Bericht | Text und Fotos: Michael Heß Die Vertreibung aus der Stadt Warum Münsters Wohnungssituation so prekär ist 8 Es ist mehr als ein Bonmot. Dass der Mensch drei Häute bräuchte. Zuerst die eigene, die für Creme und Streicheleinheiten. Darauf die zweite aus Textil oder Leder. Schließlich die dritte Haut, die aus Stein und Zement, ohne die der Mensch auf Dauer kein Mensch sein kann. Aber es steht in Münster derzeit schlecht um die dritte Haut, wie ~-Redakteur Michael Heß erläutert. “Ich stand mit einem Bein schon in der neuen Wohnung,” sagt die freiberufliche Designerin Anke (Name geändert - M.H.). Auskünfte und Schufa seien in Ordnung gewesen. Dann aber habe es sich der Vermieter in spe doch noch anders überlegt, denn bei einer Freiberuflerin gebe es kein planbares Einkommen als Basis der Mietzahlungen. Eine Erfahrung, die Wohnungssuchende seit Jahren machen. Für so gut wie jeden Zeitgenossen ist es der Alptraum schlechthin: auf der Straße zu stehen. Lange Zeit unterschätzt, wuchs in Münster seit Jahren ein besonders dringliches Problem heran: bezahlbarer Wohnraum. Ins öffentliche Bewusstsein kommt es durch die Hausbesetzungen im Jahre 2011: Im März zuerst die jungen Leute in der Grawertstraße 34, dann im Juli Punks in der Warendorfer Straße 131 und kurz darauf eine Gärtnerei in der Dyckburgstraße 20 (siehe dazu auch “Wir bemalen Steine, wir werfen nicht damit” in: ~ Nr. 05/2011). In allen drei Fällen standen die Häuser zuvor längere oder kürzere Zeit leer. Die Situation ist verfahren. Jahr für Jahr fallen mehr Wohnungen aus der Sozialbindung, als gebaut werden: im Saldo etwa 100 Einheiten. Um das Manko nicht nur im sozialen Wohnungsbau auszugleichen, müssten Jahr für Jahr 1.400 bis 1.900 Wohnungen gebaut werden. Das ist utopisch. “Wir haben im vergangenen Jahr 1.000 fertiggestellt, und das war für uns fast schon ein Rekord,” stellt Oberstadtdirektor Hartwig Schultheiß auf einer Tagung im April 2011 nüchtern fest. Vier Monate später prognostiziert Münsters oberster Stadtplaner Christian Schowe einen Bedarf von 25.000 Einheiten bis 2025. Davon ist nur ein Teil sozialer Wohnungsbau, doch der Rückgang ist dramatisch. Unterlagen Mitte der 80er Jahre noch knappe 20.000 Wohnungen der Mietpreisbindung, sind es heute nur noch 7.000. Immer weiter öffnet sich die Schere. Einerseits stagnieren die Realeinkommen oder sinken gar. Andererseits steigen die Bewirtschaftungskosten stetig. Besonders Berufsstarter und junge Familien können finanziell oft nicht mehr mithalten. Geschieht kein Wunder, bleibt die von einigen Fachleuten erhoffte Normalisierung der Lage ein frommer Wunsch. Mit allen sozialen Konsequenzen. “Wir haben in Münster keinen Leerstand,” konstatiert Ulla Fahle vom Mieterschutzverein Münster und weist darauf hin, dass bei Neuvermietungen der Mietspiegel nicht gilt. Die straßenweise Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentum samt Begleitumständen wie in Heis- und Sophienstraße sei mittlerweile “das tägliche Geschäft” des Mieterschutzvereins. Ulla Fahle: “Viele Betroffene finden in vergleichbarer Lage nichts Vergleichbares mehr”. Tatsächlich schätzt sie bei Neuvermietungen einen Miethöhe von 8 Euro ein; Nebenkosten kommen noch dazu. Mit 12 Euro pro Quadratmeter ist man in Münster schnell mit dabei. Anfang Juni weist der MZ-Chefredakteur darauf hin, dass inzwischen nicht nur Normalverdiener aus der Innenstadt verschwinden, sondern auch Einzelhändler und Kitas. Der LINKE-Politiker Rüdiger Sagel merkt in Sachen Umwandlung noch an, dass immer noch die nur dreijährige Kündigungssperrfrist zwischen Erwerb der Mietwohnung und Kündigung wegen Eigenbedarfs gelte. Auch die rot-grüne Landesregierung habe bisher nichts unternommen, die alte, von Schwarz-Gelb abgeschaffte achtjährige Frist wieder einzuführen. Es ist beängstigend. Dabei sehen die Zahlen vordergründig gut aus: von 1990 bis 2011 stiegen der örtliche Bestand an Wohnungen von 117.138 Einheiten auf 145.140 Einheiten mit rund 12 Mio Quadratmetern Wohnfläche an. Bei einer Bevölkerung von 290.00 Einwohnern macht das im Schnitt genau zwei Personen pro Wohnung aus oder etwas mehr als 41 Quadratmeter Wohnfläche pro Einwohner. Die Realität für Wohnungssuchende ist dagegen ernüchternd bis erschreckend. Dass erschwinglicher Wohnraum in der Metropolis Westfaliae ganz besonders knapp geworden ist, mutierte längst zum Gemeinplatz für Wohnungssuchende. Im Vorjahr stehen 567 Wohngebäudeneubauten nebst 97 Umbauten 53 Abbrüchen gegenüber. Keine Entlastung ist von der Demografie zu erwarten. Im Gegensatz zu vielen anderen Städten wird Münsters Einwohnerzahl bis 2030 sogar noch leicht auf dann rund 300.000 Bürger zulegen. Hinzu kommt der Rückzug vermögender Älterer in die Innenstädte und daraus resultierende Verdrängungsprozesse. Auch die Sozialstruktur macht es nicht einfacher. Wenn 51 Prozent der lokalen Wohnungen Singlehaushalte sind, bedeutet auch das eine überproportionale Bereitstellung von Flächen und einen enormen Druck auf das Segment der bezahlbaren kleineren Wohnungen. Aber auch Familien mit Kindern (17 Prozent der Münsteraner Haushalte) haben massive Probleme bei der Wohnraumsuche. Eigentlich klemmt es überall - mit Ausnahme von Luxuswohnungen wie an den Klostergärten. Ebenso deutlich wird die Dunkelziffer Zehntausender Mieter in Münster, die dicht über den sozialen Fördergrenzen leben und deshalb ohne Möglichkeit zur Hilfe per WBS und Wohngeld. Was sagen