Phraseologie - Filozofska fakulteta - Univerza v Mariboru
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<strong>Univerza</strong> v <strong>Mariboru</strong><br />
<strong>Filozofska</strong> <strong>fakulteta</strong><br />
Oddelek za germanistiko<br />
<strong>Phraseologie</strong><br />
Kompendium für germanistische Studien<br />
Vida Jesenšek<br />
Maribor, 2013
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Inhalt<br />
Inhalt........................................................................................................................................... 1<br />
Vorwort ...................................................................................................................................... 4<br />
1 Theoretische Grundlagen der <strong>Phraseologie</strong> ............................................................................ 9<br />
1.1 Begriff und Hauptmerkmale ............................................................................................. 9<br />
1.1.1 Polylexikalität .......................................................................................................... 10<br />
1.1.2 Stabilität .................................................................................................................. 11<br />
1.1.3 Idiomatizität ............................................................................................................ 15<br />
1.1.4 Lexikalisiertheit und Reproduzierbarkeit ................................................................ 19<br />
1.2 Phrasem und <strong>Phraseologie</strong> ............................................................................................. 20<br />
2 Strukturen, Typen, Klassen .................................................................................................... 24<br />
2.1 Basisklassifikation nach Burger (2010) ........................................................................... 25<br />
2.2 Nominative Phraseme: morphologisch-syntaktische Klassifikation ......................... 26<br />
2.2.1 Substantivische Phraseme ...................................................................................... 27<br />
2.2.2 Verbale Phraseme ................................................................................................... 29<br />
2.2.3 Adjektivische Phraseme .......................................................................................... 30<br />
2.2.4 Adverbiale Phraseme .............................................................................................. 31<br />
2.3 Besondere Strukturtypen nominativer Phraseme ......................................................... 31<br />
2.3.1 Paarformeln ............................................................................................................. 32<br />
2.3.2 Komparative Phraseme ........................................................................................... 35<br />
2.3.3 Phraseologische Teilsätze ....................................................................................... 38<br />
3 Sprichwörter .......................................................................................................................... 40<br />
3.1 Begriff und Hauptmerkmale ........................................................................................... 40<br />
1
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
3.2 Hauptmerkmale .............................................................................................................. 41<br />
3.2.1 Polylexikalität und Satzwertigkeit ........................................................................... 42<br />
3.2.2 Stabilität .................................................................................................................. 43<br />
3.2.3 Idiomatizität ............................................................................................................ 43<br />
3.3 Formen ........................................................................................................................... 44<br />
3.4 Funktionen...................................................................................................................... 49<br />
3.5 Inhalt und Herkunft ........................................................................................................ 51<br />
3.6 Sprichwortsammlungen ................................................................................................. 54<br />
3.7 Sondergruppen ............................................................................................................... 57<br />
3.7.1 Bauernregeln und Wettersprichwörter .................................................................. 57<br />
3.7.2 Rechtssprichwörter ................................................................................................. 60<br />
3.7.3 Medizinische Sprichwörter...................................................................................... 60<br />
3.7.4 Wellerismen ............................................................................................................ 63<br />
3.8 Sprichwortähnliche feste Strukturen ............................................................................. 64<br />
3.8.1 Sentenz .................................................................................................................... 64<br />
3.8.2 Geflügeltes Wort ..................................................................................................... 64<br />
3.8.3 Aphorismus.............................................................................................................. 65<br />
3.8.4 Maxime .................................................................................................................... 66<br />
3.8.5 Epigramm ................................................................................................................ 66<br />
4 <strong>Phraseologie</strong> im Sprachenlernen .......................................................................................... 68<br />
4.1 <strong>Phraseologie</strong> als Lern- und Lehrgegenstand .................................................................. 68<br />
4.2 Argumente für die Integration der <strong>Phraseologie</strong> in das Fremdsprachenlernen ............ 71<br />
4.3 Konsequenzen für das Fremdsprachenlernen ............................................................... 79<br />
4.3.1 Methodisch-didaktische Konsequenzen ................................................................. 80<br />
4.3.2 Praktische Konsequenzen ....................................................................................... 82<br />
2
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Teil A: Glossar ....................................................................................................................... 85<br />
Teil B: Wörterbuchverzeichnis ............................................................................................. 92<br />
Teil C: Literaturverzeichnis ................................................................................................... 95<br />
3
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Jede Sprache ist Bildersprache (Wilhelm Busch)<br />
Vorwort<br />
Das vorliegende Kompendium stellt eine Einführung in grundlegende theoretische und<br />
ausgewählte praktische Aspekte der <strong>Phraseologie</strong> dar. <strong>Phraseologie</strong> als eigenständige<br />
sprachwissenschaftliche Forschungsdisziplin ist die Lehre (griech. phrasis 'Rede', logos<br />
'Lehre') von Phrasemen, also von festen Wortverbindungen verschiedenster Art, die auf eine<br />
besondere, in der Regel sehr bildhafte Art und Weise Begriffe versprachlichen und als<br />
vorgefertigte Redeteile beim Sprechen oder Schreiben nicht immer aufs neue produziert<br />
sondern wiederholt, reproduziert werden, vgl.<br />
küss die Hand, Hand in Hand arbeiten, alle/beide Hände voll zu tun haben, von der Hand in<br />
den Mund leben, eine Hand wäscht die andere; Wasser auf jmds. Mühle sein, ein stilles<br />
Wasser, stille Wasser sind tief usw.<br />
Dass man die alltägliche Rede nicht nur und nicht immer aus einzelnen Wörtern frei<br />
gestaltet, ist weit bekannt. Gerade komplexe und vorgefertigte lexikalische Bestandteile der<br />
Rede – in vielen Fällen sind es Phraseme – helfen dem Menschen seit eher, sich bei der<br />
Ausformung der sprachlichen Kommunikation der »Fertigbauweise« zu bedienen und somit<br />
seinen kommunikativen Aufwand zu verringern. Die phraseologische Redeweise ist allen<br />
bekannten natürlichen Sprachen eigen; die alte Tradition entwickelt sich ständig weiter und<br />
lässt neue Phraseme entstehen. Laut der letzten Ausgabe des repräsentativen deutschen<br />
phraseologischen Wörterbuchs aus der Duden-Reihe mit dem Titel Duden Redewendungen.<br />
Wörterbuch der deutschen Idiomatik (2013) sind etwa folgende Phraseme in der deutschen<br />
Sprache neu:<br />
in trockenen Tüchern sein 'gesichert, erfolgreich abgeschlossen, erreicht sein'; die Kuh vom Eis<br />
bringen/kriegen 'ein schwieriges Problem lösen'; (die) unterste Schublade 'niedrigstes Niveau,<br />
billig, gemein'; den Ball flach halten 'sich zurückhalten; unnötiges Risiko, unnötige Aufregung<br />
4
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
o.Ä. vermeiden'; lass/lasst stecken! 'Ausdruck des Widerspruchs, der<br />
Ablehnung/Zurückweisung'.<br />
Man sieht, dass es sich um ein recht interessantes, besonderes und vielfältiges sprachliches<br />
Phänomen handelt. Das Wesen eines „echten“ Phrasems macht seine charakteristische<br />
semantische Natur aus, denn es gilt, dass „Wortverbindungen, deren Bedeutung nicht dem<br />
entspricht, was den allgemeinen Regeln der Sprache gemäß erwartet würde, /…/ im engen<br />
Sinne phraseologisch /sind/“ (vgl. Palm 1997, 106). Der phraseologische Bestand einer<br />
natürlichen Sprache ist jedoch immer sehr verschiedenartig, sodass man auch von der<br />
<strong>Phraseologie</strong> im weiteren Sinne sprechen muss, um ihn in seiner Ganzheitlichkeit erfassen<br />
zu können.<br />
Dieser evidente und unverkennbare phraseologische Reichtum weckt in den letzten<br />
Jahrzehnten auch das Interesse der sprachwissenschaftlichen Forschung. Zunächst als<br />
Teildisziplin der Lexikologie (Lehre von Wörtern und Wortschatz) entwickelte sich die<br />
<strong>Phraseologie</strong> gegenwärtig zu einer eigenständigen linguistischen Disziplin mit gründlich<br />
ausgearbeiteter theoretischer Basis, mit vielfältigen Forschungsmethoden und mit einer<br />
enormen und ständig anwachsenden Zahl von Fachpublikationen.<br />
Die Anfänge der germanistischen <strong>Phraseologie</strong>forschung gehen auf die 70er Jahre des 20. Jh.<br />
zurück und gründen hauptsächlich auf den früheren russischen phraseologischen Arbeiten<br />
(eine kurze historische Übersicht über die Entwicklung der deutschen <strong>Phraseologie</strong>forschung<br />
gibt Donalies 2009). Gegenwärtig wird der phraseologische Bestand der deutschen Sprache<br />
aus mehreren verschiedenen linguistischen Perspektiven betrachtet:<br />
- aus der Sicht der Systemlinguistik werden der Gegenstand der phraseologischen<br />
Forschung definiert und die phraseologische von anderen Betrachtungsebenen<br />
abgegrenzt; es werden formale Strukturen analysiert und klassifiziert; es wird<br />
untersucht, wie diese die weitgehend ganzheitliche und in der Regel sehr komplexe<br />
phraseologische Bedeutung konstituieren; bei der Erforschung der phraseologischen<br />
Bedeutung wird in letzter Zeit großer Wert auf kulturell-historische und symbolischsemantische<br />
Aspekte gelegt;<br />
5
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
- aus der funktionalen Perspektive wird dargelegt, wie Phraseme in Texten<br />
vorkommen und welche Funktionen sich am konkreten Phrasemgebrauch<br />
interpretieren lassen;<br />
- aus der kommunikativ-pragmatischen Sicht sucht man nach Antworten auf die<br />
grundlegende pragmatische Fragestellung (Was tue ich, wenn ich ein Phrasem<br />
gebrauche) und man bemüht sich, das reiche pragmatische Potenzial der Phraseme<br />
zu erläutern und zu systematisieren;<br />
- unter der lexikographischen Perspektive setzt man sich damit auseinander, wie<br />
Phraseme in verschiedenartigen Wörterbüchern sowie in neuartigen elektronischen<br />
Sprachressourcen fachgerecht und benutzerfreundlich erfasst sind bzw. erfasst<br />
werden sollten;<br />
- die kontrastive Untersuchungsperspektive ist mit der Suche nach Ähnlichkeiten und<br />
Unterschieden in der <strong>Phraseologie</strong> mehrerer Sprachen beschäftigt; vor allem<br />
Fragestellungen zu zwischensprachlichen Äquivalenzbeziehungen stoßen auf reges<br />
Forschungsinteresse, zumal die Äquivalenz in mehreren praktischen Bereichen eine<br />
entscheidende Rolle spielt: in der Übersetzung, in der Erarbeitung zweisprachiger<br />
Wörterbücher und im Sprachenlernen;<br />
- unter der sprachdidaktischen Perspektive wird die <strong>Phraseologie</strong> vor dem Hintergrund<br />
des mutter- und fremdsprachlichen Spracherwerbs bzw. des Sprachenlernens<br />
diskutiert; es interessieren psycholinguistische Aspekte des Phrasem-Erwerbs und<br />
praktische sprachdidaktische Fragen zur Vermittlung der <strong>Phraseologie</strong> in<br />
Sprachlernprozessen.<br />
Der Inhalt des vorliegenden Kompendiums berücksichtigt einige ausgewählte Perspektiven<br />
der aktuellen germanistischen <strong>Phraseologie</strong>forschung. Bei der Konzipierung und Erarbeitung<br />
6
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
wurde von der grundlegenden germanistischen Referenz- und Forschungsliteratur<br />
ausgegangen, die im Literaturverzeichnis angegeben und für das weiterführende Studium<br />
der deutschen <strong>Phraseologie</strong> empfohlen wird. Stellenweise (vor allem im kontrastiven und<br />
sprachdidaktischen Bereich) wurde die allgemeine Diskussion durch Ergebnisse eigener<br />
Forschung ergänzt. Hierbei nehmen die zentrale Position drei Forschungsprojekte ein, die ich<br />
in letzter Zeit geleitet habe: das internationale EU-geförderte Projekt EPHRAS, im dessen<br />
Rahmen eine mehrsprachige phraseologische Datenbank und umfangreiche<br />
phraseodidaktische Materialien entstanden sind, das weiterführende parömiologische<br />
Projekt SprichWort, dessen Hauptziel die linguistische Erforschung und sprachdidaktische<br />
Aufbereitung der Sprichwörter mehrerer Sprachen (darunter Deutsch und Slowenisch) auf<br />
korpusempirischer Basis gewesen ist und nicht zuletzt das kontrastive Projekt zur<br />
<strong>Phraseologie</strong> des Deutschen und Slowenischen, welches durch die Slowenische<br />
Forschungsagentur (ARRS) mitfinanziert wird und bisher bedeutende Kenntnisse zur<br />
deutsch-slowenischen kontrastiven <strong>Phraseologie</strong> hervorbringen konnte.<br />
Mit diesem Nachschlagewerk zur deutschen <strong>Phraseologie</strong> werden mehrere Ziele verfolgt:<br />
1. eine Basisübersicht über das Wesen der deutschen <strong>Phraseologie</strong> und den aktuellen<br />
Stand der germanistischen <strong>Phraseologie</strong>forschung zu geben;<br />
2. durch eine typologische Darstellung des äußerst heterogenen phraseologischen<br />
Bestands des Deutschen eine systematische Einprägung bei fremdsprachigen<br />
Sprechern zu ermöglichen und somit die Erkennbarkeit bisher womöglich<br />
unbekannter Phraseme zu erhöhen;<br />
3. darzulegen, wie die <strong>Phraseologie</strong> in textuellen Zusammenhängen üblicherweise<br />
funktioniert und folgerichtig auf typische und somit vorhersehbare<br />
Verwendungsweisen aufmerksam zu machen;<br />
4. aus der kontrastiven (deutsch-slowenischen) Perspektive auf zwischensprachliche<br />
Äquivalenzbeziehungen hinzuweisen und gleichzeitig einige Übersetzungsfragen<br />
anzusprechen;<br />
7
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
5. die Wichtigkeit der Einbeziehung der <strong>Phraseologie</strong> in das Sprachenlernen darzulegen<br />
und aktuelle Leistungen der phraseodidaktischen Forschung zu unterbreiten.<br />
Das Kompendium umfasst vier in sich gegliederte Kapitel, in denen einzelne Themenbereiche<br />
theoretisch erläutert und praktisch illustriert werden. Im Anhang findet sich ein kurzes<br />
Glossar mit den wichtigsten Fachtermini, die im Kompendium vorkommen; mit dem Zeichen<br />
wird im laufenden Text auf die Aufnahme des jeweiligen Fachausdrucks in das Glossar<br />
verwiesen. Im Anhang befinden sich schließlich ein Wörterbuchverzeichnis mit den Angaben<br />
zu den Wörterbüchern, die im Kompendium besprochen werden und ein<br />
Literaturverzeichnis, in dem die grundlegende und aktuelle Fachliteratur zur deutschen<br />
<strong>Phraseologie</strong> und Parömiologie verzeichnet ist.<br />
Das Kompendium ist durch seine inhaltliche Struktur und vielfältige und umfangreiche<br />
Veranschaulichung der theoretischen Überlegungen mit konkreten Beispielen aus der<br />
<strong>Phraseologie</strong> des Deutschen in erster Linie für Studierende verschiedener germanistischer<br />
Studiengänge gedacht. Gut geeignet ist er aber auch für angehende und praktizierende DaF-<br />
Lehrer und -lehrerinnen, insbesondere für jene, die im Rahmen des absolvierten<br />
Germanistik-Studiums wenig oder gar nichts von der <strong>Phraseologie</strong> gehört haben. Schließlich<br />
sollte er für alle, die die phraseologische Redeweise interessant finden und sich mit dem<br />
Reichtum der deutschen <strong>Phraseologie</strong> näher auseinandersetzen wollen, von Interesse sein.<br />
Maribor und Mannheim, im Januar 2013<br />
Vida Jesenšek<br />
8
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
1 Theoretische Grundlagen der <strong>Phraseologie</strong><br />
INHALT UND ZIELE<br />
In diesem Kapitel wird eine erste Einsicht in theoretische Grundlagen der <strong>Phraseologie</strong><br />
gegeben. Es wird dargelegt, was phraseologische Einheiten einer Sprache sind und welche<br />
typischen Eigenschaften sie haben. Dieser Teil ist nicht gänzlich einzelsprachspezifisch<br />
orientiert, obgleich mit zahlreichen Beispielen aus der deutschen Sprache belegt; manche<br />
Erläuterungen gelten z.B. auch für die <strong>Phraseologie</strong> der slowenischen Sprache.<br />
Nach einer aufmerksamen Lektüre dieses Kapitels werden sie wissen, was Phraseme sind,<br />
welche typischen Eigenschaften sie haben, wie sie sich von andersartigen aber ähnlichen<br />
sprachlichen Phänomenen unterscheiden, wie vielfältig sie sein können und wie sie sie<br />
fachgerecht benennen sollen.<br />
1.1 Begriff und Hauptmerkmale<br />
Im Allgemeinen verstehen wir unter phraseologischen Einheiten einer Sprache, die wir<br />
Phraseme nennen (Phrasem), mehrteilige und feste Wortverbindungen, deren jeweilige<br />
Wort-Kombination den Sprechenden einer Sprache genau in dieser oder eventuell noch in<br />
einer varianten Form bekannt ist. Dazu kommt, dass die Gesamtbedeutung solcher<br />
Wortverbindungen mit der Summe von Bedeutungen einzelner Bestandteile in der Regel<br />
nicht gleichgesetzt werden kann. Vergleichen wir folgende zwei Aussagen:<br />
(1) Kalter Kaffee gefällt mir nicht.<br />
(2) Was er über Japan erzählt, ist doch alles kalter Kaffee. Erstens kann man das in jedem<br />
Fremdenführer nachlesen und zweitens interessiert das gar nicht, denn auf das Wesentliche<br />
kommt er gar nicht zu sprechen.<br />
Während in der Aussage (1) ein Getränk beurteilt wird, können wir die Aussage (2)<br />
keinesfalls mit dem beliebten Getränk in Verbindung setzen. Was in (2) mit kaltem Kaffee<br />
benannt wird, lässt sich an dem zugehörigen Text gut nachvollziehen, nämlich 'etw. ist<br />
altbekannt, abgestanden, sogar dumm und deshalb völlig uninteressant'. Man sieht, dass<br />
9
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Phraseme in ihrer Bedeutungsdimension ganzheitlich funktionieren und Begriffliches<br />
benennen – in dieser Hinsicht kann man sie mit einzelnen Wörtern vergleichen und als<br />
Bestandteile des Wortschatzes auffassen. Phraseme sind somit ganzheitliche Einheiten des<br />
Wortschatzes, des Lexikons; sie sind Lexeme (Lexem).<br />
Da Phraseme keinesfalls einfache sondern komplexe und manchmal komplizierte<br />
Konstruktionen sind, ist es auch nicht einfach, sie zu definieren und somit klar und deutlich<br />
von andersartigen und/oder ähnlichen mehrteiligen sprachlichen Phänomenen auf der<br />
Wortschatzebene abzugrenzen. In der umfangreichen Fachliteratur zur <strong>Phraseologie</strong><br />
(<strong>Phraseologie</strong>) findet man zahlreiche Definitionen, in denen bei der Begriffsbestimmung<br />
mit je unterschiedlichem Gewicht morphologische, syntaktische und semantische Phrasem-<br />
Eigenschaften eine Rolle spielen. Man ist sich jedoch einig, dass die Mehrheit der sonst sehr<br />
heterogenen Phraseme einige gemeinsame Merkmale aufweisen. Im Folgenden werden<br />
diese in ihren Wesenszügen dargelegt und anhand konkreter deutscher Phraseme illustriert.<br />
1.1.1 Polylexikalität<br />
Das Merkmal der Polylexikalität, auch Mehrgliedrigkeit (Polylexikalität) meint die<br />
Tatsache, dass Phraseme aus mehreren (poly, griech. polus 'viele, viel') Wörtern (griech. lexis<br />
'Wort') bestehen; sie sind somit polylexikal (mehrgliedrig). Wie viele Wörter eine<br />
phraseologische Struktur ausmachen – gerade dazu gibt es aber verschiedene Meinungen.<br />
Schwierigkeiten bereiten vor allem uneinheitliche Bestimmungen dessen, was ein Wort<br />
überhaupt ist; in der Linguistik wird der Begriff des Wortes nämlich sehr unterschiedlich<br />
aufgefasst und interpretiert. Wir vereinfachen hierbei die Diskussion und übernehmen die<br />
gegenwärtig übliche und verbreitete Auffassung der phraseologischen Polylexikalität.<br />
Danach setzt man Grenzen einer phraseologischen Einheit des Wortschatzes durch eine<br />
minimale und eine maximale Phrasem-Struktur ab:<br />
- Phraseme mit Minimalstruktur sind Verbindungen von zwei Wörtern, von denen<br />
mindestens ein Wort autosemantisch sein muss, vgl.<br />
- blinder Passagier; frei Haus; auf Anhieb, im Nu<br />
10
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
- Phraseme mit Maximalstruktur sind Verbindungen von Wörtern, die eine<br />
Satzstruktur darstellen; man nennt sie auch satzwertige Phraseme bzw.<br />
Satzphraseme, vgl.<br />
Übung macht den Meister; Wer rastet, der rostet; Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder,<br />
große Sorgen; Ohne Fleiß kein Preis; Verflixt und zugenäht!.<br />
Die meisten deutschen Phraseme befinden sich auf einer Skala zwischen der Minimal- und<br />
Maximalstruktur; man nennt sie auch satzgliedwertige Phraseme, da sie im Satz die<br />
Satzglied-Funktion übernehmen (sie treten als Subjekt, Objekt, Prädikat, Attribut, adverbiale<br />
Bestimmung auf), vgl.<br />
Mutter Grün; Nummer Eins; das Auge des Gesetzes; das älteste Gewerbe der Welt; Liebe auf<br />
den ersten Blick<br />
sich auf die Beine machen; die Flinte ins Korn werfen; nicht von der Luft leben können; sich<br />
benehmen wie ein Elephant im Porzellanladen<br />
fix und fertig; klipp und klar.<br />
Einzelne Elemente (Wörter) eines Phrasems nennt man Komponenten (Komponente).<br />
1.1.2 Stabilität<br />
Eine weitere begriffsbestimmende Phrasem-Eigenschaft ist das Merkmal der Stabilität, auch<br />
Festigkeit (Stabilität). Damit wird gesagt, dass Phraseme in ihrer formalen Struktur und<br />
folgerichtig in ihrer Bedeutung fest, stabil sind. Laut Burger (2010, 16ff.) sollte man die<br />
phraseologische Stabilität auf drei Ebenen betrachten; auf der psycholinguistischen,<br />
strukturellen und pragmatischen Ebene.<br />
Die psycholinguistische Stabilität<br />
meint, dass Phraseme im mentalen Lexikon ganzheitlich gespeichert sind und als solche nach<br />
Bedarf abgerufen und beim Sprechen oder Schreiben reproduziert werden können. Ihr<br />
kognitiver Status wird vor allem innerhalb der Sprachdidaktik besprochen, um damit die<br />
11
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Integration der <strong>Phraseologie</strong> in das Sprachenlernen zu begründen. (Näheres zum kognitiven<br />
Status der <strong>Phraseologie</strong> finden sie in Kap. 4).<br />
Die strukturelle Stabilität<br />
betrifft die phraseologische Form bzw. die Phrasem-Struktur. Es wird dadurch gesagt, dass<br />
die jeweilige Kombination von Wörtern genau in dieser (und möglicherweise noch in einer<br />
varianten) Form bei den Sprechern einer Sprache bekannt ist.<br />
Das Merkmal der strukturellen Stabilität ist aber nicht absolut zu verstehen. Man kann<br />
nämlich relativ wenige Phraseme finden, deren Struktur völlig unveränderbar wäre; vielmehr<br />
sind sie bis zu einem gewissen Grad variabel.<br />
Eine absolute Festigkeit beobachtet man bei Phrasemen mit unikalen Komponenten, also bei<br />
Phrasemen mit veralteten bzw. seltenen Lexemen, die phrasemextern als freie Wörter in der<br />
Regel nicht vorkommen, vgl. gang, gäbe, klipp, Nu, rümpfen, Laufpass, Schnippchen in<br />
folgenden Beispielen:<br />
gang und gäbe, klipp und klar, im Nu, die Nase rümpfen, jm. den Laufpass geben, jm. ein<br />
Schnippchen schlagen.<br />
Einen hohen Festigkeitsgrad beobachtet man ebenso bei Phrasemen, deren Formen<br />
morphologische und/oder syntaktische Irregularitäten nachweisen; sie weichen also von der<br />
üblichen grammatischen Regelung aus, was ihre Festigkeit verstärkt. Das gilt für erstarrte<br />
bzw. archaische grammatische Konstruktionen wie z.B. Gebrauch des unflektierten<br />
attributiven Adjektivs, des Genitivobjekts, des adverbialen und vorangestellten Genitivs, der<br />
anomale Gebrauch des Artikels, vgl.<br />
etw. frei Haus liefern, sich bei jm. liebkind machen, Gut Ding will Weile haben (unflektiertes<br />
Adjektiv)<br />
guter Hoffnung sein, schweren Herzens, letzten Endes, jn. eines Besseren belehren, in (des)<br />
Teufels Küche kommen (vorangestellter Genitiv)<br />
vor Ort, auf Draht sein (anomaler Artikel).<br />
12
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
In vielen Fällen sind bestimmte morphologische und syntaktische Umgestaltungen<br />
(Transformationen) der Phrasem-Strukturen beschränkt. So kann z.B. die Pluralbildung,<br />
Relativsatzbildung, Passivierung, Konversion oder Pronominalisierung einzelner<br />
Komponenten nicht möglich sein, vgl.<br />
*kalte Kaffees (Plural zu kalter Kaffee)<br />
*der Korb, den er mir gegeben hat (Relativsatz zu jm. den Korb geben)<br />
*Die Flinte wurde ins Korn geworfen; *der Wurf der Flinte ins Korn; *Sie wurde ins Korn<br />
geworfen (Passiv, Konversion und Pronominalisierung einer Phrasem-Komponente zu die<br />
Flinte ins Korn werfen) (zit. nach Donalies 2009).<br />
Wie bereits angedeutet, soll man die strukturelle Festigkeit bei der Mehrzahl der Phraseme<br />
nicht absolut verstehen. Beobachtet man nämlich ihr textuelles Vorkommen, so sieht man,<br />
dass relativ wenige völlig stabil sind (so vor allem solche mit unikalen Komponenten bzw.<br />
erstarrt-archaischen grammatischen Strukturen, wie wir oben gesehen haben). Vielmehr gilt,<br />
dass die Mehrheit der Phraseme zu einem bestimmten Grad veränderlich ist. So muss man<br />
die Stabilität als eine graduell ausgeprägte Eigenschaft betrachten und für die meisten<br />
Phraseme Folgendes feststellen:<br />
- sie sind erweiterungsfähig, vgl.<br />
einen großen Bock schießen (zu einen Bock schießen), den roten Faden verlieren (zu den<br />
Faden verlieren), klar auf der Hand liegen (zu auf der Hand liegen)<br />
- Phrasem-Komponenten sind gegebenenfalls grammatisch variabel (Numerus,<br />
bestimmter/unbestimmter Artikel, variable Negation), vgl.<br />
etw. in jmds. Hand/Hände legen, das/sein Herz auf der Zunge tragen, jm. keinen/nicht den<br />
Bissen Brot gönnen<br />
- Phrasem-Komponenten sind (semantisch zwar eingeschränkt) austauschbar, vgl.<br />
die Ruhe/Stille vor dem Sturm, jm. eine/ein paar herunterhauen; ein Gesicht wie<br />
drei/sieben/zehn/vierzehn Tage Regenwetter machen<br />
13
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
- Phrasem-Strukturen sind weitgehend syntaktisch abwandelbar; das gilt verstärkt für<br />
satzwertige Phraseme wie etwa Sprichwörter, die sich der jeweiligen textuellen<br />
Umgebung leicht anpassen, vgl.<br />
Nach 22 Jahren Vorstandsarbeit, davon 16 Jahre im Amt des Vorsitzenden, hat Wolfgang<br />
Müller nicht mehr für den Posten des Vorsitzenden der Bibliser Feuerwehr kandidiert. "Es hat<br />
sich in den letzten Jahren gezeigt, dass man nicht gleichzeitig auf zwei Hochzeiten tanzen<br />
kann" (SprichWort, 2010).<br />
Die <strong>Phraseologie</strong>forschung spricht hierbei von Varianten (Variante) und Modifikationen<br />
(Modifikation) (Burger 2010, 24ff.). Varianten sind usuelle, d.h. wiederholte, häufig<br />
vorkommende Phrasem-Abwandlungen, vgl.<br />
klar auf der Hand liegen vs. auf der Hand liegen<br />
die Maske fallen lassen vs. die Maske von sich werfen.<br />
Modifikationen sind dagegen gelegentliche, einmalige, nur auf einen konkreten Text<br />
gebundene Umgestaltungen der phraseologischen Ausgangsformen, vgl.<br />
WC-Ente verdient Ihr Vertrauen. Ente gut, alles gut (Werbungsslogan; zum Sprichwort Ende<br />
gut, alles gut).<br />
Varianten und Modifikationen sind insbesondere als gezielt gesetzte stilistische Mittel in<br />
meinungsbeeinflussenden Textsorten wie Werbung, journalistischer Kommentar, Glosse,<br />
Schlagzeile gut geeignet; sie werden als Ausdruck des kreativ-spielerischen Umgangs mit der<br />
Sprache interpretiert.<br />
Die pragmatische Stabilität<br />
bezieht sich auf typische kommunikative Situationen, in denen Phraseme verwendet werden<br />
und zugleich auf typische pragmatische Funktionen, die dadurch realisiert werden. Laut<br />
Burger (2010, 28ff.) unterscheiden wir hierbei zwei Phrasem-Klassen:<br />
14
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Phraseme, die in ganz bestimmten Situationstypen auftreten: dazu zählen vor allem<br />
kommunikative/pragmatische Phraseme (Routineformeln) wie Grußformeln,<br />
Abschiedsformeln, Glüchwunschformeln, Beileidsformeln u.Ä., vgl.<br />
Guten Tag, Auf Wiedersehen, Herzlichen Glückwunsch.<br />
Die pragmatische Stabilität ist somit vor allem situations- und funktionsbezogene<br />
Eigenschaft bestimmter Phraseme; so kann man voraussehen, dass Guten Tag und Auf<br />
Wiedersehen immer dann verwendet werden, wenn ein Beginn bzw. ein Abschluss der<br />
Kommunikation mit anderen markiert werden soll.<br />
Zur zweiten Klasse werden Phraseme gezählt, deren Funktion darin besteht, dass sie die<br />
Kommunikation steuern; vorrangig verwendet man sie in gesprochener Sprache, vgl.<br />
Nicht wahr?, ich meine/denke…, siehst/verstehst du?; nach meiner Meinung, ich meine.<br />
Man spricht hierbei generell darüber, dass bestimmte Typen von Phrasemen<br />
gesprächssteuernde Funktionen haben.<br />
1.1.3 Idiomatizität<br />
Das Merkmal der Idiomatizität (Idiomatizität) gilt traditionell als Hauptkriterium zur<br />
Unterscheidung zwischen phraseologischen und freien Wortverbindungen. Während sich die<br />
Ersteren durch eine phraseologische, idiomatische (auch figurative, metaphorische,<br />
übertragene) Bedeutung ausweisen würden, hätten die Letzteren eine wörtliche (auch<br />
literale, direkte, konkrete, freie) Bedeutung, vgl.<br />
ein schiefes Gesicht machen 'missvergnügt schauen' (phraseologische Wortverbindung)<br />
ein schönes Gesicht haben (freie Wortverbindung).<br />
Die Eigenschaft der Idiomatizität (griech. idioma ‚Eigentümlichkeit, Irregularität‘) meint also<br />
die Tatsache, dass bei der Mehrzahl der Phraseme ihre phraseologische Bedeutung aus der<br />
Summe der Bedeutungen einzelner Bestandteile (Komponenten) nicht erschließbar ist. Es<br />
15
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
handelt sich also um die Umdeutung, semantische Transformation aller oder einzelner<br />
Komponenten der jeweiligen Phrasem-Struktur, vgl.<br />
nur Bahnhof verstehen 'nicht richtig, überhaupt nichts verstehen' (eine umgedeutete<br />
Komponente)<br />
keine Rose ohne Dornen 'auch bei der schönsten Sache gibt es Nachteile' (alle Komponenten<br />
sind umgedeutet).<br />
Erst die feste Verbindung der Komponenten ergibt eine neue, ganzheitliche phraseologische<br />
Bedeutung. Man sieht, dass ein irreguläres Verhältnis zwischen der Bedeutung einzelner<br />
Komponenten und der ganzheitlichen Phrasem-Bedeutung besteht. Die reguläre,<br />
phrasemexterne Bedeutung des Wortes Bahnhof und die ganzheitliche Bedeutung des<br />
Phrasems nur Bahnhof verstehen stehen in einer unvereinbaren Beziehung zueinander.<br />
Bei vielen Phrasemen ist jedoch die semantische Verknüpfung einzelner Komponenten<br />
sowohl regulär als auch irregulär; vgl. folgende Beispiele, bei denen sowohl eine wörtliche<br />
als auch eine phraseologische Lesart möglich ist:<br />
jm. den Zahn ziehen: 'durch Ziehen entfernen' vs. 'jdn. eine Illusion nehmen, jn. ernüchtern'<br />
goldener Käfig: 'Käfig aus Gold'<br />
Komforts'<br />
vs. 'Unfreiheit, Gebundenheit trotz großen Wohlstands,<br />
auf dem Sand sitzen: 'auf der feinkörnigen, lockeren Substanz sitzen'<br />
weiterkönnen'<br />
vs. 'nicht mehr<br />
etw. an die Wand malen: 'etw. (Bild, Skizze) an die Wand malen' vs. 'etw. als Bedrohung<br />
voraussagen od. behaupten'.<br />
Die <strong>Phraseologie</strong>- und Semantikforschung sprechen hierbei über die semantische Ambiguität<br />
(Ambiguität). Sehr oft wird diese Eigenschaft bei gelegentlichen (okkasionellen) kreativspielerischen<br />
textuellen Gebrauchsweisen der <strong>Phraseologie</strong> ausgenutzt, vgl.<br />
Beim Zahnarzt: Nun mach’ den Mund schön weit auf und beiße die Zähne zusammen!<br />
Der Ober zum Bier trinkenden Gast: Warum schließen Sie denn beim Trinken immer die<br />
Augen? Der Arzt hat gesagt, ich soll nicht zu tief ins Glas gucken.<br />
16
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Betrachtet man den phraseologischen Bestand einer Sprache vor dem Hintergrund der<br />
semantischen Umdeutung, so stellt man fest, dass diese entweder alle oder nur einige bzw.<br />
keine Phrasem-Komponenten betrifft. So wird zwischen vollidiomatischen, teilidiomatischen<br />
und nichtidiomatischen Phrasemen unterschieden.<br />
Vollidiomatische Phraseme<br />
sind Phraseme, bei denen alle Komponenten umgedeutet sind und die keine wörtliche Lesart<br />
zulassen. Die phraseologische Bedeutung lässt keinen direkten Zugang zu den<br />
phrasemexternen Bedeutungen einzelner Komponenten und eine eventuelle wörtliche<br />
Interpretation führt zu absurden Bedeutungsinterpretationen, vgl.<br />
mit allen Wassern gewaschen sein 'sehr gerissen sein, alle Tricks kennen'<br />
jm. zu Kopf steigen 1. 'benommen, leicht betrunken sein', 2. 'jn. eingebildet, überheblich<br />
machen'<br />
aus der Haut fahren 'wütend, werden'.<br />
Derartige Phraseme werden als unmotiviert, intrasparent, opak bezeichnet; die wörtliche<br />
Bedeutung einzelner Komponenten erlaubt keinerlei Rückschlüsse auf die jeweilige<br />
phraseologische Bedeutung.<br />
Teilidiomatische Phraseme<br />
sind Phraseme, bei denen einige Komponenten umgedeutet sind und andere noch wörtliche<br />
Lesart zulassen, vgl.<br />
eine Fahrt ins Blaue 'Ausflugsfahrt ohne ein festgelegtes Ziel'<br />
faul wie die Sünde 'sehr faul'<br />
etw. auf die lange Bank schieben 'etw. aufschieben, hinauszögern'.<br />
17
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Derartige Phraseme werden als teilmotiviert bezeichnet; die behaltene wörtliche Bedeutung<br />
einzelner Komponenten erlaubt Rückschlüsse auf die jeweilige phraseologische Bedeutung.<br />
Nichtidiomatische Phraseme<br />
sind Phraseme, bei denen wir keine Umdeutung einzelner Komponenten feststellen können,<br />
vgl.<br />
gesammelte Werke 'Gesamtheit dessen, was jemand in schöpferischer Arbeit hervorgebracht<br />
hat'<br />
öffentliche Meinung 'im Bewusstsein der Allgemeinheit vorherrschende Auffassungen<br />
hinsichtlich bestimmter (politischer) Sachverhalte'<br />
gesunder Menschenverstand 'der normale, klare Verstand eines Menschen'.<br />
Solche feste und mehrgliedrige Wortverbindungen, die wohl auch mit fehlender<br />
Idiomatizität als Wortschatzeinheiten aufgefasst werden können, werden erst in der<br />
neueren Forschung zur <strong>Phraseologie</strong> im weiteren Sinn gezählt und oft unter der Bezeichnung<br />
Kollokation behandelt (Kollokation). Dadurch wird zugleich klar, dass das Merkmal der<br />
Idiomatizität nicht mehr als unentbehrliches Merkmal der <strong>Phraseologie</strong> verstanden wird. So<br />
legen wir mit Donalies (2009, 22) fest, dass Phraseme idiomatisch sein können, jedoch nicht<br />
unbedingt idiomatisch sein müssen.<br />
Die Annahme von Idiomatizität als grundlegender Eigenschaft der <strong>Phraseologie</strong> ist in<br />
mehrerer Hinsicht fraglich. Nennen wir nur die wichtigsten Problemstellungen:<br />
- durch die Linguistik (und Philosophie) werden recht verschiedene Auffassungen<br />
vertreten, was eine wörtliche bzw. nichtwörtliche (idiomatische, übertragene,<br />
metaphorische) Bedeutung sei<br />
- die Idiomatizität ist nicht nur auf die phraseologische Redeweise beschränkt, denn<br />
vielmehr gelten Metaphern als allgemeinsprachliche Phänomene (Donalies 2009,<br />
22ff.)<br />
18
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
- man kennt bisher keine zuverlässigen Methoden zur Bestimmung der<br />
Unmotiviertheit bzw. Undurchsichtigkeit.<br />
Auch wenn wir bei der traditionellen Idiomatizitätsvorstellung bleiben, müssen wir<br />
festhalten, dass das Merkmal der Idiomatizität eine graduell ausgeprägte Eigenschaft der<br />
Phraseme darstellt. Der jeweilige Idiomatizitätsgrad hängt damit zusammen, inwiefern<br />
einzelne Phrasem-Komponenten noch eine wörtliche Lesart zulassen bzw. inwieweit<br />
einzelne Phrasem-Komponenten umgedeutet sind.<br />
1.1.4 Lexikalisiertheit und Reproduzierbarkeit<br />
Werden Phraseme als ganzheitliche Lexikon-Einheiten aufgefasst, so gilt es, dass sie<br />
statusmäßig mit Einwortlexemen vergleichbar sind, sie sind also Lexeme. Das bedeutet<br />
weiterhin, dass man sie im Sprachgebrauch nicht immer wieder neu produziert, sondern<br />
dass man sie als vorher bestimmte feste Wortverbindungen reproduziert, wiederholt. Das<br />
Merkmal der Lexikalisiertheit (Lekalisiertheit) meint also die Tatsache, dass Phraseme als<br />
relativ feste syntaktisch-semantische Einheiten im Lexikon einer Sprache ganzheitlich<br />
gespeichert sind und dass die Mehrheit der Sprecher dieser Sprache sie als solche erkennt<br />
(Palm 1994, 36). Das Merkmal der Reproduzierbarkeit (Reproduzierbarkeit) ergibt sich<br />
folgerichtig aus mehreren bisher besprochenen Phrasem-Eigenschaften: reproduziert<br />
werden feste Wortverbindungen mit Lexem-Status. Das bedeutet weiterhin, dass Phraseme<br />
in vergleichbarer Weise wie Einzellexeme in frühen Spracherwerbsphasen erworben und im<br />
Sprachgebrauch verwendet werden. (Zum Phrasem-Erwerb lesen sie ausführlicher in Kap. 4).<br />
Die hier besprochene Eigenschaft der Lexikalisiertheit soll allerdings nicht mit der<br />
lexikographischen Kodifiziertheit eines Phrasems gleichgesetzt werden. Die lexikographische<br />
Kodifiziertheit meint nämlich die Erfassung in einem lexikographischen Nachschlagewerk,<br />
etwa in einem Wörterbuch. Es stimmt zwar, dass Phraseme in den allgemeinen und<br />
speziellen Wörterbüchern vielfach dokumentiert, d.h. lexikographisch kodifiziert sind,<br />
allerdings besagt die Lexikalisiertheit eine gesellschaftlich akzeptierte Festigung im<br />
19
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Wortschatz einer Sprache, die nicht automatisch auch die Erfassung im Wörterbuch mit<br />
einbezieht.<br />
1.2 Phrasem und <strong>Phraseologie</strong><br />
Nachdem wir die wichtigsten phraseologischen Eigenschaften (Polylexikalität, Stabilität,<br />
Idiomatizität, Lexikalisiertheit und Reproduzierbarkeit) kurz erläutert und illustriert haben,<br />
können wir Phraseme wie folgt definieren:<br />
Phraseme sind relativ stabile (feste) Wortverbindungen. Ihr Umfang bewegt sich zwischen<br />
der phraseologischen Minimalstruktur (Verbindung von zwei Wörtern) und einer<br />
phraseologischen Maximalstruktur (satzwertige Wortverbindungen). Sie sind<br />
vorgegebene, vorgeprägte Wortschatzeinheiten mit Lexemstatus und konventionalisierter<br />
ganzheitlicher Bedeutung. Diese kann in der Regel nicht mit der Summe von Bedeutungen<br />
einzelner Bestandteile gleichgesetzt werden. In textueller Umgebung treten sie als<br />
syntaktisch-semantische Einheiten auf.<br />
Somit zählen folgende Beispiele zum phraseologischen Bestand der deutschen Sprache:<br />
Hand in Hand arbeiten, alle/beide Hände voll zu tun haben, von der Hand in den Mund leben,<br />
Wasser auf jmds. Mühle sein<br />
ein stilles Wasser, blinder Passagier, kalte Dusche, Liebe auf den ersten Blick<br />
gang und gäbe, fix und fertig, hie und da, Tag und Nacht<br />
eine Hand wäscht die andere, stille Wasser sind tief<br />
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold<br />
Guten Tag, küss die Hand, da haben wir den Salat.<br />
Man sieht, dass sie sich sowohl formal-strukturell als auch semantisch-pragmatisch<br />
voneinander unterscheiden. In der Tat fasst man unter <strong>Phraseologie</strong> recht verschiedene<br />
Phänomene zusammen. Gegenwärtig beobachtet man sogar eine weitere Ausbreitung des<br />
20
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
phraseologischen Gegenstandsbereichs, da aus der Sicht des konstruktivistischen<br />
Sprachverständnisses die Formelhaftigkeit in der Rede eine immer größere Rolle spielt.<br />
Um die stark heterogenen phraseologischen Bestände einzelner Sprachen systematisch und<br />
realitätsgerecht zu erfassen, wird in der Forschung zwischen einer engen und einer weiten<br />
Auffassung von <strong>Phraseologie</strong> unterschieden (u.a. Burger 2010, 14f.).<br />
<strong>Phraseologie</strong> im engeren Sinn<br />
umfasst satzgliedwerige Phraseme, die die Eigenschaft der Polylexikalität, Stabilität und<br />
Idiomatizität aufweisen; mitunter werden sie mit dem Fachausdruck Idiom benannt. Von<br />
den oben aufgezählten Beispielen gehören zu dieser Gruppe folgende:<br />
Hand in Hand arbeiten, alle/beide Hände voll zu tun haben, von der Hand in den Mund leben,<br />
Wasser auf jmds. Mühle sein; ein stilles Wasser, blinder Passagier, kalte Dusche, Liebe auf<br />
den ersten Blick; gang und gäbe, fix und fertig, hie und da, Tag und Nacht.<br />
<strong>Phraseologie</strong> im weiteren Sinn<br />
umfasst darüber hinaus auch pragmatische Phraseme (Routineformeln), Kollokationen,<br />
satzwertige vorgeprägte Konstruktionen (Sprichwörter, Antisprichwörter, geflügelte Worte,<br />
Slogans, sog. Mikrotexte u.ä.), vgl.<br />
pass mal auf, wie schon gesagt wurde; guten Tag, küss die Hand; da haben wir den Salat,<br />
verflixt noch mal!; eine Hand wäscht die andere, stille Wasser sind tief, Reden ist Silber,<br />
Schweigen ist Gold; zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Artzt oder Apotheker<br />
u.a.<br />
Die formale und somit auch semantisch-pragmatische Vielfältigkeit führt zur Unterscheidung<br />
von nicht wenigen phraseologischen Teilklassen. Auf diese wird in Kap. 2 und 3 eingegangen.<br />
1.3 Terminologie<br />
Im vorherigen Kap. wurde festgestellt, dass die <strong>Phraseologie</strong> einen äußerst heterogenen<br />
lexikalischen Bereich darstellt. Dementsprechend heterogen ist auch die Terminologie, die<br />
21
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
auf verschiedenartige Forschungsansätze und Betrachtungsperspektiven zurückgeht. Die<br />
meisten Termini, die in der germanistischen phraseologischen Forschung mit<br />
unterschiedlicher Gewichtung in Gebrauch sind, haben einen griechisch-lateinischen<br />
Ursprung:<br />
- griech.-lat. phrasis 'rednerischer Ausdruck':<br />
Phrasem, Phraseologismus, Phraseolexem, Phrase, Phraseotextem, phraseologische<br />
Einheit<br />
- griech. idioma 'Eigentümlichkeit, eigentümlicher Ausdruck':<br />
Idiom, idiomatische Wendung/Redewendung, idiomatische Phrase, idiomatische<br />
Lexemkette u.a.<br />
Darüber hinaus sind in der deutssprachigen phraseologietheoretischen Literatur noch viele<br />
weitere Ausdrücke zu finden, mit denen man versucht, charakteristische phraseologische<br />
Eigenschaften hervorzuheben:<br />
- Polylexikalität: Phrasem, Phraseologismus, Satzlexem<br />
- Stabilität: feste Wortgruppe/Verbindung, festes Syntagma, fixiertes Wortgefüge,<br />
festgeprägter Satz<br />
- Idiomatizität: Idiom, idiomatische Wendung/Redewendung, idiomatische Phrase,<br />
idiomatische Lexemkette<br />
- ganzheitliche Semantik: Phraseolexem, Wortgruppenlexem, phraseologische Einheit.<br />
Inzwischen hat sich in der germanistischen Forschung der Terminus Phrasem durchgesetzt<br />
(analog zu Phonem, Morphem, Lexem), der als generischer Oberbegriff für den stark<br />
heterogenen Bestand phraseologischer Einheiten steht, die zum Forschungsgegenstand<br />
<strong>Phraseologie</strong> angehören. Der Ausdruck <strong>Phraseologie</strong> (<strong>Phraseologie</strong>) hat zwei<br />
Bedeutungen: er bezeichnet die Forschungsdisziplin (in Übereinstimmung mit Morphologie,<br />
Lexikologie u.a.) und benennt zugleich den Gegenstand dieser Disziplin.<br />
22
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Aus der frühen phraseologischen und volkskundlichen Forschung sind die Termini<br />
Redewendung, Redensart, sprichwörtliche Redensart bekannt. Obgleich sie nach wie vor in<br />
Gebrauch sind (Duden 2013), werden sie hier nicht verwendet.<br />
In Konkurrenz zu Phrasem bzw. <strong>Phraseologie</strong> stehen die Ausdrücke Idiom und Idiomatik. Das<br />
Wort Idiom (Idiom) ist zwar mehrdeutig; ursprünglich wurde es im Sinne von 'Dialekt,<br />
Mundart, Idiolekt' verwendet. Neuerdings kommt es auch in der <strong>Phraseologie</strong>forschung vor,<br />
jedoch ist er in der germanistischen deutschsprachigen Forschung viel seltener zu finden als<br />
im angelsächsischen Raum, wo er überwiegt (idiom).<br />
Nicht zuletzt ist im Rahmen der Terminologiedarlegung zu betonen, dass die vielen<br />
terminologischen Ausdrücke mit phras- nicht mit der pejorativen Bedeutung des Lexems<br />
Phrase als 'nichtssagende, inhaltsleere Redensart' zu vergleichen oder sogar gleichzusetzen<br />
sind.<br />
Weiterführende Literatur<br />
Zu den hier besprochenen Grundfragen der phraseologischen Sprach- und<br />
Forschungsbereichs können sie in mehreren grundlegenden Referenzwerken nachlesen, vgl.<br />
u.a. Burger/Buhofer/Sialm (1982), Palm (1997), Fleischer (1997), Donalies (2009) Burger<br />
(2010). – Eine ausführliche und vertiefte Übersicht über das gesamte phraseologische<br />
Forschungsfeld ist Burger et al. (2007).<br />
23
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
2 Strukturen, Typen, Klassen<br />
INHALT UND ZIELE<br />
Dieser Kapitel setzt sich mit Prinzipien und Kriterien der Phrasem-Klassifikation auseinander.<br />
Dargelegt und mit zahlreichen Beispielen illustriert werden die wichtigsten Klassen und<br />
Sonderstrukturen, die man am Bestand der deutschen Phraseme beobachten kann.<br />
Wenn sie das Kapitel gründlich durcharbeiten, so werden sie die wichtigsten Klassen der<br />
deutschen Phraseme kennen. Dadurch werden sie auch bisher unbekannte Phraseme in den<br />
deutschsprachigen Texten besser identifizieren und interpretieren können.<br />
In Kap. 1 wurde betont, dass Phraseme ein sehr vielfältiges, heterogenes Bild zeigen und so<br />
ist es auch nicht einfach, sie systematisch zu erfassen. Mehrere verschiedene Kriterien und<br />
Prinzipien sind aus der bisherigen <strong>Phraseologie</strong>forschung bekannt, auf deren Basis<br />
phraseologische Klassen und Teilklassen festgelegt worden sind. Für die Zwecke dieses<br />
Kompendiums wird nachfolgend der Klassifikationsvorschlag von Burger (2010, 33ff.) in<br />
seinen wesentlichen Zügen übernommen und durch morphologisch-syntaktische<br />
Klassifikationskriterien ergänzt. Die Letzteren werden in Burger (2010) lediglich am Rande<br />
angesprochen und mit Recht auch problematisiert. Es zeigt sich nämlich, dass der vielfältige<br />
Bestand der deutschen <strong>Phraseologie</strong> sich nur mit der Festlegung ihrer morphologisch<br />
bedingten syntaktischen Eigenschaften nicht befriedigend erschließen lässt. Für das hier<br />
verfolgte Ziel, eine Basisübersicht über die formale Strukturiertheit der deutschen<br />
<strong>Phraseologie</strong> zu geben, werden sie jedoch als brauchbar angesehen.<br />
Bei den bisherigen Klassifikationsversuchen werden syntaktische, semantische und<br />
pragmatische Klassifikationskriterien miteinander kombiniert, allerdings mit<br />
unterschiedlicher Gewichtung, sodass dementsprechend auch einzelne Klassen und<br />
Subklassen sich voneinander zum Teil unterscheiden. Man sieht, dass die phraseologische<br />
Ebene der Sprache im Vergleich mit der Wortbildung und Morphologie ein weniger<br />
ausgeprägtes System von Strukturtypen und Bildungselementen aufweist. Das führt<br />
24
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
stellenweise zu mehrfachen bzw. unterschiedlichen Klassen-Zuordnungen und<br />
Übergangsbereichen, da eine klare Abgrenzung einzelner Phrasemtypen zum Teil nicht<br />
möglich ist.<br />
2.1 Basisklassifikation nach Burger (2010)<br />
Betrachtet man Phraseme als sprachliche Zeichen, d.h. als formale, inhaltliche und<br />
funktionale Wortschatzeinheiten (Zeichen-Kriterium), so ergibt sich daraus eine erste<br />
klassifikatorische Unterscheidung:<br />
Referentielle Phraseme<br />
beziehen sich auf Objekte, Vorgänge, Sachverhalte, Begriffe der wirklichen und/oder der<br />
fiktiven Welt, vgl.<br />
grüne Minna, mit offenen Karten spielen, Mogenstund(e) hat Gold im Mund(e).<br />
Strukturelle Phraseme<br />
stellen grammatische Relationen her, vgl.<br />
in Bezug auf, sowohl als auch, entweder oder.<br />
Kommunikative Phraseme (pragmatische Phraseme, Routineformeln)<br />
helfen bei der Herstellung, dem Vollzug, der Beendigung kommunikativer Handlungen. Ihre<br />
Funktion ist zugleich ihre Bedeutung, sie gliedern den Text, steuern die Kommunikation u.Ä.,<br />
vgl.<br />
guten Morgen, ich denke, meiner Meinung nach, nicht wahr? hör mal, ich würde sagen,<br />
verflixt und zugenäht.<br />
25
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Referentielle Phraseme unterscheiden sich weiterhin in der allgemeinen Semantik<br />
(semantisches Kriterium). Sie sind entweder nominative Phraseme und bezeichnen Objekte<br />
bzw. Vorgänge (grüne Minna, mit offenen Karten spielen) oder propositionale Phraseme, die<br />
als satzwertige Aussagen über Objekte bzw. Vorgänge vorkommen (Mogenstund(e) hat Gold<br />
im Mund(e)).<br />
Beobachtet man die Klasse der nominativen Phraseme zusätzlich unter den syntaktischen<br />
Kriterien, so werden sie weiterhin zweigeteilt: sie sind entweder satzgliedwertig oder<br />
satzwertig/textwertig. Die Ersteren übernehmen im Satz die Funktion eines Satzgliedes oder<br />
Teilsatzgliedes, die Letzteren sind Sätze bzw. Texte.<br />
Unter Einbeziehung der semantischen Kriterien, die auf das Merkmal der Idiomatizität<br />
ausgerichtet sind, unterscheidet man zwischen voll-, teil- und nichtidiomatischen<br />
nominativen und propositionalen Phrasemen (vgl. hierzu Erläuterungen zum Merkmal der<br />
Idiomatizität in Kap. 1). Bei den nicht- bzw. schwachidiomatischen satzgliedwertigen<br />
Phrasemen handelt es sich in vielen Fällen um Kollokationen, phraseologische Fachtermini<br />
und onymische Wortverbindungen.<br />
2.2 Nominative Phraseme: morphologisch-syntaktische Klassifikation<br />
Die morphologisch-syntaktische Klassifikation ist eine weit verbreitete (obgleich auch<br />
kritisierte, vgl. Burger 2010) Art der Klassifikation, wonach Phraseme in Bezug auf ihre<br />
potentiellen syntaktischen Funktionen unterschieden und gruppiert werden. Entscheidend<br />
für die Gruppenzuordnung sind die jeweilige Kern-Komponente des Phrasems und<br />
entsprechende syntaktische Funktionen sowie morphologische Paradigmen (Deklination,<br />
Konjugation).<br />
26
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
In Bezug auf die Wortart der Komponenten, potentielle syntaktische Funktionen und<br />
morphologisches Paradigma unterscheidet man zwischen substantivischen, verbalen,<br />
adjektivischen und adverbialen Phrasemen. Nachfolgend werden einzelne Klassen kurz<br />
dargelegt und mit Beispielen veranschaulicht.<br />
2.2.1 Substantivische Phraseme<br />
Die substantivischen Phraseme kommen im Satz als Subjekt, Objekt oder substantivisches<br />
Attribut vor; man nennt sie auch Nominal- bzw. Substantivphraseme. Der semantischsyntaktische<br />
Kern ist immer ein Substantiv, welches mit verschiedenen Attributen die<br />
phraseologische Wortverbindung bildet. Folgende syntaktische Strukturen deutscher<br />
substantivischer Phraseme kann man beobachten:<br />
- vorangestelltes adjektivisches Attribut + Substantiv (ein sehr produktives Modell),<br />
vgl.<br />
grüne Minna 'Transportwagen der Polizei'; blauer Brief 1. 'Kündigungsschreiben', 2.<br />
'Mahnbrief'; verbotene Früchte 'verlockende, aber verbotene Genüsse'; ein frommer Wunsch<br />
'eine ehrenwerte, aber falsche Vorstellung, eine Illusion'; ein offenes Geheimnis 'etw., was<br />
zwar allgemein bekannt ist, offiziell aber noch geheim gehalten wird'; die letzte Stunde<br />
'Todesstunde'; der kleine Mann 1. 'Durchschnittsmensch', 2. 'Penis'; der große/dicke Onkel<br />
'der große Zeh'; eine Frucht der Liebe 'ein uneheliches Kind'<br />
- Substantiv + nachgestelltes adjektivisches Attribut (im heutigen Deutsch sehr selten,<br />
dazu grammatisch irregulär (unflektiertes Adjektiv), zum Teil veraltet), vgl.<br />
Forelle blau, Kaffee verkehrt, Röslein rot<br />
- Substantiv + Genitivattribut (nachgestellt), vgl.<br />
das Auge des Gesetzes 'die Polizei'; das Ei des Kolumbus 'eine überraschend einfache Lösung';<br />
der Stein des Anstoßes 'die Ursache eines Ärgernisses'; die Spitze des Eisberges 'der offen<br />
liegende, kleinere Teil einer misslichen, üblen Sache, die in Wirklichkeit weit größere Ausmaße<br />
hat'; der Duft der großen, weiten Welt 'das Flair der Weltoffenheit, Freiheit, Unabhängigkeit'<br />
- Substantiv + Genitivattribut (vorangestellt, sehr selten), vgl.<br />
27
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
des Pudels Kern 'die eigentliche verborgene Ursache'<br />
- Substantiv + präpositionales Attribut, vgl.<br />
Hans in Glück 'ein Glückspilz'; Halbgötter in Weiß 'Ärzte'; ein Fels in der Brandung 'jm., der<br />
unerschütterlich, unbeirrt ist'; eine Fahrt ins Blaue 'Ausflugsfahrt, bei der das Ziel nicht vorher<br />
festgelegt wurde'; das Tüpfelchen auf dem i 'die letzte, alles abrundende Kleinigkeit'<br />
- Substantiv + Substantiv, vgl.<br />
ein Häufchen Elend/Unglück 'ein sehr unglückliches, in trostlosem Zustand befindliches<br />
Wesen'; ein Funken Hoffnung 'ein/sehr wenig Hoffnung'.<br />
Einige substantivische Phraseme kennen alternative gleichbedeutende substantivische<br />
Komposita; so existieren parallele Benennungen mit der Struktur einer Wortgruppe bzw.<br />
eines komplexen Wortes, vgl.<br />
schwache Stelle / Schwachstelle; schwarzer Markt / Schwarzmarkt; frisches Gemüse /<br />
Frischgemüse; frische Luft / Frischluft,<br />
jedoch ist das eher selten der Fall. So kann man eine derartige durch die Wortbildung<br />
gegebene Möglichkeit bei folgenden Beispielen nicht beobachten, vgl.<br />
Sozialversicherung ≠ soziale Versicherung; Leichtathletik ≠ leichte Athletik; Blindpassagier ≠<br />
blinder Passagier.<br />
Substantivische Phraseme zeichnen sich durch unterschiedliche Grade der Idiomatizität aus:<br />
sie sind vollidiomatisch (der Stein des Anstoßes, das Auge des Gesetzes), teilidiomatisch (eine<br />
Fahrt ins Blaue) oder nichtidiomatisch. Unter den nicht- bzw. schwachidiomatischen<br />
substantivischen Phrasemen finden sich viele Fachtermini, vgl.<br />
spitzer Winkel, arithmetisches Mittel, semiotisches Dreieck, kritischer Rationalismus;<br />
helles/dunkles Bier, grüne Bohnen, rote Rübe etc.<br />
und ebenso onymische Phraseme, also Phraseme, die als Eigennamen fungieren, vgl.<br />
Schwarzes Meer, Bayrischer Wald, Pannonisches Becken.<br />
28
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Dazu kommen noch Kollokationen (belegtes Brötchen, gesammelte Werke, blaues Meer).<br />
2.2.2 Verbale Phraseme<br />
Die verbalen Phraseme kommen im Satz als Prädikat vor. Sie sind zahlenmäßig stark<br />
vertreten und in ihrer formalen Struktur vielfältig. Sie stellen den Kern des phraseologischen<br />
Bestandes aus; nach einigen Zählungen sollten etwa 75 % aller satzgliedwertiger deutscher<br />
Phraseme verbale Phraseme sein (Földes/Kühnert 1990, 16). Der syntaktische Kern ist immer<br />
ein Verb, welches durch Substantiv-/Adjektiv-/Adverbial-/Verbalgruppe erweitert werden<br />
kann. Folgende Strukturmodelle verbaler deutscher Phraseme sind bekannt:<br />
- Substantiv/Substantivgruppe + Verb<br />
die/seine Karten aufdecken 'seine wahren Absichten, Pläne erkennen lassen'; sein blaues<br />
Wunder erleben 'eine große, unangenehme Überraschung erleben'; reinen Tisch machen 'eine<br />
Angelegenheit bereinigen, in Ordnung bringen'; tauben Ohren predigen 'mit seinen<br />
Ermahnungen nichts erreichen'; eine lange Leitung haben 'schwer begreifen';<br />
den Boden unter den Füßen verlieren 'die Existenzgrundlage, den Halt verlieren'; die Katze im<br />
Sack kaufen ‘etw. ungeprüft übernehmen, kaufen'; den Nagel auf den Kopf treffen ‘den<br />
Kernpunkt einer Sache in einer Äußerung treffend erfassen'; ein Haar in der Suppe/in etw.<br />
finden 'an einer sonst guten Sache etwas entdecken, was einem nicht passt, was zu kritisieren<br />
ist';<br />
jm. die Leviten lesen 'jn. wegen eines tadelnswerten Verhaltens gehörig zurechtweisen';<br />
jmdm. einen Bären aufbinden 'jm. etwas Unwahres so erzählen, dass er es glaubt'; jn. unter<br />
die Arme greifen 'jn. in einer Notlage helfen'; etw. aus dem Ärmel schütteln 'etw. mit<br />
Leichtigkeit schaffen, besorgen';<br />
auf seine Kosten kommen ' in seinen Erwartungen zufriedengestellt werden'; von Pontius zu<br />
Pilatus gehen/laufen ‘in einer Angelegenheit viele Wege machen, von einer Stelle zur anderen<br />
gehen'; vom Regen in die Traufe kommen 'aus einer unangenehmen Lage in eine noch<br />
unangenehmere geraten'<br />
- Adjektiv/Adjektiv-/Adverbialgruppe + Verb<br />
langsam schalten ‘schwer begreifen’; zu kurz kommen 'zu wenig berücksichtigt werden,<br />
benachteiligt werden'; fest im Sattel sitzen 'eine sichere, ungefährdete Position inne haben'<br />
- Verb/Verbalgruppe + Verb<br />
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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
baden gehen 'keinen Erfolg mit etw. haben, mit etw. scheitern'; kein Wässerchen trüben<br />
können 'harmlos sein'; die Engel im Himmel singen hören 'von Schmerzen fast umkommen,<br />
starke Schmerzen empfinden'; etw. nicht wahrhaben wollen 'etw. nicht zugestehen, bemerken<br />
wollen'<br />
2.2.3 Adjektivische Phraseme<br />
Die adjektivischen Phraseme sind Phraseme, deren syntaktischer Kern immer ein Adjektiv ist.<br />
Im Deutschen sind sie relativ schwach vertreten; es überwiegen Strukturen mit dem Part. II<br />
bzw. komparative Phraseme und Paarformeln (die Letzteren werden unter Phraseologischen<br />
Sonderstrukturen (Abschnitt 2.3) gesondert besprochen), vgl.<br />
frisch/neu gebacken 'in einer Situation neu'; kurz angebunden 'unfreundlich und abweisend';<br />
schwer/langsam von Begriff 'schwer/langsam auffassen'; dünn/dick gesät 'selten/häufig<br />
vorkommend'; gut/schlecht/knapp bei Kasse 'reichlich/wenig Geld haben';<br />
hungrig wie ein Wolf 'sehr großen Hunger haben'; klar wie Kloßbrühe/dicke Tinte/dicke Suppe<br />
'sich von selbst verstehen, völlig klar sein';<br />
schlicht und einfach 'ganz einfach, ohne Umstände (gesagt)'; ganz und gar 'völlig'.<br />
Beobachtet man ihr Satzvorkommen, so stellt man schnell fest, dass sie in der Verwendung<br />
eingeschränkt sind. Sehr selten kommen sie in der syntaktischen Funktion eines Attributes<br />
vor, vgl.<br />
gut gepolstert 'wohlbeleibt, mit viel Geld': ich kenne eine gut gepolsterte Dame;<br />
viel öfter werden sie nämlich nur prädikativ bzw. adverbial verwendet, vgl.<br />
diese Dame ist gut gepolstert.<br />
Diese syntaktische Gebrauchsrestriktion erschwert die klassifikatorische Unterscheidung<br />
zwischen adjektivischen und adverbialen Phrasemen (was aber auch aus der Morphologie<br />
des Adjektivs bzw. Adverbs bekannt ist).<br />
30
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
2.2.4 Adverbiale Phraseme<br />
Die adverbialen Phraseme sind Phraseme mit der syntaktischen Funktion eines Adverbs; im<br />
Satz treten sie somit als adverbiale Bestimmungen auf. Ihre formalen Strukturen sind<br />
vielfältig, es überwiegen präpositionale Konstruktionen, vgl.<br />
- Präposition + Substantiv<br />
auf Anhieb 'sofort, gleich zu Beginn'; auf Zeit 'befristet'; ohne/von Belang 'von großer/kleiner<br />
Bedeutung; zu Hause 'daheim'; im Handumdrehen 'überraschend schnell, schon im nächsten<br />
Augenblick'; in der Tat 'tatsächlich'; um ein Haar 'fast, beinahe';<br />
- Präposition + attributiv erweitertes Substantiv<br />
mit der linken Hand 'ohne Anstrengung, völlig mühelos'; unter freiem Himmel 'im Freien’; auf<br />
jeden Fall 'unbedingt, ob so oder so'; unter vier Augen '(in Bezug auf ein Gespräch) zu zweit,<br />
im Vertrauen, ohne Zeugen';<br />
- Präposition + Substantiv + Präposition<br />
von Hause aus 1. 'von der Familie her', 2. 'von Natur aus'; von klein auf 'von Kindheit an'; von<br />
Kopf bis Fuß 1. von oben bis unten', 2. 'völlig'<br />
- Präposition + Adverb/Adjektiv<br />
für gewöhnlich 'üblicherweise'; in bar 'in Form von Geldscheinen oder Münzen' ; im Voraus<br />
'schon vorher'.<br />
2.3 Besondere Strukturtypen nominativer Phraseme<br />
Im Folgen werden zwei Strukturtypen nominativer Phraseme dargelegt, die sich durch<br />
syntaktisch-strukturelle und semantisch-pragmatische Besonderheiten auszeichnen; es sind<br />
phraseologische Paarformeln, komparative Phraseme und phraseologische Teilsätze.<br />
31
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
2.3.1 Paarformeln<br />
Syntaktisch-strukturelle Eigenschaften<br />
Paarformeln (auch Zwillingsformeln, phraseologische Wortpaare) haben eine<br />
charakteristische, leicht erkennbare musterhafte formale Struktur. Sie bestehen aus zwei<br />
(seltener aus drei oder vier) Komponenten, die entweder identische Lexeme oder Lexeme<br />
der gleichen Wortart sind. Miteinander verbunden werden diese in der Regel durch<br />
Konjunktionen (und, aber, oder) bzw. Präpositionen (weder – noch, von – zu, von – auf) oder<br />
durch deren Kombination (in der geschriebenen Sprache vereinzelt auch durch die<br />
orthographischen Zeichen – Kommata bzw. Bindestrich), vgl.<br />
frank und frei 'geradeheraus, offen'; Lug und Trug 'Betrug, Täuschung'; klein, aber fein 'klein,<br />
aber sehr gut'; früher oder später 'zwangsläufig irgendwann einmal'; weder Fisch noch Fleisch<br />
'nicht zu bestimmen, nicht einzuordnen sein; nichts Eindeutiges sein'; von Zeit zu Zeit<br />
'manchmal'; von heute auf morgen 'sehr schnell, innerhalb kurzer Zeit', 2. 'ganz überraschend,<br />
ohne dass man darauf vorbereitet ist'; auf Schritt und Tritt 1. 'überall', 2. 'ständig';<br />
wennschon, dennschon/wennschon – dennschon 'wenn etwas schon getan wird, dann soll es<br />
auch richtig, gründlich getan werden'.<br />
Darüber hinaus kennt das Deutsche auch einige Drillingsformeln bzw. Vierlingsformeln, d.h.<br />
phraseologische Strukturen mit drei bzw. vier wortartidentischen Komponenten, vgl.<br />
heimlich, still und leise 'völlig unbemerkt'; frisch, fromm, fröhlich, frei 'sorglos, unbekümmert'.<br />
Phraseologische Wortpaare, die im Deutschen vielfach belegt sind, findet man im<br />
substantivischen, verbalen, adjektivischen und adverbialen Bereich, vgl.<br />
- substantivische Wortpaare<br />
das Hab und Gut 'alles, was man besitzt'; js. Tun und Lassen/Treiben/Trachten 'alles, was jmd.<br />
tut'; das Für und Wider 'das, was dafür und das, was dagegen spricht'; Groß und Klein<br />
'jedermann, alle'<br />
- verbale Wortpaare<br />
32
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
hegen und pflegen 1. 'mit liebevoller Fürsorge umgeben', 2. 'sich in besonderer Weise<br />
bemühen, etw. aufrechtzuerhalten'; es/etw. drehen und wenden 'etw. von jedem nur<br />
denkbaren Blickpunkt aus betrachten'; bitten und betteln 'inständig bitten'<br />
- adjektivische bzw. adverbiale Wortpaare<br />
null und nichtig '(rechtlich) ungültig'; kurz und bündig 'ohne Umschweife, mit wenigen<br />
treffenden Worten'; weit und breit 'in der ganzen Umgebung'; hin und wieder 'manchmal';<br />
schwarz auf weiß 'gedruckt, schriftlich'; mit Ach und Krach 'mit Mühe und Not, gerade noch,<br />
unter großen Schwierigkeiten'; mit Sack und Pack 'mit allem, was man besitzt'; bei Nacht und<br />
Nebel 'heimlich (bei Nacht)'; seit eh und je 'solange man denken kann, sich erinnern kann';<br />
weder Fisch noch Fleisch 'nicht zu bestimmen, nicht einzuordnen sein; nichts Eindeutiges sein';<br />
von Zeit zu Zeit 'manchmal'; früher oder später 'zwangsläufig irgendwann einmal'; mehr oder<br />
minder/weniger 'fast ohne Ausnahme'; von heute auf morgen 1. 'sehr schnell, innerhalb<br />
kurzer Zeit', 2. ganz überraschend, ohne dass man darauf vorbereitet ist'.<br />
Ebenso möglich ist, dass Wortpaare als Bestandteile anderer, etwa verbaler Phraseme<br />
vorkommen. In solchen Fällen ist eine klare morphologisch-syntaktische Festlegung wegen<br />
der nur fakultativen verbalen Komponente erschwert, weswegen mit zweifachen<br />
Zuordnungen zu rechnen ist, vgl.<br />
von Mund zu Mund gehen 'durch Weitererzählen verbreitet werden'; jm. etw. hoch und heilig<br />
versprechen/beteuern (o. Ä.) 'jm. etw. mit allem Nachdruck versprechen/beteuern (o. Ä.)';<br />
etw. unter Dach und Fach bringen 'etw. glücklich zum Abschluss bringen'; in Saus und Braus<br />
leben 'ein üppiges, verschwenderisches Leben führen'.<br />
Der Gebrauch von adjektivischen Wortpaaren ist syntaktisch beschränkt; sie werden meist<br />
nur adverbial bzw. prädikativ verwendet, vgl.<br />
Er ist fix und fertig vs. *Ich kenne diesen fix und fertigen Studenten nicht.<br />
Die Einschränkung gilt noch insbesondere für substantivische Wortpaare, die in der Regel<br />
nur als Präpositionalgruppen attributiv zum Verb verwendet werden, vgl.<br />
so auch<br />
Er hat auf Leben und Tod gekämpft 'bis zum Äußersten, bis zur Vernichtung';<br />
zwischen Tür und Angel 'eilig, nur flüchtig zusammentreffend'; mit Ach und Krach 'mit Mühe,<br />
gerade noch'; mit Haut und Haar(en) 'gänzlich, völlig' (ist/geschieht etw.); in Hülle und Fülle<br />
33
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
'sehr viel, im Überfluss' (ist etw. vorhanden); unter Dach und Fach 'glücklich, erfolgreich<br />
abgeschlossen' (ist etw.).<br />
Semantisch-pragmatische Eigenschaften<br />
Die Paarformeln weisen einige typische semantisch-pragmatische Eigenschaften auf:<br />
- zwei (oder mehrere) Komponenten der gleichen Wortart sind zueinander oft (quasi)<br />
synonym oder semantisch eng verwandt; meist werden sie mit der gleichordnenden<br />
Konjunktion und verbunden, vgl.<br />
Lug und Trug, null und nichtig, mit Ach und Krach, seit eh und je<br />
- die Paar-Komponenten stehen gegebenenfalls aber auch in einem antonymen<br />
Verhältnis zueinander, vgl.<br />
Freund und Feind 'jedermann'; das Wohl und Wehe 'das Wohlergehen, Schicksal'<br />
- schließlich nimmt Donalies (2009, 70f.) Verbindungen von assoziativ ähnlichen<br />
Begriffen an, vgl.<br />
Tod und Teufel 'Fluch'; Land und Leute 'das Land, die Region und ihre Bewohner, ihre Sitten<br />
und Gebräuche'.<br />
Eine weitere Eigenschaft vieler Wortpaare sind rhythmische Reimstrukturen. Hierbei werden<br />
im Wesentlichen folgende unterschieden:<br />
- Wortpaare mit Stabreim (Gleichheit der Anfangslaute), vgl.<br />
mit Mann und Maus 1. 'ohne dass jemand gerettet wird', 2. 'mit allen verfügbaren Kräften';<br />
Geld und Gut 'alles, was man besitzt'; in Samt und Seide 'in auffallend kostbarer Kleidung'<br />
- Wortpaare mit Endreim (Gleichklang am Wortende), vgl.<br />
Lug und Trug ' Betrug, Täuschung'; außer Rand und Band 1. 'übermütig, ausgelassen', 2.<br />
'außer Kontrolle'<br />
- Wortpaare mit Stab- und Endreim zugleich, vgl.<br />
34
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Freund und Feind 'jedermann'<br />
- Wortpaare mit Assonanz (vokalischer Halbreim), vgl.<br />
kurz und gut 'zusammenfassend gesagt'.<br />
Auffällige Kombinationen von oft gereimten Komponenten der phraseologischen Wortpaare<br />
und Drillings- bzw. Vierlingsformeln lassen die Annahme der Expressivität und verstärkten<br />
Bildhaftigkeit zu, aufgrund deren wir solche Phraseme als stilistisch markiert empfinden. Vor<br />
allem eine intensivierende Funktion ist in vielen Fällen nachvollziehbar.<br />
2.3.2 Komparative Phraseme<br />
Komparative Phraseme (auch phraseologische Vergleiche) sind Phraseme, die, wie der<br />
Name sagt, einen Vergleich versprachlichen, vgl.<br />
lügen wie gedruckt 'hemmungslos lügen'; zittern wie Espenlaub '(vor Kälte, Angst) sehr<br />
zittern'; sich (wohl)fühlen wie ein Fisch im Wasser/wie die Made im Speck 'sich sehr<br />
wohlfühlen'; laufen wie geschmiert 'reibungslos funktionieren, sehr gut verlaufen'; es ist, um<br />
auf die Bäume zu klettern 'es ist nicht mehr auszuhalten, es ist zu verzweifeln'.<br />
Gebildet werden sie nach einem sehr produktiven Muster, denn nicht nur in deutscher<br />
Sprache sind solche Phraseme zahlreich. Zugrunde liegt ein leicht nachvollziehbares logischsemantisches<br />
Konzept: es sind Ausdrücke, »bei /denen/ etwas mit etwas aus einem anderen<br />
(gegenständlichen) Bereich im Hinblick auf ein beiden Gemeinsames in Beziehung gesetzt<br />
und dadurch eindringlich veranschaulicht wird« (Földes 2007, 426).<br />
Komparative Phraseme gehören meist zur Klasse der teilidiomatischen verbalen Phraseme,<br />
man findet sie aber auch im adjektivischen, adverbialen und substantivischen Bereich.<br />
35
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Syntaktisch-strukturelle Eigenschaften<br />
Die typische syntaktische Struktur komparativer Phraseme besteht in der Regel aus drei<br />
Elementen: aus Vergleichsobjekt (das, was verglichen wird; comparandum), aus tertium<br />
comparationis (gemeinsames Merkmal des comparandum und comparatum) und aus<br />
Vergleichsmaß (comparatum). Als Verbindugselement kommt eine Vergleichspartikel vor<br />
(im Deutschen überwiegend wie, jedoch auch als, als ob). Die wichtigsten Strukturmodelle<br />
der deutschen komparativen Phraseme sind:<br />
- Verb/Adjektiv/Adverb + wie + (erweitertes) Substantiv<br />
(aussehen) wie eine gebadete Maus 'völlig durchnässt'; (dastehen) wie ein begossener Pudel<br />
'nach einer Zurechtweisung o. Ä. nichts mehr zu sagen wissen';<br />
frech/stolz wie Oskar 'sehr frech und unbekümmert, sehr stolz'; alt wie Methusalem 'sehr alt';<br />
dumm wie Bohnenstroh/wie die Nacht 'sehr dumm'; gesund wie ein Fisch im Wasser 'völlig<br />
gesund'<br />
- Verb + wie + (erweitertes) Partizip<br />
lügen wie gedruckt 'hemmungslos lügen'; aussehen wie geleckt 1. 'sehr sauber aussehen' , 2.<br />
'sehr sorgfältig gekleidet sein'; antworten wie aus der Pistole geschossen 'prompt, ohne<br />
Zögern antworten'; aufspringen wie von der Tarantel gestochen 'plötzlich und überaus heftig<br />
aufspringen'<br />
- Verb/Adjektiv/Adverb + wie + Satz<br />
reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist 'freiheraus, ungeniert reden'<br />
- Substantiv + wie + Vergleich<br />
ein Mensch wie du und ich 'ein ganz normaler, durchschnittlicher Mensch'; Zustände wie im<br />
alten Rom 'unmögliche, unhaltbare Zustände'<br />
- Verb/Adjektiv/Adverb + verschiedene Strukturen<br />
dümmer (sein), als die Polizei erlaubt 'sehr dumm (sein)'; so still (sein), dass man eine<br />
Stecknadel (zu Boden/zu Erde) fallen hören kann/könnte 'absolut still (sein)'; es ist, um auf die<br />
Bäume zu klettern 'es ist nicht mehr auszuhalten, es ist zu verzweifeln'.<br />
36
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Im verbalen Bereich ist im Deutschen eine variable Reihenfolge im Prinzip möglich, vgl.<br />
dastehen wie ein begossener Pudel bzw. wie ein begossener Pudel dastehen,<br />
im Sprachgebrauch überwiegt jedoch die Nachstellung des Vergleichsobjektes, also<br />
dastehen wie ein begossener Pudel.<br />
Die meist gebrauchten Verben bei deutschen komparativen Phrasemen sind (aus)sehen,<br />
(da)sitzen, (da)stehen, schlafen, gehen, reden – man sieht, dass sie alle sich auf<br />
grundlegende menschliche Aktivitäten beziehen; samt dem kognitiv immanenten Bedürfnis<br />
des Menschen, die Welt um sich herum durch Vergleich zu ordnen und systematisieren mag<br />
das ein wesentlicher Grund für die Vielzahl und Vielfältigkeit solcher Phraseme in vielen<br />
Sprachen sein (vgl. Földes 2007, 426f.).<br />
Semantisch-pragmatische Eigenschaften<br />
Die wichtigste semantisch-pragmatische Eigenschaft und somit Funktion komparativer<br />
Phraseme besteht darin, etwas (eine Handlung, einen Zustand, körperliche und psychische<br />
Eigenschaften u. Ä.) mit Hilfe eines Vergleichsmaßstabes darzustellen, vgl.<br />
singen wie eine Nachtigall 'sehr schön, meisterhaft singen' (Handlung)<br />
frieren wie ein junger Hund 'sehr frieren' (Zustand)<br />
aussehen wie aus dem Ei gepellt 'sehr sorgfältig gekleidet sein' (körperliche Eigenschaft)<br />
sich wie neugeboren fühlen 'sich prächtig erholt fühlen' (psychische Eigenschaft).<br />
Der Vergleich erfolgt in der Regel anhand konventionaler Vorstellungen über die typischen<br />
Eigenschaften von Tieren, Pflanzen, Gegenständen, Umständen u. Ä. Die vergleichende<br />
Darstellung kann intensivierende, expressive, spezifizierende, differenzierende Züge tragen,<br />
vgl.<br />
(stark u.Ä.) wie ein Bär 'in auffallend hohem Maß, sehr' (intensivierend)<br />
37
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
dümmer als die Polizei erlaubt 'sehr dumm' (intensivierend-expressiv)<br />
antworten wie aus der Pistole geschossen 'prompt, ohne Zögern' (spezifizierenddifferenzierend);<br />
sie kann aber auch kulturspezifisch markiert sein. So kommt es vor, dass zwischen einem<br />
Vergleichsobjekt und einem Vergleichsmaß unterschiedliche Gemeinsamkeiten (tertia<br />
comparationis) festgelegt werden, vgl. Phraseme mit der Vergleichsgröße Fisch (zit. nach<br />
Burger 2010, 47):<br />
stumm wie ein Fisch, kalt wie ein Fisch, sich wohlfühlen wie ein Fisch im Wasser.<br />
Bei komparativen Phrasemen beobachten wir oft eine starke Variabilität der<br />
Vergleichsgrößen, was kulturell bedingt sein kann, vgl.<br />
von etw. so viel verstehen wie der Hahn vom Eierlegen/wie die Kuh vom Radfahren/wie die<br />
Kuh vom Sonntag/wie die Kuh vom Schachspielen 'gar nichts von etw. verstehen'.<br />
Vereinzelt sind komparative Phraseme auch polysem, meist in einer antonymen Hinsicht,<br />
vgl.<br />
passen wie die Faust aufs Auge 1. 'überhaupt nicht passen', 2. 'sehr gut, ganz genau passen'.<br />
Die gegensätzlichen Bedeutungen können zweierlei interpretiert werden: entweder hat man<br />
es »mit der ambivalenten Natur der menschlichen Psyche und der Denkweise zu tun, /…/ ein<br />
und dasselbe Verhalten /.../ sowohl positiv als auch negativ zu deuten« oder es geht um<br />
sprachgeschichtliche Gründe, wonach Folgendes gilt: »wenn eine der Bedeutungen später<br />
hinzugekommen ist, kann sich durch häufigen ironischen Gebrauch der ersten,<br />
ursprünglichen Bedeutung, die neue, gegenteilige herausbilden«(Földes 2007, 428).<br />
2.3.3 Phraseologische Teilsätze<br />
Phraseologische Teilsätze (phraseologischer Teilsatz) sind Phraseme mit<br />
Nebensatzstruktur, die durch ein bestimmtes Verb (welches die obligatorische<br />
Phrasemkomponente ist) in komplexere Satzstrukturen eingeordnet werden, vgl.<br />
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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
wissen, wo Barthel den Most holt 'alle Kniffe kennen'<br />
wissen/sagen (o.Ä.), wo jm./jn. der Schuh drückt 'js. Sorgen, Nöte kennen'<br />
nicht (mehr) wissen, wo einem der Kopf steht 'durch Arbeit, Sorgen o.Ä. überlastet sein'<br />
wissen/sehen/fragen/jm. zeigen (o.Ä.), wie der Hase läuft 'wissen, jm. zeigen, wie etw.<br />
gemacht wird, damit es die gewünschte Wirkung, den gewünschten Erfolg erzielt'.<br />
Diese relativ kleine Gruppe der phraseologischen Sonderstrukturen weist einen hohen Grad<br />
der grammatischen Variabilität auf; der Nebensatz wechselt leicht seinen grammatischen<br />
Status, vgl. die Aussage<br />
So also läuft der Hase!,<br />
die durchaus denkbar ist.<br />
Weiterführende Literatur<br />
Zu den hier besprochenen Fragen zur Klassifikation der vielfältigen phraseologischen<br />
Konstruktionen finden sie weitere Informationen in den grundlegenden Referenzwerken zur<br />
<strong>Phraseologie</strong>, u.a. Palm (1997), Földes (2007), Donalies (2009) und Burger (2010).<br />
39
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
3 Sprichwörter<br />
INHALT UND ZIELE<br />
Das Thema dieses Kapitels sind Sprichwörter. Es wird dargelegt, was Sprichwörter sind und<br />
welche typischen Eigenschaften sie haben. Dieser Teil des Kompendiums ist nicht gänzlich<br />
auf einzelne Sprachen, hier auf die deutsche Sprache, ausgerichtet, obgleich mit zahlreichen<br />
deutschsprachigen Beispielen belegt; manche Erläuterungen gelten nämlich für Sprichwörter<br />
allgemein und so z.B. auch für slowenische Sprichwörter.<br />
Nach einer aufmerksamen Lektüre dieses Kapitels werden sie wissen, was Sprichwörter sind,<br />
welche typischen Eigenschaften sie haben, wie sie sich von andersartigen aber ähnlichen<br />
satzwertigen Phrasemen unterscheiden und wie sie typischerweise im gegenwärtigen<br />
Sprachgebrauch vorkommen.<br />
3.1 Begriff und Hauptmerkmale<br />
In Abschnitt 2.1 haben wir gesehen, dass Sprichwörter zur Klasse der propositionalen<br />
nominativen Phraseme gezählt werden; sie sind satzwertige Aussagen über Objekte,<br />
Vorgänge, Begriffe u. Ä. Aus kulturhistorischer Sicht werden sie folgendermaßen definiert:<br />
»Sprichwörter sind allgemein bekannte, festgeprägte Sätze, die eine Lebensregel oder<br />
Weisheit in prägnanter, kurzer Form ausdrücken« (Röhrich/Mieder 1977).<br />
Sprichwörter vermitteln also historisch- und erfahrungsbedingte »Weisheiten«; sie sind im<br />
Allgemeinen lehrhafte bzw. generalisierende Aussagen über traditionelle und<br />
gesellschaftlich anerkannte Ansichten, Meinungen, Urteile, Vorurteile, Regeln, Warnungen,<br />
Ratschläge, Verbote u. Ä.<br />
Der Name Sprichwort (Sprichwort) ist im deutschsprachigen Raum in der Bedeutung<br />
'vielgesprochenes Wort' seit dem 13. Jh. geläufig. Vor allem in der Volkskunde (Ethnologie)<br />
40
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
sind Sprichwörter seit langem ein beliebtes Forschungsthema; in der letzten Zeit werden sie<br />
aber auch aus der sprachwissenschaftlichen Perspektive intensiv untersucht Die<br />
Sprachwissenschaft zählt Sprichwörter zum phraseologischen Bestand einer Sprache und<br />
somit zur <strong>Phraseologie</strong> im weiteren Sinn (vgl. hierzu den Abschnitt 1.1). Die<br />
Sprachwissenschaft untersucht formalstrukturelle, semantische und pragmatische<br />
Eigenschaften von Sprichwörtern, geklärt werden Fragen zu ihrer lexikographischen<br />
Erfassung (Phraseographie) und ebenso Fragen zu ihrer Vermittlung in Prozessen des<br />
Sprachenlernens und -lehrens (Phraseodidaktik).<br />
So soll die Feststellung nicht überrraschen, dass eine einheitliche Definition dessen, was<br />
Sprichwörter sind, nicht vorliegt (und auch nicht vorliegen kann). Die jeweilige Definition ist<br />
nämlich immer von Forschungsansätzen abhängig; diese gehen von verschiedenartigen (und<br />
nicht immer gleichen) Sprichwortmerkmalen aus und je nach der Forschungsperspektive<br />
variiert auch die jeweilige Definition. Das obige Zitat von Röhrich/Mieder stellt somit eine<br />
kulturhistorische Sprichwortdefinition dar, während die Sprachwissenschft Sprichwörter als<br />
satzwertige, idiomatische und sprechaktunspezifische Mehrworteinheiten versteht (Ďurčo<br />
2005, 32). Donalies (2009) benennt sie mit dem Ausdruck Satzphrasem, Burger (2010)<br />
dagegen auch mit dem Ausdruck propositionale Mehrworteinheit. Im Folgenden werden die<br />
Hauptmerkmale der Sprichwörter in ihren Wesenszügen erläutert.<br />
3.2 Hauptmerkmale<br />
Im allgemeinen Verständnis weist ein Sprichwort folgende linguistischen Hauptmerkmale<br />
auf:<br />
- Polylexikalität und Satzwertigkeit<br />
- Stabilität<br />
- Idiomatizität.<br />
41
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Dazu kommen die Unbekanntheit der Quelle und die allgemeine Bekanntheit innnerhalb<br />
einer Sprachgemeinschaft. So kann man für das Sprichwort Die Zeit heilt alle Wunden<br />
('irgendwann vergeht jeder Schmerz, ist jede Enttäuschung überwunden') sagen, dass es sich<br />
um einen festgeprägten, kurzen und prägnanten Satz unbekannter Herkunft handelt, der auf<br />
eine bildhaft-metaphorische Art eine verallgemeinerte »Weisheit« vermittelt und unter den<br />
muttersprachlichen Sprechern des Deutschen als allgemein bekannt gehalten werden kann.<br />
Wir kennen jedoch auch andersartige festgeprägte Satzkonstruktionen, die dem Sprichwort<br />
zwar ähnlich, mit ihm aber nicht einfach gleichzusetzen sind, weil sie teilweise verschiedene<br />
Charakteristika aufweisen. Diese sprichwortähnlichen Konstruktionen sind unter Anderem<br />
Sentenzen, geflügelte Worte, Aphorismen, Maximen und Epigramme. Von den Sprichwörtern<br />
unterscheiden sie sich hauptsächlich durch die Bekanntheit der Quelle. Wenn diese aber<br />
durch die Häufigkeit des Vorkommens verblasst und bei den Sprechern sogar nicht mehr<br />
bekannt ist, so treten sie leicht zu den Sprichwörtern über. Die wesentlichen Eigenschaften<br />
von Sentenzen, geflügelten Worten, Aphorismen, Maximen und Epigrammen werden in<br />
Abschnitt 3.8 kurz skizziert.<br />
Legen wir nun die Hauptmerkmale eines Sprichwortes unter Perspektive der linguistischen<br />
<strong>Phraseologie</strong>forschung fest.<br />
3.2.1 Polylexikalität und Satzwertigkeit<br />
Das Merkmal der Polylexikalität und Satzwertigkeit meint, dass Sprichwörter aus mehreren<br />
Wörtern (Lexemen) bestehende satzwertige Konstruktionen sind. Sie sind satzwertige<br />
Mehrworteinheiten des Lexikons einer Sprache, sie gelten als in sich geschlossene Sätze, die<br />
»durch kein lexikalisches Element an den Kontext angeschlossen werden müssen« (Burger<br />
2010, 106). Man meint dazu auch, dass sie als selbständige Mikrotexte aufgefasst werden<br />
können. Das heißt, dass sie im Gedächtnis als syntaktische und semantische Einheiten<br />
gespeichert werden, bei Bedarf (beim Sprechen und/oder Schreiben) ganzheitlich abgerufen<br />
werden und dazu auch außerhalb eines konkreten Textes/Kontextes verstanden werden<br />
können. (Näheres zur Form der deutschen Sprichwörter finden sie in Abschnitt 1.1.3).<br />
42
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
3.2.2 Stabilität<br />
Das Merkmal der Stabilität (Festigkeit) bezieht sich grundsätzlich auf die angenommen feste,<br />
unveränderbare Form und Bedeutung eines Sprichworts. Mit dieser Eigenschaft eng<br />
verbunden ist die sprichworteigene Modellhaftigkeit. Die linguistisch ausgerichtete<br />
(germanistische) Parömiologie konnte nämlich feststellen, dass Sprichwörter weitgehend<br />
nach syntaktischen Mustern und inhaltlichen Benennungsmodellen gebildet werden, was die<br />
Stabilität entschärft und zu Varianten und Modifikationen führt. (Näheres zur<br />
Modellhaftigkeit und Variabilität der deutschen Sprichwörter finden sie in Abschnitt 3.3).<br />
3.2.3 Idiomatizität<br />
Sprichwörter sind idiomatische satzwertige Mehrworteinheiten. Das Merkmal der<br />
Idiomatizität betrifft »den Grad der (Nicht-)-Ableitbarkeit der idiomatischen Bedeutung aus<br />
der Bedeutung einzelner Bestandteile« (Ďurčo 2005, 17). (Näheres zur Idiomatizität als<br />
Grundmerkmal der <strong>Phraseologie</strong> finden sie in Abschnitt 1.1.3).<br />
Die Bedeutung des Sprichworts lässt sich also nicht von der Bedeutung einzelner<br />
Bestandteile ableiten bzw. einzelne oder sogar alle Sprichwort-Komponenten verletzen die<br />
übliche und erwartbare Wortkombinatorik. Die Idiomatizität ist eine graduell ausgeprägte<br />
Eigenschaft, aufgrund deren wir über voll- bzw. teilidiomatische Sprichwörter reden können,<br />
vgl.<br />
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm (vollidiomatisch)<br />
Ende gut, alles gut (teilidiomatisch).<br />
Sprichwörter werden somit als generalisierende Satzmetaphern verstanden. Wendet man<br />
sie auf konkrete Situationen, so dienen sie dazu, diese zu erleuchten, zu erklären, zu<br />
illustrieren, zu argumentieren, zu rechtfertigen u. Ä. Man spricht hierbei über folgende<br />
Sprichwort-Charakteristika:<br />
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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
- Polysituativität (ein und dasselbe Sprichwort ist in Bezug auf verschiedene<br />
Situationen anwendbar)<br />
- Polyfunktionalität (ein und dasselbe Sprichwort kann mehrere verschiedene<br />
Funktionen ausüben)<br />
- Polysemantizität (ein und dasselbe Sprichwort weist eine Art semantische<br />
Unbestimmtheit auf)<br />
- Polythematizität (ein und dasselbe Sprichwort kann auf sehr verschiedene Umstände<br />
bezogen werden).<br />
3.3 Formen<br />
Wie oben gesagt, gehören Sprichwörter zur Gruppe der satzwertigen Phraseme. Der<br />
syntaktischen Form nach sind (deutsche) Sprichwörter:<br />
- syntaktisch vollständige Sätze, Satzreihen bzw. Satzgefüge; sie enhalten ein finites<br />
Verb und valenzbedingte Ergänzungen, sie sind einfache Sätze bzw. koordinative/<br />
subordinative Satzverbindungen, vgl.<br />
Aller Anfang ist schwer (einfacher Satz)<br />
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold (Satzreihe)<br />
Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte (Satzgefüge)<br />
- syntaktisch unvollständige Sätze (elliptische Sätze bzw. Satzverbindungen); sie<br />
enthalten kein finites Verb, vgl.<br />
Aus dem Augen, aus dem Sinn<br />
Wie du mir, so ich dir<br />
Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.<br />
44
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Den überwiegenden Teil des deutschen Sprichwortbestandes machen Sprichwörter mit der<br />
einfachen Aussagesatzstruktur aus. Sprichwörter in Form von Fragesätzen bzw.<br />
Ausrufesätzen mit imperativischer Verform sind eher selten, vgl.<br />
Eile mit Weile<br />
Lege nicht alle Eier in einen Korb<br />
Woher nehmen und nicht stehlen?<br />
Häufig sind Satzstrukturen mit Modalverben (sollen, dürfen, müssen), diese kommen oft in<br />
Kombination mit dem Indefinitpronomen man vor, vgl.<br />
Man lernt nie aus<br />
Man soll den Tag nicht vor dem Tag loben<br />
Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist.<br />
Sprichwörter sind hinsichtlich ihrer idiomatischen Inhalte generalisierende, eine Art<br />
generische Sätze. Diese semantische Eigenschaft ist auch grammatisch erkennbar, unter<br />
Anderem an dem so genannten gnomischen Präsens (Lüger 1999), welches zum Ausdruck<br />
des Allgemeingültigen und des Stereotypen verwendet wird. So ist das Sprichwort Hunde,<br />
die bellen, beißen nicht interpretierbar als 'alle Hunde, die bellen, beißen nicht'.<br />
In den Texten werden Sprichwörter nicht selten durch deutlich erkennbare Stilfiguren<br />
markiert. So kennen wir<br />
- Sprichwörter mit Binnenreim, vgl.<br />
Eile mit Weile; Borgen macht Sorgen<br />
- Sprichwörter mit Endreim, vgl.<br />
Ohne Fleiß kein Preis; Mit Geduld und Spucke fängt man jede Mucke<br />
- Sprichwörter mit Stabreim (Alliteration), vgl.<br />
45
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Gleich und gleich gesellt sich gern<br />
- Parallelismus, vgl.<br />
Kommt Zeit, kommt Rat; Aussen hui, innen pfui.<br />
Eine weitere bedeutende Eigenschaft der Sprichwötrer ist ihre Modellhaftigkeit. Sie folgen<br />
nämlich weitgehend syntaktischen Modellstrukturen und inhaltlichen Benennungsmodellen.<br />
So konnten für das Deutsche mehrere strukturelle und inhaltliche Modelle ermittelt werden<br />
(Röhrich/Mieder 1977, 61f.). Sie reichen von den einfachen bis zu den komplexen<br />
Satzkonstruktionen, auf deren Grundlage Reihen von formal vergleichbaren sprichwörtlichen<br />
Strukturen gebildet werden, vgl.<br />
- A ist A<br />
Geschäft ist Geschäft; Sicher ist sicher<br />
- A ist B<br />
Zeit ist Geld; Träume sind Schäume<br />
- ohne A kein B<br />
Ohne Fleiß kein Preis; Kein Haus ohne Maus<br />
- lieber/besser A als B<br />
Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach; Besser spät als nie<br />
- wie A so B<br />
Wie der Vater, so der Sohn<br />
- wie man A, so man B<br />
Wie man sich bettet, so liegt man; Wie man plant, so fährt man) usw.<br />
46
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Auch inhaltlich ist bei vielen Sprichwörtern Modell- bzw. Musterhaftigkeit erkennbar. Es geht<br />
um abstrakte Benennungsmodelle, um die so genannten All-Sätze, auf denen konkrete<br />
Sprichwörter basieren, vgl.<br />
- man soll eine Sache tun, solange es nicht zu spät dazu ist<br />
Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist; Forme aus dem Lehm, solange es feucht<br />
ist<br />
- wie die Aktion, so die Reaktion<br />
Wie man sich bettet, so liegt man<br />
- wie der Erzeuger, so das Erzeugte<br />
Wie der Vater, so der Sohn usw.<br />
Das Merkmal der musterhaften Modellhaftigkeit drängt nahezu zur Bildung von Varianten<br />
und Modifikationen. Die Variabilität (Variabilität) ist somit eine weitere bedeutende<br />
Eigenschaft von Sprichwörtern; variable Sprichwortformen sind Sprichwortvarianten<br />
(Variante). Man unterschidet dabei zwischen quantitativer und quantitativer Variabilität.<br />
Quantitative Varianten sind etwa gekürzte bzw. erweiterte Sprichwortstrukturen; die<br />
Variabilität besteht also im Umfang der Sprichwortkomponenten, vgl.<br />
Alles hat ein Ende/Alles hat einmal ein Ende vs. Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.<br />
Qualitative Varianten sind dagegen grammatisch bzw. lexikalisch bedingte Änderungen der<br />
sprichwörtlichen Ausgangsform. So sind einzelne Sprichwortkomponenten austauschbar, vgl.<br />
Stille Wasser sind tief/ Stille Wasser gründen tief<br />
oder einzelne Sprichwortkomponenten variieren in morphologischer Hinsicht, vgl.<br />
Ausnahmen bestätigen die Regel/Die Ausnahme bestätigt die Regel.<br />
47
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Bei manchen Sprichwörtern beobachtet man zum Teil offene Modellstrukturen, die als<br />
Muster gelten und dem Kontext entsprechend gefüllt werden können. So lässt die usuelle,<br />
„kanonische“ Sprichwortform Das Geld regiert die Welt zwei zum Teil offene<br />
Modellstrukturen zu: X regiert die Welt und Das Geld regiert X. Vgl. die Verwendung im<br />
Text:<br />
König Fußball regiert die Welt, und Deutschland erlebt wieder ein Sommermärchen. Die<br />
Euphorie, die die Nation vor allem nach dem Einzug der deutschen Nationalmannschaft ins<br />
Halbfinale ergriffen hat, ist bis in den Deutschen Bundestag spürbar. (SprichWort 2010)<br />
Das Setting selbst ist natürlich nicht partikular deutsch, sondern universal. Das Geld regiert<br />
die Politik - das gab und gibt es überall und immer. (SprichWort 2010)<br />
Gelegentliche bzw. einmalige Sprichwortvarianten werden<br />
Sprichwortmodifikationen<br />
genannt (Modifikation). Es handelt sich um gelegentliche, einmalige, innovative<br />
Abwandlungen bestehender Sprichwörter, die in einem konkreten Text besondere<br />
stilistische Wirkungen haben und in den meisten Fällen einem spielerisch-kreativen Umgang<br />
mit der Sprache dienen, vgl.<br />
Stetter Tropfen höhlt die Leber; Reden ist Schweigen, Silber ist Gold; Viele Köche verderben<br />
die Köchin; Erst die Freizeit, dann das Vergnügen.<br />
Die stilistisch-pragmatische Wirkung kommt jedoch nur dann zum Tragen, wenn das<br />
grundlegende Sprichwort vom Leser bzw. Hörer erkannt wird, also<br />
Stetter Tropfen höhlt den Stein; Reden ist Silber, Schweigen ist Gold; Viele Köche verderben<br />
den Brei; Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.<br />
Die sprichworteigene Variabilität wird darüber hinaus durch ihr grammatisch bedingtes<br />
syntaktisches Umwandlungspotential beeinflusst. Das bedeutet, dass Sprichwörter noch<br />
längst nicht nur als völlig feste, unveränderbare satzwertige Zitate in den Texten<br />
vorkommen; sie verfügen nämlich über die Fähigkeit, sich syntaktisch-syntagmatisch an die<br />
jeweilige texutuelle Umgebung anzupassen und kommen somit grammatisch entsprechend<br />
eingebettet vor.<br />
48
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Die syntaktische Umwandlungsfähigkeit (Transformation) ist vielfältig; verstärkt zeigt sie sich<br />
als Konversionsfähigkeit (Übergänge zu nichtsatzwertigen Phrasemen und umgekehrt), vgl.<br />
Die Niederlage in Salzburg? Abgehakt! Aber nicht vergessen. Das Hagebau Team Tirol<br />
träumte vor dem heutigen dritten Kampf gegen Salzburg von süßer Rache. (SprichWort 2010)<br />
oder als syntaktisch-syntagmatische Transformation, etwa als Passiv- od.<br />
Imperativumwandlung bzw. häufige Verwendung mit Modalverb oder als Relativsatz, vgl.<br />
Nach 22 Jahren Vorstandsarbeit, davon 16 Jahre im Amt des Vorsitzenden, hat Wolfgang<br />
Müller nicht mehr für den Posten des Vorsitzenden der Bibliser Feuerwehr kandidiert. "Es hat<br />
sich in den letzten Jahren gezeigt, dass man nicht gleichzeitig auf zwei Hochzeiten tanzen<br />
kann", [...] Die Belastung seines Amtes als Kreisbrandinspektor stelle erhöhte Anforderungen<br />
an ihn, sodass er sich außerstande sehe, so für den Verein zu arbeiten, "wie ich es eigentlich<br />
möchte." (SprichWort 2010)<br />
Die Möglichkeit des variablen Umgangs mit den Sprichwortformen wird bei den Sprechern<br />
oft wahrgenommen; insbesondere gilt das für textuelle Kontexte bzw. Textsorten, in denen<br />
das Variabilitätspotential zu den jeweils aktuellen textuellen Funktionen und<br />
Sprecherintentionen gewinnbringend beiträgt, unter Anderem in Werbungstexten,<br />
Schlagzeilen und Titeln. Dies mag daran liegen, dass Sprichwörter zu indirekten, verhüllten<br />
Aussagen tendieren (Röhrich/Mieder, 1977), was den Spielraum für einen kreativspielerischen<br />
Umgang öffnet, vgl.<br />
»Ein Zwilling kommt selten allein«. Die romantische Familienkomödie mit Witz und Tempo!<br />
Eine Neuverfilmung von Erich Kästners Kinderbuchklassiker »Das doppelte Lottchen«.<br />
(SprichWort 2010)<br />
3.4 Funktionen<br />
Wie wir oben gesehen haben, besteht eine wesentliche Funktion von Sprichwörtern darin,<br />
dass sie verschiedene Inhalte generalisierend darstellen können. An ihrem textuellen<br />
Gebrauch kann man jedoch auch weitere Funktionen beobachten. Sie haben eine soziale<br />
Funktion (Benennung nach Grzybek) indem sie »als Formulierungen von Überzeugungen,<br />
Werten und Normen gelten, die in einer bestimmten Kultur und Zeit soziale Geltung<br />
49
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
beanspruchen« (Burger 2010, 107). Zugleich werden sie in konkreten kommunikativen<br />
Situationen als Ausdruck von Sprachhandlungen wie Warnung, Überredung, Argument,<br />
Bestätigung, Trost, Mahnung, Rechtfertigung, Beruhigung, Zusammenfassung verwendet<br />
(Röhrich/Mieder 1977). In solchen Fällen sprechen wir über kontextuelle (pragmatische)<br />
Funktionen von Sprichwörtern. Beide Funktionsarten sollen wir in einem wechselseiten<br />
Verhältnis verstehen, denn »dass ein Sprichwort z.B. als Stütze in einer Argumentation<br />
verwendet werden kann (= kontextuelle Funktion), ist nur möglich, wenn es vom Sprecher<br />
und vom Hörer als Formulierung einer generellen Regel (= soziale Funktion) aufgefasst wird«<br />
(Burger 2010, 108).<br />
Nachfolgende Beispiele sollen die pragmatischen Sprichwort-Funktionen im Text illustrieren.<br />
Sprichwort als Ausdruck von sozialen Werten und Normen, vgl.<br />
Ich bin schon lange alleinerziehend und frage mich, ob ich vielleicht in manchen Dingen zu<br />
streng war. Erst die Arbeit und dann das Vergnügen, so bin ich erzogen worden. (SprichWort<br />
2010)<br />
Lügen haben kurze Beine... so haben es die meisten schon in der Kindheit gelernt. Es lohnt<br />
sich nicht zu lügen, mit Lügen schadet man sich und andern. (SprichWort 2010)<br />
Sprichwort als Ausdruck von Sprachhandlungen, vgl.<br />
Warnung, Rat<br />
"Sie sollten nicht mit zu viel Ehrgeiz an die Sache herangehen", riet Jung den etwa 100<br />
Zuhörern zu Beginn. Eile mit Weile sei vielmehr das Motto. Bevor der Anfänger oder<br />
Wiedereinsteiger überhaupt mit dem Sport beginne, sei erst einmal ein Gesundheitscheck<br />
fällig. (SprichWort 2010)<br />
Argument<br />
50
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Beruhigung<br />
Grundsätzlich gilt das Rauchverbot in allen Gastronomiebetrieben und öffentlichen Räumen,<br />
aber Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel: In niedersächsischen Spielhallen zum<br />
Beispiel darf geraucht werden. (SprichWort 2010)<br />
Gestern, zurück in Berlin, schwieg Stoiber dann lieber zum Richtlinien-Thema. Was Merkels<br />
Helfer in ihrer Theorie bestätigt, mit der sie sich beruhigen: Hunde, die bellen, beißen nicht.<br />
Die Angriffe aus München werden in Berlin mit einem „psychologischen Problem” erklärt.<br />
(SprichWort 2010)<br />
Sprichwort als Mittel zur Textorganisation, vgl.<br />
durch die Sprichwortposition gegebene themeneinleitende Funktion (oft auch<br />
orthographisch markiert durch den Doppelpunkt)<br />
Erst die Arbeit, dann das Vergnügen: So hielten es jüngst die Mitglieder des [...] Ortsvereins<br />
Remagen. Sie schlossen an ihre Jahreshauptversammlung [...] einen gemütlichen Nachmittag<br />
mit musikalischer Begleitung an. (SprichWort 2010)<br />
durch die Sprichwortposition gegebene themenabschließende bzw. –zusammenfasende<br />
Funktion (oft auch orthographisch markiert durch den Doppelpunkt)<br />
[...] dem Klub droht der Zerfall. Die Spieler haben sich aufgegeben, obwohl noch neun Spiele<br />
zu absolvieren sind. Bonhof will sich damit nicht abfinden und forderte sie auf, Zeichen zu<br />
setzen. [...] Goalie Robert Enke und Stürmer Markus Feldhoff haben schon ihren Abschied<br />
verkündet, die Fans dankten es ihnen mit dem Spruchband: "Die Ratten verlassen das<br />
sinkende Schiff "(SprichWort 2010)<br />
3.5 Inhalt und Herkunft<br />
Man kann aus guten Gründen annehmen, dass Sprichwörter aufgrund der menschlichen<br />
Bedürfnisse, das Leben im Einklang mit der Natur und in Kooperation mit den Mitmenschen<br />
zu gestalten, entstanden sind. Die praktischen Lebenserfahrungen und allgemeine<br />
Erkenntnisse wurden in Form von kurzen und prägnanten Äußerungen, als so genannte<br />
51
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Lebensweisheiten und Lebensregeln zunächst mündlich, danach auch schriftlich verbreitet<br />
und überliefert.<br />
Man ist sich einig, dass die Herkunft von Sprichwörtern sehr oft nicht exakt zu ermitteln ist.<br />
Betrachtet man sie jedoch entweder einzelsprachlich oder sprachenübergreifend, so können<br />
drei Herkunftsquellen angenommen werden:<br />
Sprichwörter sind als so genannte Volksweisheiten interpretierbar. Jemand<br />
(möglicherweise eine bekannte und angesehene Persönlichkeit) müsste zunächst eine<br />
Aussage machen, die von den anderen akzeptiert, übernommen und weiter verwendet<br />
wurde; dadurch wurden derartige Aussagen mit der Zeit zu den allgemein verbreiteten<br />
»sprichwörtlichen Weisheiten«, vgl.<br />
Übung macht den Meister<br />
Sprichwörter entstammen den schriftlichen Werken. Viele gehen auf die Antike, die Bibel<br />
oder auf das mittelalterliche Schrifttum zurück. Ursprünglich sind sie also Zitate aus<br />
nachweisbaren literarischen, weltlichen und/oder religiösen Texten, also aus der Bibel, aus<br />
Fabeln, Märchen, Sagen und dergleichen, die durch die häufige Wiederholung ebenso zu<br />
allgemein verbreiteten Aussagen wurden, vgl.<br />
Die Axt im Haus erspart den Zimmermann (F. Schiller)<br />
Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein (Bibel)<br />
Sprichwörter sind Entlehnungen aus anderen Sprachen. Durch die (mitunter<br />
wortwörtliche) Übersetzung setzten sie sich in den vielen Zielsprachen durch, vgl.<br />
Die Hunde bellen, und die Karawane zieht weiter (Entlehnung aus dem Türkischen).<br />
Aus volkskundlicher Sicht werden Sprichwörter sehr oft als Besonderheit und<br />
Eigentümlichkeit einzelner Sprachen interpretiert (sie seien somit idiosynkratisch). Das mag<br />
aber eher für eine kleinere Anzahl der Sprichwörter zustimmen. Vielmehr gilt, dass etliche<br />
Sprichwörter zwischensprachlich übereinstimmen, dass also ein Sprichwort nicht nur auf<br />
52
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
eine Sprache bzw. eine Sprachgemeinschaft beschränkt, sondern in mehreren Sprachen<br />
vorhanden ist. So stimmen recht viele Sprichwörter formal und inhaltlich zwischensprachlich<br />
überein; in der sprachvergleichenden (kontrastiven) <strong>Phraseologie</strong>forschung spricht man<br />
hierbei vom Begriff der Konvergenz bzw. Äquivalenz. Die Konvergenz (Konvergenz) meint<br />
die Identität oder Ähnlichkeit der formalen Sprichwortstruktur, die in Kombination mit der<br />
inhaltlichen Übereinstimmung eine vollständige Äquvalenz (Volläquivalenz) oder eine<br />
teilweise bzw. partielle Äquivalenz (Teiläquivalenz) ausmacht (Äquivalenz). So sind zwei<br />
Sprichwörter in zwei miteinander verglichenen Sprachen dann volläquivalent, wenn eine<br />
gemeinsame denotative Bedeutung und eine vollständige formal-strukturelle und inhaltlichmetaphorische<br />
Entsprechung vorliegen. Solche Sprichwörter entstammen meist den<br />
gemeinsamen nachweisbaren Quellen (Literatur, Bibiel u.ä.) und werden als sprichwörtliche<br />
Internationalismen bezeichnet, vgl.<br />
Aller Anfang ist schwer (slow. Vsak začetek je težak)<br />
Ende gut, alles gut (slow. Konec dober, vse dobro)<br />
Alle Wege führen nach Rom (slow. Vse poti vodijo v Rim)<br />
Besser spät als nie (slow. Bolje pozno kot nikoli)<br />
Allerdings verfügen Sprichwörter meist um eine derartig komplexe Bedeutung, dass<br />
zwischensprachliche Volläquivalenz selten vorliegt. Viel häufiger kann man im<br />
zwischensprachlichen Vergleich eine Teiläquivalenz beobachten. Diese ist dann vorhanden,<br />
wenn zwischen Sprachen Unterschiede in der Struktur, im Komponentenbestand oder in der<br />
bildhaft-metaphorischen Grundlage der Sprichwörter vorliegen, während die denotative<br />
Sprichwortbedeutung identisch ist, vgl.<br />
Nachts sind alle Katzen grau (slow. Ponoči so vse krave črne) (Unterschiede im<br />
Komponentenbestand und in der bildhaft-metaphischen Grundlage)<br />
Ohne Fleiß kein Preis (slow. Brez dela ni jela) (Unterschiede im Komponentenbestand, in der<br />
syntaktischen Struktur und in der bildhaft-metaphischen Grundlage)<br />
Man lernt nie aus (slow. Človek se uči, dokler živi) (Unterschiede im Komponentenbestand, in der<br />
syntaktischen Struktur und in der bildhaft-metaphischen Grundlage)<br />
53
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Die zwischensprachlichen Äquivalenzbeziehungen sind besonders anhand der mehrsprachig<br />
angelegten Sprichwortsammlungen und parömiologischen Wörterbücher gut<br />
nachvollziehbar. Schließlich konnte sie auch in der neuesten umfangreichen Studie zur<br />
globalen Verbreitung vieler Idiome (und darunter auch Sprichwörter) in Piirainen (2012)<br />
bestätigt werden.<br />
Die zwischensprachliche Konvergenz basiert zunächst auf gemeinsamen Quellen, denn<br />
gerade Sprichwörter, die in der antiken oder klassischen Literatur, in der Mythologie und in<br />
der Bibel ihren Ursprung haben, sind zwischensprachlich hochgradig konvergent. Positive<br />
Auswirkungen auf die Übereinstimmung haben hierbei rege Sprachkontakte und/oder die<br />
Übersetzung, was zu Entlehnungsprozessen führt. So kennt z.B. das Sprichwort Die Würfel<br />
sind gefallen konvergente Sprichwortformen in zahlreichen europäischen und anderen<br />
Sprachen (Piirainen 2012, 132ff.).<br />
Es gibt jedoch auch hochkonvergente Sprichwörter, deren Metaphorik biologisch und/oder<br />
erfahrungsbedingt ist, vgl. etwa die deutschen Sprichwörter Hunde, die bellen, beißen nicht<br />
und Wer sucht, der findet mit konvergenten slowenischen, slowakischen, tschechischen und<br />
ungarischen Äquivalenten (SprichWort, 2010).<br />
3.6 Sprichwortsammlungen<br />
Beobachtet man die fachliche Auseinandersetzung mit den Sprichwörtern aus historischer<br />
Perspektive, so kann man auf zahlreiche Sprichwortsammlungen hinweisen, die in<br />
volkskundlicher Tradition entstanden sind und die gegenwärtig in vielfältiger<br />
methodologischer Ausprägung und recht unterschiedlichem Umfang für viele Sprachen<br />
vorliegen. Das Sprichwortsammeln hat Jahrtausende lange Tradition, und die<br />
Sprichwortsammlungen sollte man als tradierte Quellen für die (diachrone)<br />
Sprichworterforschung betrachten. Ob bzw. inwiefern sie auch bei der Erarbeitung<br />
moderner synchroner Wörterbücher anwendbar sind, ist allerdings fraglich, zumal sie<br />
54
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
prinzipiell historisches Sprichwortgut und historische Sprachzustände vermitteln. (Eine<br />
knappe Übersicht über die bedeutendsten slowenischen Sprichwortsammlungen findet sich<br />
in Jesenšek 2007).<br />
Die bedeutendsten Sammlungen der deutschen Sprichwörter werden nachfolgend kurz<br />
besprochen. Viele davon sind teilweise oder vollständig digitalisiert und im Internet frei<br />
zugänglich. Die jeweiligen Adressen sind im Literaturverzeichnis angegeben.<br />
Seit der angenommen ersten europäischen Sprichwortsammlung aus dem Jahr 1023 von<br />
Egbert von Lüttich (Fecunda ratis (Das vollbeladene Schiff)), die lateinische und biblische<br />
Sprichwörter enthält, verzeichnet man in Europa eine intensive Beschäftigung mit der<br />
lexikographieähnlichen Dokumentierung der Sprichwörter. Die ältesten dokumentierten<br />
sprichwortähnlichen Texte seien die auf sumerischen Tafeln in Keilschrift verfasste Texte aus<br />
dem 2. Jahrtausend v. u. Z. Historisch sehr bedeutend für die Sprichworterforschung vieler<br />
Sprachen sind allerdings Sprichwortsammlungen aus antiker Zeit, zumal zahlreiche<br />
allgemeineuropäische Sprichwörter auf diese kulturell bahnbrechende Epoche zurück gehen.<br />
Im Mittelalter dienten Sprichwortsammlungen vor allem dem Lateinunterricht und der<br />
moralischen Erziehung. Besonders beliebt waren sie auch im 16. und 17. Jahrhundert in der<br />
damals vorherrschenden lehrhaften Literatur. Während dieser Epoche mehrmals erschienen<br />
ist die vielgelesene Sammlung der antiken Sprichwörter, zusammengestellt von Erasmus von<br />
Rotterdam (Adagia, 1500, 1508, 1533). Er hat einzelne Sprichwörter mit didaktischmoralischen<br />
Kommentaren und Erläuterungen versehen, was dazu beigetragen hat, dass die<br />
Erasmus-Werke als eine der wichtigsten kulturgeschichtlichen Quellen jener Zeit angesehen<br />
werden. Ebenso im 16. Jahrhundert erschien die Sprichwortsammlung von Johann Agricola<br />
(1543); sie ist die erste deutsche Sprichwortsammlung. Im darauffolgenden 17. Jahrhundert<br />
erreichte die Erarbeitung von Sprichwortsamlungen einen (auch für die heutige Zeit)<br />
beträchtlichen Umfang: Die Teutschen Weissheit von Friedrich Petri (1605) umfasste sogar<br />
mehr als 20.000 deutsche Sprichwörter.<br />
55
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Die Aufklärungsepoche des 18. Jahrhunderts war den Sprichwörtern weniger zugeneigt;<br />
Originalität und Individualität als Schreibstil wurden nämlich viel höher geschätzt als etwa<br />
Wiederholung tradierter Sprüche. In den Texten der deutschen Klassiker (Goethe, Schiller,<br />
Lessing u.a.) fanden Sprichwörter aber trotzdem eine hohe Beachtung, dies vorrangig als<br />
bewährte und wirksame Stilmittel. Für Sprichwortsammlungen dieser Epoche sind<br />
Kommentare und Bedeutungserläuterungen typisch, so z.B. Deutsches Sprichwörterbuch von<br />
Joachim Christian Blum (1780–1782).<br />
Im 19. Jahrhundert beobachtet man erneut ein stärkeres Interesse an den Sprichwörtern. Es<br />
seien hier einige Werke erwähnt, die als Meilensteine für die weitere (volkskundliche und<br />
lexikographische) Beschäftigung mit den Sprichwörtern verstanden werden können: Johann<br />
Michael Sailer's Die Weisheit auf der Gasse, oder Sinn und Geist deutscher Sprichwörter<br />
(1810) – eine Sammlung ausführlich analysierter und semantisch kommentierter<br />
Sprichwörter; die Literatur der Sprichwörter von Christian Conrad Nopitsch (1822) – ein<br />
Verzeichnis der bis zu jener Zeit veröffentlichten Arbeiten zum Phänomen Sprichwort; das<br />
monumentale Werk von Karl Friedrich Wilhelm Wander – das fünfbändige Deutsche<br />
Sprichwörterlexikon (1867–1880) umfasst mehr als 250.000 Sprichwörter, die stellenweise<br />
mit Kommentaren, Anmerkungen sowie Angaben von Varianten, Quellen und<br />
anderssprachigen Äquivalenten versehen sind; und schließlich die populärste deutsche<br />
Sprichwortsammlung von Karl Simrock mit dem Titel Die deutschen Sprichwörter (1846).<br />
Im 20. Jahrhundert erschienen mehrere sprach- und kulturgeschichtlich erklärende<br />
Sammlungen des deutschen Sprichwortsgutes, darunter die Deutsche Sprichwörterkunde<br />
von Friedrich Seiler (1922). Zu den bekanntesten vergleichbaren volkskundlich orientierten<br />
Sammlungen des 20. Jahrhunderts zählt jedoch das illustrierte und mehrmals neu aufgelegte<br />
Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten von Lutz Röhrich (2000; erste Ausgabe 1973).<br />
Einhergehend mit dem wachsenden sprachwissenschaftlichen Interesse an den<br />
Sprichwörtern ist die umfangreiche Dokumentation der modifizierten Sprichwörter zu<br />
nennen, der von Wolfgang Mieder, einem unermüdlichen Sprichwortforscher<br />
herausgegeben wurde: das zweibändige Wörterbuch dem Titel Antisprichwörter (1982–<br />
56
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
1985) verzeichnet die im gegenwärtigen Sprachgebrauch vorzufindenden Modifikationen<br />
traditioneller deutscher Sprichwörter. Neben den genannten allgemeinen<br />
Sprischwortsammlungen erreichten große Beliebtheit schließlich auch besondere Typen von<br />
Sprichwörterbüchern: Spezialsammlungen zu Wetterregeln, Rechtssprichwörtern,<br />
medizinischen Sprichwörtern, Wellerismen u.a.m. Es ist somit in der Geschichte der<br />
volkstümlich und historisch konzipierter Erarbeitung und Herausgabe von<br />
Sprichwortsammlungen eine kontinuierliche Tradition zu beobachten.<br />
Traditionell werden Sprichwörter aber auch in allgemeinen Sprachwörterbüchern und<br />
speziellen phraseologischen Lexika verzeichnet. Duden – Redewendungen. Wörterbuch der<br />
deutschen Idiomatik (letzte Ausg. 2013) ist das für das Deutsche repräsentative<br />
phraseologische Wörterbuch, das auch eine Auswahl an Sprichwörtern enthält, sonst<br />
werden Sprichwörter aber in recht verschiedener quantitativ-qualitativer Ausprägung in alle<br />
größeren allgemeinen ein- und mehrsprachigen Wörtern mit Deutsch integriert (und<br />
dasselbe gilt auch für das Slowenische).<br />
3.7 Sondergruppen<br />
Wegen ihrer inhaltlichen und formalstrukturellen Besonderheiten kann man von einigen<br />
Sondergruppen der Sprichwörter sprechen: Bauernregeln bzw. Wettersprichwörter,<br />
Rechtssprichwörter, medizinische Sprichwörter und Wellerismen. Im Folgenden werden sie in<br />
Kürze dargelegt.<br />
3.7.1 Bauernregeln und Wettersprichwörter<br />
Bauernregeln und Wettersprichwörter haben die reichen landwirtschaftlichen Erfahrungen<br />
und Praktiken, die Zucht der Tiere sowie die klimatischen Beobachtungen der Menschen<br />
zum Inhalt, vgl.<br />
Wenn die Schwalben nieder fliegen und die Tauben baden, so bedeutet's Regen.<br />
57
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Beide Sprichwort-Sondergruppen sind in inhaltlichen Zusammenhängen zu betrachten,<br />
zumal das Wetter die landschaftliche Tätigkeit ja maßgebend beeinflusst. In den alten Zeiten<br />
waren sie für das ländliche Leben unentbehrliche Richtlinien für das alltägliche Leben und<br />
Handeln, während heute sie oft als archaisch empfunden werden.<br />
Im deutschsprachigen Raum haben sie eine sehr lange Tradition. Der erste Hinweis findet<br />
sich bei A. Magnus (13. Jh.), die älteste gedruckte Sammlung von Bauernregeln in deutscher<br />
Sprache stammt aus dem Jahr 1505 (Wetterbüchlein); seither ist auch der Begriff<br />
Bauernregel im Umgang.<br />
Es werden mehrere Typen von Bauernregeln und Wettersprichwörtern unterschieden<br />
(Malberg 1999):<br />
Kalendergebundene Klimaregeln<br />
gründen auf der regionalen Wetterbeobachtung und Interpretation monatlicher<br />
Mittelwerte, vgl.<br />
Werden die Tage länger, wird der Winter strenger; Der Februar hat seine Mücken, baut von<br />
Eis oft ¸feste Brücken; Der Mai in der Mitte, hat für den Winter stets noch eine Hütte; Im Juni,<br />
Bauer, bete, dass der Hagel nicht alles zetrtrete.<br />
Oft sind sie an die christlichen Namensfeiertage gebunden, vgl.<br />
Christnacht hell und klar, deutet auf ein gutes Jahr; Am Tage von St. Valentin (14. Februar)<br />
gehen Eis und Schnee dahin; Der Matthias (24. Februar) bricht's Eis, findet er keins, dann<br />
macht er eins.<br />
Wetterregeln betreffen Aussagen zum weiteren Wetterablauf, die auf der Beobachtung<br />
des momentanen Wetterzustandes beruhen, vgl.<br />
Ziehen die Wolken dem Wind entgegen, gibt's am anderen Tage Regen; Steigt Nebel empor,<br />
steht Regen bevor; Dunkle Wolken verkünden Regen; Geht die Sonne feurig auf, folgen Wind<br />
und Regen drauf.<br />
58
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Witterungsregeln gehen von einem Wetterzustand aus und versuchen, das Wetter der<br />
bevorstehenden Wochen oder längerer Perioden vorherzusagen. In der Regel gelten<br />
kirchliche Feiertage als Orientierung:<br />
Ist der Januar hell und weiß, wird der Sommer sicher heiß; Nasser April – trockener Juni;<br />
Regnet's an St. Peters-Tag (29. Juni), drohen 30 Regentag'; Geht Barbara (4. Dezember) im<br />
Grünen, kommt's Christkind im Schnee.<br />
Tier- und Pflanzenregeln versuchen die weitere Wetterentwicklung aus dem Verhalten<br />
von Tieren und Pflanzen zu schließen, vgl.<br />
Ziehen die wilden Gäns' und Enten fort, ist der Winter bald am Ort; Späte Rosen im Garten,<br />
der Winter läßt warten; Fällt das Laub sehr bald, wird der Herbst nicht alt.<br />
Ernteregeln beschreiben die Auswirkung der Wetterbedingungen auf die Ernte und sind<br />
oft jahreszeitbezogen, vgl.<br />
Im Märzen kalt und Sonnenschein, wird's eine gute Ernte sein; Juli schön und klar, gibt ein<br />
gutes Bauernjahr; Regen Ende Oktober verkündet ein gutes Jahr; Dezember mild mit viel<br />
Regen, ist für die Saat kein großer Segen.<br />
Mondregeln sind Aussagen vom Einfluß der Mondphasen auf das Wetter, auf Pflanzen<br />
und Tiere, auf das Verhalten von Menschen, auf die Gestaltung des Alltags, vgl.<br />
Bei Mondwechsel ändert sich auch das Wetter; Im wachsenden Mond sind Rosmarin und<br />
Majoran zu säen; Alles was wachsen soll, ist im zunehmenden Mond zu beschneiden, was<br />
nicht wachsen soll, im abnehmenden Mond; Die Schafe soll man im Vollmond scheren.<br />
In der modernen Zeit haben die Wettersprichwörter an der Bedeutung stark verloren und<br />
werden mitunter sogar mit humorvoll-ironischer Wirkung modifiziert, vgl.<br />
Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist.<br />
59
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
3.7.2 Rechtssprichwörter<br />
Es geht um eine Sondergruppe von Sprichwörtern, deren Inhalt die Rechtsregelung oder<br />
soziale Ordnung thematisiert. Somit sind sie notwendigerweise historisch-kulturell bedingt,<br />
vgl.<br />
Einem geschenkten Gaul sieht man nicht ins Maul; Gleich gefangen, gleich gehangen.<br />
Wenn man die historischen Hintergründe nicht mehr kennt, kann das für das gegenwärtige<br />
Verständnis störend sein. Sie haben eine lange Tradition; im europäischen Mittelalter<br />
stellten sie Autorität gegenüber der Richter dar, zumal diese oft rechtliche Laien gewesen<br />
sind und ihre Urteile folgerichtig auf solchen Sprichwörtern gründeten.<br />
3.7.3 Medizinische Sprichwörter<br />
Medizinische Sprichwörter (auch Heilsprichwörter, Gesundheitssprichwörter,<br />
sprichwörtliche/populäre/volkstümliche Gesundheitsregeln, volksmedizinische Ratschläge)<br />
sind kurz gefasste Ratschläge zum Erhalten oder Erlangen der Gesundheit. Es handelt sich<br />
also um eine inhaltlich auf die Gesundheitsfragen beschränkte Sondergruppe von<br />
Sprichwörtern, von denen sehr viele auf die hipokratische und verschiedene mittelalterliche<br />
medizinische Lehren zurückgehen.<br />
Die bisher umfangreichste Sammlung der deutschen medizinischen Sprichwörter ist Seidl's<br />
enzyklopädisches Werk Medizinische Sprichwörter (Seidl 2010). In den fast 5000<br />
»volkstümlichen Gesundheitsregeln« sind jeweils eine Vorschrift, ein Verbot, ein Rat, eine<br />
Empfehlung zu Fragen der Ernährung, der Psychologie und Physiologie, der Prävention und<br />
Hygiene, der Medizin und Mediziner enthalten. Ihre tradierte Überlieferung kann man als<br />
eine logische Folgerung der hohen Wertschätzung der Gesundheit verstehen, die nach den<br />
Meinungsumfragen bei den meisten Menschen noch immer an erster Stelle steht.<br />
Manche medizinische Sprichwörter sind heute fachlich überholt, mache gründen sogar auf<br />
falschen physiologischen Vorstellungen. Man kann aber allein daher nicht behaupten, dass<br />
60
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
sie generell überholt wären. Sehr viele sind nämlich noch immer gültig, wie etwa das<br />
folgende Sprichwort:<br />
Vor dem Schlafen, nach dem Essen Zähneputzen nicht vergessen.<br />
Bei einem kleineren Anteil kann man allerdings auch von Irtümlichkeit oder einer extrem<br />
irrationalen Haltung sprechen, vgl.<br />
Wer viel schimmlig Brot isst, der wird alt; Wenn's Kind zahnt, soll die Mutter den Unterrock<br />
verkaufen, um ihm Wein zu geben; Kinder soll man nicht Engel nennen, sonst sterben sie.<br />
Betrachtet man diese Sprichwort-Gruppe genauer, so kann man auch hier einige typische<br />
Struktur-Merkmale beobachten, u.a. gibt es Reihen von Realisierungen typischer<br />
syntaktischer Muster (dazu auch in Abschnitt 3.3):<br />
wer x, (der) y<br />
x ist y<br />
Wer alt werden will, muss früh damit anfangen; Wer zeitig alt wird, der lebt lange<br />
Joghurt ist gesund; Geklagtes Leid ist halbes Leid<br />
x macht/machen y<br />
Kartoffeln machen dick; Brot macht die Wangen rot<br />
x heilt /vertreibt y<br />
Die Zeit heilt alle Wunden; Liebe vertreibt Leid<br />
x ist gut für/gegen/wider y<br />
Alkohol ist gut fürs Herz; Eberwurzel ist für alles gut<br />
x hilft gegen/vor/für y<br />
Buttermilch hilft gegen Sonnenbrand.<br />
61
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
An manchen Beispielen ist gut sichtbar, dass auch medizinische Sprichwörter sehr variant<br />
sein können. So sind (ohne wesentliche Inhaltsfolgen) einzelne Komponenten austauschbar<br />
(lexikalische Variabilität) oder sie unterscheiden sich in der syntaktischen Satzstruktur<br />
(syntaktisch-syntagmatische Variabilität). Sehr oft hat eine derartige Varianz pragmatische<br />
Folgen: so interpretiert man eine Variante als Ratschlag und Empehlung (Ein Apfel am Tag,<br />
und du brauchst keinen Arzt), eine andere eher als Vorschrift bzw. Aufforderung (Iss täglich<br />
einen Apfel und du bleibst gesund). Das bekannte Sprichwort zur Nützlichkeit und<br />
Heilsamkeit des Apfels soll die Neigung zur Sprichwortvariabilität veranschaulichen; Seidl<br />
(2010) verzeichnet hierzu sogar 16 variante Formen, einige davon sind<br />
Der Apfel macht den Doktor und Apotheker arbeitslos; Ein Apfel kurz vor der Nacht, hat<br />
manchen Arzt zum Bettler gemacht; Ein Apfel am Tag, und du brauchst keinen Arzt; Ein Apfel<br />
jeden Tag, spart den Gang zum Arzt; Ein Apfel pro Tag hält den Arzt fern; Ein Apfel pro Tag,<br />
mit dem Doktor keine Plag; Ein Apfel pro Tag hält gesund und munter; Einen Apfel täglich und<br />
keine Krankheit quält dich; Einen Apfel täglich essen und du kannst den Arzt vergessen; Iss<br />
täglich einen Apfel und du bleibst gesund; Wer viele Äpfel isst, braucht keinen Arzt.<br />
Neben den Gruppen von synonymen Sprichwörtern wie die aufgezählten Apfel-Sprichwörter<br />
findet man auch semantisch widersprüchliche, also antonyme Sprichwort-Paare, vgl.<br />
Sport ist Mord, ein wahres Wort!; Treib Sport und du bleibst gesund.<br />
Wie der Sprichwortbestand einer Sprache an sich dynamisch ist, so trifft das auch für<br />
medizinische Sprichwörter zu: einige veralten und kommen außer Gebrauch, andere<br />
kommen wiederum neu in den Umlauf. Die Letzteren gründen einerseits auf bewährten<br />
Struktur-Modellen und andererseits auf immer wieder neuen medizinischen Ansichten, vgl.<br />
Salz erhöht den Blutdruck; Sex ist gesund; Fünf am Tag.<br />
Das letzgenannte Beispiel (Fünf am Tag) illustriert eine typische Enstehungsgeschichte von<br />
Sprichwörtern. War Fünf am Tag bzw. 5 am Tag zunächst die Empfehlung der<br />
Gesundheitsorganisationen (fünf Portionen Obst und Gemüße sollte man pro Tag<br />
einnehmen), so wird sie heute als sprichwortähnliche »Wahrheit« in mehreren Sprachen<br />
62
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
akzeptiert und meist als Werbeslogan verwendet (vgl. engl. 5 A Day - For a better Health;<br />
slow. Pet na dan).<br />
3.7.4 Wellerismen<br />
Der Name Wellersimus entstammt dem Charles Dickens' Roman Pickwick Papers (1837) und<br />
bezieht sich auf den Protagonisten Samuel Weller, der sie oft verwendet. Gemeint sind<br />
modellhafte Erweiterterungen von Sprichwörtern, wodurch eine in der Regel dreiteilige<br />
Struktur entsteht (auch Sagwörter, apologische Sprichwörter, erweiterte Sprichwörter). Den<br />
Anfangsteil stellen bekannte Sprichworter, Zitate oder Sprüche dar, darauf folgt die Angabe<br />
des Sprechers (oft eine bekannte Figur aus Märchen, Fabeln, Sagen oder stereotype<br />
menschlich schwache Person wie der dumme Bauer, die schlampige Frau, der betrügerische<br />
Müller u. ä.) und im Schlussteil wird die Situation genannt, in der der Wellerismus geüßert<br />
wird; häufig geht es um eine ironisch-groteske wörtliche Interpretation des<br />
Ausgangssprichworts, vgl.<br />
Aller Anfang ist schwer, sagte der Dieb und stahl einen Amboß; Alter schützt vor Torheit nicht,<br />
sagte die Greisin und lies sich liften; Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, sagte der<br />
Ochs, als er gebraten wurde.<br />
Wellerismen haben einen mit den Sprichwörtern nicht völlig vergleichbaren stilistischen<br />
Wert. Dadurch, dass die Ausgangssprichwörter ironisiert und relativiert werden, geht ihre<br />
Lehrhaftigkeit in der Regel verloren. Sie fungieren nur als Grundlage für humorvolle,<br />
ironische, satirische, parodistische oder auch sarkastisch-kritische Bewertung der<br />
menschlichen Psychologie und zwischenmenschlicher Beziehungen und ebenso der jeweils<br />
aktuellen sozialpolitischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten. Die nachfolgenden<br />
Wellerismen stammen vom slowenischen Autor Žarko Petan, der u.a. gerade durch<br />
Antisprichwörter bekannt wurde:<br />
Blut ist kein Wasser, hat der Fleischhauer gesagt und den Preis für Blutwürste erhöht; Alles<br />
fließt, sagte der moderne Heraklit, und ein Installateur ist nicht aufzutreuben.<br />
63
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
3.8 Sprichwortähnliche feste Strukturen<br />
Wie in Abschnitt 3.2 angedeutet, kennen wir einige sprichwortähnlichen Strukturen, die bei<br />
der hohen Verwendungshäufigkeit leicht zu den Sprichwörtern übergehen. Das sind<br />
Sentenzen, geflügelte Worte, Aphorismen, Maximen und Epigramme. Sehen wir uns ihre<br />
wesentlichen Eigenschaften an.<br />
3.8.1 Sentenz<br />
Sentenzen (aus lat. sententia 'Meinung, Sinn, Ausspruch') sind kurze, prägnant formulierte<br />
Sätze mit philosophisch-literarischem Hintergrund (Sentenz). Der Author und die Quelle<br />
sind bekannt. Von den Sprichwörtern unterscheiden sie sich auch inhaltlich: während<br />
Sprichwörter sich auf tradierte menschliche Erfahrungen stützen, bringen Sentenzen eine<br />
philosophische Betrachtung der Welt hervor. Eine konkrete Situation oder Erkentnis wird in<br />
einem kurzen Satz zusammengefasst und zur allgemeinen Bedeutung erhoben. So ist der<br />
Satz Axt im Haus erspart den Zimmermann ein Zitat aus Schiller's Werk Wilhelm Tell,<br />
aufgrund der häufigen Verwendung, die eine allgemeine Bekanntheit mit sich bringt, kann er<br />
jedoch auch als Sprichwort aufgefasst werden.<br />
3.8.2 Geflügeltes Wort<br />
Geflügelte Worte (aus gr. epea pteroenta, Buchtitel der Zitatensammlung von Georg<br />
Büchmann 1864) sind literarische Zitate, die allgemein verwendet werden und folglich auch<br />
als allgemein bekannt einszuschätzen sind. Ihre Quelle (oft klassische Literatur und Bibel) ist<br />
nachweisbar, sie wird aber nicht mehr mitgedacht, vgl.<br />
Nutze den Tag! (Horaz); Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral (Brecht); Im Westen<br />
nichts Neues (Remarque); Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben (Gorbatschow).<br />
Somit nähern sie sich stark den Sprichwörtern. Die meist bekannte und vielfach<br />
nachgedruckte und erweiterte Sammlung geflügelter Worte ist das Werk Georg Büchmanns<br />
Geflügelte Worte (Erstausgabe 1864, seither immer wieder aufgelegt).<br />
64
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Es ist äußerst schwierig, zwischen Sprichwort, geflügeltem Wort und Sentenz klar zu<br />
unterscheiden. Der Satz Wissen ist Macht wird häufig verwendet, was eine allgemeine<br />
Bekanntheit mit sich bringt. So könnte man ihn bereits als Sprichwort auffassen, obgleich es<br />
sich in der Tat um ein Zitat des englischen Philosophen Francis Bacon (17./18. Jh.) handelt<br />
(en. Knowledge itself is power).<br />
3.8.3 Aphorismus<br />
Aphorismen (aus. gr. aphorismós 'Abgrenzung, Definition, Lehrsatz') sind kurze, unabhängige,<br />
originelle, als eigenständige Texte konzipierte Gedanken. Von einem Sprichwort<br />
unterscheidet sich ein Aphorismus dadurch, dass er nicht allgemein bekannte Weisheiten<br />
ausdrückt, sondern originelle, autorbezogene, oft subjektive und kritische Urteile, Erkentnise<br />
hervorbringt. Aphorismen bestehen aus einem Satz oder, was seltener vorkommt, auch aus<br />
mehreren Sätzen. In der Literaturwissenschaft werden sie als eigenständige Gattung mit<br />
satirischen, (selbst)ironischen Zügen und typischen Stilmitteln angesehen (Paradoxie, Ironie,<br />
Doppeldeutigkeit, Manipulation der phrasologischen und sprichwörtlichen Aussagen). Oft<br />
thematisieren sie gesellschaftliche und/oder individuelle Moral und Ethik in politischen,<br />
wirtschaftlichen und psychologischen Zusammenhängen.<br />
Der erste bekannte Aphoristiker war Hippokrates, bekannt durch seine medizinischen<br />
Lehrsätze. Im deutschen Sprachraum sind u.a. folgende Autoren als Aphoristiker bekannt<br />
geworden: Georg Christoph Lichtenberg, Marie von Ebner-Eschenbach, Arthur Schnitzler,<br />
Johann Wolfgang von Goethe, Theodor W. Adorno, Elias Canetti, Karl Kraus, Franz Kafka,<br />
Friedrich Nietzsche, Robert Musil. Ein bekannter slowenischer Aphoristiker ist Žarko Petan,<br />
dessen ausgewählte Aphorismen auch in deutscher Fassung vorliegen. Ein Paar seine sollen<br />
das Wesen dieser Gattung illustrieren:<br />
Wissen ist Macht, Nichtwissen Übermacht; Reden ist Silber, Schweigen ist Karriere;<br />
Das Schiff sinkt, die Ratten übernehmen das Kommando.<br />
65
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
3.8.4 Maxime<br />
Maximen (lat. maxima 'höchste Regel, oberster Grundsatz, oberste Aussage') werden als<br />
Lebensregeln verstanden, die von subjektiven, individuellen Grundsätzen moralischen<br />
Handelns ausgehen. Der Unterschied zum Sprichwort besteht hauptsächlich in ihrer<br />
fehlenden Geläufigkeit. Besonders stark entwickelt war die Maxime im französischen<br />
Sprachraum zur Zeit der Moralistik als philosophische Gattung (La Rochefoucauld, 17. Jh.)<br />
und im deutschsprachigen Raum beim Philosophen Immanuel Kant (kategorischer Imperativ<br />
als grundlegendes Prinzip der Ethik, 18. Jh.). Zu den bekanntesten deutschen<br />
Maximensammlungen zählt das Werk Goethes Maximen und Reflektionen (1833), dem<br />
folgende Beispiele entstammen:<br />
Wer streiten will, muss sich hüten, bei dieser Gelegenheit Sachen zu sagen, die ihm niemand<br />
streitig macht; Gar selten tun wir uns selbst genug, desto tröstender ist es, andern genug<br />
getan zu haben; Zuerst belehre man sich selbst, dann wird man Belehrung von andern<br />
empfangen.<br />
3.8.5 Epigramm<br />
Epigramme (gr. epigramma 'Inschrift, Aufschrift') gehören primär zu den literarischen<br />
Gattungen. Sie haben eine typische formale Struktur (meist Distichon, ein Verspaar,<br />
bestehend aus einem Heksameter und einem Pentameter) und sind betitelt. Wesentliche<br />
inhaltliche Teile des Epigramms sind Erwartung und Aufschluss, wobei die Erwartung durch<br />
einen scheinbaren und rätselhaften Widerspruch genannt wird und der Aufschluss durch<br />
eine überraschende Deutung des Sinnes zum Ausdruck kommt. Inhaltlich sind sie mit<br />
Aphorismen vergleichbar, nur haben sie eine Gedichtform. Epigramme entahlten oft<br />
modifizierte Sprichwörter, sie erreichen aber meist keine hohe Gebrauchshäufigkeit, sodass<br />
der Übergang zum Sprichwort eher selten vorkommt. Im deutschsprachigen Raum sind sie<br />
u.a. bei Heinrich von Kleist, Johann Wolfgang von Goethe, Friederich Schiller, Franz<br />
Grillparzer, Erich Kästner zu verfolgen.<br />
Das nachfolgende Epigramm von Erich Kästner soll das Gesagte illustrieren:<br />
66
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Auch eine Auskunft<br />
Ein Mann, von dem ich wissen wollte<br />
warum die Menschen einander betrügen,<br />
sprach:<br />
"Wenn ich die Wahrheit sagen sollte,<br />
müßt ich lügen." (E. Kästner)<br />
Weiterführende Literatur (Auswahl)<br />
Eine bibliographische Übersicht über die Forschung im Bereich der Parömiologie (und<br />
<strong>Phraseologie</strong>) gibt Mieder (2009); die Literaturliste enthält mehr als 10 000 Einträge mit<br />
erklärenden Stichwort-Annotationen. Verzeichnet werden Forschungspublikationen,<br />
erschienen bis 2007. – In Röhrich/Mieder (1977) werden die wichtigsten Sprichwort-<br />
Aspekte angesprochen (Definition, Herkunft, Form, Funktionen) und grundlegende<br />
Sprichwortsammlungen dargestellt. – Mieder (1995) ergibt einen Einblick in die traditionelle<br />
und innovativ-kreative Verwendung von Sprichwörtern und Zitaten, wie diese sich in den<br />
Medien, in der schönen Literatur und in der Werbung zeigt. Für slowenische Leser ist die<br />
Studie zu den sprichwörtlichen Aphorismen von Žarko Petan von besoderem Interesse. –<br />
Anhand der deutschen und slowakischen Sprichwörter bespricht Durčo (2005) die gängigen<br />
Methoden der Sprichwortanalysen sowie einige Aspekte der kontrastiven<br />
Sprichwortforschung. – Lee (2005) ist eine vergleichende Studie zu deutschen und<br />
chinesischen Sprichwörtern; interessant wegen dem Vergleich zweier sprachtypologisch und<br />
kulturell extrem unterschiedlicher Sprachen und Kulturen. – Umurova (2005) gibt einen<br />
Einblick in den gegenwärtigen Sprichwortgebrauch in modernen Medien.<br />
67
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
4 <strong>Phraseologie</strong> im Sprachenlernen<br />
INHALT UND ZIELE<br />
Das Thema dieses Kapitels sind Fragestellungen, bezogen auf die Stellung der <strong>Phraseologie</strong><br />
im (fremd)sprachlichen Sprachenlernen und Sprachenunterricht. Verschiedene linguistische,<br />
kognitive und sprachdidaktische Stellungen dazu werden dargelegt und Argumente für die<br />
Einbeziehung der phraseologischen Inhalte in Sprachlernprozesse erläutert. Anschließend<br />
werden Vorschläge zur künftigen Planung und Durchführung des fremdsprachlichen<br />
Unterrichts mit Blick auf die <strong>Phraseologie</strong> unterbreitet<br />
Wenn sie das Kapitel gründlich durcharbeiten, so werden sie die <strong>Phraseologie</strong> als<br />
sprachdidaktisches Thema kennen lernen, die wichtigsten Argumente für ihren Einsatz als<br />
Lehr- und Lerngegenstand und notwendige sprachdidaktische Folgen interpretieren können.<br />
Im folgenden Kapitel werden Fragen zur Einbeziehung der phraseologischen Inhalte in das<br />
Sprachenlernen, in erster Linie in das Lernen und Lehren von Fremdsprachen, besprochen.<br />
Im Vordergrund stehen prinzipielle allgemeine Überlegungen zu methodisch-didaktischen<br />
Fragestellungen zum Thema <strong>Phraseologie</strong> im Sprachenlernen.<br />
4.1 <strong>Phraseologie</strong> als Lern- und Lehrgegenstand<br />
Fakt ist, dass Phraseme zum lexikalischen Inventar einer jeden natürlichen Sprache gehören,<br />
dass sie etablierte Elemente des Sprachsystems (Langue) sind und dass sie folglich den<br />
Sprachgebrauch (Parole) ausschlaggebend mit konstituieren. Das gilt sowohl für die<br />
<strong>Phraseologie</strong> im engeren Verständnis (satzgliedwertige idiomatische Wortverbildungen) als<br />
auch für die <strong>Phraseologie</strong> im weiteren Sinn (satzwertige Phraseme wir z.B. Sprichwörter,<br />
Zitate u.dgl.). Das gesamte Spektrum der <strong>Phraseologie</strong> ist in der gegenwärtigen<br />
Kommunikation aktuell, lebendig und produktiv. Umfangreiche Textkorpora, die uns für eine<br />
analytische Beobachtung des schriftlichen (und neuerdings auch mündlichen)<br />
Sprachgebrauchs in vielen Sprachen zur Verfügung stehen, zeugen deutlich davon, wie<br />
lebendig Phraseme sind und wie vielfältig sie in verschiedenen Bereichen der<br />
68
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Kommunikation vorkommen können. Ihr gegenwärtiger Gebrauch ist keineswegs nur auf die<br />
schöngeistige Literatur und gehobene kommunikative Situationen beschränkt, was hie und<br />
da noch immer zu hören ist; als durchaus aktuelle, potente und flexible Sprachmittel<br />
bestätigen sie sich gleicherweise in Textsorten und Domänen der modernen<br />
massenmedialen und digitalisierten Kommunikation. Sie bleiben somit feste Bestandteile des<br />
aktuellen Sprachgebrauchs, was die Annahme erlaubt, dass Sprecher sie als wirksame<br />
Sprachmittel empfinden und mehr oder weniger gezielt und absichtlich verwenden.<br />
Es wäre somit zu erwarten, dass der phraseologischen Redeweise eine besondere<br />
didaktische Aufmerksamkeit geschenkt wird, dies sowohl beim muttersprachlichen als auch<br />
beim fremdsprachlichen Sprachenunterricht bzw. Sprachenlernen. Dem ist allerdings meist<br />
nicht so (Jesenšek 2008, Hallsteinsdóttir 2011, Kacjan 2012, Kacjan/Kralj 2011,<br />
Jazbec/Enčeva 2012). Bereits ein paar kleinere Analysen geläufiger Lehrwerke zum Deutsch<br />
als Fremdsprache zeigen nämlich, dass die <strong>Phraseologie</strong> in quantitativer Hinsicht gering und<br />
in qualitativer Hinsicht weniger systematisch behandelt wird (Jesenšek 2000, Jazbec/Enčeva<br />
2012). Zudem vertritt die fremdsprachliche Didaktik zur Ermittlung von <strong>Phraseologie</strong> nach<br />
wie vor verschiedene, mitunter sogar konträre und extrem polarisierte Meinungen<br />
(Hallsteinsdóttir 2001 und 2011). Einige meinen, die <strong>Phraseologie</strong> sollte im<br />
fremdsprachlichen Unterricht nicht unbedingt ein Thema sein, da sie auch sonst etwas ist,<br />
ohne dessen man in der Alltagskommunikation auskommen kann. Sie sei demnach ein<br />
Ornament, ein Luxus, die Würze einer Sprache, aber verzichtbar. Darüber hinaus sei sie<br />
einzelsprachspezifisch, die Eigenart einer jeden einzelnen Sprache, und somit auch nur<br />
schwer oder sogar unübersetzbar und zwischensprachlich nicht vergleichbar. Wenn<br />
überhaupt, sollten sich Fremdsprachenlerner mit der <strong>Phraseologie</strong> erst in späteren<br />
Lernphasen befassen. Eine gegensätzliche Meinung dazu ist, dass das Erlernen von<br />
<strong>Phraseologie</strong> »eine grundlegende Voraussetzung der Sprachbeherrschung ist«<br />
(Hallsteinsdóttir 2001, 3), und je mehr man von der fremdsprachlichen <strong>Phraseologie</strong> kennt,<br />
desto besser man ist in der Beherrschung der fremden Sprache (Hessky 1997).<br />
69
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Es ist wahrscheinlich weniger angebracht, derartige Oppositionen in einer so extremen<br />
Weise zu vertreten, da sie einander ausschließen und keine weiteren Positionen erlauben.<br />
Ein mittlerer Weg wäre dabei vielleicht besser. Mittlerer Weg heißt allerdings nicht einfach,<br />
eine Zwischenposition zu vertreten, also weder hier noch dort zu sein. Auf die <strong>Phraseologie</strong><br />
bezogen bedeutet ein mittlerer Weg vor allem Flexibilität und Dynamik. Das ist deshalb<br />
notwendig, weil sowohl der Status von <strong>Phraseologie</strong> im sprachlichen System als auch der<br />
Gebrauch von Phrasemen in der alltäglichen Kommunikation von mehreren und vielfältigen<br />
Faktoren abhängig sind. Einerseits spielen einzelsprachspezifische Faktoren eine wichtige<br />
Rolle; die gelten innerhalb einer Sprache und bestimmen die phraseologische Typologie mit.<br />
Andererseits sind Faktoren von Bedeutung, die außerhalb des Sprachsystems begründet<br />
sind; es sind das kontextuelle, soziale und pragmatische Umstände, die die Verwendung von<br />
<strong>Phraseologie</strong> in verschiedenartigen Sprech- und Schreibsituationen beeinflussen.<br />
Aus dieser Perspektive können allerdings keine generell und allgemein gültigen Rezepturen<br />
für die Behandlung der <strong>Phraseologie</strong> im Sprachenlernen festgelegt werden. Es lassen sich<br />
aber auch Positionen nicht vertreten, die sich nur auf eine einzelne Sprache isoliert beziehen<br />
würden – gerade in gegenwärtiger Zeit ist das nicht angebracht, wo Sprachen (und ihre<br />
Sprecher) ständig und massiv mit anderen Sprachen (und Sprechern) konfrontiert sind.<br />
Dementsprechend wird im Folgenden die Auffassung vertreten, dass der <strong>Phraseologie</strong> im<br />
gesamten Sprachenlernen von Anfang an einen festen Platz einzuräumen ist (vgl. ähnliche<br />
Positionen bei Kühn 1992, Hallsteinsdóttir 2001 und 2011, Jesenšek 2008 und 2013). Eine<br />
systematische Förderung der passiven und ebenso auch der aktiven phraseologischen<br />
Kompetenz beim Sprachenlernen ist notwendig, um einigen deklarierten Zielen des<br />
Fremdsprachenlernens gerecht zu werden. Dabei spielt der handlungsorientierte Ansatz im<br />
Fremdsprachenunterricht eine bedeutende Rolle, wonach das Ziel verfolgt wird, »mit<br />
Anderssprachigen verständlich und erfolgreich zu kommunizieren«. Nichtsdestoweniger sind<br />
aber auch kulturelle Ziele des Fremdsprachenlernens wichtig, wonach der Lernende dazu<br />
befähigt wird, »auch in der eigenen Kultur das Andere zu entdecken und mit Fremdem<br />
umzugehen« (Glaboniat et al., 2005). Klar ist, dass sich aus einer solchen Position zum Status<br />
70
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
der <strong>Phraseologie</strong> im Sprachenlernen mehrere Schlussfolgerungen ableiten lassen. Sie<br />
betreffen die gesamte (synchronisierte) Planung des Sprachen-Unterrichts, ebenso<br />
Fremdsprachenlehrerausbildung und genauso Entwicklung von Lehr- und Lernmaterialien,<br />
was im weiteren Text noch angesprochen wird.<br />
4.2 Argumente für die Integration der <strong>Phraseologie</strong> in das Fremdsprachenlernen<br />
Argumente, die für eine intensive und systematische Einbeziehung der <strong>Phraseologie</strong> in das<br />
gesamte Sprachenlernen sprechen, sind mehrere. Die wichtigsten werden hier in ihren<br />
Wesenszügen dargelegt.<br />
Argument 1: Phraseologische Redeweise ist Normalfall der geschriebenen und<br />
gesprochenen Sprache<br />
Phraseologische Redeweise ist ein Normalfall der geschriebenen und gesprochenen Sprache.<br />
Phraseme konstituieren den Sprachgebrauch in verschiedenen Kontexten wesentlich mit.<br />
Dies gilt sprachenübergreifend und ist primär darin begründet, dass die <strong>Phraseologie</strong><br />
weitgehend auf Prozessen der Metaphorisierung beruht. Wie man weiß, waren Metaphern<br />
immer schon eine übliche Art der Versprachlichung umweltlicher Umstände, menschlicher<br />
Eigenschaften und Verhaltensweisen. Es ist deutlich, dass der Mensch die Welt auf der Basis<br />
seiner naiven nicht-wissenschaftlichen Vorstellungen und Erfahrungen wahrnimmt und sie<br />
dann nach Ähnlichkeitsprinzipien ordnet, systematisiert und zu verstehen versucht. Man<br />
nennt dies Konzeptualisierung. Wahrnehmungskonzepte werden versprachlicht und man<br />
kann sie anhand der Bedeutung sprachlicher Einheiten interpretieren.<br />
Illustrieren wird diese Feststellung mit einem einfachen Beispiel:<br />
Der Wal wird von den meisten Menschen bzw. überwiegend als Fisch wahrgenommen,<br />
obgleich die Zoologie nicht derselben Meinung ist – Wale sind nämlich Säugetiere. Die naive,<br />
71
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
nichtwissenschaftliche Fisch-Vorstellung ist jedoch so verbreitet, dass sie bis in die<br />
Bedeutungserläuterungen eines Wörterbuchs greifen: laut Duden online<br />
(allgemeinsprachliches einsprachiges deutsches Wörterbuch) ist der Wal »ein größerer,<br />
plump aussehender Mittelmeerfisch«. Im Hintergrund einer derartigen Semantisierung steht<br />
das Konzept WAL IST FISCH. Und von solchen Aussagen ist nicht weit zu der Schlussfolgerung,<br />
dass etwa das Lexem Hand, slow. roka, welches als Komponente zahlreicher Phraseme in<br />
vielen Sprachen vorkommt, mehrere Konzepte versprachlicht, vgl.<br />
Hand ist Arbeit, Hand ist Werkzeug, Hand ist Macht, Hand ist Einfluss u.a. (Jesenšek 2008).<br />
Psychologisch-kognitiv ausgerichtete Linguistik liefert wichtige Erkenntnisse über Prinzipien<br />
der Semantisierung und Mechanismen der sprachlichen Benennungsprozesse. Man kam zur<br />
Feststellung, dass diese hochgradig universell und sonach übereinzelsprachlich erklärbar<br />
sind. So ist zum Beispiel bekannt, dass in den meisten modernen Sprachen bestimmte<br />
Lexeme phraseologisch aktiver sind als andere. Zu den aktiveren gehören unter anderem<br />
Benennungen der Körperteile wie dt. Hand und slow. roka. Es handelt sich um eine primär<br />
biologisch-anthropologisch begründe Tatsache, denn die Hand ist eine Besonderheit des<br />
Menschen per excellence. Davon abhängig sind mehrere phraseologisch-metaphorische<br />
Bedeutungen des Lexems Hand. Es handelt sich folglich über quasi sprachlich universelle und<br />
nicht einzelsprachspezifische Bedeutungskomponente des Lexems Hand. Die Hand<br />
funktioniert als Werkzeug, Instrument, Waffe, das Lexem Hand symbolisiert Arbeit, Tätigkeit,<br />
Hilfe, aber auch Macht, Einfluss, Autorität, Leitung, Überlegenheit, wie zahlreiche<br />
Verwendungsbeispiele der Phraseme mit der Komponente Hand zeigen.<br />
Die zugrunde liegende Metaphorik ist zunächst biologisch und kognitiv begründet, folglich<br />
sozial verbreitet und somit in der Kultur des Sprechers geankert. Derartige Metaphern sind<br />
primär auf einen Kulturraum und nicht auf eine einzelne Sprache gebunden. Diese<br />
sprachenübergreifende bzw. außersprachliche Eigenschaft kann zwischensprachliche<br />
Beziehungen intensivieren und dadurch Förderung der zwischensprachlichen<br />
phraseologischen Konvergenz zur Folge haben.<br />
72
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Psychologisch-kognitive <strong>Phraseologie</strong>forschung geht von zwei grundlegenden Prämissen aus:<br />
- der Mensch nimmt die Welt auf der Basis seiner naiven nicht-wissenschaftlichen<br />
Erfahrungen wahr und ordnet, kategorisiert, konzeptualisiert sie nach<br />
Ähnlichkeitsprinzipien und<br />
- die Sprache spiegelt im Prinzip die Wahrnehmungskonzepte wider, zugleich trägt sie<br />
aber zu ihrer Gestaltung bei.<br />
Wahrnehmungskonzepte werden versprachlicht und sind somit an der Bedeutung<br />
sprachlicher Einheiten interpretierbar. In phraseologischen Strukturen scheinen semantisch<br />
dominante Phrasemkomponenten die Verbindung zwischen Konzept und seiner<br />
Versprachlichung herzustellen. Analysiert man lexikographische Bedeutungsbeschreibungen<br />
einiger Phraseme mit Hand bzw. roka in ausgewählten Wörterbüchern, so kann man daraus<br />
Folgendes herleiten:<br />
- Arbeit als Lebensunterhalt<br />
von der Hand in den Mund leben, slow. živeti iz rok v usta<br />
von seiner Hände Arbeit leben, slow. živeti od dela svojih rok<br />
- Bezug auf die Arbeit, Tätigkeit im weiteren Sinne<br />
alle/beide Hände voll zu tun haben, slow. imeti polne roke dela<br />
in die Hände spucken, slow. pljuniti v roke<br />
freie Hand haben/freie Hand jmdm. lassen, slow. imetiproste roke/pustiti komu proste roke<br />
jmdm. sind die Hände und Füße gebunden, slow. imeti zvezane roke (in noge)<br />
gebundene Hände haben, slow. imeti zvezane roke<br />
- Instrument, Werkzeug, Verhältnis zur Arbeit<br />
mit beiden Händen zugreifen, slow. zgrabiti z obema rokama<br />
eine glückliche Hand haben, slow. imeti srečno roko<br />
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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
eine unglückliche Hand haben, slow. imeti nesrečno roko<br />
jmdm. geht etw. (leicht/gut) von der Hand, slow. kaj gre komu (dobro) od/izpod rok<br />
mit der linken Hand, slow. z levo roko<br />
zwei linke Hände haben, slow. imeti dve levi roki<br />
- Kampf, Gewalt<br />
Hand an jmdn. legen, slow. položiti roko na koga<br />
Hand an sich legen, slow. položiti roko nase<br />
- Hilfe, Zusammenarbeit<br />
Hand in Hand arbeiten, slow. delati z roko v roki<br />
Hand in Hand gehen, slow. iti z roko v roki<br />
jmdm. zur Hand/an die Hand gehen, slow. iti komu na roko/na roke<br />
(jmds.) rechte Hand (sein), slow. (biti) desna roka (koga/čigava)<br />
Eine Hand wäscht die andere, slow. Roka roko umije<br />
seine/die Hand von jmdm. abziehen, slow. odtegniti roko komu<br />
- Sicheinsetzen, Schutz, Haftung<br />
für jmdn./etw. die/seine Hand ins Feuer legen, slow. dati roko v ogenj za koga/kaj<br />
sich für jmdn./etw. die Hand abhacken/abschlagen lassen, slow. dati/pustiti si roko odrezati<br />
za koga/kaj<br />
seine/die Hand über jmdn. halten, slow. držati roko nad kom/čim<br />
- Macht, Einfluss, Leitung, Autorität<br />
jmdn./etw./sich in der Hand haben, slow. imeti v rokah koga/kaj/se<br />
die/seine Hand auf jmdn./etw. haben/halten, slow. imeti/držati roko nad kom/čim<br />
in jmds. Hand/Händen sein, slow. biti v rokah (čigavih/koga)<br />
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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
in sicheren/guten/schlechten Händen sein, slow. biti v varnih/dobrih/slabih rokah<br />
die/alle Fäden in der/seiner Hand haben/halten, slow. imeti/držati vse niti v (svojih) rokah<br />
die Zügel in der Hand haben/halten, slow. imeti vajeti v rokah<br />
jmdn./etw. in die Hand/in die/seine Hände bekommen/nehmen, slow. dobiti/vzeti v<br />
(svoje)roke koga/kaj<br />
jmdm. in die Hände fallen/kommen, slow. priti/pasti v roke (čigave/kakšne/komu)<br />
jmdm. jmdn./sich/etw. in die Hand geben, slow. dati v roke (komu koga/sebe/se/kaj)<br />
in jmds. Hand/Hände übergehen, slow. preiti v roke (čigave/koga)<br />
die Hand/Hände nach jmdm./etw. ausstrecken, slow. stegniti/stegovati roke po kom/čem<br />
etw. aus der Hand geben, slow. dati iz rok kaj<br />
jmdm. etw. aus der Hand nehmen, slow. vzeti iz rok komu kaj<br />
von Hand zu Hand gehen, slow. iti/prehajati iz rok v roke<br />
durch jmds. Hand/Hände gehen, slow. iti skozi roke (čigave/koga)<br />
- Entfernung<br />
zur Hand sein, slow. biti pri roki<br />
etw./jmdn. bei der Hand/zur Hand haben, slow. imeti pri roki kaj/koga.<br />
Es tritt deutlich hervor, dass die gemeinsame semantisch dominante Phrasemkomponente<br />
Hand bzw. roka der Versprachlichung folgender Konzepte dient:<br />
Hand ist Arbeit, Hand ist Werkzeug, Hand ist Macht, Hand ist Einfluss, Hand ist Hilfe.<br />
Laut der Theorie der kognitiven Metapher (Lakoff) sind das konzeptuelle Metaphern. Die<br />
Metaphorisierung basiert offensichtlich auf funktionalen und topographischen<br />
Bedeutungsdimensionen der Lexeme Hand und roka. Dabei überwiegen funktional-<br />
75
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
motorische im Sinne 'halten' bzw. 'Halten' und 'arbeiten'/'tätig sein' bzw. 'Arbeit'/'Tätigkeit'.<br />
Wenn die Hand das primäre und elementare Arbeitsgerät sowie die elementare Waffe ist,<br />
dann ist die Annahme plausibel, dass 'Arbeit', 'Tätigkeit', 'Verhältnis zur Arbeit', auch 'Kampf'<br />
als idiomatische Bedeutungsdimensionen des Lexems Hand auf der konzeptuellen<br />
Metaphern HAND IST ARBEIT, HAND IST WERKZEUG, HAND IST MACHT basieren.<br />
Die Phraseologische Redeweise ist also begründet in der Art, wie der Mensch seine Umwelt<br />
und sich selbst wahrnimmt, wie er diese Wahrnehmungen zu verstehen versucht und wie es<br />
sie versprachlicht. Damit wird die <strong>Phraseologie</strong> zu einem nicht mehr wegzudenkenden<br />
Bestandteil der alltäglichen sprachlichen Kommunikation und somit zu einem unabdingbaren<br />
Element des Sprachenlernens.<br />
Argument 2: Phraseologische Redeweise ist seit frühen Erwerbsphasen<br />
Bestandteil des individuellen Lexikons eines jeden Sprechers<br />
Phraseme sind im individuellen Gedächtnis eines Menschen verankert und zwar schon seit<br />
sehr frühen Phasen des muttersprachlichen Spracherwerbs. Nach Ergebnissen der<br />
Spracherwerbsforschung folgt die Entwicklung der muttersprachlichen phraseologischen<br />
Kompetenz der allgemeinen kognitiven Entwicklung, sodass Kinder schon sehr früh, etwa im<br />
Kindergartenalter, <strong>Phraseologie</strong> verstehen und gebrauchen können (Häcki Buhofer 1997).<br />
Phraseme werden somit nicht erst in einer relativ späten Entwicklungsstufe des<br />
Spracherwerbs verstanden und gelernt, was die so genannte Entwicklungsstufen-These<br />
behauptet und auch in der Fremdsprachendidaktik nicht selten vertreten wird. Es konnte<br />
nämlich nachgewiesen werden, dass man sie in der Muttersprache in jeder<br />
Entwicklungsstufe erwirbt. Plausibel ist dementsprechend die Lexikon-These zum<br />
<strong>Phraseologie</strong>-Erwerb (laut Häcki Buhofer 1997), die besagt, dass Phraseme einzeln und<br />
genauso wie Wörter erworben/gelernt werden, nur müssen sie in genügend großen<br />
Kontexten eingebettet vorkommen – was aber sowieso eine natürliche Sprechsituation ist.<br />
Das heißt weiterhin, dass die Kinder sich dabei in der Regel keine expliziten Gedanken<br />
machen über spezielle phraseologische Strukturen und Bedeutungen. Phraseme werden<br />
76
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
weitgehend sofort in ihrem phraseologischen/idiomatischen Sinn verstanden/erworben.<br />
Doppeldeutige Phraseme, das sind solche, die eine wörtliche und eine idiomatische Lesart<br />
zulassen, werden in ihrer phraseologischen Lesart sogar schneller als in ihrer wörtlichen<br />
Bedeutung verstanden.<br />
Die Aneignung von muttersprachlicher <strong>Phraseologie</strong> verläuft parallel mit der Aneignung von<br />
Einzelwörtern und ist nicht an ein bestimmtes Alter bzw. an eine höhere kognitive<br />
Entwicklungsstufe gebunden. Auch aus psychologisch-kognitiven Gründen wäre also<br />
angemessen, die <strong>Phraseologie</strong> didaktisch entsprechend aufzufassen und als<br />
Unterrichtsgegenstand zu etablieren (Hessky 1997; Jesenšek 2008, 2011, 2013). Aus<br />
kognitiver Sicht ist es also nicht gerechtfertigt, Phraseme als Extreme und/oder exotische<br />
Besonderheiten im Wortschatz zu behandeln, aber auch nicht als etwas, was an sich eine<br />
sprachliche Besonderheit und Eigenartigkeit einer jeden einzelnen Sprache wäre, weswegen<br />
man sie beim fremdsprachlichen Unterricht entweder vernachlässigen oder auf spätere<br />
Phasen des Lernens verschieben oder sogar von den Lerninhalten ausklammern könnte oder<br />
sollte.<br />
Argument 3: Phraseologische Redeweise ist eine der universellen Charakteristika<br />
natürlicher Sprachen<br />
Die phraseologische Ausdrucksweise gehört zu den universellen Eigenschaften natürlicher<br />
Sprachen. Phraseologisierungsprozesse gehören weitgehend zu sprachlichen Universalien,<br />
was u.a. zur Folge hat, dass zwischen Sprachen relativ viele Phraseme hochgradig<br />
übereinstimmen. Die formale (und weitgehend auch semantische) zwischensprachliche<br />
Konvergenz gilt oft für Phraseme, die als Komponente eine Körperteilbenennung haben, wo<br />
die Metaphorisierung auf biologischen Gegebenheiten und menschlich universellen<br />
Welterfahrungen basiert und somit nicht als einzelsprachspezifisch gedeutet werden kann.<br />
Ebenso beobachtet man sie bei den Phrasemen, die in einer gemeinsamen (europäischen)<br />
Kultur wurzeln, von der klassischen Literatur ausgehen oder durch Massenmedien verbreitet<br />
werden. Solche Phraseme überschreiten die Grenzen einzelner Sprachen leicht. Somit ist<br />
77
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
nicht generell die Meinung zu teilen, dass die <strong>Phraseologie</strong> zur Eigentümlichkeit und<br />
Spezialität einer jeden einzelnen Sprache gezählt wird.<br />
Argument 4: <strong>Phraseologie</strong> in zwischensprachlichen Beziehungen<br />
Es ist längst anerkannt, dass die Muttersprache im Prinzip immer ein wichtiger Faktor beim<br />
Fremdsprachenlernen ist, auf den man als Lerner greift, bewusst oder unbewusst und auch<br />
nicht nur in den Anfangsphasen des Fremdsprachenlernens. So kam auch Hallsteinsdóttir<br />
(2001) zum Schluss, dass der bekannten muttersprachlichen <strong>Phraseologie</strong> eine<br />
entscheidende Rolle beim Verstehen fremdsprachlicher Phraseme zukommt. Ihre<br />
Untersuchung zum Deutsch als Fremdsprache bestätigt deutlich, dass die phraseologischen<br />
Kenntnisse in der Muttersprache auf fremdsprachliche <strong>Phraseologie</strong> übertragen werden und<br />
dadurch die Grundlage für das Verstehen fremdsprachlicher Phraseme bilden.<br />
In fremdsprachlichen Lernprozessen entsteht somit im Sprachbewusstsein der Lerner ein<br />
System von lexikalischen Korrelationen zwischen Sprachen, die parallel als zwei lexikalische<br />
Systeme nebeneinander vorhanden sind (Ďurčo 2005). Man kann folglich annehmen, dass im<br />
individuellen Wortschatz der Fremdsprachenlerner zunächst Beziehungen im Bereich der<br />
zwischensprachlichen phraseologischen Übereinstimmungen (Konvergenzen) hergestellt<br />
werden, sodass die fremdsprachliche <strong>Phraseologie</strong> von der äquivalenten und<br />
möglicherweise konvergenten muttersprachlichen <strong>Phraseologie</strong> gestützt wird. In den<br />
Anfangsphasen des Fremdsprachenlernens sind derartige zwischensprachliche Bezüge noch<br />
besonders wichtig und ausgeprägt. Der Lerner identifiziert und entschlüsselt das<br />
fremdsprachige Phrasem, indem er Analogien zieht und Hilfe sucht beim schon Bekannten,<br />
und das ist in erster Linie seine Muttersprache, möglicherweise aber auch entsprechende<br />
Kenntnisse anderer Fremdsprachen. Vgl. Hallsteinsdóttir (2001, 300): »Die Übertragung der<br />
muttersprachlichen phraseologischen Kompetenz auf Fremdsprachen bedeutet, dass<br />
Fremdsprachler über Strategien verfügen, die ihnen die Konstruktion einer phraseologischen<br />
Bedeutung bei nichtlexikalisierten muttersprachlichen und demzufolge auch bei<br />
unbekannten fremdsprachlichen Phraseologismen ermöglichen.«<br />
78
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Gewinnbringend in Richtung des positiven Transfers (positive Auswirkung auf Lernerfolg)<br />
können hierbei die so genannten absoluten/totalen Äquivalente (Äquivalenz) fungieren.<br />
Dass derartige Übereinstimmungen nicht auszuschließen ist, zeigen Ergebnisse mancher<br />
kontrastiver Arbeiten zur <strong>Phraseologie</strong> europäischer Sprachen (Hessky 1997, Jesenšek 2008,<br />
Piirainen 2012). Natürlich können zwischensprachliche phraseologische Beziehungen auch<br />
negativen Transfer auslösen, also Interferenzstörungen verursachen, jedoch eher bei solchen<br />
Phrasemen, die zwischensprachlich mehrere formale und/oder semantisch-pragmatische<br />
Unterschiede aufweisen, also bei partiellen Äquivalenten. Schließlich ist festzustellen, dass<br />
nur diejenigen Phraseme, die zwischensprachlich gar keine phraseologischen Äquivalente<br />
nachweisen können (die so genannte Null-Äquivalenz), als einzelsprachliche Besonderheit<br />
interpretiert werden können.<br />
Die phraseologische Transfer-Geschichte möge in das Fremdsprachenlernen mehr Gewinn<br />
einbringen, als dies in der Didaktik üblicherweise behauptet wird. Die muttersprachlichen<br />
phraseologischen Kenntnisse sollten deshalb intensiver ausgenutzt werden. Dafür sprechen<br />
zunächst phraseologisch-theoretische Gründe, da <strong>Phraseologie</strong>n verschiedener Sprachen viel<br />
mehr Gemeinsames aufweisen als traditionell behauptet worden ist; ebenso von Bedeutung<br />
sind psychologisch-kognitive Gründe, wonach Phraseme seit sehr frühen Phasen des<br />
muttersprachlichen Spracherwerbs ein regelrechter Bestandteil des Wortschatzes sind,<br />
weswegen sie als Normalfall der Rede gelten müssen. Nicht zuletzt hat die Kontrastierung<br />
der Fremdsprache mit der jeweiligen Muttersprache eine intensivere Beschäftigung mit der<br />
letzteren zur Folge, was an sich als positiv einzuschätzen ist.<br />
4.3 Konsequenzen für das Fremdsprachenlernen<br />
Konsequenzen, die sich aus dem Gesagten ziehen lassen, sind methodisch-didaktischer und<br />
praktischer Art und betreffen das Fremdsprachenlernen in mehrerer Hinsicht. Sie zielen<br />
sowohl auf das individuelle und/oder das institutionelle Fremdsprachenlernen als auch auf<br />
die gesamte Planung des Sprachen-Unterrichts.<br />
79
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
4.3.1 Methodisch-didaktische Konsequenzen<br />
Synchronisierte Planung des (fremdsprachlichen) Sprachenunterrichts im<br />
Bereich <strong>Phraseologie</strong><br />
Es wurde darauf hingewiesen, dass in einigen kommunikativen Bereichen viele hochgradig<br />
konvergente Phraseme vorliegen. Das gilt auch für das Verhältnis zwischen der<br />
Muttersprache des Lernenden und der jeweiligen Fremdsprache, mit der er sich<br />
auseinandersetzt. Im fremdsprachlichen Unterricht sollte dieser Tatsache stärker als bisher<br />
Rechnung getragen werden, da hochgradig konvergente Strukturen im<br />
Fremdsprachenlernen in der Regel positiven Transfer auslösen. In methodisch-didaktischer<br />
Hinsicht wäre deshalb eine generelle inhaltliche Synchronisierung des gesamten<br />
Sprachenunterrichts gewinnbringend.<br />
Bestehende Kenntnisse der muttersprachlichen <strong>Phraseologie</strong> sollten beim<br />
fremdsprachlichen Unterricht sinnvoll und nutzbringend mit dem Phänomen der relativ<br />
hohen phraseologischen Konvergenz zwischen Sprachen verbunden werden. Dabei scheint<br />
in erster Linie die Auswahl der zu behandelnden Phraseme wichtig zu sein. Die Phraseme<br />
sollte man so auswählen, dass man dabei die phraseologische Situation in der jeweiligen<br />
Lerner-Muttersprache mit berücksichtigt. Mehr noch: Hauptsächlich sollte man von der<br />
Muttersprache ausgehen. Das bedeutet, dass diejenigen Phraseme in fremdsprachlichen<br />
Lernprozessen den Vorrang haben, für die es in der Muttersprache konvergente Strukturen<br />
gibt. Die Schwierigkeitsprogression entwickelt sich somit von den so genannten guten<br />
phraseologischen Freunden (Phraseme mit struktureller und inhaltlicher Übereinstimmung)<br />
über eventuelle falsche phraseologische Freunde (Phraseme mit struktureller Deckung,<br />
jedoch mit fehlender semantischer Äquivalenz oder umgekehrt) bis zu den fremdsprachigen<br />
Phrasemen, die in der Lerner-Muttersprache eine strukturell und bildlich völlig<br />
unterschiedliche oder sogar keine phraseologische Systemäquivalenz nachweisen können.<br />
80
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Entwicklung phraseologischer Lehr- und Lernmaterialien<br />
Wird der Faktor Muttersprache als eine wesentliche Größe verstanden, die das<br />
Fremdsprachenlernen linguistisch und psychologisch in allen Lernstufen mitbestimmt, so ist<br />
dem auch didaktisch nachzugehen, und zwar so, dass ausführliche und didaktisch<br />
aufbereitete sprachvergleichende Beschreibungen von <strong>Phraseologie</strong> entwickelt und<br />
erarbeitet werden. Es sind dabei solche vom Nutzen, die ausgewählte Bereiche der<br />
jeweiligen muttersprachlichen <strong>Phraseologie</strong> den entsprechenden fremdsprachlichen<br />
gegenüberstellen und dadurch auf Übereinstimmungen und Unterschiede deutlich<br />
aufmerksam machen. So ist dem Fremdsprachenlernenden ständig die Möglichkeit gegeben,<br />
auf die muttersprachliche <strong>Phraseologie</strong> zuzugreifen. Weiterhin sollten solche<br />
Lernmaterialien didaktisch aufbereitet werden, denn pure Angaben von anderssprachigen<br />
(fremdsprachigen) Äquivalenten genügen im Fremdsprachenlernen weniger oder überhaupt<br />
nicht. Zur Entwicklung einer aktiven phraseologischen Kompetenz benötigt der Lernende<br />
ausführliche Informationen zur Semantik, Grammatik und Pragmatik der ausgewählten<br />
<strong>Phraseologie</strong>.<br />
Hinsichtlich der Kriterien, nach denen man didaktisch relevante <strong>Phraseologie</strong> auswählt, ist<br />
weiterhin sehr wichtig, dass die selektionierten Phraseme im täglichen muttersprachlichen<br />
Sprachgebrauch auch aktuell und geläufig sind. Es hat ja nur wenig Sinn, wenn veraltete und<br />
wenig geläufige Phraseme im Fremdsprachenlernen thematisiert werden. Ebenso beeinflusst<br />
die Geläufigkeit das Verstehen von fremdsprachlichen Phrasemen wesentlich, eben nach<br />
dem Motto: Je öfter man ein Phrasem zu hören oder zu lesen bekommt, desto leichter und<br />
schneller versteht und erlernt man ihn. Darüber hinaus können Phraseme nur dann als<br />
didaktisch relevant gelten, falls sie in didaktisch relevante thematische Felder eingebettet<br />
werden können, womit sie an kommunikativer Brauchbarkeit gewinnen.<br />
Für eine systematischere und effektive Entwicklung der phraseologischen Kompetenz ist<br />
weiterhin notwendig, dass die <strong>Phraseologie</strong> prinzipiell in genügend großen Kontexten, das<br />
heißt in textuellen und somit funktionalen Zusammenhängen behandelt wird. Dies deshalb,<br />
weil Phraseme in der Rede, im Sprachgebrauch ja prinzipiell im Text eingebettet und nicht<br />
81
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
isoliert vorkommen und auch deshalb, weil der entsprechende Kontext beim Verstehen bzw.<br />
bei der Konstruktion der Bedeutung Hilfe leistet (Hallsteinsdóttir 2001). Eine textisolierte<br />
Behandlung von Phrasemen würde dagegen eine künstliche, unnatürliche Situation<br />
herbeiführen, ähnlich einer isolierten Nachschlagehandlung in einer Wörterbuch-Situation.<br />
Und nicht zuletzt kann man sich auf die Wörterbücher und ihre Behandlung der <strong>Phraseologie</strong><br />
nicht immer vollständig verlassen.<br />
4.3.2 Praktische Konsequenzen<br />
Praktische Konsequenzen einer derartigen theoretischen und methodisch-didaktischen<br />
Haltung sind wiederum mehrere und verschiedene:<br />
Konsequenzen in der Fremdsprachenlehrerausbildung<br />
<strong>Phraseologie</strong> als selbständiges Studienfach sollte zum festen Bestandteil der universitären<br />
Ausbildung in Lehramt-Studienprogrammen und zum Inhalt der Fortbildungs- und<br />
Weiterbildungsprogramme für Sprachenlehrer werden. Das ist zurzeit im europäischen<br />
Germanistik-Studium nicht unbedingt und nicht immer der Fall. Dies wäre eine wichtige<br />
Aufgabe der gerade aktuellen universitären Bildungsreform in Europa.<br />
Konsequenzen in der Lehr- und Lernmaterialentwicklung<br />
Entsprechende kontrastiv und didaktisch ausgerichtete Beschreibungen der <strong>Phraseologie</strong>,<br />
die eine Fremdsprache der jeweiligen Muttersprache des Fremdsprachenlerners<br />
gegenüberstellen, sind zu erarbeiten, da erst diese eine fachlich gesicherte Grundlage für<br />
eine optimale Festlegung der phraseologischen Inhalte im Fremdsprachenlernen darstellen.<br />
Darüber hinaus müssten diese eventuelle Besonderheiten in zwischensprachlichen<br />
phraseologischen Beziehungen berücksichtigen, was notwendigerweise zur Folge hat, dass<br />
die fremdsprachendidaktisch relevanten phraseologischen Inhalte nicht universell für alle<br />
Sprachen festgelegt werden können, sondern dass sie regionalisiert werden müssen. Dies ist<br />
82
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
die Aufgabe der Phraseologen, die kontrastiv arbeiten und Lexikographen, die zwei- oder<br />
mehrsprachige Wörterbücher, Datenbanken und/oder andersartige Lernmaterialien<br />
entwickeln.<br />
Konsequenzen in der FS-Planung und Festlegung von Curricula<br />
Eine integrative, fächerübergreifende Koordination der Lerninhalte ist notwendig, die jedoch<br />
nicht bei den Fremdsprachen stehen bleibt, sondern unbedingt auch die jeweilige<br />
Muttersprache mit einbezieht. Dies ist die Aufgabe der Sprachenlehrer und<br />
Sprachendidaktiker, da eigentlich nur diese für curriculare Entwicklung und Festlegung und<br />
somit für die Sprachenpolitik zuständig sein sollten.<br />
Konsequenzen in der täglichen Praxis des Sprachenlernens und<br />
Sprachenunterrichts<br />
Intensive Bezüge zum muttersprachlichen Unterricht sowie zum Unterricht anderer<br />
Fremdsprachen sind herzustellen, da nur dies ist eine lebensnahe und natürliche Situation<br />
ist. In der Realität existieren die Sprachen ja in der Regel nicht voneinander isoliert und<br />
getrennt, dies schon gar nicht in einer globalisierten und internationalisierten Welt von<br />
heute. Nur eine solche Vorgehensweise kann der sprachlichen Pluralität, der angestrebten<br />
Mehrsprachigkeit und der hochgeschätzten Interkulturalität, die in der EU sowohl deklarativ<br />
gefordert als auch tatsächlich gefördert werden, Rechnung getragen werden.<br />
Weiterführende Literatur<br />
Zu den hier besprochenen Fragen zur Phraseodidaktik finden sie weitere Informationen in<br />
Burger (2010), Hallsteinsdottir 2001 und 2011, Jesenšek 2006, 2008, 2011 und 2013,<br />
Kacjan/Kralj 2011, Kacjan 2012, Jazbec/Enčeva 2012.<br />
83
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
84
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
ANHANG<br />
Teil A: Glossar<br />
Dieses Glossar umfasst die wichtigsten Fachtermini, die im vorliegenden Kompendium<br />
verwendet sind. Sie werden nur kurz definiert; nähere Erläuterungen zu den Begriffen, die<br />
sie benennen, findet man im Kompendium selbst. Sie sind strikt alphabetisch eingeordnet;<br />
Definitionen enthalten Verweise auf die weiteren im Glossar enthaltenen Fachtermini.<br />
Ambiguität<br />
semantische Eigenschaft sprachlicher Zeichen (Wörter, Wortverbindungen, Sätze),<br />
wonach diese auf verschiedene Weise interpretiert werden können, auch<br />
Mehrdeutigkeit<br />
Aphorismus<br />
kurzer, unabhängiger, origineller, als eigenständiger Text konzipierter Gedanke; von<br />
einem Sprichwort unterscheidet er sich dadurch, dass er nicht allgemein bekannte<br />
Weisheiten ausdrückt, sondern originelle, autorbezogene, oft subjektive und kritische<br />
Urteile, Erkenntnisse hervorbringt<br />
Äquivalenz<br />
die (zwischensprachliche) Identität oder Ähnlichkeit der phraseologischen Bedeutung<br />
Bauernregel<br />
Sprichwort, dessen Inhalt die landwirtschaftlichen Erfahrungen und Praktiken der<br />
Menschen sowie die Zucht der Tiere thematisiert<br />
85
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Epigramm<br />
literarische Gattung mit typischer formaler Struktur: meist Distichon, ein Verspaar,<br />
bestehend aus einem Heksameter und einem Pentameter und Titel<br />
Festigkeit<br />
Stabilität<br />
Geflügeltes Wort<br />
literarisches Zitat, das allgemein verwendet wird und folglich als allgemein bekannt<br />
gilt; die Quelle (oft klassische Literatur und Bibel) wird beim Gebrauch nicht mehr<br />
mitgedacht<br />
Idiom<br />
satzgliedwertiges Phrasem mit ausgeprägter Eigenschaft der Idiomatizität<br />
Idiomatik<br />
Idiomatizität<br />
1. Sprachwissenschaftliche Forschungsdisziplin zur Erforschung und Beschreibung<br />
der Idiome; 2. Gesamtbestand der Idiome einer Sprache<br />
Eigenschaft der Phraseme, wonach ihre phraseologische Gesamtbedeutung aus<br />
der Summe der Bedeutungen einzelner Bestandteile ( Komponenten) nicht<br />
erschließbar ist<br />
Kollokation<br />
typisches, häufiges, voraussagbares Auftreten von zwei Wörtern<br />
Konvergenz<br />
86
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
die (zwischensprachliche) Identität oder Ähnlichkeit der formalen Phrasemstruktur<br />
Komparative Phraseme<br />
Phraseme, die einen Vergleich versprachlichen und eine typische dreiteilige<br />
semantisch-syntaktische Struktur einnehmen (Vergleichsobjekt, tertium<br />
comparationis, Vergleichsmaß); Vergleichsobjekt und Vergleichsmaß verbindet<br />
jeweils eine Partikel (wie, als, als ob) miteinander<br />
Komponente<br />
einzelnes Element, Bestandteil (Wort) eines Phrasems<br />
Lexem<br />
Einheit des Wortschatzes, des Lexikons; Lexeme sind Einzelwörter und/oder feste<br />
Wortverbindungen<br />
Lexikalisiertheit<br />
Eigenschaft der Phraseme, wonach diese als feste Wortverbindungen mit<br />
ganzheitlicher Bedeutung zum Bestandteil des Lexikons (Wortschatzes) einer Sprache<br />
werden<br />
Maxime<br />
Lebensregel, die subjektive, individuelle Grundsätze moralischen Handelns ausdrückt<br />
Medizinisches Sprichwort<br />
Sprichwort, dessen Inhalt Ratschläge zum Erhalten oder Erlangen der Gesundheit<br />
thematisiert<br />
Mehrdeutigkeit<br />
87
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Ambiguität<br />
Mehrgliedrigkeit<br />
Polylexikalität<br />
Modifikation<br />
gelegentliche, einmalige, autorenspezifische Umgestaltung einer phraseologischen<br />
Ausgangsform<br />
Paarformeln<br />
Phraseme, bestehend aus zwei Komponenten, die identische Lexeme sind oder der<br />
gleichen Wortart angehören; verbunden werden sie in der Regel durch<br />
Konjunktionen und Präpositionen; auch Zwillingsformeln<br />
Phrasem<br />
phraseologische Einheit einer Sprache; relativ feste Wortverbindung, deren<br />
Gesamtbedeutung mit der Summe von Bedeutungen einzelner Bestandteile in der<br />
Regel nicht gleichgesetzt werden kann<br />
<strong>Phraseologie</strong><br />
1. Sprachwissenschaftliche Forschungsdisziplin zur Erforschung und Beschreibung<br />
phraseologischer Bestände einzelner Sprachen; 2. der phraseologische Bestand einer<br />
Sprache, die Gesamtheit der Phraseme einer Sprache<br />
Phraseologischer Teilsatz<br />
Phrasem mit einleitendem Verb und Nebensatzstruktur<br />
Parömiologie<br />
88
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
1. Sprachwissenschaftliche und/oder volkskundliche Forschungsdisziplin zur<br />
Erforschung und Beschreibung der Sprichwörter einzelner Sprachen; 2. der<br />
Sprichwort-Bestand einer Sprache, die Gesamtheit der Sprichwörter einer Sprache<br />
Polylexikalität<br />
Eigenschaft der Phraseme, wonach diese immer aus mehreren Teilen (Wörtern; <br />
Komponenten) bestehen; sie sind immer polylexikal (mehrgliedrig); auch<br />
Mehrgliedrigkeit<br />
Rechtssprichwort<br />
Sprichwort, dessen Inhalt historisch-kulturell bedingte Rechtsregelung oder soziale<br />
Ordnung thematisiert<br />
Reproduzierbarkeit<br />
Eigenschaft der Phraseme, wonach diese als feste Wortverbindungen mit<br />
ganzheitlicher Bedeutung im Sprachgebrauch nicht jedes Mal neu gebildet werden,<br />
sondern als vorgefertigte Einheiten zur Verfügung stehen<br />
Sentenz<br />
kurzer, prägnant formulierter Satz mit philosophisch-literarischem Hintergrund; der<br />
Autor und die Quelle sind bekannt<br />
Sprichwort<br />
allgemein bekannter, festgeprägter Satz, der eine Lebensregel oder Weisheit in<br />
prägnanter, kurzer Form ausdrückt; gehört zur Klasse der propositionalen<br />
nominativen Phraseme<br />
Sprichwortmodifikation<br />
89
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
einmalige bzw. gelegentliche Abwandlung eines usuellen Sprichwortes mit<br />
besonderer stilistischer Wirkung<br />
Sprichwortvariante<br />
häufige Abwandlung eines allgemein bekannten Sprichwortes, die als lexikalisiert<br />
anzusehen ist; vgl. Variante<br />
Stabilität<br />
Eigenschaft der Phraseme, wonach diese in Struktur und Bedeutung (relativ) fest<br />
sind; im mentalen Lexikon werden sie als feste Einheiten gespeichert und in der Rede<br />
als solche reproduziert; auch Festigkeit<br />
Variabilität<br />
Eigenschaft der Phraseme, wonach diese in Struktur veränderlich sind<br />
Variante<br />
usuelle, wiederholte, häufig vorkommende Abwandlungen der phraseologischen<br />
Ausgangsform<br />
Wellerismus<br />
modellhaft erweitertes Sprichwort mit dreiteiliger Struktur und humoristischironisch-satirischer<br />
Wirkung; die Struktur besteht aus dem Anfangsteil (bekanntes<br />
Sprichwort), dem Mittelteil (die Nennung dessen, der das Angangssprichwort äußert)<br />
und dem Schlussteil (die Beschreibung der Situation, in der die gesamte Struktur<br />
geäußert wird)<br />
Wettersprichwort<br />
90
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Sprichwort, dessen Inhalt die klimatischen Beobachtungen der Menschen<br />
thematisiert<br />
Zwillingsformeln<br />
Paarformeln<br />
91
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Teil B: Wörterbuchverzeichnis<br />
Das Wörterbuchverzeichnis umfasst Angaben zu den Wörterbüchern, die im Kompendium<br />
besprochen werden. Es handelt sich um eine Liste der ausgewählten lexikographischen<br />
Nachschlagewerke, anhand deren man weitere und ausführlichere Kenntnisse zur<br />
<strong>Phraseologie</strong> und Parömiologie des Deutschen erwerben kann. Das Verzeichnis ist<br />
alphabetisch nach dem Autor bzw. ersten Autor geordnet.<br />
Beyer, Horst & Annelies (1985): Sprichwörterlexikon. Sprichwörter und sprichwörtliche<br />
Ausdrücke aus deutschen Sammlungen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München.<br />
Blum, Joachim Christian (1780-1782): Deutsches Sprichwörterbuch.<br />
http://archive.org/details/deutschessprich00blumgoog<br />
Büchmann, Georg (1993): Geflügelte Worte. Der klassische Zitatenschatz. 39. Aufl. Frankfurt<br />
am Main, Berlin. (Erstausgabe 1864).<br />
Büchmann, Georg (2007): Der Neue Büchmann – Geflügelte Worte. Der klassische<br />
Zitatenschatz. Berlin. http://www.aronsson.se/buchmann/<br />
DUDEN (2013). Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik. 4., neu bearbeitete<br />
und aktualisierte Aufl. Berlin, Mannheim, Zürich.<br />
von Lüttich, Ekbert: Fecunda ratis. http://archive.org/details/egbertsvonlttic00ltgoog<br />
Mieder, Wolfgang (1989): Antisprichwörter. 3 Bde. Wiesbaden.<br />
Nopitsch, Christian Conrad: Literatur der Sprichwörter. Ein Handbuch für Literarhistoriker,<br />
Bibliographen und Bibliothekare<br />
http://archive.org/details/literaturderspr00nopigoog (letzter Zugriff)<br />
92
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Petri (Peters), Friedrich (1605; 1983): Der Teuschen Weißheit. Hamburg. Nachdruck hrsg.<br />
von W. Mieder. Bern.<br />
Röhrich, Lutz (1991, 1992): Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 3 Bde.<br />
Freiburg.<br />
Schmidt, Walter (2012): Morgenstund ist ungesund. Unsere Sprichwörter auf dem Prüfstand.<br />
Reinbek bei Hamburg.<br />
Schulze, Carl (1860; 1987): Die biblischen Sprichwörter der deutschen Sprache. Göttingen.<br />
Nachdruck hrsg. von W. Mieder. Bern.<br />
Sailer, Johann Michael: Die Weisheit auf der Gasse, oder Sinn und Geist deutscher<br />
Sprichwörter.<br />
http://books.google.si/books/about/Die_weisheit_auf_der_gasse.html?id=7PtHAAAAMAAJ<br />
&redir_esc=y<br />
Seidl, Helmut A. (2010): Medizinische Sprichwörter. Das große Lexikon deutscher<br />
Gesundheitsregeln. Darmstadt.<br />
Seidl, Helmut A. (2012): Den Kopf halt kühl, die Füße warm! Sprichwörtliche<br />
Gesundheitstipps und was dahinter steckt. Darmstadt.<br />
Seiler, Friedrich: Deutsche Sprichwörterkunde.<br />
http://archive.org/details/deutschesprichw00seiluoft<br />
Simrock, Karl (1846; 1988): Die Deutschen Sprichwörter. Nachdruck von W. Mieder.<br />
Stuttgart.<br />
SprichWort (2010). SprichWort-Plattform. Eine Internetplattform für das Sprachenlernen.<br />
http://www.sprichwort-plattform.org/<br />
93
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Wander, Karl Friedrich Wilhelm (1867-1880; 1987): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. 5 Bde.<br />
Augsburg. Nachdruck der Ausgabe 1867.http://www.zeno.org/Wander-1867<br />
94
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Teil C: Literaturverzeichnis<br />
Im Literaturverzeichnis ist die wichtigste Fachliteratur zur deutschen <strong>Phraseologie</strong> und<br />
Parömiologie angegeben. Es handelt sich um eine Liste der ausgewählten Publikationen, in<br />
denen man zu allen im Kompendium besprochenen Themen weiter lesen kann. Das<br />
Verzeichnis ist alphabetisch nach dem Autor bzw. ersten Autor geordnet.<br />
Burger, Harald (2010): <strong>Phraseologie</strong>. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. 4., neu<br />
bearbeitete Aufl. Berlin.<br />
Harald Burger et al. (Hrsg.) (2007): <strong>Phraseologie</strong>. Ein internationales Handbuch der<br />
zeitgenössischen Forschung. Berlin; New York.<br />
Burger, Harald, Annelies Buhofer, Ambros Sialm (1982): Handbuch der <strong>Phraseologie</strong>. Berlin,<br />
New York.<br />
Coulmas, Florian (1981): Routine im Gespräch. Zur pragmatischen Fundierung der Idiomatik.<br />
Wiesbaden.<br />
Dobrovol’skij, Dimitrij (1988): <strong>Phraseologie</strong> als Objekt der Universalienlinguistik. Leipzig.<br />
Dobrovol’skij, Dimitrij, Elisabeth Piirainen (2005): Figurative Language. Cross-cultural and<br />
Cross-linguistic Perspectives. Amsterdam etc.<br />
Dobrovol’skij, Dimitrij, Elisabeth Piirainen (2009): Zur Theorie der <strong>Phraseologie</strong>: Kognitive<br />
und kulturelle Aspekte. Tübingen.<br />
Donalies, Elke (2009): Basiswissen. Deutsche <strong>Phraseologie</strong>. Tübingen, Basel.<br />
Donalies, Elke (2012): <strong>Phraseologie</strong>. Tübingen.<br />
Ďurčo, Peter (2005): Sprichwörter in der Gegenwartssprache. Trnava.<br />
95
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Fleischer, Wolfgang (1997): <strong>Phraseologie</strong> der deutschen Gegenwartssprache. 2. Aufl.<br />
Tübingen.<br />
Földes, Csaba, Helmut Kühnert (1990): Hand- und Übungsbuch zur deutschen <strong>Phraseologie</strong>.<br />
Budapest.<br />
Földes, Csaba (1996): Deutsche <strong>Phraseologie</strong> kontrastiv: Intra- und interlinguale Zugänge.<br />
Heidelberg.<br />
Földes, Csaba (2007): Phraseme mit spezifischer Struktur. In: Burger, Harald et al. (Hrsg.):<br />
<strong>Phraseologie</strong>. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. 1. Halbband.<br />
Berlin, New York, 424-435.<br />
Glaboniat, Manuela (Hg.) (2004): Profile deutsch. Lernzielbestimmung, Kann-Beschreibungen<br />
und kommunikative Mittel für die Niveaustufen A1, A2, B1, B2, C1 und C2 des »Gemenisamen<br />
europäischen Referenzrahmens für Sprachen«. Berlin.<br />
Hacki Buhofer, Annelies (1997): Phraseologismen im Spracherwerb. In: Wimmer,<br />
Rainer/Berens, Franz (Hgg.): Wortbildung und <strong>Phraseologie</strong>. Tübingen, S. 209-232.<br />
Hallsteinsdóttir, Erla (2001): Das Verstehen idiomatischer Phraseologismen in der<br />
Fremdsprache Deutsch. Hamburg.<br />
Hallsteinsdóttir, Erla (2011): Aktuelle Forschungsfragen der deutschsprachigen<br />
Phraseodidaktik. In: Linguistik online 47, H. 3, S. 3-31.<br />
Hessky, Regina (1997): Feste Wendungen – ein heißes Eisen? Einige phraseodidaktische<br />
Überlegungen für den DaF. In: Deutsch als Fremdsprache 3, 139-143.<br />
Hyvärinen, Irma (2011): Zu deutschen Höflichkeitsformeln mit bitte und ihren finnischen<br />
Äquivalenten. In: Hyvärinen, Irma, Annikki Liimatainen (Hrsg.), 147-203.<br />
96
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Hyvärinen, Irma (2011): Zur Abgrenzung und Typologie pragmatischer Phraseologismen –<br />
Forschungsüberblick und offene Fragen. In: Hyvärinen, Irma, Annikki Liimatainen (Hrsg.), 9-<br />
43.<br />
Hyvärinen, Irma, Annikki Liimatainen (Hrsg.) (2011): Beiträge zur pragmatischen<br />
<strong>Phraseologie</strong>. Frankfurt am Main.<br />
Jazbec, Saša, Milka Enčeva (2012): Aktuelle Lehrwerke für den DaF-Unterricht unter dem<br />
Aspekt der Phraseodidaktik. In: Porta ling. 17, S. 153-171.<br />
Jesenšek, Vida (2000): Frazeologija In horoskop pri pouku nemškega jezika. In: Vestnik 34, H.<br />
1-2, S. 35-42.<br />
Jesenšek, Vida (2007): Pregovori med preteklostjo in prihodnostjo. In: Jesenšek, Marko (Hg.):<br />
Besedje slovenskega jezika. Maribor, 276-290.<br />
Jesenšek, Vida (2008): Begegnungen zwischen Sprachen und Kulturen. Beiträge zur<br />
<strong>Phraseologie</strong>. Bielsko-Biała.<br />
Jesenšek, Vida (2010): Sprichwörter im Netz. Eine Internet-Lernplattform für das<br />
Sprachenlernen. In: Mellado Blanco, Carmen/Buján Otero, Patricia/Herrero Kaczmarek<br />
Claudia (Hgg.): La fraseografía del S. XXI. Nuevas propuestas para el español y el alemán.<br />
Berlin, S. 125-148.<br />
Jesenšek, Vida (2012): Sprichwörter aus (kontrastiv-)linguistischer, lexikografischer und<br />
didaktischer Sicht: zum Projekt SprichWort. In: Steyer, Kathrin (Hg.): Sprichwörter<br />
multilingual. Theoretische, empirische und angewandte Aspekte der modernen<br />
Parömiologie. Tübingen, S. 275-268.<br />
Jesenšek, Vida (2013): Sprichwörter im Sprachenlernen und was sollten Lehrende davon<br />
wissen. (Im Druck).<br />
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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Jesenšek, Vida, Melanija Fabčič (Hgg.) (2007): <strong>Phraseologie</strong> kontrastiv und didaktisch. Neue<br />
Ansätze in der Fremdsprachenvermittlung. Maribor.<br />
Kacjan, Brigita (2012): Didaktische Lerntipps für das Sprichwortlernen. Bedeutung,<br />
Funktionen und Umsetzung. In: Steyer, Kathrin (Hg.): Sprichwörter multilingual.<br />
Theoretische, empirische und angewandte Aspekte der modernen Parömiologie. Tübingen,<br />
S. 453-470.<br />
Kralj, Nataša, Brigita Kacjan (2011): <strong>Phraseologie</strong>unterricht in der Zeit der neueren<br />
Lernmedien. In: Linguistik online 47, H. 3. http://www.lInguistikonlIne.de/47_11/kacjanKralj.html.<br />
Koller, Werner (1977): Redensarten. Linguistische Aspekte, Vorkommensanalysen,<br />
Sprachspiel. Tübingen.<br />
Koller, Werner (2007): Probleme der Übersetzung von Phrasemen. In: Burger, H. etc. (Hrsg.):<br />
<strong>Phraseologie</strong>. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. Bd. 1. Berlin,<br />
New York, 605-613.<br />
Korhonen, Jarmo (2007): Probleme der kontrastiven <strong>Phraseologie</strong>. In: Burger, H. etc. (Hrsg.):<br />
<strong>Phraseologie</strong>. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. Bd. 1. Berlin,<br />
New York, 574-589.<br />
Kühn, Peter (1992): Phraseodidaktik. Entwicklungen, Probleme und Überlegungen für den<br />
Muttersprachenunterricht und den Unterricht DaF. In Fremdsprachen Lehren und Lernen 21:<br />
169-189.<br />
Kühn, Peter (1996): Redewendungen – nur im Kontext! Kritische Anmerkungen zu<br />
Redewendungen in Lehrwerken. In Fremdsprache Deutsch 15, 2: 10-16.<br />
98
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Kühn, Peter (2007): Phraseme im Muttersprachenunterricht. In Burger, H. etc. (eds.),<br />
<strong>Phraseologie</strong>. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. Bd. 2. Berlin,<br />
New York: Walter de Gruyter, 881-893.<br />
Lee, Jing-Ru (2005): Deutsche und chinesische Sprichwörter. Ein linguistischer konfrontativer<br />
Vergleich. Baltmannsweiler.<br />
Lewandowska, Anna (2008): Sprichwort-Gebrauch heute. Ein interkulturell-kontrastiver<br />
Vergleich von Sprichwörtern anhand polnischer und deutscher Printmedien. Bern etc.<br />
Lüger, Heinz-Helmut (1999): Satzwertige Phraseologismen. Eine pragmalinguistische<br />
Untersuchung. Wien.<br />
Lüger, Heinz-Helmut (2007): Pragmatische Phraseme: Routineformeln. In: Burger, H. etc.<br />
(Hrsg.): <strong>Phraseologie</strong>. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. Bd. 1.<br />
Berlin, New York, 444-459.<br />
Malberg, Horst (1999): Bauernregeln. Aus meteorologischer Sicht. 3. Aufl. Berlin etc.<br />
Mieder, Wolfgang (1985): Sprichwort, Redensart, Zitat. Tradierte Formelsprache in der<br />
Moderne. Bern.<br />
Mieder, Wolfgang (1989): Das Sprichwörterbuch. In: Hausmann, Franz Josef et al. (Hrsg.):<br />
Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. 1. Teilband. Berlin, New<br />
York, 1033-1044.<br />
Mieder, Wolfgang (1992): Sprichwort – Wahrwort!? Studien zur Geschichte, Bedeutung und<br />
Funktion deutscher Sprichwörter. Frankfurt am Main.<br />
Mieder, Wolfgang (1995): »Alles in bester Unrodnung«. Zu den sprichwörtlichen Aphorismen<br />
von Žarko Petan. In: Mieder, W.: Sprichwörtliches und Geflügeltes. Sprachstudien von Martin<br />
Luther bis Karl Marx. Bochum, 157-174.<br />
99
<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
Mieder, Wolfgang (1995a): Sprichwörtliches und Geflügeltes. Sprachstudien von Martin<br />
Luther bis Karl Marx. Bochum.<br />
Mieder, Wolfgang (1999): Sprichwörter, Redensarten – Parömiologie. Heidelberg.<br />
Mieder, Wolfgang (2009): International Bibliography of Paremiology and Phraseology. Vol. I,<br />
II. Berlin, New York.<br />
Palm, Christine (1997): <strong>Phraseologie</strong>. Eine Einführung. 2. Aufl. Tübingen.<br />
Piirainen, Elisabeth (2012): Widespread Idioms in Europe and Beyond. Toward a Lexicon of<br />
Common Figurative Units. New York etc.<br />
Pilz, Klaus Dieter (1981): Redensartenforschung. Stuttgart.<br />
Röhrich, Lutz, Mieder, Wolfgang (1977): Sprichwort. Stuttgart.<br />
Sabban, Annette, Jan Wirrer (Hrsg.) (1991): Sprichwörter und Redensarten im<br />
interkulturellen Vergleich. Opladen.<br />
Sava, Doris (2009): Traditionen und Perspektiven phraseologischer Forschung. Sibiu.<br />
Stein, Stephan (1995): Formelhafte Sprache: Untersuchungen zu ihren pragmatischen und<br />
kognitiven Funktionen im gegenwärtigen Deutsch. Frankfurt am Main etc.<br />
Umurova, Gulnas (2005): Was der Volksmund in einem Sprichwort verpackt ...: moderne<br />
Aspekte des Sprichwortgebrauchs anhand von Beispielen aus dem Internet. Frankfurt am<br />
Main etc.<br />
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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />
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