen dauern.“<br />

Warten ist ein seltsamer Zustand <strong>der</strong> Gleichzeitigkeit von Passivität und Aktivität, <strong>der</strong> Gleichzeitigkeit<br />

von innerer Bewegtheit und äußerer Tatenlosigkeit. Sieht man einen Wartenden von<br />

außen, so sieht man ihn still. Zum Warten gehört, dass man sich aller zielgerichteten Tätigkeit<br />

enthalten muss. Wer wartet, hört auf, die Geschwindigkeit zu bestimmen. Er geht nicht mehr<br />

auf etwas zu, son<strong>der</strong>n lässt etwas auf sich zukommen. Wer wartet, weiß, dass er für das Eintreffen<br />

des Erwarteten selbst nichts mehr tun kann, genauer gesagt: dass er nichts an<strong>der</strong>es tun<br />

kann, als sich für das Eintreffen des Erwarteten bereit zu halten. Wer wartet, weiß, dass er das<br />

Eintreffen des Erwarteten – sei es ungeduldig o<strong>der</strong> angstvoll erwartet –, dass er das Eintreffen<br />

des Erwarteten durchs eigene Tun we<strong>der</strong> beschleunigen kann noch aufhalten. Wer das Warten<br />

verinnerlicht hat, wem es vergönnt ist, <strong>vom</strong> Wartenmüssen zum Wartenkönnen zu ge<strong>la</strong>ngen,<br />

für den hat diese erzwungene Beteiligungslosigkeit ihren Schrecken verloren. Sie wird vielmehr<br />

zum Sinnbild für die Grenze, über die hinaus <strong>der</strong> Mensch nichts zum Gewinn o<strong>der</strong> Verlust<br />

seines Heils beitragen kann, zum Sinnbild für seine schlechthinnige Abhängigkeit.<br />

Warten ist also, von außen betrachtet, ein vollkommen passives Geschehen. Innen aber ist<br />

Bewegung. Wer wartet, ist unterwegs, unterwegs zwischen Aufbruch und Ankunft. Wer wartet,<br />

kann sich äußerlich nicht beteiligen, aber innerlich ist er alles an<strong>der</strong>e als teilnahmslos. Er<br />

ist vielmehr bewegt, bewegt durch sehnsüchtige o<strong>der</strong> auch durch ängstliche Erwartung. Wer<br />

wartet, lebt in Hoffnung o<strong>der</strong> in Verzweiflung, denn es sind die Hoffenden, die warten und<br />

die Verzweifelten, die warten. Manchmal sind die Hoffenden und die Verzweifelten dieselben.<br />

Beide sagen sich, es könnte auch an<strong>der</strong>s sein als es ist. Beide sagen sich, es kann auch<br />

wie<strong>der</strong> besser werden. Wer wartet, tut das also nicht einfach ins B<strong>la</strong>ue hinein, son<strong>der</strong>n hat<br />

schon eine Ahnung von dem, was sein könnte. (Manue<strong>la</strong> Liechti-Genge)<br />

Die Augen <strong>der</strong> Wartenden, von denen im Psalm die Rede ist, warten auf Gott. Es gibt überhaupt<br />

kein Warten ohne den G<strong>la</strong>uben an etwas Kommendes, aber es gibt vor allem den christlichen<br />

G<strong>la</strong>uben nicht ohne das Warten auf Gott. Im Warten auf Gott werden ganz unterschied-


liche, teils auch gegensätzliche Haltungen des G<strong>la</strong>ubens in Verbindung zueinan<strong>der</strong> gesetzt.<br />

Auf Gott zu warten, das heißt, Gott gefunden zu haben und zugleich zu suchen: noch zu suchen<br />

o<strong>der</strong> immer noch zu suchen o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> zu suchen o<strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong> zu suchen. Auf<br />

Gott zu warten, das heißt, ihn zu haben und doch nicht zu haben. Auf Gott zu warten, bedeutet,<br />

bei Gott zu sein und zugleich doch ein Bewusstsein <strong>der</strong> bleibenden Differenz zu haben<br />

zwischen sich selbst und Gott. Auf Gott zu warten, heißt, auf etwas zu warten, was man kennt<br />

o<strong>der</strong> ahnt, liebt o<strong>der</strong> vielleicht auch fürchtet, aber das man doch nicht vollständig kennt o<strong>der</strong><br />

ahnt. Man muss kein mystisch veran<strong>la</strong>gter Mensch sein, son<strong>der</strong>n kann auch als sehr nüchterner<br />

Mensch in <strong>der</strong> eigenen Lebenserfahrung etwas wie<strong>der</strong>entdecken von <strong>der</strong> dauerhaften Ambivalenz<br />

<strong>der</strong> Gottesbeziehung, die in diesem Bild des Wartens auf Gott beschrieben ist.<br />

(4.)<br />

„Was darf’s denn sein? – Nun machen Sie mal den Tisch frei, denn es wird aufgetischt.“<br />

Es kennzeichnet den rechten Zeitpunkt, von dem im Psalm die Rede ist, daß er doch fast immer<br />

ein unerwarteter Zeitpunkt ist. So intensiv und aufmerksam er auch erwartet worden sein<br />

mag, <strong>der</strong> Augenblick, in dem die Speise auf den Tisch kommt, so unerwartet stellt er sich<br />

dann ein. Der Moment, in dem die Speise gegeben wird, ist trotz allen Erwartens im konkreten<br />

Augenblick immer ein wenig überraschend. Aber es kommt sofort etwas Zweites hinzu.<br />

Der Augenblick stellt sich, wenn die erste Überraschung einmal überwunden ist, doch eigentlich<br />

immer recht schnell als <strong>der</strong> genau richtige Augenblick heraus. Über die unverhofft<br />

schnelle Erfüllung <strong>der</strong> Wünsche ist man ohnehin froh, und selbst das unverhofft späte Auftischen<br />

lässt am Ende die Erinnerung an die Zeiten des Hungers entwe<strong>der</strong> verb<strong>la</strong>ssen o<strong>der</strong> zu<br />

Zeiten <strong>der</strong> Prüfung verklären.<br />

Doch dass Gott die Speise zur rechten Zeit zu geben vermag, hat noch einen an<strong>der</strong>en, tieferen<br />

Grund. Denn Gottes Hand öffnet sich nicht nur zu dem einen und bestimmten Augenblick, um<br />

seine Geschöpfe zu sättigen, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Vorgang ist in ein Partizip gefasst. Genauer müsste<br />

man übersetzen: öffnend deine Hand, sättigst du alles. Das Partizip legt den Akzent auf den<br />

Vorgang des Öffnens. Es beschreibt den Vorgang des Öffnens als einen auf Dauer gestellten<br />

Akt: Immerwährend deine Hand öffnend, sättigst du alles. Erst so kann in den Blick kommen,<br />

dass <strong>der</strong> rechte Zeitpunkt nicht ein einzelner, abgeschlossener ist, den Gott als den richtigen<br />

für die kollektive Speisung ausersehen hätte und dem sich alle, wie auf einen Gongsch<strong>la</strong>g hin,<br />

gleichzeitig unterziehen müssten. Das Bild <strong>der</strong> immerwährend im Öffnen sich befindenden<br />

Hand stellt dagegen heraus, dass Gott jeden einzelnen zu dem für ihn individuell rechten Zeitpunkt<br />

sättigt. Das Individuelle <strong>der</strong> wartenden Augen wie<strong>der</strong>holt sich hier als Individualität des<br />

rechten Zeitpunkts. So unvergleichlich <strong>der</strong> Inhalt des jeweils Erwarteten von Mensch zu<br />

Mensch ist, so unvergleichlich ist von Mensch zu Mensch auch <strong>der</strong> Zeitpunkt, <strong>der</strong> als <strong>der</strong> richtige<br />

Augenblick <strong>der</strong> Erfüllung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Erlösung, des gewährten Endes o<strong>der</strong> des geschenkten<br />

Anfangs gelten kann.<br />

Gott gibt jedem die Speise zur rechten, für ihn angemessenen Zeit. Aber das ist noch nicht<br />

alles, denn Gott gibt die Speise nicht nur zur jeweils rechten Zeit, son<strong>der</strong>n er gibt einem jeden<br />

seine Speise zur rechten Zeit. Das Individualitätsprinzip bezieht sich nicht nur auf den Zeitpunkt,<br />

son<strong>der</strong>n auch auf das jeweils Gegebene. Und dieses Gegebene muss nicht unbedingt<br />

mit dem Erwarteten identisch sein und schon gar nicht mit dem Gewünschten o<strong>der</strong> Ersehnten.<br />

Wir kennen das ja nur zu gut aus unseren lebensgeschichtlichen Erfahrungen im Umgang mit<br />

den großen Sehnsüchten o<strong>der</strong> Hoffnungen unseres Lebens. Wie oft haben wir geg<strong>la</strong>ubt, dass<br />

Kummer o<strong>der</strong> Trauer niemals o<strong>der</strong>, wenn überhaupt, nur auf eine einzige Art und Weise geheilt<br />

werden könnten. Und wie oft haben wir dann erfahren, dass <strong>der</strong> Kummer ganz an<strong>der</strong>s<br />

geheilt wurde o<strong>der</strong> <strong>la</strong>ngsam verging o<strong>der</strong> auch, dass er tatsächlich niemals vergeht, aber dass<br />

wir lernen konnten, mit dem Kummer zu leben und nicht mehr gegen ihn. Wie oft versteifen<br />

wir uns in die Vorstellung, dass das Glück des Lebens o<strong>der</strong> zumindest <strong>der</strong> Reichtum des Le-


ens davon abhingen, dass wir es mit diesem Menschen teilen o<strong>der</strong> dass wir jene bestimmte<br />

Aufgabe hätten o<strong>der</strong> dass wir in dieser beson<strong>der</strong>en Funktion wären. Und wie oft haben wir<br />

dann, mehr o<strong>der</strong> weniger schmerzlich, einsehen müssen, dass das Leben reich und glücklich<br />

wurde auch ohne diesen Menschen, ohne diese Aufgabe, ohne diese Funktion; o<strong>der</strong> dass sich<br />

leben ließ, vielleicht sogar an<strong>der</strong>s reich o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s glücklich, mit dem erzwungenen Verzicht.<br />

Gott gibt jedem Menschen seine eigene, meistens unerwartete und oftmals überraschende<br />

Speise, aber dass sie die richtige und individuell angemessene ist, zeigt sich daran, dass<br />

diese Speise von <strong>der</strong> Verstricktheit in eigene Erwartungen löst, dass sie uns <strong>der</strong> Fixiertheit auf<br />

die eigenen Vorstellungen entreißt. Erwartungen werden auf heilsame Weise enttäuscht und<br />

Erwartungshaltungen auf einer ins Leben führenden Spur zurechtgerückt. Die rechte Speise<br />

zur rechten Zeit, das hat immer etwas Überraschendes, immer etwas Erlösendes und immer<br />

etwas Demut Lehrendes: ich dachte so und so zu essen, aber Gott gedachte mich an<strong>der</strong>s satt<br />

zu machen.<br />

Der göttliche Gastgeber nimmt also Rücksicht auf Individualität, aber er erfüllt nicht unbedingt<br />

individuelle Wünsche. Er handelt im Blick auf den Wartenden, aber er handelt völlig<br />

souverän. Er verhandelt nicht, er interagiert nicht. Vor allem macht er macht die Gabe seiner<br />

Speise nicht <strong>vom</strong> Verhalten <strong>der</strong> Wartenden abhängig. Gott sättigt alles, was lebt, mit Wohlgefallen,<br />

mit Wohltat, mit Segen. Luther erläuterte: „Du erfüllest alles, was lebet, mit Wohlgefallen,<br />

das heißt, dass sie Wohlgefallen dran haben können.“<br />

Kann man, sollte man da überhaupt noch selbst wählen wollen?<br />

(5.)<br />

„Was darf’s denn sein?“ – „Ach, stellen Sie uns was Gutes zusammen.“<br />

Der eine mag die Kraft haben, aufs Wünschen zu verzichten. Der an<strong>der</strong>e ist vielleicht zu<br />

schwach, sich selbst überhaupt noch etwas vorstellen zu können, was ihn erquicken könnte.<br />

Und <strong>der</strong> dritte ist genügend ausgesöhnt mit <strong>der</strong> eigenen Kraftlosigkeit, so dass er aufs Bestellen<br />

verzichtet, voller Vertrauen in den Gastgeber, von dem er sich so o<strong>der</strong> so abhängig weiß,<br />

in glücklicher Aufgehobenheit.<br />

Keiner <strong>der</strong> drei aber ist blind schicksalsergeben. Je<strong>der</strong> <strong>der</strong> drei wurde durch lebensgeschichtliche<br />

Erfahrungen zur Haltung hingebungsvollen Vertrauens geführt, genauer: durch die Erfahrung<br />

<strong>der</strong> Vertrauenswürdigkeit des Gastgebers. Im Hintergrund steht kein resigniertes „Es hat<br />

sowieso keinen Zweck“, kein oberflächliches „Es kommt sowieso wie es kommt“, son<strong>der</strong>n<br />

leitend ist ein lebenserfahrenes, lebenskluges und vielleicht auch lebenssattes „Ich nehme es,<br />

wie es kommt“. Ich nehme es, wie es kommt, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass dieser<br />

Gastgeber zuverlässig ist und Vertrauen verdient; dass er mir noch nichts auf den Tisch<br />

gebracht hat, was schlecht war, auch wenn manches sich am Anfang vielleicht als schwer<br />

genießbar darstellte.<br />

Noch einmal: das heißt nicht, dass alles blind hinzunehmen wäre. Es gibt Grenzen dessen,<br />

was ein Mensch ertragen kann, Grenzen dessen, was man sich selbst zumuten kann, was an<strong>der</strong>e<br />

einem zumuten dürfen, was das Leben einem zumuten sollte, Grenzen dessen, was Gott<br />

einem zumuten sollte. Diese Grenzen stehen nicht ein für alle Mal fest. Sie verschieben sich<br />

im Laufe eines Lebens, im Laufe einer Lebensphase, im Laufe <strong>der</strong> Bewältigung eines das<br />

Leben von Grund auf verän<strong>der</strong>nden Wi<strong>der</strong>fahrnisses. Manchmal g<strong>la</strong>ubt man am Anfang,<br />

wenn <strong>der</strong> Schock noch frisch ist, man würde damit schon irgendwie fertig werden und die<br />

Kraft schwindet dann doch schneller als erwartet. Manchmal g<strong>la</strong>ubt man am Anfang, wenn<br />

<strong>der</strong> Schock frisch ist, auch man habe es nun mit einem völlig unbewältigbaren Ereignis zu<br />

tun, und dann kommt einem im Laufe <strong>der</strong> Zeit Hilfe aus einer ganz unerwarteten Richtung, es<br />

wachsen einem Kräfte <strong>der</strong> Bewältigung zu, die man nicht für möglich gehalten hätte. Die<br />

Grenzen verschieben sich, aber es gibt sie, die Grenzen, und es gibt den menschlichen Vor-


satz, sie so weit wie möglich hinauszuschieben, es gibt die menschliche Erfahrung, von den<br />

Grenzen eingeholt zu werden und es gibt die göttliche Barmherzigkeit, den Menschen nicht<br />

zu sehr und nicht zu oft an diese Grenzen zu führen.<br />

All dies kommt in einer schlichten und ergreifenden Weise in dem Gedicht Eduard Mörikes<br />

zum Ausdruck, das vorhin gelesen wurde. 1 Dieses Gedicht hat es, auf schlechten Drucken, die<br />

es mit dem Hauch des religiösen Kitsches überziehen, bis in die Treppenhäuser von frommen<br />

Tübinger Studentenwohnheimen gebracht. Aber <strong>der</strong> religiöse Ernst, das Ringen dessen, <strong>der</strong> es<br />

mit den For<strong>der</strong>ungen an Gott nicht übertreiben will und zugleich weiß, dass es Grenzen dessen<br />

gibt, was er ertragen kann, dieser Gehalt kommt nur zum Ausdruck, wenn man den großen<br />

Unterschied <strong>der</strong> beiden Strophen wahrnimmt und bedenkt, dass zwischen <strong>der</strong> Entstehung<br />

<strong>der</strong> ersten und <strong>der</strong> zweiten Strophe viele Jahre liegen und dass Mörike sie erst spät zusammengefügt<br />

hat.<br />

Nochmals die erste Strophe:<br />

Herr, schicke, was du willt,<br />

ein Liebes o<strong>der</strong> Leides,<br />

ich bin vergnügt, dass beides<br />

aus deinen Händen quillt.<br />

Diese erste Strophe des Gedichts ist das Gebet eines Menschen, <strong>der</strong> sich ganz in die Hand<br />

Gottes gibt und alles von ihm anzunehmen bereit ist. Da nimmt sich einer Gottergebenheit<br />

vor, vielleicht ruft er sich auch zur seelischen Disziplin. Vielleicht nimmt er sich aber auch<br />

ein wenig zu viel vor, überschätzt seine Kräfte, seine Leidensfähigkeit. Vielleicht hat er sich,<br />

im Schwung des Gottvertrauens, auch noch nicht ganz vollständig vor Augen geführt, welche<br />

harten Wi<strong>der</strong>fahrnisse das Leben mit sich zu bringen, welche wuchtigen Beschwernisse Gott<br />

auf einen Menschen zu legen vermag.<br />

Doch dann folgt die zweite Strophe. Vielleicht ist es gar die Erfahrung solcher Beschwernisse,<br />

die Erfahrung von den Grenzen <strong>der</strong> eigenen seelischen Strapazierfähigkeit, die am Anfang <strong>der</strong><br />

zweiten Strophe zunächst zu einer leichten Zurücknahme des gottvertrauenden Schwungs <strong>der</strong><br />

ersten Strophe führt, bis im letzten Satz des Gebets das Gottvertrauen sich erneuert:<br />

Wollest mit Freuden<br />

und wollest mit Leiden<br />

mich nicht überschütten<br />

Doch in <strong>der</strong> Mitten<br />

liegt holdes Bescheiden.<br />

Das Gedicht mündet, in den letzten zwei Versen, in erneuertes Gottvertrauen, fast kann man<br />

sagen, in ein vertieftes und realistischer gewordenes Gottvertrauen: schicke, was du willst,<br />

1<br />

Eduard Mörike: Gebet<br />

Herr, schicke, was du willt,<br />

ein Liebes o<strong>der</strong> Leides,<br />

ich bin vergnügt, dass beides<br />

aus deinen Händen quillt.<br />

Wollest mit Freuden<br />

und wollest mit Leiden<br />

mich nicht überschütten.<br />

Doch in <strong>der</strong> Mitten<br />

liegt holdes Bescheiden.


aber sei, lieber Gott, zugleich daran erinnert: in <strong>der</strong> Mitte, in dem idealtypischen Mittelmaß<br />

dessen, was einem menschlichen Leben wi<strong>der</strong>fährt, liegt das größte Maß an Zufriedenheit.<br />

Die Bitte des Gebets richtet sich damit auf eine durchaus antikisch eingefärbte Zufriedenheit<br />

des richtigen, nämlich des mittleren Maßes.<br />

Das „holde Bescheiden“ in dem Gedicht wird leicht als typisch bie<strong>der</strong>meierlich romantisieren<strong>der</strong><br />

Ausdruck <strong>der</strong> passiven Selbstbescheidung des Beters verstanden. Das ist aber nicht die<br />

einzige Bedeutung. Denn „bescheiden“ kann auch heißen, dass einer einem etwas zuweist,<br />

etwas zuteilt. Wenn wir Lk 22,29 heute übersetzen „Ich will euch das Reich zueignen, wie<br />

mir’s mein Vater zugeeignet hat“, dann hieß das in älteren Fassungen <strong>der</strong> Luther-Übersetzung<br />

noch: „Ich will euch das Reich bescheiden, wie mir’s mein Vater beschieden hat.“ So werden<br />

die letzten beiden Verse von Mörikes Gebet auch eine Bitte um die Barmherzigkeit des Freuden<br />

und Leiden ausschüttenden Gottes: Es möge Gott sich doch zur Zuteilung des mittleren,<br />

des ausgewogenen Maßes bewegen <strong>la</strong>ssen und die Extreme vermeiden.<br />

Wie auch immer, liebe Gemeinde: Der Beter von Mörikes Gebet erkennt, dass es Grenzen<br />

gibt, dass es einen Rahmen dessen gibt, was Gott dem Menschen zumutet und gewährt, und<br />

<strong>der</strong> Beter formuliert damit zugleich die Grenzen <strong>der</strong> Spielräume seiner individuellen Leidensfähigkeit,<br />

seiner individuellen Be<strong>la</strong>stbarkeit. Er formuliert sie voller Vertrauen in die Barmherzigkeit<br />

Gottes, aber er markiert sie, diese Grenzen seiner individuellen Spielräume. Lässt<br />

sich diese Definition des individuellen Spielraums ex negativo, als Beschränkung von den<br />

Grenzen her, auch positiv verstehen, als Gewährung eines individuellen Spielraums?<br />

(6.)<br />

„Was darf’s denn sein?“<br />

„À <strong>la</strong> <strong>carte</strong>“ heißt die Devise des Tages. À <strong>la</strong> <strong>carte</strong> zu essen heißt, dass man die im Menu vorgesch<strong>la</strong>gene<br />

Speisezusammenstellung nicht will. Wer <strong>à</strong> <strong>la</strong> <strong>carte</strong> essen will, will kein Einheitsmenu,<br />

er blickt statt dessen in die Angebotskarte, um aus <strong>der</strong> Fülle <strong>der</strong> Möglichkeiten das für<br />

ihn Passende auszuwählen.<br />

À <strong>la</strong> <strong>carte</strong> zu essen, heißt aber auch, keine grenzenlose Auswahl zu haben. Wer <strong>à</strong> <strong>la</strong> <strong>carte</strong> essen<br />

will, weiß zugleich, dass <strong>der</strong> Fülle seiner Bedürfnisse und seiner Lüste Grenzen gesetzt<br />

sind durch das, was auf <strong>der</strong> Karte angeboten wird. Wer <strong>à</strong> <strong>la</strong> <strong>carte</strong> isst, ist noch <strong>la</strong>nge nicht im<br />

Sch<strong>la</strong>raffen<strong>la</strong>nd, son<strong>der</strong>n bleibt abhängig von dem, was die Küche insgesamt bereithält.<br />

À <strong>la</strong> <strong>carte</strong> zu essen, bedeutet, das größtmögliche Maß an Individualität zu erreichen unter<br />

Rahmenbedingungen, die man selbst nicht gesetzt hat und nicht beeinflussen kann. Es bedeutet<br />

zum einen, sich mit allem Selbstbewußtsein des Wertes <strong>der</strong> eigenen und höchst persönlichen<br />

Disposition bewusst zu sein. Es bedeutet, das eigene So-Sein, in all seinen Eigenheiten,<br />

in einer mit sich selbst und mit Gott versöhnten Weise anzunehmen. Es bedeutet aber zum<br />

an<strong>der</strong>en, sich des Rahmens bewusst zu sein, <strong>der</strong> für das Leben des Individuellen gesetzt ist:<br />

ein unverfügbarer Rahmen, den <strong>der</strong> Einzelne sich nicht selbst gesetzt hat; zugleich ein unhintergehbarer<br />

Rahmen, den <strong>der</strong> einzelne nicht überschreiten kann. Innerhalb dieses Rahmens ist<br />

viel möglich; ja: innerhalb dieses Rahmens soll größtmögliche Individualität herrschen. Aber<br />

<strong>der</strong> Rahmen selbst ist nicht zu sprengen.<br />

Liebe Gemeinde, in diesem Sinne kann die Vorstellung <strong>vom</strong> Essen <strong>à</strong> <strong>la</strong> <strong>carte</strong> tatsächlich zur<br />

Metapher für unser Gottesverhältnis werden, genauer gesagt: zur Metapher für unser Versorgtwerden<br />

durch Gott. Die Zuwendung des göttlichen Versorgers gilt dem Einzelnen in <strong>der</strong><br />

Individualität seiner Bedürfnisse und seiner Fähigkeiten und sie will dem Einzelnen in seiner<br />

Individualität so gerecht als möglich werden, will dieser Individualität so viel Entfaltung als<br />

möglich gewähren. Aber <strong>der</strong> Einzelne wird den Rahmen, <strong>der</strong> durch den göttlichen Versorger<br />

gesetzt ist, doch niemals überschreiten können. Der göttliche Versorger setzt Rahmenbedingungen<br />

des Lebens, die für den Einzelnen unverfügbar und unhintergehbar sind.


Freilich muss <strong>der</strong> Einzelne diesem Rahmen auch gar nicht entfliehen. Das Angebot ist reichlich,<br />

das Angebot ist lebensspendend und lebenserhaltend, für die Ausgehungerten ist etwas<br />

da und für die fast Satten ebenfalls, für die Kranken Schonkost und für die Unternehmungslustigen<br />

etwas Exotisches, für die Alten eine kleine Portion und für die Jungen eine doppelte.<br />

Das war schon immer so in diesem Hause, das weckt Vertrauen und läßt einen beruhigt P<strong>la</strong>tz<br />

nehmen.<br />

(7.)<br />

„Was darf’s denn sein?“ – „Ach, es muss eigentlich gar nicht etwas ganz Bestimmtes sein.<br />

Wir sind froh und dankbar, hier zu sitzen. Aller Augen, Herre, warten auf dich, und du gibst<br />

ihnen ihre Speise zur rechten Zeit. Du tust deine Hand auf und sättigst alles, was lebt, nach<br />

deinem Wohlgefallen.“<br />

Amen.<br />

Nächster Universitätsgottesdienst<br />

Zaungäste<br />

4. Dezember<br />

Prof. Dr. K<strong>la</strong>us Koschorke

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