Interview mit Dmitri Tcherniakov - Bayerische Staatsoper
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Noch einmal zurück<br />
Regisseur D<strong>mit</strong>ri<br />
<strong>Tcherniakov</strong> inszeniert<br />
an der <strong>Bayerische</strong>n<br />
<strong>Staatsoper</strong> Giuseppe<br />
Verdis Simon Boccanegra.<br />
Im MAX JOSEPH-<br />
Gespräch zeichnet<br />
er einfühlsam seine<br />
Deutung der Titelfigur<br />
nach und erzählt eine<br />
per sönliche Familiengeschichte.<br />
28
MAX JOSEPH In Simon Boccanegra finden sich ein Vater<br />
und seine Tochter wieder, die Jahrzehnte zuvor auseinandergerissen<br />
wurden. Diese fast sentimental wirkende Wiederbegegnung<br />
verspricht vollkommen glücklich zu verlaufen<br />
und könnte alte Wunden heilen. Dann aber erliegt<br />
Boccanegra einem Mordanschlag. In welchem Zusammenhang<br />
steht hier das Scheitern eines Politikers <strong>mit</strong> seiner familiären<br />
Geschichte? Was ist Vordergrund, was Hintergrund?<br />
DMITRI TCHERNIAKOV Das Thema Familie ist für<br />
mich in dieser Oper eher peripher. Niemand hat dort<br />
wirklich eine Familie, eher geht es um ihre Abwesenheit.<br />
Hingegen ist das persönliche Scheitern Boccanegras<br />
für mich wesentlich. Er ist ein Mensch, der<br />
sich verloren hat und <strong>mit</strong> den Jahren versteht, dass<br />
er nicht sein eigentliches Leben gelebt hat. Dass es<br />
einen entscheidenden Augenblick gab, in dem sein<br />
Leben eine falsche Richtung eingeschlagen hat, für<br />
mehr als zwanzig Jahre. Diesen Wendepunkt, diesen<br />
alles entscheidenden Abend in Boccanegras Leben,<br />
als seine Geliebte sich ermordet und er zum Dogen<br />
gewählt wird, erzählt uns Verdi im Prolog. Im Laufe<br />
seines weiteren Lebens kehrt Boccanegra in Gedanken<br />
immer wieder zu diesem Abend zurück. Er versucht,<br />
ihn noch einmal zu durchleben, ihn Sekunde<br />
für Sekunde zu rekonstruieren, um zu verstehen, wie<br />
alles passieren konnte, und um das Geschehene<br />
rückgängig zu machen. Aber das ist nicht möglich,<br />
diese fortwährende Rückkehr in die Vergangenheit<br />
ist zerstörerisch. Am Ende der Oper macht Boccanegra<br />
dann so etwas wie ein Downshifting, steigt aus<br />
seinem Job aus, lässt alles zurück und geht fort. Weil<br />
er versteht, dass er von seinem bisherigen Leben<br />
nichts mehr braucht. Ich lasse ihn nicht durch das<br />
Gift seiner Gegner sterben, wie es das Libretto vorsieht.<br />
Das wäre zu einfach. Das Gift, die Intrige, der<br />
politische Mord sind nur Teile einer Theaterkonvention.<br />
Boccanegra bleibt am Leben, ändert aber seine<br />
Prioritäten.<br />
MJ Der Auslöser für diese Veränderung in seinem Denken<br />
ist aber doch das unerwartete Auftauchen seiner Tochter,<br />
die in jener Vergangenheit verschwunden ist.<br />
DT Ja, Amelia ist der Katalysator. Ich erzähle die Familiengeschichte<br />
in Simon Boccanegra aber etwas<br />
anders als Verdi und seine Librettisten und verändere<br />
sie in einem ganz kleinen, aber wesentlichen Detail.<br />
Ich glaube nicht an die Echtheit der Gefühle<br />
während dieser Wiederbegegnung. Wie kann Boccanegra,<br />
wenn diese verloren geglaubte Tochter nach<br />
über zwanzig Jahren auftaucht, un<strong>mit</strong>telbar in ein<br />
Duett von so verzuckerter Natur <strong>mit</strong> ihr einstimmen?<br />
Das Duett ist ein Spiel. Was müsste ein ständig von<br />
Komplotten umkreister und aus Erfahrung misstrauischer<br />
Politiker denken, wenn er plötzlich auf ein<br />
<strong>Interview</strong> Miron Hakenbeck<br />
Mädchen trifft, das sich ihm als seine Tochter zu erkennen<br />
gibt? „Wer steht hinter ihr? Was ist das für<br />
eine Provokation?“ Für mich glaubt Boccanegra<br />
nicht ein einziges Mal an die Identität dieser wiederaufgetauchten<br />
Tochter.<br />
MJ Das heißt, die beiden sind gar nicht verwandt? Warum<br />
gibt sich Amelia als diese Tochter aus? Oder glaubt sie<br />
selbst an die Geschichte von Vater und Tochter?<br />
DT Diese junge Frau ist keine kalkulierende Intrigantin,<br />
die an die Macht gelangen will. Sie ist eine<br />
Waise, über Jahre in einer fremden Familie aufgewachsen,<br />
<strong>mit</strong> dem Gefühl, dass niemand sie braucht.<br />
In der autistischen Blase, in der sie lebt, denkt sie<br />
sich Boccanegra als ihren Helden. Als die Vaterfigur,<br />
die sie in ihrem Leben nie hatte. Sie weiß vom Verschwinden<br />
seiner Tochter vielleicht durch Paolo, der<br />
sie oft besucht und Boccanegra noch aus der Zeit<br />
kennt, bevor dieser Doge wurde. Aus Paolos Erzählungen<br />
konnte sie ein Porträt Boccanegras kreieren.<br />
Sie idealisiert ihn, schneidet vielleicht seine Fotos<br />
aus den Zeitungen aus und klebt sie in ihr Tagebuch.<br />
Sie muss eine unheimliche Angst haben, dass alles<br />
auffliegt und sie als Lügnerin dastehen wird. Aber<br />
sie hat diese idée fixe, dass ihr Glück davon abhängt.<br />
MJ Bei allem Misstrauen löst die Begegnung <strong>mit</strong> dieser<br />
jungen Frau in Boccanegra eine Kette von emotionalen Reaktionen<br />
aus.<br />
DT Er hatte jahrelang die Hoffnung, seine Tochter<br />
noch einmal wiederzusehen, auch wenn dies <strong>mit</strong> der<br />
Zeit immer utopischer wurde. Wie eine wichtige<br />
Schublade, die immer leerer zu werden droht. Deshalb<br />
ist es ab einem bestimmten Moment nicht mehr<br />
wichtig für ihn, ob diese Frau wirklich seine Tochter<br />
ist. Sie nimmt einfach diesen Platz in seinem Leben<br />
ein. Es ist, als würde er ihr sagen: „Ich will dich nicht<br />
weiter ausfragen. Aber verlass mich bitte nicht! Ich<br />
brauche dich.“ Und dennoch: In der ersten Begegnung,<br />
in ihrer ersten gemeinsamen Szene lügt Boccanegra<br />
und spielt ihr vor, dass er ein glücklicher<br />
Vater ist. Danach stürzen eine Menge vernichtender<br />
Zweifel und Probleme auf ihn ein.<br />
MJ Auf dem Politiker Boccanegra, dem von den Plebejern<br />
gewählten Dogen, lag die Hoffnung auf Ausgleich zwischen<br />
verfeindeten Parteien. Seine Politik war aber zwanzig Jahre<br />
lang von Terror und Ungerechtigkeit gegen die Patrizier<br />
gezeichnet. Schlittert er ganz passiv und unbedacht in diese<br />
Form der Machtausübung hinein? Oder übt er an den<br />
Patriziern Rache für seinen persönlichen Verlust?<br />
DT Boccanegra hat sich sicher immer als zweitklassiger<br />
Mensch gegenüber den Patriziern gefühlt. Und<br />
nur deshalb wurde sein Leben zerstört – von Fiesco,<br />
dem Vater seiner Geliebten, der seine Tochter vielleicht<br />
sogar in den Selbstmord getrieben hat. Als<br />
Boccanegra, einmal an der Macht, die Möglichkeit<br />
Premiere Simon Boccanegra29
zur Rache bekam, hat er sie genutzt. Es gab ganz private<br />
Gründe, diesen Krieg gegen die Welt Fiescos zu<br />
führen. Das war kein politisches Kalkül, auch wenn<br />
es politische Auswirkungen hat. Fiesco verfolgt ihn<br />
lebenslang. In jeder Szene, in der wir Boccanegra<br />
<strong>mit</strong> Fiesco erleben, beleidigt ihn dieser. Vielleicht<br />
ist Boccanegras Handeln vor allem dadurch bestimmt,<br />
diesem Mann, der ihn als Bräutigam seiner<br />
Tochter nicht akzeptiert hat, etwas beweisen zu wollen.<br />
Die beiden Männer führen einen endlosen mentalen<br />
Dialog <strong>mit</strong>einander. Da<strong>mit</strong> verbringen sie ihr<br />
halbes Leben.<br />
MJ Im Kontrast zu fast abstrakt anmutenden, schwarz-weißen<br />
Innenräumen in den darauffolgenden Akten wird der<br />
Prolog in dieser Inszenierung zu einer farbigen Straßenszene,<br />
die aber doch auch befremdend künstlich wirkt, da<br />
die Atmosphäre und eine bekannte Eckbar die Welt des<br />
Malers Edward Hoppers zu zitieren scheinen. Ist das programmatisch<br />
gemeint? Ist Boccanegras Leben ein Boulevard<br />
of Broken Dreams?<br />
DT Ich mag keine programmatischen Statements.<br />
Mich interessiert eher eine Wirkungsweise. Durch<br />
Postkarten und Poster kennen Edward Hoppers Bilder<br />
<strong>mit</strong>tlerweile alle. Wir sehen dieses Café und wissen<br />
sofort: Das habe ich irgendwo schon gesehen.<br />
Das Bühnenbild des Prologs prägt sich deswegen<br />
sofort ins Bewusstsein ein – so wie dieser Abend<br />
und dieser Ort sich in Boccanegras Erinnerung einbrennen.<br />
Außerdem habe ich bei Bildern von Hopper<br />
immer ein Gefühl von Leere, als ob die Welt verlassen<br />
wäre. Es sind Bilder, wie sie ganz schnelle, frühmorgendliche<br />
Träume produzieren, die ein merkwürdiges<br />
Gefühl hinterlassen: An diesen Orten bin ich<br />
schon einmal gewesen, aber irgendetwas stimmt an<br />
ihnen nicht. Auf erschreckende Weise sind sie unecht.<br />
Ähnlich wirkte in der Kindheit auf mich Feuerwerk.<br />
Ich habe nie auf die explodierenden Leuchtkörper<br />
geschaut, sondern auf die Straßen und<br />
Gebäude, die für Sekundenbruchteile grell beleuchtet<br />
wurden – vor dem Hintergrund des schwarzen<br />
Himmels, <strong>mit</strong> der Helligkeit eines unnatürlichen<br />
Lichts.<br />
MJ In vielen Ihrer letzten Inszenierungen ist Familie der<br />
Ort von Manipulation und Verletzungen. Don Giovanni wird<br />
zum konfliktgeladenen familiären Beziehungsgeflecht, da<br />
alle Figuren hier plötzlich verwandt sind. Im Wozzeck ist<br />
die kleine Familie aus Vater, Mutter und Kind nur einer unter<br />
vielen Vertretern dieser familiären Mikrozelle, die alle<br />
in einem riesigen Neubaublock wohnen und in denen die<br />
gleiche katastrophale Spirale aus Ohnmacht, Entfremdung<br />
und Gewalt ablaufen könnte. In Janáčeks Jenůfa bleiben<br />
die Frauen dreier Generationen am Ende in der Hölle geschlossener<br />
Türen allein <strong>mit</strong>einander zurück. Dagegen gab<br />
es in Francis Poulencs Dialogues des Carmélites und auch<br />
Stickerei Yvonne Gebauer<br />
„Bei einem Feuerwerk<br />
habe ich als Kind nie auf<br />
die explodierenden Leuchtkörper<br />
geschaut, sondern<br />
auf die Straßen und Gebäude,<br />
die für Sekundenbruchteile<br />
grell beleuchtet<br />
wurden.“<br />
in Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch etwas<br />
anderes: eine Suche nach Verständnis und nach Aufgehobensein,<br />
nach glücklichem und ausgelassenem Miteinander<br />
außerhalb der Familie. Das Ende von Kitesch mutet wie<br />
die Erinnerung an einen glücklichen Sommer in der Kindheit<br />
an – auch wenn es dann doch schon das Paradies der<br />
Toten ist. Könnte es so etwas wie ein unbeschädigtes kindliches<br />
Wunschbild einer glücklichen Gemeinschaft geben,<br />
das jeder durch sein Leben trägt und nach dessen Erfüllung<br />
wir dann suchen?<br />
DT Ich glaube nicht an das Modell Familie. Trotzdem<br />
löst diese Frage bei mir eine wichtige Erinnerung<br />
aus: Als ich noch sehr klein war, in den frühen<br />
1970er-Jahren, gab es in der Familie meines Großvaters<br />
manchmal große Feste. Alle haben sich<br />
hübsch angezogen, die Frauen trugen große, auftoupierte<br />
Frisuren. Meine Großmutter sah umwerfend<br />
aus in ihrem glitzernden Lurex-Jackett. Meine Mutter<br />
und ihre zwei Schwestern legten sich bäuchlings<br />
auf das große Ehebett meiner Großeltern. Dort plauderten<br />
sie, lachten und wackelten <strong>mit</strong> ihren Beinen.<br />
Später saß ich unter dem Tisch und berührte die Hosen,<br />
Kleider und Socken aller Gäste. Die ältere<br />
Schwester meiner Mutter hatte zu viel getrunken<br />
und krabbelte zu mir unter den Tisch. Das alles<br />
schien mir ein wunderbares Glück zu sein. Später ist<br />
das verschwunden, als ob diese große Familie nicht<br />
mehr existierte. Der Großvater ist gestorben und die<br />
Großmutter hat solche Zusammenkünfte nicht mehr<br />
organisiert. Ihre Töchter haben sie noch besucht,<br />
aber nie wieder gemeinsam. Als meine Großmutter in<br />
eine kleinere Wohnung umziehen musste, stritten<br />
sie sich um die schönen alten Möbel. Und <strong>mit</strong> dem<br />
Tod der Großmutter hörte der Kontakt zwischen den<br />
drei Schwestern auf. Ich wollte sie wieder zusammenbringen<br />
und begann eine Art therapeutische<br />
Sitzung <strong>mit</strong> meiner Mutter: Ich zeigte ihr Ingmar<br />
Bergmans Film Schreie und Flüstern, in dem es um<br />
drei Schwestern geht, die sich auf kaum zu ertragen-<br />
D<strong>mit</strong>ri <strong>Tcherniakov</strong> 31
de Weise voneinander entfremdet haben. Aber es<br />
blieb für sie nur ein Film <strong>mit</strong> guten Schauspielern,<br />
ohne einen Bezug zu ihrem Leben. Und seit meine<br />
Mutter gestorben ist, habe ich meine Tanten nicht<br />
mehr gesehen, obwohl sie auch in Moskau wohnen.<br />
Alles ist auseinandergefallen.<br />
Die Beziehung meiner Eltern war in meiner<br />
Kindheit voller Konflikte und Eifersucht. Ich erinnere<br />
mich an ständiges Geschrei und Türenschlagen.<br />
Ich kannte in meiner Schulklasse Kinder, deren Eltern<br />
geschieden waren, und hatte eine Riesenangst,<br />
dass auch mir das passieren könnte. Ich dachte darüber<br />
nach, wie mein Bruder und ich diese zwei Menschen<br />
zusammenhalten könnten. Später, als sie<br />
schon um die sechzig waren, ohne uns Kinder lebten<br />
und mein Vater schwer krank wurde, schienen sie<br />
mir eine ideale Familie zu sein: wie sie sich gegenseitig<br />
den Hemdkragen richteten, wie sie einander<br />
pflegten, wenn sie krank waren. Gleichzeitig ist fast<br />
ihr ganzer Bekanntenkreis verschwunden. Aber in<br />
dieser Zweisamkeit haben sie endlich ihr Glück gefunden,<br />
vierzig Jahre nach der Hochzeit. Das ist<br />
doch aber auch nicht harmonisch, oder? Ich erinnere<br />
mich also an keine harmonische Familie, nur an<br />
diesen kurzen utopischen Moment in der Kindheit,<br />
als ich unter dem Tisch saß und es mir schien, als<br />
würden alle das vollkommene Glück erleben. Manchmal<br />
habe ich das Bedürfnis, dieses Gefühl wieder<br />
herzustellen, auch wenn vielleicht niemand anderes<br />
es braucht und obwohl es mich oft frustriert, dass es<br />
nicht überlebensfähig ist.<br />
MJ Wie?<br />
DT Auf komische Weise. Neulich habe ich versucht,<br />
eine Wohnung in dem Haus zu mieten, in dem diese<br />
glücklichen Familientreffen stattfanden. Nicht dieselbe<br />
Wohnung, aber eine im Nachbareingang, <strong>mit</strong><br />
dem Ausblick auf denselben Schornstein. Ich habe<br />
versucht zu verhandeln und sogar eine schrecklich<br />
hohe Summe geboten. Aber es ist mir nicht gelungen.<br />
MJ Und in der Arbeit?<br />
DT Manchmal gelingt es mir in der Tat während der<br />
Proben an einer Inszenierung. Zum Beispiel im Fall<br />
von Eugen Onegin. Die weibliche Hauptfigur, Tatjana,<br />
ist eine Art Outsider, sie fühlt sich vollkommen<br />
allein in<strong>mit</strong>ten der Gemeinschaft der anderen. Wie<br />
kann man diese Gemeinschaft zeigen? Was bringt<br />
die Leute in der russischen Tradition zusammen?<br />
Nicht Golfspielen, oder? Selbstverständlich ein Fest,<br />
um einen Tisch herum. So entstand die Idee eines<br />
großen Tisches als Zentrum dieser Inszenierung.<br />
Tatjana versucht, nicht dazuzugehören, und ignoriert<br />
diesen Tisch, setzt sich wie gezwungen an ihn.<br />
Gleichzeitig entstand um eben diesen Tisch herum<br />
32<br />
vielleicht eine der glücklichsten Probensituationen<br />
in meiner bisherigen Arbeit überhaupt. Wir haben<br />
uns täglich um diesen Tisch versammelt – fünf Solisten,<br />
ein kleiner Chor und ich – und <strong>mit</strong> großem<br />
Spaß fast endlos geprobt, unentwegt gelacht. Unbewusst<br />
haben wir ihn <strong>mit</strong> diesem Glück aus der Vergangenheit<br />
belebt. Ich wollte immer wieder so eine<br />
Situation herstellen. Einmal konnte sich die Sängerin<br />
der Amme an keine szenische Abmachung mehr<br />
erinnern. Sie war damals schon gut siebzig Jahre alt<br />
und eine zerbrechliche Frau. Ich war ungeduldig,<br />
habe mich über sie geärgert und auf sie eingeredet.<br />
Sie war furchtbar erschrocken, hatte die Augen voller<br />
Tränen und flüsterte immer wieder aufgeregt meinen<br />
Namen: „Dimotschka! Dimotschka! Was kann<br />
ich tun?“ Wie ein kleiner Grashalm im Wind. Das war<br />
nur wenige Monate nach dem Tod meiner Mutter. Ich<br />
erinnerte mich, dass meine Mutter genauso reagierte,<br />
wenn ich grob <strong>mit</strong> ihr umging. Diese Sängerin war<br />
in diesem Moment meiner Mutter so ähnlich, dass<br />
ich ein schreckliches Schuldgefühl bekam, mich auf<br />
der Toilette einsperrte und dort eine Stunde heulte.<br />
Inzwischen ist diese Frau achtundsiebzig Jahre alt<br />
und kann schon nicht mehr richtig singen. Aber ich<br />
kann sie nicht einfach umbesetzen. Es würde alles<br />
zerstören. <br />
D<strong>mit</strong>ri <strong>Tcherniakov</strong> inszenierte nach seinem<br />
Regiestudium an der Russischen<br />
Akademie für Theaterkunst am Mariinski-<br />
Theater Sankt Petersburg und am Moskauer<br />
Bolschoi-Theater. Bald arbeitete<br />
der 1970 in Moskau geborene Künstler<br />
auch im Ausland. Die Bühnenbilder zu<br />
seinen Inszenierungen entwirft er in der<br />
Regel selbst. Er ist Preisträger vieler<br />
russischer Theaterpreise und wurde in<br />
den vergangenen Spielzeiten mehrfach<br />
zum Opernregisseur des Jahres gewählt.<br />
Zuletzt inszenierte er u.a. Die Legende<br />
von der unsichtbaren Stadt Kitesch in<br />
Amsterdam, Eugen Onegin, Wozzeck und<br />
Ruslan und Ludmilla am Bolschoi-Theater<br />
Moskau, Macbeth an der Opéra National<br />
de Paris und am Teatro Real Madrid,<br />
Don Giovanni in Aix-en-Provence und am<br />
Teatro Real Madrid, Il trovatore am Théâtre<br />
La Monnaie Brüssel sowie Jenůfa am<br />
Opernhaus Zürich. An die <strong>Bayerische</strong><br />
<strong>Staatsoper</strong> kehrt er nach Mussorgskis<br />
Chowanschtschina und Poulencs Dialogues<br />
des Carmélites zurück.<br />
Simon Boccanegra<br />
Oper in einem Prolog und drei Akten<br />
(fünf Bildern)<br />
Von Giuseppe Verdi<br />
Premiere am Montag, 3. Juni 2013,<br />
Nationaltheater<br />
Weitere Termine im Spielplan ab S. 94