Arbeitsfelder der Komparatistik 3 - Heinrich Detering
Arbeitsfelder der Komparatistik 3 - Heinrich Detering
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Vorlesung Wintersemester 2013/14:<br />
<strong>Arbeitsfel<strong>der</strong></strong> <strong>der</strong> <strong>Komparatistik</strong><br />
3. <strong>Komparatistik</strong> als Intertextualitätsforschung (Anfang)
Ein Grundlagenwerk <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
<strong>Komparatistik</strong><br />
Erich Auerbach (Berlin 1892 – Wallingford,<br />
Connecticut 1957):<br />
Mimesis (geschrieben in Istanbul 1935-46,<br />
erschienen 1946).<br />
1. Entstehung des Wirklichkeitskonzepts<br />
<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
europäischen Literatur<br />
2. Geschichte und Typologie<br />
kultureller Differenz<br />
3. Einleitungskapitel über<br />
Erzählen im mythischreligiösen<br />
Horizont <strong>der</strong><br />
Antike: Heimkehr des<br />
Odysseus / Isaaksopfer
Odysseus als Prototyp des<br />
individualisierten Menschen<br />
in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />
• Georg Lukács, Die Theorie des<br />
Romans (1920): Odysseus als Vor-<br />
Bild des Romans als <strong>der</strong> „Epopöe<br />
<strong>der</strong> transzendentalen Obdachlosigkeit“<br />
• James Joyce, Ulysses (1921): <strong>der</strong><br />
Weg durch die nächtliche Großstadt<br />
als Odyssee des mo<strong>der</strong>nen Subjekts
Søren Kierkegaard, Frygt og Bæven (Furcht und Zittern, 1843):<br />
„Glaube“ als existenzielle Antwort auf die existenzielle Begegnung mit<br />
Gott als dem Heiligen, fascinosum et tremendum
Wir haben die beiden Texte, und im Anschluss<br />
daran die beiden Stilarten, die sie verkörpern, miteinan<strong>der</strong><br />
verglichen, um einen Ausgangspunkt für<br />
Versuche über die literarische Darstellung des<br />
Wirklichen in <strong>der</strong> europäischen Kultur zu gewinnen.<br />
[von allem abgesehen, was sich auf ihre Ursprünge<br />
bezieht]<br />
Die beiden Stile stellen in ihrer Gegensätzlichkeit Grundtypen dar:<br />
• auf <strong>der</strong> einen Seite ausformende Beschreibung, gleichmäßige<br />
Beleuchtung, lückenlose Verbindung, freie Aussprache, Vor<strong>der</strong>gründlichkeit,<br />
Eindeutigkeit, Beschränkung im Geschichtlich-Entwickelnden<br />
und im Menschlich-Problematischen;<br />
• auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en [Seite] Hervorarbeitung einiger, Verdunkelung an<strong>der</strong>er<br />
Teile, Abgerissenheit, suggestive Wirkung des Unausgesprochenen,<br />
Hintergründlichkeit, Vieldeutigkeit und Deutungsbedürftigkeit, weltgeschichtlicher<br />
Anspruch, Ausbildung <strong>der</strong> Vorstellung vom geschichtlich<br />
Werdenden und Vertiefung des Problematischen.
Erzählungen des Mythos und <strong>der</strong><br />
Religion<br />
als Erzählungen von Begegnungen<br />
mit dem „Heiligen“<br />
(Rudolf Otto, 1917)<br />
• als zugleich „fascinosum“<br />
• und „tremendum“<br />
• bezogen auf tabuisierte Orte o<strong>der</strong><br />
Objekte, Überzeugungen und<br />
Praktiken<br />
• und auf als personhaft erfahrene<br />
Mächte
„Religion“<br />
(nach Émile Durkheim 1912<br />
und Max Weber 1904 u. ö.)<br />
• ein „solidarisches System von<br />
Überzeugungen und Praktiken,<br />
• die sich auf heilige … Dinge …<br />
beziehen“,<br />
• organisiert um die Leitdifferenz<br />
„heilig“ / „profan“<br />
• institutionalisiert in einer<br />
„moralischen Gemeinschaft<br />
(Kirche)“
(1) semiotisch-theoretische Aspekte<br />
(Glaubensüberzeugungen)<br />
• „Mythen“ (Erzählungen vom Numinosen)<br />
• „Dogmen“ (Reflexionen über das Numinose)<br />
(2) sozialpragmatische Aspekte,<br />
‚religiöses Leben‘<br />
• Institutionen<br />
• Praktiken ritueller Verehrung<br />
• Ethik<br />
• Ethos
„Mythos“ (nach Ernst Cassirer, Philosophie<br />
<strong>der</strong> symbolischen Formen, 1923-29)<br />
• sakrale, gemeinschafts- o<strong>der</strong> kultbegründende<br />
Ursprungserzählungen über<br />
zyklisch wie<strong>der</strong>kehrendes Geschehen,<br />
kultisch wie<strong>der</strong>holt<br />
• „mythische Weltansicht“: erzählte „Welt des Mythos“<br />
•aufbauend auf dem „Fundamentalsatz, dass nichts in<br />
<strong>der</strong> Welt durch Zufall, son<strong>der</strong>n alles durch bewusste<br />
Absicht geschieht“<br />
• Zentrum des entwickelten Mythos: die Anschauungsform<br />
„einer universellen Weltordnung“ (vs. kasuelle<br />
„Magie“), einer Welt-Totalität stiftenden Instanz
Juden- und Christentum als erste<br />
„Entmythologisierung“ (Joseph<br />
Ratzinger)<br />
• Öffnung des zyklischen<br />
Denkens in eine lineare<br />
Geschichtlichkeit („Heilsgeschichte“)<br />
• Individualisierung des<br />
Erlebens und Handelns, im<br />
Selbst-, Gesellschafts-, Weltund<br />
Gott-Bezug („Personalität“)
„Deutungsbedürftigkeit“ (Auerbach) 1:<br />
Mythische und religiöse Erzählungen<br />
als Provokationen <strong>der</strong> Hermeneutik<br />
1. Allegorische Deutungen Homers in <strong>der</strong> Spätantike:<br />
Odysseus als Bild <strong>der</strong> irrenden und heimkehrenden<br />
Seele.<br />
2. Verbindung historischer, psychologischer,<br />
heilsgeschichtlicher und allegorischer Deutungen (als<br />
Lektüre-Perspektiven) in <strong>der</strong> Theorie des „vierfachen<br />
Schriftsinn“.
Vierfacher Schriftsinn (Augustinus, 4. Jh.)<br />
1. sensus historicus<br />
(Sache: Jerusalem als Stadt)<br />
2. sensus allegoricus<br />
(heilsgeschichtlich-typologisch: Zentrum des<br />
Gottesvolkes / <strong>der</strong> Ecclesia)<br />
3. sensus moralis<br />
(moralisch-individuell: die Seele des / <strong>der</strong><br />
einzelnen Gläubigen)<br />
4. sensus anagogicus [propheticus]<br />
(Bezug auf das vollendete Gottesreich: Vor-Bild des Himmlischen<br />
Jerusalem)<br />
Littera gesta docet, quid credas allegoria, / Moralis quid agas, quo tendas<br />
anagogia. Der Buchstabe lehrt, was geschah; was du glauben sollst, die<br />
Allegorie; die Moral, was du tun sollst; wohin du streben sollst, die<br />
Anagogie.
„Deutungsbedürftigkeit“ (Auerbach) 2:<br />
Die Bibel als produktive Provokation <strong>der</strong> Literatur<br />
• Kanon<br />
• Heterogenität<br />
• Mythos und Geschichte<br />
• Reservoir von ‚grands récits’ (Jean-François Lyotard)
verstummt<br />
1<br />
Sabbat war als Abraham ankam<br />
2<br />
Segensgebete wehten meerwärts<br />
3<br />
wie hing dies Tier schief im Dickicht?<br />
4<br />
Holzstoß Stroh oh so lobt doch Gott<br />
5<br />
und du Blutfluss trugst uns zur Ruh
„Intertextualität“?<br />
• ‚globale‘ und ‚lokale‘ Bestimmungen<br />
• Ulrich Broich / Manfred Pfister,<br />
Intertextualität<br />
Michail Bachtin: Слово в романе (1934/35)<br />
(Das Wort im Roman;<br />
dt. Auswahl: Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt/M.<br />
1979<br />
Schriften zu Dostojewski und Rabelais)<br />
„Dialogizität“ als Pluralisierung <strong>der</strong> „Stimmen“<br />
innerhalb einer kohärenten Erzählung („polyphone“<br />
vs. „monologische“ Texte)<br />
Julia Kristeva:<br />
Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman, Paris 1967<br />
(Bachtin, das Wort, <strong>der</strong> Dialog und <strong>der</strong> Roman, Frankfurt/M. 1972):<br />
radikale Ausweitung des Textbegriffs, „Textualität = Intertextualität“
Roland Barthes: La mort de l‘auteur (1967):<br />
„Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus<br />
unterschiedlichen Stätten <strong>der</strong> Kultur. […]<br />
Ein Text ist aus vielfältigen Schriften<br />
zusammengesetzt, die verschiedenen<br />
Kulturen entstammen und miteinan<strong>der</strong> in<br />
Dialog treten, sich parodieren, einan<strong>der</strong> in<br />
Frage stellen.“<br />
Leçon (1977): „die Sprache ... ist ganz einfach faschistisch; denn<br />
Faschismus heißt nicht am Sagen hin<strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n er heißt zum Sagen<br />
zwingen.“ „Freiheit [kann es also] nur außerhalb <strong>der</strong> Sprache (langage)<br />
geben. Unglücklicherweise besteht für die menschliche Rede kein<br />
Außerhalb ... Uns ... bleibt nichts, wenn ich so sagen kann, als listig mit<br />
<strong>der</strong> Sprache umzugehen, als sie zu überlisten. Dieses heilsame Überlisten,<br />
… das es möglich macht, die außerhalb <strong>der</strong> Macht stehende Sprache in<br />
dem Glanz einer permanenten Revolution zu hören (une révolution<br />
permanente du langage), nenne ich: Literatur.“
„ich verstehe unter Literatur nicht ein Corpus o<strong>der</strong><br />
eine Folge von Werken, ... son<strong>der</strong>n ... die Praxis des<br />
Schreibens. Ich habe also bei ihr im wesentlichen<br />
den Text im Auge, das heißt das Gewebe von<br />
Signifikanten, das von dem Werk gebildet wird, weil<br />
<strong>der</strong> Text das Zutagetreten <strong>der</strong> Sprache ist und weil<br />
die Sprache in ihrem Innern selbst bekämpft und<br />
umgelenkt werden muss: nicht durch die Botschaft,<br />
<strong>der</strong>en Instrument sie ist, son<strong>der</strong>n durch das Spiel <strong>der</strong><br />
Wörter, für das sie die Bühne abgibt.“<br />
„ich verstehe unter Literatur nicht ein Corpus o<strong>der</strong> eine Folge von<br />
Werken, ... son<strong>der</strong>n ... [die] Praxis des Schreibens. Ich habe also bei ihr<br />
im wesentlichen den Text im Auge, das heißt das Gewebe von<br />
Signifikanten, das von dem Werk gebildet wird, weil <strong>der</strong> Text das<br />
Zutagetreten <strong>der</strong> Sprache ist und weil die Sprache in ihrem Innern selbst<br />
bekämpft und umgelenkt werden muss: nicht durch die Botschaft, <strong>der</strong>en<br />
Instrument sie ist, son<strong>der</strong>n durch das Spiel <strong>der</strong> Wörter, für das sie die<br />
Bühne abgibt.“
Fünf Typen von „Transtextualität“ nach Gérard Genette,<br />
Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982<br />
(Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt/M. 1993),<br />
Transtextualität: Sammelbegriff für die Beziehungen eines Textes zu<br />
einem o<strong>der</strong> mehreren an<strong>der</strong>en<br />
Architextualität: Gattungs- und Genreregeln, denen sich <strong>der</strong> Text zuordnet<br />
Paratextualität: begleitende Texte zum Text (Ober- und Untertitel,<br />
Klappen- und Werbetexte, Interviews u. a. Selbstkommentare)<br />
Metatextualität: kommentierende Texte nach dem Text (Rezensionen,<br />
Interpretationen, Kommentare, Analysen)<br />
Intertextualität (i. e. S.): Präsenz eines Textes in einem an<strong>der</strong>en<br />
(Anspielung, Zitat, Plagiat)<br />
Hypertextualität: explizite o<strong>der</strong> implizite Bezugnahmen eines Textes auf<br />
einen an<strong>der</strong>en (: „Hypo-“) Text (Parodie und Travestie, Pastiche,<br />
Persiflage und Formen <strong>der</strong> „Nachahmung“, „Transposition“,<br />
„Transformation“)
Zum Beispiel<br />
Homer und James Joyce…<br />
…o<strong>der</strong> Kierkegaard<br />
und das Alte Testament
… o<strong>der</strong>:<br />
Bertolt Brecht und Laotse