Reformation. Macht. Politik - Evangelische Kirche in Deutschland
Reformation. Macht. Politik - Evangelische Kirche in Deutschland
Reformation. Macht. Politik - Evangelische Kirche in Deutschland
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Reformation</strong><br />
DIE SPANNUNG<br />
DER VERHEISSUNG<br />
Wo sche<strong>in</strong>t bereits das Gottesreich auf?<br />
Die Bergpredigt schärft das Bewusstse<strong>in</strong> für<br />
Recht und Unrecht VON TINE STEIN<br />
PROF. DR. TINE STEIN<br />
lehrt <strong>Politik</strong>wissenschaft<br />
mit dem Schwerpunkt<br />
Politische Theorie an<br />
der Christian-Albrechts-<br />
Universität zu Kiel.<br />
DASS DIE ZUHÖRER<br />
AUSSER SICH<br />
GERIETEN<br />
DER INHALT DER<br />
REDE WAR SO<br />
UNGEHEUERLICH<br />
Kann man plausibel von der Bergpredigt<br />
als e<strong>in</strong>er „<strong>Politik</strong>“ des Evangeliums reden?<br />
Die ethische Lehre der Friedfertigkeit,<br />
des Vergeltungsverzichts und der E<strong>in</strong>forderung<br />
e<strong>in</strong>es Verhaltens der unbed<strong>in</strong>gten Solidarität, ja<br />
sogar Liebe gegenüber dem Anderen wird hier<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er programmatischen Rede dargeboten –<br />
e<strong>in</strong>e Sprechweise der <strong>Politik</strong>. Das ist ungewöhnlich<br />
für den Nazarener, der se<strong>in</strong>e Botschaft sonst<br />
durch vorgelebte Praxis oder <strong>in</strong> Geschichten mitteilt.<br />
Der Inhalt der Rede ist so ungeheuerlich, so<br />
umstürzend, dass die Zuhörer „außer sich gerieten“<br />
(Mt 7,28). Das kann nicht ohne Wirkung auf<br />
die <strong>Politik</strong> bleiben. Aber deswegen sollte man den<br />
Inhalt der Botschaft nicht mit <strong>Politik</strong> verwechseln.<br />
Jesus geht es gerade nicht darum, se<strong>in</strong>e Autorität<br />
e<strong>in</strong>zusetzen, um die vorhandene weltliche <strong>Macht</strong>ordnung<br />
als solche und wie e<strong>in</strong> politischer Führer<br />
zu übernehmen. Denn mit dem Evangelium wird<br />
e<strong>in</strong>e Unterscheidung von <strong>Politik</strong> und Religion getroffen,<br />
die <strong>in</strong> der Konsequenz auch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>stitutionelle<br />
Trennung von politischer Ordnung und<br />
religiöser Geme<strong>in</strong>schaft nach sich zieht. Das Reich<br />
<strong>in</strong> der Bergpredigt, dessen Kommen die Christen<br />
im Vaterunser erbitten, ist nämlich nicht von dieser<br />
Welt, ist nicht wie am S<strong>in</strong>ai-Berg e<strong>in</strong> Versprechen<br />
auf e<strong>in</strong> verheißenes Land, das sich mit e<strong>in</strong>em<br />
topographisch bestimmbaren Ort verb<strong>in</strong>det. Und<br />
die Anforderungen des Reich Gottes s<strong>in</strong>d ganz anderer<br />
Art als die, die es dem weltlich-politischen<br />
Reich gegenüber zu erfüllen gilt, wie sich der Z<strong>in</strong>sperikope<br />
entnehmen lässt, <strong>in</strong> der Jesus es auf die<br />
viel zitierte Formel br<strong>in</strong>gt, dass dem Kaiser zu geben<br />
sei, was des Kaisers sei und Gott, was Gottes<br />
ist (Mk 12,13–17; Mt 22,15–22): Das Heil fällt <strong>in</strong><br />
den Kompetenzbereich des Himmelreiches, woh<strong>in</strong>gegen<br />
die weltlich-politische Ordnung irdische<br />
Zwecke zu erfüllen hat. Damit wird die <strong>Politik</strong> relativiert<br />
und begrenzt und die religionspolitische<br />
E<strong>in</strong>heit der römischen Welt mit ihrer Verschmelzung<br />
von Religion und Polis aufgebrochen.<br />
Aber zugleich erwächst aus der Bergpredigt<br />
auch e<strong>in</strong>e Verpflichtung<br />
für die <strong>Politik</strong>. Denn hier<br />
wird e<strong>in</strong> kritischer Standpunkt<br />
jenseits politischer<br />
Handlungszusammenhänge<br />
gewonnen, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
be son deren Menschenbild<br />
gründet. Das Menschenbild,<br />
das <strong>in</strong> der Bergpredigt öffentlich<br />
präsentiert wird, hat<br />
se<strong>in</strong>en ethischen Kern <strong>in</strong> der<br />
Anerkennung des Anderen<br />
als Person. Das stellt e<strong>in</strong>e im<br />
antiken Kontext ungeheure<br />
Veränderung dar: dass die<br />
H<strong>in</strong>wendung zum Anderen<br />
nicht von dessen sozialem<br />
Status abhängig ist. Es ist<br />
für den Wert des Menschen unerheblich,<br />
ob er reich, glücklich oder mächtig<br />
ist. Denn selig s<strong>in</strong>d die, die arm,<br />
traurig, machtlos s<strong>in</strong>d (Mt 5, 3-5). Die<br />
Gleichheit der Menschen als gleiche<br />
Geschöpfe Gottes ist unh<strong>in</strong>tergehbar,<br />
und sie schließt auch jene e<strong>in</strong>, die von<br />
der Heilsbotschaft nicht berührt s<strong>in</strong>d.<br />
Der Wert e<strong>in</strong>es Menschen ist auch<br />
nicht von den äußeren Leistungen und<br />
Eigenschaften abhängig, schließlich<br />
lässt Gott „se<strong>in</strong>e Sonne aufgehen über<br />
Böse und Gute und lässt regnen über<br />
Gerechte und Ungerechte.“ (Mt 5,45) Und für<br />
diesen Anderen und se<strong>in</strong> Wohlergehen s<strong>in</strong>d wir<br />
verantwortlich: Das Pr<strong>in</strong>zip der Nächstenliebe<br />
soll die sozialen Beziehungen strukturieren.<br />
Das Besondere an diesem ethischen Imperativ<br />
ist, dass diese Haltung gegenüber dem Anderen<br />
nicht bed<strong>in</strong>gt ist durch se<strong>in</strong> Verhalten – es ist<br />
ke<strong>in</strong> Tauschgeschäft.<br />
KEINE BLAUPAUSE FÜR EINE<br />
NEUE POLITISCHE ORDNUNG<br />
Über das angemessene Verständnis der Botschaft<br />
der Bergpredigt gibt es e<strong>in</strong>e lange Kontroverse:<br />
Programmschrift oder Utopie, kollektive<br />
Handlungsanforderung für das Christenvolk<br />
oder Individualethik, unmittelbarer Verb<strong>in</strong>dlichkeitsanspruch<br />
oder <strong>in</strong> jedem Kontext neu zu<br />
bergender S<strong>in</strong>ngehalt der Normen? Max Weber<br />
hielt der Bergpredigt vor, sie stifte zu e<strong>in</strong>er Ges<strong>in</strong>nungsethik<br />
an, mittels der die Folgen etwa e<strong>in</strong>es<br />
Gewaltverzichts ausgeblendet werden und nur<br />
die Re<strong>in</strong>heit des eigenen Handelns relevant ist.<br />
Gerade <strong>in</strong> der Unbed<strong>in</strong>gtheit der Forderungen,<br />
die nicht nach den Umständen fragt, sieht Weber<br />
das Problem der Bergpredigt, die somit als ethische<br />
Richtschnur für die <strong>Politik</strong> ungeeignet sei,<br />
da es dort immer darum gehe, die jeweilige Situation<br />
zu bedenken und von den Konsequenzen des<br />
Handelns her zu denken. Aber was Weber dabei<br />
nicht <strong>in</strong> den Blick nimmt ist, dass die Bergpredigt<br />
mit ihrem Menschenbild e<strong>in</strong>e fundamentale<br />
Kritikfolie bereithält gegenüber e<strong>in</strong>er <strong>Politik</strong>, die<br />
auf dem zweckrationalen Kalkül der Nutzenorientierung<br />
der Beteiligten beruht und dabei<br />
die Frage nach der Güte und Gerechtigkeit des<br />
Nutzens gar nicht mehr stellt. Die <strong>Politik</strong> bedarf<br />
dieser gewissermaßen von e<strong>in</strong>em existenziell anderen<br />
Standpunkt formulierten Perspektive, die<br />
sie selbst nicht hervorbr<strong>in</strong>gen kann, da sie sich<br />
nur um vorletzte Fragen kümmern kann und<br />
soll. Die Frage nach dem S<strong>in</strong>n von allem, danach,<br />
woher wir kommen, warum wir hier s<strong>in</strong>d und<br />
woh<strong>in</strong> wir gehen, welche es uns ermöglicht, das<br />
Ganze unserer Existenz zu <strong>in</strong>terpretieren, wird<br />
nicht von der <strong>Politik</strong> beantwortet.<br />
In der Bergpredigt wird die Aussicht auf das<br />
Reich Gottes verbunden mit der radikalen Kritik<br />
an bestehenden ungerechten Zuständen. Damit<br />
kann der <strong>Politik</strong> der Spiegel des ganz Anderen<br />
vorgehalten werden, das „Es soll anders se<strong>in</strong>“.<br />
Entgegen säkularisierten Heilsideen umfassender<br />
gesellschaftlicher Lehren wie dem Marxismus<br />
drängt dieses „Es soll anders se<strong>in</strong>“ der Bergpredigt<br />
nicht darauf,<br />
die Blaupause für<br />
die Organisation der<br />
weltlich-politischen<br />
Ordnung abzugeben.<br />
Das ist der kard<strong>in</strong>ale<br />
Unterschied<br />
zu den totalitären<br />
politischen Ideologien<br />
des 20. Jahrhunderts,<br />
die die Differenz<br />
von Immanenz<br />
ES SOLL ANDERS SEIN<br />
und Transzendenz<br />
versuchten und die<br />
Gewaltentrennung<br />
von weltlich und<br />
geistlich e<strong>in</strong>geebnet<br />
haben. In der Bergpredigt<br />
wird demgegenüber<br />
e<strong>in</strong>e Spannung<br />
greifbar, die<br />
mit dem verheißenen<br />
Gottesreich verbunden<br />
ist, das „noch<br />
nicht“ da, aber zu erwarten ist und dass doch<br />
„schon“ aufsche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em menschlichen<br />
Verhalten der Friedfertigkeit, des Vergeltungsverzichts<br />
und der unbed<strong>in</strong>gten Solidarität und<br />
Liebe zu dem Anderen als gleichem Menschen.<br />
So hält die Bergpredigt das Bewusstse<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />
jedem e<strong>in</strong>zelnen Gläubigen wach, sowohl das<br />
eigene, <strong>in</strong>dividuelle Verhalten kritisch zu prüfen<br />
als auch die weltlich-politische Ordnung<br />
mit der Frage nach der wahren Gerechtigkeit<br />
zu konfrontieren. Das gehört auch zu den berühmten<br />
Voraussetzungen, die der freiheitliche<br />
säkularisierte Staat nicht selbst garantieren<br />
kann.<br />
28<br />
29