Dossier 86 - Guerilla-Marketing-Portal
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Dossier
Stories, mit denen virales Marketing zur Höchstform aufblüht,
spielen kunstvoll mit Wahrheit und Übertreibung und zeugen von
undressierter Phantasie. So und nur so entstehen Imagezugewinne
für Marken, werden Werbebotschaften zu gerne genossenen Unterhaltungscocktails.
Dossier 87
Das Einhorn, das Anne und Jörn im Juni letzten
Jahres in den Schweizer Alpen an einem
weit entfernten Steilhang mit der Kamera
erhaschten, war nie dort, aber viele wollten
das gar nicht wahrhaben. Selbst die beiden
Laiendarsteller aus Kiel, die den vermeintlichen
Amateurfilm, in den das weiße Märchenross
nachträglich hineinmontiert wurde,
auf ihrer Homepage zeigten, kamen kaum
vom Bloggen los. Von Anfang an war die
Geschichte einfach viel zu schön, um wahr
zu sein. Aber sind genau das nicht immer die
allerschönsten Geschichten?! Was Wunder,
dass mehr als eine Viertelmillion Menschen
auf Metacafé, Yahoo!, AOL.Video und Youtube
über den Sekundenauftritt des wunderschönen
Tieres staunten. In hunderten von
Blogs und Foren wurde auf Deutsch („das
hat ein echtes Horn“), Englisch („that was
SO DEFINITELY a unicorn!“) und Chinesisch
(„hatwsSDcorn“) gerätselt, ob das
Ganze echt sei. Die Geschichte tauchte angeblich
sogar bei CNN, mit Sicherheit in europäischen
TV-Shows und Zeitungen auf. Der
Gemeindepräsident von Val Cama, wo der
Film entstand, ließ sich in einem Hubschrauber
über das Gebiet fliegen, in welchem das
Märchenpferd gesichtet worden war.
Erst ganz allmählich brachte im Gästebuch
von Anne und Jörn jemand die Vermutung
auf, das Einhorn könnte etwas mit
einem Schokoladenhersteller zu tun haben,
für dessen Marke das Fabelwesen Pate stünde.
Jemand schrieb: „Vielleicht ist denen das
Einhorn beim Dreh von neuen Werbespots
abgehauen.“ Tatsächlich bestätigte Chocolat
Frey auf Anfragen, man habe kürzlich neue
Filme produziert ...
Einhorn oder Keinhorn?
„Es ist das zweite Mal, dass wir den viralen
Weg gehen und damit die klassische TV-Werbung
stützen“, gibt Pressesprecher Christoph
Schmassmann Auskunft. „Ziel war es, das
Einhorn als Markenzeichen ‚Chocolat Frey’
lebendig werden zu lassen und für ein breites
Publikum erlebbar zu machen. Außerdem
sollte das Einhorn auch in Amerika und Asien
zu reden geben, den neuen Märkten, die Chocolat
Frey mit ihrem Einhorn erobern will.“
Ein lebendiges Märchen, das da von
der Werbeagentur Publicis in der Schweiz
ausgeheckt und von der Agentur Vibrio online
verbreitet wurde. Zu schade, dass es zu Ende
ist. Immerhin versprechen die Werber: „Die
Geschichte wird vorerst nur in der Schweiz
aufgelöst, im Ausland nicht.“
Für Lukas Dopstadt, Ideenlieferant und
Blogger auf guerilla-marketing-foederation.
de, ist diese Geschichte ein gelungenes Beispiel
für „subversives Viralmarketing mittels
Storytelling: In einer außergewöhnlichen, ja
unglaublichen Fiktivgeschichte wird via indirektem
Product Placement für eine Marke
geworben.“ Idee, Machart und Timing passen
hautnah zum Produkt. In der Erfindung und
Umsetzung von phantastischen Fiktionen,
die so aufmerksamkeitsstark sind, dass sie
sich wie ein Lauffeuer verbreiten, liegen
die Ursprünge des viralen Marketing – man
erinnere sich an die Vorgeschichte zu „the
Blair Witch Project“. Wer weiß: Vielleicht war
auch der russische „Harry Potter“-Fotograf,
der sich mit den EXIF-Daten seiner Kamera
verriet, Teil einer Werbekampagne: Man hat
nie wieder etwas von ihm gehört.
Echte Hammerwerbung
Die Debatte um Authentizität und Ursprung
des „Hammer-Jongleur“-Filmclips wurde
Ende letzten Jahres aufgelöst: Er stammte
von OBI selbst: Das in Amateurästhetik
gedrehte Online-Video zeigt einen Heimwerker
in seinem unausgebauten Dachstuhl, der
gefährlich mit mehreren Hämmern gleichzeitig
jongliert und auf diese Weise einen Nagel
nach und nach in den Dachbalken treibt.
Vorher kündigt der Protagonist eine „echte
OBI-Hammerwerbung“ an.
Nach kurzer Zeit hatte der virtuose
Jongleur mit seinem Filmchen über vier
Millionen Viewer erreicht und laut Aussage
des Unternehmens tausende Diskussionsbeiträge
angestoßen. Über YouTube, Metacafé,
MySpace, Break und andere internationale
Portale verbreitete sich die geplante Epidemie
unter weiteren 1,8 Millionen Usern,
u.a. in den Beneluxländern, Großbritannien,
Osteuropa und den USA.
Das Video diente als viraler Motor einer
integrierten Kampagne während der OBI-Angebotsaktion
„Hammer-Herbst“. „Neben der
enormen Reichweite, die die Kampagne im
Internet erzielt hat, freuen wir uns vor allem
über die aktive Wahrnehmung unserer Aktion
und der Marke OBI, die sich in den zahlreichen
Diskussionen ausdrückt“, beschrieb
Wolfram Stroese, OBI Vorstand Deutschland,
die Ergebnisse der Kommunikationsmaßnahme.
Die Kreation des Videos stammt
von der auf Viral Marketing spezialisierten
Agentur DSG - Dialog Solutions GmbH.
Ziel der viralen Maßnahme war es, die
zeitgleich durch TV-Spot, Radioschaltung und
Printanzeige erzeugte Bekanntheit weiter
auszubauen, zu festigen und in Mundpropaganda
zu überführen. Wolfram Stroese: „Es
ist uns wichtig, ganz nah an der klassischen
Kampagne eine Story zu erzählen, die unterhaltsam
ist, zur Diskussion anregt und somit
Gespräche über die Marke OBI auslöst.“
Diskussionsanstoß anstatt klassischer
Push-Strategie: Die Zuschauer sollten die
Kampagne proaktiv für sich entdecken.
Indem der Clip die Spannung zwischen
Authentizität und Markenandeutung hält,
trug er zur unterhaltsamen Auseinandersetzung
mit dem Inhalt bei. Der Erfolg
des Clips unterstreicht für Martin Dräger,
DSG-Geschäftsführer, einen Paradigmenwechsel
im Online-Marketing: „Seit
der ersten Zielgruppenansprache ging es
darum, passive Zielgruppen durch aktives
Targeting zu erreichen. Mit dem selbstbestimmten
Internetkonsum braucht es nun
Kampagnen, die für die Zielgruppe eine
Entdeckung sind.“
Erfolgsfaktor Seeding
Wer was wo entdeckt: Das ist der entscheidende
Faktor bei der Aussaat und Spezialgebiet
von Björn Ognibeni, Business Director
bei GoViral International: „Vom überwiegenden
Teil hochgeladener viraler Clips
bekommt man gar nichts mit. Zum Teil, weil
sie so langweilig sind, zum Großteil, weil sie
untergehen. Bei der Aussaat, dem Seeden,
müssen wir die passende Startbahn zum
passenden Entdecker finden, und das sind
meistens nicht die bekannten überfluteten
Videoportale. Diskussionsforen mit aktiven,
passenden Communities können viel spannender
sein. Oft sind das Seiten, die ganz
unspannend aussehen. Wenn es damit getan
wäre, den Clip auf Youtube hochzuladen,
bräuchte man uns nicht.“
GoViral arbeitet als Ideengeber für große
Agenturnetzwerke und gibt Feedback zu
viralen Konzepten. „Wir lehnen einen großen
Teil der Kampagnen, die wir bekommen,
ab, weil wir auf Freiwilligkeit setzen. Einige
Wettbewerber haben Verträge mit Websites,
die alles nehmen. Wir setzen darauf, dass
der Clip bei der passenden Zielgruppe so gut
ankommt, dass sie ihn von sich aus weiterleitet.
Zu einem erfolgreichen Clip gehört
eine gute Idee, und zu ihr fehlt es gerade in
Deutschland oft noch an Mut. Vieles, was wir
hier zu sehen bekommen, ist wirkungslos
weichgespült, damit sich niemand mokiert.“
GoViral arbeitet mit einem eigenen zeitnahen
Trackingtool, das es möglich macht,
virale Kampagnen für Kunden wie GoodYear,
Nissan oder LEGO laufend zu optimieren.
Die Verbreitung wird in Echtzeit verfolgt: Soll
die Wirkung verstärkt werden, wird erneut
ausgesät. „Früher wurden 90% der viralen
Videos per E-Mail versendet. Heute bekommt
man Links zugeschickt. Die Download-
Funktion wird nur noch genutzt, um den Clip
auf die eigene Seite hochzuladen. Auch dafür
haben wir Bots, die Seiten nach unseren
Clips durchsuchen und den dortigen Zähler
befragen.“
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Dossier
Viral Marketing: Arten
Value Viral
Teilen von positiven Erlebnissen
Nutzen durch Teilen und Empfangen der
Nachricht
„Send to a friend“
Guile Viral
List, damit der Konsument eine Empfehlung
ausspricht
Gewährung von Rabatten
Vital Viral
Nutzung eines Produkts nur bei der
Nutzung von Vielen
Netzwerkeffekte
Spiral Viral
Lustige, schockierende Inhalte (z.B.
Videoclips)
Verbreitung spiralförmig, exponentiell
Vile Viral
Wertloses Viral
Bewahrung anderer Konsumenten vor
negativen Erfahrungen
Quelle: Ralph Sonntag, HTW Dresden
Webclips sind in vielerlei Hinsicht sehr
geeignete Viral-Virenüberträger: am einfachsten
passiv nutzbar, nicht manipulierbar,
besonders schnell, leicht und vielfach
weiterzuleiten. Im Hinblick auf Traffic- und
Leadgenerierung zählen Webclips zusammen
mit Microsites und Onlinegames zu den Top
3 unter den Instrumenten des Viralmarketings.
„Viral Videos zahlen primär in Branding
und Reichweite, sprich Awareness ein.“ Zu
diesem Ergebnis kam Ralph Sonntag auf
der „Infect07“ im Oktober letzten Jahres in
Düsseldorf. Der Professor für Marketing an
der Dresdner Hochschule für Technik und
Wirtschaft hat die sozialen Wirkungszusammenhänge
analysiert. „Statistiken über die
erfolgreichsten Instrumente spiegeln nur die
Hälfte der Wahrheit wider. Sie liefern kein
Rezept. Das Wesentliche ist die Idee. Nicht
Produkt oder Marke stehen beim Viral Marketing
im Vordergrund, sondern die Story.“
Unglaubliche Wahrheiten
Kommunikationsviren hat es schon immer
gegeben. Gerüchteküchen brodeln in der
Nachbarschaft genauso wie in der Yellow
Press. Noch immer sind die Lieblingsthemen
die skandalösen, schockierenden, beeindruckenden,
mysteriösen. Geschichten liefern
den größten emotionalen Add on. Er ist es,
der Menschen so bewegt, dass sie nicht
anders können als weitererzählen. Sonntag
ist bei seinen Studien auf Faktoren gestoßen,
die hierfür maßgeblich sind, weil sie an den
stammesgeschichtlichen Rudelinstinkt anknüpfen.
Geschichten, die sich im weitesten
Sinne um Arterhaltung und Revierkampf
drehen, punkten instinktiv bei jedem: Der virtuose
Hammerwerfer verkörpert das Prinzip
„Survival of the Fittest“, das wilde Einhorn
elektrisiert unseren Nerv für Unbekanntes,
das wir kennenlernen wollen, weil wir stets
versuchen, gegen alles Fremde gewappnet
zu sein. Genauso wirken Internetspots, die
durch Darstellung von Flirt- oder Kampfsituationen
auf männlichen Konkurrenzkampf
und angebahnte Fortpflanzung verweisen.
In dieselbe neurobiologische Kategorie fällt
alles, was Schadenfreude erzeugt.
Uraltes Instinktprogramm also, das
letztes Jahr innerhalb von nur acht Wochen
Tausende dazu brachte, ihren Freunden
mittels namentlicher Zeitungsmeldung im
Web weiszumachen: „Dein Knackarsch im
Fernsehen“. Über 500.000 ließen sich die
Aufforderung „Jetzt einen Freund foppen“
nicht zweimal sagen und nutzten umgehend
die Personalisierbarkeit der Skandalstory mit
dem Foto eines durchs Autofenster glänzenden
nackten Hinterns. Auf der Website
mit der Meldung (es handelte sich um die Microsite
super-nachrichten.de) war auch der
neueste Werbespot für Lee Jeans zu sehen.
Die hochansteckende Zeitungsente stammte
von den Münchner Webguerillas.
Alles, was neu ist
Viralmarketing als Konzept entstammt dem
Internet, was Wunder: Kein Medium ist auf
Anhieb besser geeignet, Botschaften explosionsartig
zu vermehren, wie Wirtszellen einen
Virus. Ein Mausklick genügt, und aus einem
werden hunderte, tausende ... Wie prädestiniert
das Internet als Leitung für Viren ist,
legen Ergebnisse einiger Studien nahe, aus
denen hervorgeht, dass die Medienbindung
ans Internet in allen Altersgruppen immer
dominierender wird. Dabei ist die Idee viraler
Kommunikation nicht mediengebunden.
Schließlich geht es nur darum, möglichst
schnell möglichst viele Werbekontakte zu
erzielen – und das mit Hilfe von Multiplikatoren,
die zur kostenlosen Weiterleitung der
Werbebotschaft animiert werden.
Das gelingt, wenn die werbliche Botschaft
den gleichen Treibstoff hat wie ein Gerücht,
nämlich Mehrwert für den Sender, schlicht,
weil er damit zeigt, dass er dolle Sachen
Dossier 89
weiß, die sonst keiner weiß, aber alle wissen wollen: Mit Geschichten lässt
sich Eindruck schinden, machen wir uns nichts vor. Jeder Mensch hat es
in den Genen, intuitiv zu wissen, was weitererzählt wird und was nicht.
Auch das gehört zum uralten uns innewohnenden Rudelinstinkt: Leuten,
die mit wichtigen Neuigkeiten daherkommen, verleihen wir unwillkürlich
Respekt und Achtung. Solche Meinungsführer sind oft Personen, die früh
von einer Innovation erfahren. Sie haben einen höheren sozialen Status,
gelten als kontaktstark und besonders gut ausgebildet.
Agenturen wie TRND haben sich darauf spezialisiert, Meinungsführern
Futter zu geben. Sie versorgen Leute, die viele Freunde haben, mit noch
nicht am Markt erhältlichen Produkten und jeder Menge Infos darüber,
zum Weitererzählen natürlich. Das Reporting liest sich so: „Hab dann
gestern Abend erst mal alle Besucher auf der Hauseinweihungsfete die
neuen Mints testen lassen. Es gab sehr positive Reaktionen, und alle
konnten es gar nicht fassen, dass sie sich die Mints noch nicht kaufen
können. Sie haben auf jeden Fall eingeschlagen wie eine Bombe!“ –
Glaubwürdig oder formuliert im Sinne des Auftraggebers? Zweifellos:
Alles, was neu ist, erregt Interesse. Was neu ist, ist besser. Damit ist
Werbung groß geworden, und davon lebt sie immer noch. Von der Intelligenz
des Freundeskreises hängt ab, ob die künstliche Schaffung eines
Meinungsführers dem Freund nicht zum Nachteil gereicht. Immer noch
besser, als Internetforen mit Schleichwerbung zu spammen.
Vertrauenswert
Bildquelle: iStockphoto (4)
Gerade bei Mundpropaganda macht Freiwilligkeit Glaubwürdigkeit und
Einfluss aus. Sie lässt sich daran bemessen, dass der Empfehler keine
Vorteile aus seinem Loben zieht oder sie wenigstens offen kundtut. Vertrauen
ist heutzutage ein rares Gut, jetzt schon unbezahlbar, zumindest
für diejenigen, die Wert darauf legen. Geschichten zu erfinden, die das
wahre Leben mit würziger Übertreibung zum Besten geben, das verdient
Lob und macht Spaß. Tun als ob, falsches Spiel und Protzen zahlt sich
nicht mehr lange aus, langfristig schon gleich gar nicht.
Bislang wird journalistisch streng geahndet, wer sich unter dem
Deckmantel des „ganz privat“ in Blogs, Foren und Communities als
„falscher Freund“, sprich Abgesandter von Marken (wie Calvin Klein) oder
Agenturen (wie DKD) entpuppt. Mittlerweile will auch die EU gegen Unternehmen
vorgehen, die über Schleichwerbung im Web 2.0 bewusst Verbraucher
täuschen, um sie zum Kauf eines Produkts zu bewegen. Dazu
zählen so genannte Fake-Blogger oder Brand-Evangelists, die gefälschte
Kommentare oder Kritiken zu Produkten in Online-Shops hinterlassen.
Mit den neuen Regeln der Unfair Commercial Practices Directive können
Unternehmen in EU-Ländern zivil- und strafrechtlich für derartiges
Verhalten belangt werden. Das sollte auch dem Ruf viralen Marketings
zugute kommen. IR