Gedanken über Gott und die Welt - Heinrich Tischner
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Es gibt aber einen dritten Weg, <strong>und</strong> der erfordert Selbstdisziplin <strong>und</strong> ein bisschen Arbeit: Ich<br />
nehme <strong>die</strong>se Worte ernst (= Selbstdisziplin) <strong>und</strong> denke weiter dar<strong>über</strong> nach (= Arbeit).<br />
Schließlich finde ich eine Antwort, <strong>die</strong> ich akzeptieren kann.<br />
Genauso halte ich es mit der Bibel: Ich nehme jedes i-Tüpfelchen ernst. Ich habe mir zum<br />
Beispiel lange <strong>Gedanken</strong> <strong>über</strong> merkwürdige Schreibweisen <strong>und</strong> <strong>die</strong> so genannten Akzente 2 in<br />
der hebräischen Bibel gemacht <strong>und</strong> entdeckt, dass <strong>die</strong> Bibelherausgeber damit Hinweise auf<br />
das Verständnis des Textes geben wollten. Ich nehme jedes i-Tüpfelchen ernst, aber für<br />
mich ist nicht jedes i-Tüpfelchen gleich wichtig. Zentrum der Schrift ist <strong>die</strong> Botschaft Jesu<br />
von der Liebe <strong>Gott</strong>es. Von daher muss ich sogar <strong>die</strong> Bibel kritisch lesen. Da ich aber in<br />
meinem Gewissen an <strong>die</strong> Bibel geb<strong>und</strong>en bin, habe ich nicht <strong>die</strong> Freiheit, mich von der Bibel<br />
zu distanzieren oder sie gr<strong>und</strong>sätzlich in Frage zu stellen.<br />
Die Botschaft Jesu erfordert aber nicht nur emotionale Annahme <strong>und</strong> intellektuelle<br />
Durchdringung, sondern vor allem <strong>die</strong> praktische Umsetzung in <strong>die</strong> Tat. Da hat Jakobus ganz<br />
Recht: "Glaube ohne Werke ist tot." Oder wie Paulus schreibt: "Vor <strong>Gott</strong> gilt nur der Glaube,<br />
der in der Liebe tätig ist."<br />
DER VORRANG DES GEISTES<br />
Die <strong>Welt</strong>, <strong>die</strong> wir sehen, ist nur der Schatten einer unsichtbaren <strong>Welt</strong>. Ich behaupte den<br />
Vorrang des Jenseits vor dem Diesseits, des Geistes vor der Materie, <strong>Gott</strong>es vor der <strong>Welt</strong>.<br />
Das Jenseits ist heute noch unbegreiflicher geworden, als es immer schon war. Ich will mich<br />
erkühnen, es begreiflich zu machen.<br />
WAS IST GEIST?<br />
Der heutige Mensch hat Schwierigkeiten, Seele oder Geist zu denken. Frühere Zeiten hatten<br />
<strong>die</strong>se Schwierigkeiten nicht. Die so genannten primitiven Kulturen glauben selbstverständlich<br />
an Geist. Wieso ist das für den modernen Menschen so schwer? Weil sein ganzes Denken so<br />
auf <strong>die</strong> materielle <strong>Welt</strong> bezogen ist, dass er sich nichts anderes mehr vorstellen kann.<br />
DER MODERNE IRRTUM: SEELE ALS "NERVENKOSTÜM"<br />
Nach Meinung vieler heutiger Menschen ist Geist etwas, was in unsrem Nervensystem<br />
entsteht. Wir orten unser Bewusstsein, unser Gedächtnis, unsren Willen <strong>und</strong> unsre <strong>Gedanken</strong><br />
im Großhirn, unsre elementaren Lebensregungen im Stammhirn <strong>und</strong> Kleinhirn. Im<br />
volkstümlichen Sprachgebrauch sind Nerven <strong>und</strong> Seele etwa gleichbedeutend. Unsre Triebe<br />
schreiben wir den Hormonen zu <strong>und</strong> glauben, unsre Psyche mit Chemikalien beeinflussen zu<br />
können.<br />
Aber das, was <strong>die</strong> moderne Psychologie untersucht, beschreibt <strong>und</strong> behandelt, ist nicht jener<br />
Teil von uns, dem frühere Denker Unsterblichkeit <strong>und</strong> Wesensverwandtschaft zu <strong>Gott</strong><br />
2 Die so genannten Akzente geben wichtige Hinweise auf Betonung <strong>und</strong> grammatische Konstruktion<br />
eines Satzes <strong>und</strong> sind daher eher mit unsren Satzzeichen zu vergleichen.<br />
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