Frühjahr 2014 - Edition Tiamat
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Auf der Place Clichy machten wir um die<br />
Brasserie Wepler einen großen Bogen. Saal<br />
und Terrasse waren Tag und Nacht von<br />
Dutzenden deutscher Soldaten besetzt,<br />
man hatte das Etablissement für die Truppe<br />
requiriert. Es gab nichts zu befürchten, da<br />
diese Männer nicht im Dienst waren. Juden<br />
und alleingehende Frauen hatten jedoch<br />
die Anzüglichkeiten und Pfiffe Dutzender<br />
müßiger Zecher zu gewärtigen.<br />
Beim Hinschreiben des Namens »Wepler«<br />
entdecke ich, dass ich an der Place Clichy,<br />
ohne mir auch nur im Entferntesten dessen<br />
bewusst zu sein, nach wie vor das Trottoir<br />
der anderen Seite benutze, egal, wohin ich<br />
gehe und woher ich komme. Ich habe das<br />
Wepler auch nur ein einziges Mal betreten.<br />
Ein amerikanischer Schriftsteller, der<br />
in der Nähe logierte, hatte sich dort mit<br />
mir verabredet. Ich erinnere mich sehr gut,<br />
dass ich am Telefon überlegte, einen anderen<br />
Treffpunkt vorzuschlagen, der für ihn<br />
schwieriger zu erreichen gewesen wäre,<br />
bevor mir die ganze Lächerlichkeit des Gedankens<br />
klar wurde. (…)<br />
An den Tagen, da Marie den gelben Stern<br />
nicht trug, fand ich auf der Metrolinie<br />
Dauphine-Nation via Barbès mein größtes<br />
Vergnügen darin, im vordersten Wagen<br />
zu stehen, nahe dem Fahrer. Eine kleine<br />
Glasscheibe zu seiner Kabine gab den<br />
Blick auf die Strecke frei. Näherten wir uns<br />
dann dem Hochbahnabschnitt, schaute<br />
ich gebannt auf das lichte, immer größer<br />
werdende Quadrat. Die Enttäuschung kam<br />
prompt, das schwarze Loch verschlang uns<br />
wieder.<br />
An den Tagen mit Stern bestiegen wir den<br />
letzten Wagen. Er war den Juden vorbehalten.<br />
Da ich Marie ebenso oft mit wie ohne<br />
Stern sah, hatte dieses Von-ihr-zum-letzten-<br />
Wagen-gezogen-werden alle Anzeichen<br />
einer Bestrafung. Marie wusste das, auch<br />
wenn sie jeder Widerrede zuvorkam und<br />
meine Hand fest umklammerte, während<br />
wir uns zum Ende des Zuges bewegten.<br />
Marcel Cohen lebt in Paris und ist<br />
Autor zahlreicher Bücher. »Raum der<br />
Erinnerung« ist im <strong>Frühjahr</strong> 2013 bei<br />
Gallimard in Paris erschienen.<br />
Marcel Cohen erhielt dafür den renomierten<br />
Prix Wepler, Fondation la<br />
Poste 2013. <strong>2014</strong> erhält er für sein Gesamtwerk<br />
den Prix Jean Arp de littérature<br />
francophone.<br />
»Ein großes, feinfühliges Buch,<br />
das man jedem ans Herz legen<br />
möchte.« Lire