Antrag - DIE LINKE. Landesverband Hamburg
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Bürgerschaft der Freien und Hansestadt <strong>Hamburg</strong> – 20. Wahlperiode Drucksache 20/9338<br />
Drucksache 17/14600 – 830 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode<br />
staats. Auch der Schuss bei einem Überfall in Zwickau<br />
2006 auf einen Sparkassenangestellten zeigt die rücksichtslose<br />
Verachtung der Täter für menschliches Leben<br />
schlechthin. Der NSU verfolgte das Ziel, mit Mord und<br />
Gewalt aus Deutschland ein unfreies, abgeschottetes Land<br />
des Rassenwahns zu machen. Nach der Ideologie der<br />
Täter sollte niemand in Deutschland so leben dürfen, wie<br />
fast alle in Deutschland leben wollen: in einer freien,<br />
offenen, vielfältigen, friedlichen, solidarischen Gesellschaft.<br />
Die Česká-Mordserie und der Sprengstoffanschlag in der<br />
Kölner Keupstraße waren uns allen aus den Medien bekannt,<br />
dennoch spielte ein rassistischer oder rechtsterroristischer<br />
Hintergrund der Taten in der Öffentlichkeit<br />
kaum eine Rolle. Interesse und Unterstützung für die<br />
Angehörigen blieben weitgehend aus. Wir alle müssen<br />
daher kritisch hinterfragen, was wir damals über die Hintergründe<br />
der Česká-Mordserie und des Nagelbombenattentats<br />
dachten, wie wir sie einordneten und durch welche<br />
Informationen oder Vorurteile wir uns dabei leiten ließen.<br />
Doppelte Traumatisierung<br />
Im November 2011 wurde das gesamte Ausmaß eines bis<br />
dahin nicht vorstellbaren Versagens deutlich: Wie konnte<br />
es passieren, dass eine rechtsextremistische Terrorgruppe<br />
mitten in Deutschland lebte, ohne von den Behörden<br />
gestellt zu werden? Wie konnte es passieren, dass gewissenlose<br />
Täter mordeten, ohne von den Sicherheitsbehörden<br />
gestoppt zu werden?<br />
Über ein Jahrzehnt wurde diese Verbrechensserie trotz<br />
umfangreicher und engagierter Ermittlungsarbeit nicht<br />
aufgeklärt. Jahrelang lebten viele Menschen aus Zuwanderer-Familien<br />
mit der Angst, das nächste Opfer der<br />
Česká-Mordserie zu werden. Jahrelang wurde das Motiv<br />
für die Taten im Opferumfeld gesucht, wurden die Morde<br />
im Kontext von Ausländerkriminalität, Rotlichtmilieu,<br />
Mafia und Rauschgifthandel eingeordnet – nur ein möglicher<br />
rassistischer Hintergrund als Motiv wurde zu lange<br />
nicht in Erwägung gezogen und nie mit dem nötigen<br />
Nachdruck verfolgt.<br />
Die Angehörigen der Opfer der Mordserie verloren ihren<br />
Ehemann, ihren Vater, ihren Sohn, ihren Bruder, ihr Enkelkind.<br />
Sie mussten nicht nur den Tod eines geliebten<br />
Familienmitglieds verarbeiten, sie verloren darüber hinaus<br />
teilweise ihre Existenzgrundlage, ihr Zuhause, ihre Lebensplanung<br />
und Zukunftshoffnungen. Sie lebten jahrelang<br />
in der Ungewissheit, nicht zu wissen, wer für die<br />
Morde verantwortlich ist. Das Schlimmste jedoch: Sie<br />
konnten nicht wirklich trauern, standen vielmehr zum Teil<br />
jahrelang selbst im Fokus von Ermittlungen und wurden<br />
zu Unrecht verdächtigt.<br />
Mit den Ermittlungen in Richtung Ausländerkriminalität,<br />
Rotlichtmilieu, Mafia und Rauschgifthandel verbanden<br />
sich für die Opferfamilien Verdächtigungen, soziale Isolation,<br />
gesundheitliche, familiäre, berufliche und materielle<br />
Probleme: Gerüchte und Mutmaßungen machten die Runde,<br />
Freunde und Familienangehörige wandten sich ab,<br />
Nachbarn wechselten die Straßenseite. Indem man sie<br />
verdächtigte, die Taten selbst in irgendeiner Weise mit<br />
verursacht zu haben, wurden die Familien nachgerade aus<br />
dem „Kreis der Anständigen“ ausgeschlossen.<br />
Manche Familien vereinsamten, traumatisierte Kinder und<br />
junge Erwachsene brachen ihre schulische oder universitäre<br />
Ausbildung ab, Ehefrauen erkrankten – unter der Last<br />
des Verlustes, aber auch unter dem Stigma vermeintlicher<br />
krimineller Kontakte. In all diesen Jahren zogen die Neonazis<br />
weiter unbehelligt mordend durch Deutschland.<br />
„Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens<br />
Opfer sein. Immer lag da die Last über unserem<br />
Leben, dass vielleicht doch irgendwer aus<br />
meiner Familie, aus unserer Familie verantwortlich<br />
sein könnte für den Tod meines Vaters. Und auch<br />
den anderen Verdacht gab es noch: mein Vater ein<br />
Krimineller, ein Drogenhändler.“<br />
Mit diesen eindrücklichen Worten spricht Semiya Şimşek,<br />
die Tochter des ersten Mordopfers, bei der offiziellen<br />
Gedenkveranstaltung für die Opfer der NSU-Mordserie in<br />
Berlin am 23. Februar 2012 nicht nur vom Leid ihrer<br />
Familie.<br />
„Können Sie erahnen, wie es sich für meine Mutter<br />
angefühlt hat, plötzlich selbst ins Visier der Ermittlungen<br />
genommen zu werden? Und können<br />
Sie erahnen, wie es sich für mich als Kind angefühlt<br />
hat, sowohl meinen toten Vater als auch meine<br />
ohnehin schon betroffene Mutter unter Verdacht<br />
zu sehen?“,<br />
fragt sie, auch stellvertretend für die Familien der anderen<br />
Opfer.<br />
Denn was Semiya Şimşek und ihrer Familie widerfahren<br />
ist, mussten auch die Angehörigen von Abdurrahim<br />
Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet<br />
Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet<br />
Kubaşık und Halit Yozgat in ähnlicher Weise erleben.<br />
Nach den Morden entstand ein für die Familien schrecklicher<br />
Eindruck: Die einzigen, die von den Ermittlungsbehörden<br />
verdächtigt werden, sind die Opferfamilien selbst.<br />
„Wir fühlten uns wie Verbrecher“,<br />
sagt Gamze Kubaşık, die Tochter des achten Opfers,<br />
Mehmet Kubaşık.<br />
„Diese Ermittlungen haben viele Leben vergiftet,<br />
nicht nur das unserer Familie“,<br />
sagt Semiya Şimşek.<br />
Die Familien fingen irgendwann selbst an, daran zu glauben,<br />
dass es jemanden in ihrem Umfeld geben müsse, der<br />
etwas mit dem Mord zu tun habe, so Professorin Barbara<br />
John, Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer und<br />
Opferangehörigen, vor dem Untersuchungsausschuss.<br />
Für die bittere Notwendigkeit, nach den Morden zunächst<br />
auch im familiären Umfeld der Opfer nach dem Täter zu<br />
suchen, bringen die Angehörigen in der Rückschau sogar<br />
selbst Verständnis auf:<br />
„Im Laufe der Jahre haben wir uns mit dem Gedanken<br />
beruhigt, dass die Polizei nur ihre Arbeit<br />
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