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1 Michael Schneider STAREZ SILUAN VOM BERG ... - Kath.de

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<strong>Michael</strong> <strong>Schnei<strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>STAREZ</strong> <strong>SILUAN</strong> <strong>VOM</strong> <strong>BERG</strong> ATHOS (1866-1938)<br />

(Radio Horeb am 6. Mai 2013)<br />

Zuweilen wird <strong>de</strong>r »Ruf nach <strong>de</strong>m Meister« voller Enttäuschung vorgebracht, da es heutzutage an<br />

solchen Meistern zu fehlen scheint. Doch <strong>de</strong>r Weg <strong>de</strong>s Glaubens entschei<strong>de</strong>t sich nicht grundlegend<br />

an <strong>de</strong>r Begegnung mit einem solchen Meister, wie auch viele Heilige keinen Geistlichen Begleiter<br />

hatten. Wer <strong>de</strong>n inneren Weg wirklich geht, wird auf seine Weise einen solchen »Meister«<br />

fin<strong>de</strong>n, gleich wie er aussehen und in welcher Gestalt er auftreten mag. Ein »Meister« muß nicht<br />

mit einer konkreten Person gegeben sein, auch Situationen und Konstellationen unseres Lebens<br />

können uns die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Weisung zu Gott geben. Wer sein Leben aufmerksam lebt und die<br />

Zeichen <strong>de</strong>r Zeit zu <strong>de</strong>uten versteht, wird die nötigen geistlichen Hilfen erhalten, um Gottes Willen<br />

für sein eigenes Leben zu erkennen. Auch ist es eine alltägliche Erfahrung, daß wir, sobald wir<br />

aufmerksam und innerlich authentisch leben, immer wie<strong>de</strong>r Menschen begegnen, bei <strong>de</strong>nen wir<br />

eine »Seelenverwandtschaft« ent<strong>de</strong>cken, die uns zur ersehnten Weisung wird. Zu<strong>de</strong>m stellt die<br />

Kirche uns in <strong>de</strong>n Heiligen zahlreiche Mo<strong>de</strong>lle gelungenen Lebens im Glauben vor Augen, an <strong>de</strong>nen<br />

wir viele Hilfen und konkrete Anweisungen für ein authentisches Zeugnis fin<strong>de</strong>n können.<br />

1. Der Starez Siluan 1<br />

Die Einrichtung <strong>de</strong>r geistlichen Führung, die im Amt <strong>de</strong>s »Abbas« bis heute fortlebt, reicht bis in die<br />

Neuzeit und ist beson<strong>de</strong>rs im russischen Starzentum gegenwärtig. Dieses entwickelt sich, vom<br />

Athos her kommend, im 14. und beson<strong>de</strong>rs im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt zu hoher Blüte. In <strong>de</strong>r Kirche <strong>de</strong>s<br />

Ostens wird als »Alter« (griechisch: »Gerontas«, russisch: »Starez«) <strong>de</strong>r Abt o<strong>de</strong>r überhaupt als <strong>de</strong>r<br />

Geistliche Vater bezeichnet. In Rußland leben die meisten Starzen im Kloster, einige in Pfarren o<strong>de</strong>r<br />

in einer Einsie<strong>de</strong>lei.<br />

Voraussetzung für <strong>de</strong>n Dienst, <strong>de</strong>n ein Starez ausübt, ist, daß er selber <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>s Heils gegangen<br />

ist. Dies kann zuweilen recht abenteuerlich verlaufen. Einer <strong>de</strong>r be<strong>de</strong>utendsten Starzen <strong>de</strong>s<br />

letzten Jahrhun<strong>de</strong>rts war Starez Siluan, <strong>de</strong>r im russischen Kloster Panteleimonos auf <strong>de</strong>m Berg<br />

Athos lebte und dort im Jahr 1938 starb. 1988 wur<strong>de</strong> er heiliggesprochen.<br />

Über sein Leben und seine Lehre wissen wir recht viel, weil einer seiner Schüler, Archimandrit Sophronij,<br />

<strong>de</strong>r vor kurzem in England verstarb, uns in zwei Bändchen ausführlich über Leben und Leh-<br />

1<br />

Vgl. W. Lin<strong>de</strong>nberg, Das heilige Rußland. Mit einem Beitrag von M. <strong>Schnei<strong>de</strong>r</strong>, Köln 2006.<br />

1


2<br />

re dieses Starez berichtet und sogar seine Schriften sammelte und herausgab. Siluan war ein<br />

Bauernsohn, <strong>de</strong>r seit 1898 auf <strong>de</strong>m Athos als schlichter Mönch lebte. Er war kein Priester, ähnlich<br />

wie die Starzen in <strong>de</strong>r ägyptischen Wüste und die Altväter bis zum heiligen Benedikt. Starez Siluan<br />

3<br />

sagt von sich :<br />

Auch ich dachte einst, das Glück sei auf Er<strong>de</strong>n zu fin<strong>de</strong>n. Ich war gesund, kräftig und fröhlich; die<br />

Menschen liebten mich, und <strong>de</strong>ssen rühmte ich mich.<br />

Eigentlich hat Siluan in vollen Zügen gelebt. Er war groß, in Prügeleien verwickelt, hatte ein Mädchen,<br />

und sein Appetit war <strong>de</strong>rart, daß er ein Omelett von 50 Eiern essen konnte. Aber aus diesem<br />

lebenslustigen Menschen sollte schließlich ein zartfühlen<strong>de</strong>r, behutsamer Mönch wer<strong>de</strong>n:<br />

Doch als ich <strong>de</strong>n Herrn im Heiligen Geist erkannte, schien mir alles Glück <strong>de</strong>r Welt wie Rauch; <strong>de</strong>nn<br />

wahre Freu<strong>de</strong> ist allein im Herrn. Wahrhaft fröhlich ist unsere Seele allein in Gott. Wie die Sonne<br />

die Blumen auf <strong>de</strong>m Fel<strong>de</strong> wärmt und wie <strong>de</strong>r Wind sie hin- und herbewegend belebt, so erwärmt<br />

und belebt <strong>de</strong>r Heilige Geist die Seele. Alles hat uns <strong>de</strong>r Herr gegeben, damit wir ihn loben. Die<br />

Welt aber hat es nicht begriffen.<br />

Herr, gib, daß <strong>de</strong>in Volk sich zu dir wen<strong>de</strong>. Laß die Menschen <strong>de</strong>ine Liebe erkennen und im Heiligen<br />

Geist <strong>de</strong>in sanftes Antlitz schauen, damit sie sich schon hier auf Er<strong>de</strong>n im Dich-Anschauen<br />

erquicken, und sehend, wie du bist, dir ähnlich wer<strong>de</strong>n.<br />

In einem an<strong>de</strong>ren Text heißt es:<br />

Wer vermag sich das Paradies vorzustellen? Wer <strong>de</strong>n Heiligen Geist in sich trägt, kann es zum Teil<br />

schon tun; <strong>de</strong>nn das Paradies ist das Reich <strong>de</strong>s Heiligen Geistes, und <strong>de</strong>r Heilige Geist ist <strong>de</strong>rselbe<br />

im Himmel und auf Er<strong>de</strong>n.<br />

Ich dachte, ich bin verabscheuungswürdig und verdiene jegliche Strafe. Aber statt <strong>de</strong>r Strafe hat<br />

mir <strong>de</strong>r Herr <strong>de</strong>n Heiligen Geist gegeben! O, <strong>de</strong>r Heilige Geist ist süß, mehr als alles auf Er<strong>de</strong>n. Er<br />

ist die himmlische Nahrung; er ist die Freu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Seele. Wenn du die Gna<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Heiligen Geistes<br />

spürbar haben willst, dann <strong>de</strong>mütige dich wie die Heiligen Väter.<br />

Daß also einer treu seinen geistlichen Weg geht, in Demut und Reue, qualifiziert einen Menschen<br />

im Glauben zu einem Starzen. Doch nicht er selbst ernennt sich zu einem solchen Dienst, vielmehr<br />

2<br />

3<br />

Archimandrit Sophronius (Hg.), Starez Siluan, Mönch vom Berg Athos. Bd. I-II, Düsseldorf 1980; zweite neu bearbeitete und<br />

erweiterte Auflage: 1981.<br />

Folgen<strong>de</strong> Texte sind entnommen aus Archimandrit Sophronius (Hg.), Starez Siluan. Mönch vom Berg Athos. Bd. II: Die Schriften,<br />

Düsseldorf 1981.<br />

2


ekommt er ihn von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren zugesprochen, nämlich von all <strong>de</strong>nen, die ihn schließlich aufsuchen.<br />

Wohl kann es sein, daß ein Starez auf einen zukommt und sagt, er solle zu ihm kommen und ihn<br />

als Begleiter in seinem Leben <strong>de</strong>s Glaubens nehmen. Ansonsten sprechen die Starzen nur, wenn sie<br />

gefragt wer<strong>de</strong>n; etwas Überflüssiges wer<strong>de</strong>n sie wohl kaum sagen. Sie überre<strong>de</strong>n nicht, weil ihre<br />

Autorität von selber, aus sich heraus wirkt, und zwar mit letzter Verbindlichkeit. Denn die Starzen<br />

stellen ihre Weisung nicht zur Verfügung, erst recht diskutieren sie nicht darüber. Doch sie drängen<br />

sich auch nicht auf, son<strong>de</strong>rn sind einfach da, wenn man sie braucht. Dabei haben sie nichts<br />

Angelerntes, sie leben einfach, ohne Furcht und manchmal sogar recht verwegen.<br />

Rat und Hilfe <strong>de</strong>r Starzen sind auf die konkrete Situation <strong>de</strong>s jeweiligen Menschen ausgerichtet.<br />

Deshalb verfassen die Starzen keine Bücher, wohl Briefe an Einzelne mit konkreten Anliegen. »Die<br />

Starzen schreiben gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb keine Bücher, weil sie so großartige Pädagogen sind. Ihre Antwort<br />

ist stets die einzig mögliche, die absolut genaue und notwendige [...] Die Starzen sind Pädagogen,<br />

mehr noch: sie wissen, daß je<strong>de</strong>r Mensch zur Vergöttlichung aufgerufen ist.« 4<br />

Manchmal geben die Starzen eine geistliche Übung auf, die man über längere Zeit hin verrichten<br />

muß; meist ist es ein Gebet, das mit einer tiefen Verbeugung bis zur Er<strong>de</strong> gesprochen wird. Ein<br />

neues Gespräch mit <strong>de</strong>m Starzen fin<strong>de</strong>t erst statt, wenn die Ratschläge ausgeführt sind; ansonsten<br />

wür<strong>de</strong> Seelenführung beliebig bleiben, bloß eine interessante Unterhaltung. Mit großer Achtung und<br />

Ehrfurcht begegnen die Starzen <strong>de</strong>m Geheimnis eines Menschen, <strong>de</strong>nn es gehört Gott allein. So<br />

führen die Starzen <strong>de</strong>n Ratsuchen<strong>de</strong>n zur Ursprünglichkeit seiner Gottesbeziehung zurück und befreien<br />

ihn aus einem Gottesverhältnis »zweiter Hand«, auf daß er es wie<strong>de</strong>r unmittelbar mit Gott<br />

zu tun bekommt.<br />

Um <strong>de</strong>n Willen Gottes klar zu erkennen, lassen sich die Starzen Zeit. Manchmal beten sie erst einige<br />

Tage, bis sie <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n Rat geben. Das Gespräch mit <strong>de</strong>n Starzen schenkt das Gespür<br />

für das rechte und - das heißt für sie: das schöne Maß, das im eigenen Leben unwillkürlich eine<br />

bisher nicht gekannte Schönheit ahnen läßt. So bil<strong>de</strong>n die Starzen mit ihrer Weisung <strong>de</strong>n Einzelnen<br />

zu einer Persönlichkeit, nämlich zu einer vollen<strong>de</strong>ten »Ikone«.<br />

Auf diese Weise wird <strong>de</strong>utlich, daß mit <strong>de</strong>n Starzen ein an<strong>de</strong>res Verständnis von Geistlicher Begleitung<br />

angesprochen ist, als wir es im Abendland gewohnt sind. Es geht ähnlich wie bei <strong>de</strong>n<br />

Mönchsvätern um eine einmalige Beziehung, die von einer großen affektiven Zuwendung im Glauben<br />

und durch eine einzigartige innere Erkenntnis <strong>de</strong>s Herzens geprägt ist.<br />

4<br />

Vgl. T. Goritschewa, Vorwort, in: Igumen Nikon, Briefe eines russischen Starzen an seine geistlichen Kin<strong>de</strong>r. Freiburg-Basel-Wien<br />

1988, 11.<br />

3


2. Der Lebensweg <strong>de</strong>s Starez Siluan<br />

Das Leben <strong>de</strong>s heiligen Starez Siluan enthält keine großen herausragen<strong>de</strong>n Ereignisse. Geboren<br />

wur<strong>de</strong> er 1866 im Kirchdorf Schowskoje und starb am 24. September 1938. Mit bürgerlichem<br />

Name hieß er Simeon Iwanowitsch Antonow. Vor <strong>de</strong>r Einberufung zum Militär führte er das Leben<br />

eines armen russischen Bauern. Danach lebte er für sechsundvierzig Jahre im russischen Kloster<br />

Panteleimon auf <strong>de</strong>m Heiligen Berg Athos: 1896 wur<strong>de</strong> er eingeklei<strong>de</strong>t, 1911 nahm er das Mönchsgewand<br />

(Schima) an. Im Kloster verrichtete er seinen Dienst vor allem auf <strong>de</strong>r Mühle und als<br />

Ökonom im Lebensmittellager <strong>de</strong>s Klosters.<br />

Wie sein Biograph Archimandrit Sophronius berichtet, hatte Simeon schon früh <strong>de</strong>n Wunsch, als<br />

Mönch zu leben. Doch dann band ihn drei Monate lang die »Freundschaft mit seinen Altersgenossen<br />

und bald auch mit <strong>de</strong>n Dorfmädchen. Er ließ sich durch ein Mädchen hinreißen, und in<br />

später Abendstun<strong>de</strong> geschah, was nicht geschehen durfte, bevor noch die Frage einer Eheschließung<br />

gestellt war. Bemerkenswert ist dabei, daß ihn <strong>de</strong>r Vater, mit <strong>de</strong>m er am an<strong>de</strong>ren Tag wie<br />

immer zusammen arbeitete, fragte: 'Söhnchen, wo warst du gestern? Mein Herz tat mir weh!'«<br />

Starez Siluan fügte später hinzu: »Einen solchen Starez hätte ich gern gehabt; er blieb sich immer<br />

gleich, war immer sanftmütig. Be<strong>de</strong>nkt, er wollte mich nicht verwirren und wartete ein halbes Jahr<br />

5<br />

lang geduldig auf <strong>de</strong>n passen<strong>de</strong>n Augenblick, um mich zu korrigieren.« Simeon wußte, daß er<br />

eigentlich das Mädchen heiraten müsse; und so ging er erst ins Kloster, als er sah, wie ein<br />

Kaufmann sich ebenfalls in das Mädchen verliebte und es schließlich heiratete. So dankte er Gott,<br />

<strong>de</strong>r ihm seine Vergehen verzeihen wür<strong>de</strong>, vergaß aber nie seine Übertretungen.<br />

In seinem Heimatort kam es bei einem Kirchweihfest zu einer Schlägerei, bei <strong>de</strong>r Siluan einen<br />

Schuhmacher <strong>de</strong>rart blutig zu Bo<strong>de</strong>n warf, daß dieser über Monate das Bett hüten mußte. Wie<strong>de</strong>rum<br />

berichtet Sophronius: So schien im Lärm <strong>de</strong>s jugendlichen Lebens <strong>de</strong>r erste Ruf Gottes zum<br />

Mönchtum in Simeon zu ersticken. Aber Gott rief ihn von neuem - und zwar durch eine<br />

Traumerscheinung. Nach einer sündhaft verbrachten Zeit sah er einmal im Halbdunkel eine<br />

Schlange durch seinen Mund in sein Inneres dringen. Er fühlte großen Ekel und erwachte. In diesem<br />

Augenblick hörte er die Worte: »Du hast im Traum die Schlange verschluckt und empfin<strong>de</strong>st Ekel,<br />

so ist es für mich ekelhaft, zu sehen, was du tust.« Diese Stimme war von außergewöhnlicher<br />

Süße, und er wußte, daß es die Stimme <strong>de</strong>r Gottesmutter war; ihre Wirkung war erschütternd. Daß<br />

er die Gottesmutter selbst nicht sehen konnte, schrieb er seiner Unreinheit zu. Dieser zweite Ruf<br />

Gottes kurz vor Antritt <strong>de</strong>s Militärdienstes wur<strong>de</strong> zum entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Anstoß für die Wahl <strong>de</strong>s<br />

weiteren Weges. Die erste Folge war eine grundlegen<strong>de</strong> Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Lebens. Simeon klagte sich<br />

5<br />

Archimandrit Sophronius (Hg.), Starez Siluan, Mönch vom heiligen Berg Athos. Bd. I, 12.<br />

4


wegen seiner Vergangenheit an vor Gott. 6<br />

Als er auf <strong>de</strong>m Athos eintraf, unterzog er sich <strong>de</strong>m Brauch <strong>de</strong>s Heiligen Berges und verbrachte<br />

einige Tage in voller Ruhe, um seiner Sün<strong>de</strong>n zu ge<strong>de</strong>nken, die er im Leben begangen, und sie <strong>de</strong>m<br />

Beichtvater zu bekennen. Dieser sprach nach <strong>de</strong>r Beichte zu ihm: »Du hast <strong>de</strong>ine Sün<strong>de</strong>n vor Gott<br />

bekannt, wisse, daß diese dir alle vergeben sind. Und nun beginne ein neues Leben. Gehe in<br />

Frie<strong>de</strong>n und freue dich, daß Gott dich in <strong>de</strong>n Hafen <strong>de</strong>r Rettung geführt hat.«<br />

Er gab sich <strong>de</strong>nn auch <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> <strong>de</strong>s neuen Lebens im Kloster hin, verlor aber sofort die Spannung<br />

und wur<strong>de</strong> von unreinen Gedanken gepeinigt, die ihn drängten, das Kloster zu verlassen und zu<br />

heiraten. Er war so erschüttert, sogar im Kloster die Möglichkeit <strong>de</strong>s Untergangs erfahren zu können,<br />

daß er von <strong>de</strong>m Tage an, da <strong>de</strong>r Beichtvater ihm gebot, schlechte Gedanken sofort zu vertreiben,<br />

im Laufe <strong>de</strong>r 46 Jahre seines Mönchtums niemals mehr einen unkeuschen Gedanken<br />

annahm:<br />

»Schon nach drei Wochen geschah es, daß eines Abends beim Beten vor <strong>de</strong>m Muttergottesbild das<br />

Jesusgebet in sein Herz kam und in ihm blieb, Tag und Nacht. Simeon verstand jedoch noch nicht<br />

die Größe und Seltenheit <strong>de</strong>r Gabe, die er von <strong>de</strong>r Gottesmutter empfangen hatte. Die Qual <strong>de</strong>r<br />

dämonischen Angriffe wuchs. Die geistigen Kräfte <strong>de</strong>s jungen Novizen nahmen ab, und seine<br />

Standhaftigkeit litt, Angst vor <strong>de</strong>m Untergang und Verzweiflung wuchsen. Schrecken <strong>de</strong>r<br />

Hoffnungslosigkeit beherrschten mehr und mehr sein Wesen. Bru<strong>de</strong>r Simeon kam bis an <strong>de</strong>n<br />

äußersten Rand <strong>de</strong>r Verzweiflung. Zur abendlichen Zeit sitzt er in seiner Zelle und <strong>de</strong>nkt: Bei Gott<br />

etwas zu erbitten, ist unmöglich. Bei diesen Gedanken fühlt er eine völlige Preisgabe, und seine<br />

Seele sinkt in die Finsternis höllischer Qualen und in Verzagtheit. Etwa eine Stun<strong>de</strong> bleibt er in<br />

diesem Zustand. Am gleichen Tag, während <strong>de</strong>s Abendgebetes - auf <strong>de</strong>r Mühle, in <strong>de</strong>r Kirche <strong>de</strong>s<br />

heiligen Propheten Elias, rechts von <strong>de</strong>r Hauptpforte, wo sich die Ikone <strong>de</strong>s Heilands befin<strong>de</strong>t -, sah<br />

er <strong>de</strong>n lebendigen Christus. Unfaßlich erschien <strong>de</strong>r Herr <strong>de</strong>m jungen Novizen. Sein ganzes Wesen,<br />

sein ganzer Leib ward erfüllt von <strong>de</strong>m Feuer <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Heiligen Geistes, <strong>de</strong>m Feuer, welches<br />

<strong>de</strong>r Herr mit seinem Kommen auf die Er<strong>de</strong> gebracht hat. Simeon geriet in völlige Erschöpfung - und<br />

die Erscheinung verschwand. Christus führte <strong>de</strong>n Geist Simeons mit <strong>de</strong>r Liebe <strong>de</strong>s Herrn in die<br />

göttliche Schau.« 7<br />

15 Jahre später, als er eines Nachts in einem qualvollen Kampf mit <strong>de</strong>n Dämonen war, gelang ihm<br />

trotz aller Anstrengung nicht das reine Gebet. Siluan erhebt sich von seinem Schemel zu <strong>de</strong>n<br />

üblichen Verbeugungen und sieht plötzlich die riesige Figur eines Dämons vor <strong>de</strong>n Ikonen stehen,<br />

<strong>de</strong>r die Verbeugungen für sich gelten lassen will. Siluan spricht: »Herr, du siehst, daß ich mit<br />

reinem Sinn beten will, aber die Bösen lassen es nicht zu. Belehre mich, was ich tun soll, damit sie<br />

mich nicht stören.« Und es ward ihm die Antwort zuteil: »Die Stolzen haben immer unter Dämonen<br />

zu lei<strong>de</strong>n.« »Herr, was soll ich tun, daß meine Seele <strong>de</strong>mütig wer<strong>de</strong>?« »Halte dich mit Bewußtsein<br />

6<br />

7<br />

Ebd., 14f.<br />

Ebd., 23f.<br />

5


in <strong>de</strong>r 'Hölle' und verzweifle nicht!«<br />

Wer Gott erwerben will, muß die Demut erwerben. Fortan betete Siluan nicht mehr nur für sich,<br />

son<strong>de</strong>rn für alle Menschen. »Unser Bru<strong>de</strong>r ist unser Leben«, sagte Starez Siluan: »Für die Menschen<br />

beten heißt sein Herzblut hergeben.« 8<br />

3. Die Erfahrung <strong>de</strong>r Glaubensnacht im Leben <strong>de</strong>s Starez Siluan<br />

Die östliche Theologie ist grundsätzlich von ihrem apophatischen Ansatz geprägt, aber in <strong>de</strong>r Praxis<br />

9<br />

<strong>de</strong>s Glaubenslebens bleibt ihr das Phänomen <strong>de</strong>r dunklen Nacht eher fremd. Es scheint, daß für die<br />

östliche Spiritualität die Erfahrung <strong>de</strong>s Dunkels mehr nach Art <strong>de</strong>r Akedia asketisch zu überwin<strong>de</strong>n<br />

ist, soweit mit ihr nicht schon <strong>de</strong>r Weg <strong>de</strong>r Einigung beginnt. Deshalb läßt sich sagen, daß die<br />

Erfahrung <strong>de</strong>r Dunkelheit in <strong>de</strong>r östlichen Spiritualität fast wie ein »Unfall« erscheint, <strong>de</strong>n es rasch<br />

zu überwin<strong>de</strong>n gilt. Auf je<strong>de</strong>n Fall erhält in <strong>de</strong>r offiziellen Orthodoxie die Erfahrung <strong>de</strong>r Dunklen<br />

Nacht keine eigene Be<strong>de</strong>utung und ist als solche in <strong>de</strong>r Erfahrungspraxis geistlichen Lebens kaum<br />

bezeugt<br />

10<br />

; sie wird in eine Theologie <strong>de</strong>s ungeschaffenen Lichtes aufgehoben. In <strong>de</strong>r östlichen<br />

Spiritualität gibt es nur zwei charakteristische Fälle »mystischer Nacht«, nämlich bei <strong>de</strong>m heiligen<br />

Tichon von Voronez im 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt und eben <strong>de</strong>m heiligen Starez Siluan aus <strong>de</strong>m vergangenen<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rt. Wie wir gesehen haben, erhielt er mit <strong>de</strong>m Eintritt in das Mönchsleben nach wenigen<br />

Wochen von <strong>de</strong>r Gottesmutter eine beson<strong>de</strong>re Gebetsgna<strong>de</strong>, aber schon bald darauf geriet er über<br />

lange Zeit in Angst und Verzweiflung. Der Schrecken <strong>de</strong>r Hoffnungslosigkeit beherrscht fortan<br />

mehr und mehr sein Wesen. Er wird an die äußerste Grenze <strong>de</strong>r Verzweiflung geführt.<br />

Doch zunehmend lernt er, seine Erfahrung tiefer zu verstehen und zu <strong>de</strong>uten, wie sein Biograph<br />

Archimandrit Sophronius berichtet: »Die jahrhun<strong>de</strong>rtelange Erfahrung <strong>de</strong>r Väter zeigt, daß es drei<br />

Arten o<strong>de</strong>r Kategorien <strong>de</strong>r geistlichen Entwicklung eines Menschen gibt. Die meisten Menschen<br />

gehören zur ersten Kategorie: Sie sind zu Gott gekommen durch eine kurze Erfahrung göttlicher<br />

8<br />

9<br />

10<br />

Zit. nach ebd., 40.44.<br />

Lossky schreibt hierzu: »Il est curieux noter que la ‘nuit mystique’ est étrangère à la spiritualité <strong>de</strong> l’Eglise orthodoxe. Les états<br />

semblables à ceux qui reçoivent cette appellation en Occi<strong>de</strong>nt portent chez les maîtres <strong>de</strong> spiritualité orientale le nom d’‘acedia’<br />

et sont envisagés comme un péché ou une tentation contre laquelle il faut lutter, en veillant constamment pour gar<strong>de</strong>r la lumière<br />

qui luit dans les ténèbres. L’‘acedia’ - ennui, tristesse qui aboutit au désespoir - est le péché par excellence (commencement<br />

<strong>de</strong> la mort éternelle)« (V. Lossky, A l’image et à la ressemblance <strong>de</strong> Dieu. Paris 1967, 54, Anm. 36). I. Hausherr macht mit V.<br />

Lossky darauf aufmerksam, daß im Osten die Akedia-Erfahrung jenen Ort einnimmt, <strong>de</strong>n im Westen die »Nacht <strong>de</strong>s Geistes«<br />

innehat (vgl. I. Hausherr, Les Leçons d’un contemplativ. Le Traité <strong>de</strong> l’Oraison d’Évagre le pontique, Paris 1960, 19).<br />

Die Zustän<strong>de</strong> und Erfahrungen <strong>de</strong>r Trockenheit und <strong>de</strong>r Dunklen Nacht haben in <strong>de</strong>r Spiritualität <strong>de</strong>r Ostkirche nicht <strong>de</strong>n gleichen<br />

Sinn wie im Abendland: »Die Trockenheit ist ein Krankheitszustand, <strong>de</strong>r nicht längere Zeit andauern darf; sie wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n<br />

asketischen und mystischen Schriftstellern <strong>de</strong>r orthodoxen Tradition niemals als notwendige und normale Etappe auf <strong>de</strong>m Weg<br />

<strong>de</strong>r Einigung betrachtet, son<strong>de</strong>rn eher als ein häufiger, aber immer gefährlicher Unfall auf diesem Weg« (V. Lossky, Die mystische<br />

Theologie <strong>de</strong>r morgenländischen Kirche. Graz-Wien-Köln 1961, 287). - Vgl. auch die Erfahrungen <strong>de</strong>s Dorotheus von Gaza (J.<br />

Pauli, Menschsein und Menschwer<strong>de</strong>n nach <strong>de</strong>r geistlichen Lehre <strong>de</strong>s Dorotheus von Gaza. St. Ottilien 1998, bes. 121ff.). Diese<br />

Differenz zwischen östlicher und westlicher Spiritualität ist in ihrer Be<strong>de</strong>utung bisher selten bedacht wor<strong>de</strong>n.<br />

6


Gna<strong>de</strong> und bemühen sich, für <strong>de</strong>n Rest ihres Lebens die Gebote zu halten in gemäßigtem<br />

geistlichen Streben. Erst am En<strong>de</strong> ihres Lebens lernen sie aufgrund erlebter Lei<strong>de</strong>n die Gna<strong>de</strong> in<br />

höherem Maß kennen. Einige unter ihnen machen größere Anstrengungen und empfangen eine<br />

große Gna<strong>de</strong> vor ihrem Tod. Dies geschieht zahlreichen Mönchen. - Die zweite Kategorie <strong>de</strong>r<br />

Menschen, die aufgrund einer verhältnismäßig geringen Erfahrung <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> im Gebet und im<br />

Kampf mit <strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>nschaften großen Eifer beweisen, erleben im Lauf dieser schweren asketischen<br />

Bemühungen große göttliche Gna<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>s Lebens; <strong>de</strong>n Rest ihres Weges verbringen sie<br />

in noch steigen<strong>de</strong>n Bemühungen und erlangen so einen hohen Grad von Vollkommenheit. - Die<br />

dritte Kategorie ist die seltenste. Ihr gehören die Menschen an, die kraft ihrer Inbrunst o<strong>de</strong>r<br />

vielmehr dank göttlicher Vorsehung am Anfang ihres asketischen Weges eine große Gna<strong>de</strong><br />

kennenlernen, die Gna<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Vollkommenen. Ihr Weg ist <strong>de</strong>r schwerste, <strong>de</strong>nn niemand - soweit<br />

man nach <strong>de</strong>m Leben und <strong>de</strong>n Werken <strong>de</strong>r heiligen Väter und <strong>de</strong>r mündlichen Überlieferung <strong>de</strong>r<br />

Asketen vergangener Jahrhun<strong>de</strong>rte und <strong>de</strong>n Erfahrungen unserer Zeitgenossen urteilen kann -,<br />

niemand kann die Gabe <strong>de</strong>r göttlichen Liebe in ihrer ganzen Fülle bewahren. Danach erlei<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r<br />

Mensch für längere Zeit <strong>de</strong>n Verlust <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> und die Verlassenheit von Gott. In Wirklichkeit ist<br />

es kein völliger Verlust, doch subjektiv empfin<strong>de</strong>t die Seele selbst eine Vermin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> als<br />

ein Verlassensein von Gott. - Die Asketen, die zu dieser Gruppe gehören, lei<strong>de</strong>n mehr als alle<br />

an<strong>de</strong>ren. Da sie die Gna<strong>de</strong> und die Schau <strong>de</strong>s göttlichen Lichts gekannt haben, empfin<strong>de</strong>n sie die<br />

Gottesferne und die Anfechtungen durch die Lei<strong>de</strong>nschaften unvergleichlich stärker: Sie wissen,<br />

was sie verloren haben. Und da die Gna<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Menschen von Grund auf verwan<strong>de</strong>lt, ist seine<br />

Empfindsamkeit für alle geistlichen Phänomene beson<strong>de</strong>rs gesteigert. Diese Asketen lei<strong>de</strong>n mehr,<br />

weil in dieser Welt die Liebe Christi einer sehr schmerzhaften Feuerprobe (1 Petr 4,12) ausgesetzt<br />

wird. Es ist unausweichlich, daß sie auf dieser Welt immer eine gekreuzigte Liebe ist. Der selige<br />

11<br />

Starez Siluan gehört <strong>de</strong>r letzten Gruppe von Menschen an...« So ist auch für Starez Siluan die<br />

Erfahrung <strong>de</strong>s Dunkels unmittelbar mit <strong>de</strong>n Anfängen seines geistlichen Weges verbun<strong>de</strong>n.<br />

Die Erfahrung <strong>de</strong>s dunklen Gottes darf nicht vorschnell in <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>r Spirituellen Theologie<br />

abgeschoben wer<strong>de</strong>n, vielmehr han<strong>de</strong>lt es sich um eminent theologische Erfahrungen, die zeigen,<br />

»daß <strong>de</strong>r Weg <strong>de</strong>r Kontemplation, ehrlich und unverbogen beschritten, normalerweise in eine Nacht<br />

mün<strong>de</strong>t: in das Nichtmehrsehen, wozu man betet, wozu man verzichtet hat, das Nichtmehrwissen,<br />

12<br />

ob Gott überhaupt noch zuhört, das Opfer noch will und noch annimmt« . An <strong>de</strong>n Erfahrungen <strong>de</strong>s<br />

dunklen Gottes, wie sie vom Berufungsweg berichtet wer<strong>de</strong>n, wird <strong>de</strong>r Theologe nicht vorbeigehen<br />

können, insofern er seine Theologie als Dienst am Glauben und an <strong>de</strong>r Nachfolge versteht. Theo-<br />

13<br />

logie gibt es ja erst im Nachhinein: Nachträglich kommt die Theologie, nicht <strong>de</strong>r Theologe. So die<br />

11<br />

12<br />

Starez Siluan. Mönch vom Berg Athos. Bd. 1: Sein Leben und seine Lehre. Hrsg. von Archimandrit Sophronius, Düsseldorf 1980,<br />

25f.<br />

H.U. von Balthasar, Wer ist ein Christ? Freiburg/Br. 1969, 82.<br />

13 2<br />

Vgl. M. <strong>Schnei<strong>de</strong>r</strong>, Einführung in die Theologie, Köln 2003.<br />

7


Frage nach einer theologischen Deutung <strong>de</strong>r berichteten Verdunklung im Glauben gera<strong>de</strong> am Beginn<br />

eines Glaubensweges.<br />

Die Erfahrung <strong>de</strong>r Gottes-Nacht, wie sie sich im Augenblick <strong>de</strong>r Berufung eines Menschen darstellt,<br />

kann auf <strong>de</strong>m Hintergrund einer Grun<strong>de</strong>rfahrung unserer Zeit gesehen und ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n: »Im<br />

Schmerz über seine Abwesenheit erfährt unser Jahrhun<strong>de</strong>rt Gott tiefer als in <strong>de</strong>n Bil<strong>de</strong>rn, die<br />

frühere Jahrhun<strong>de</strong>rte von seiner Anwesenheit malen konnten«<br />

14<br />

. Warum sollte <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Weg<br />

<strong>de</strong>r Berufung antritt, vor aller Not im Glauben unserer Zeit gefeit sein? Es gibt eine Leere, die von<br />

Gott entfernt; hier verzweifelt <strong>de</strong>r Mensch an Gott und kann nicht mehr an seine gütige und treue<br />

Gegenwart glauben. Ganz an<strong>de</strong>rs die Leere und Nacht, die <strong>de</strong>r Mensch in einer inneren Stille und<br />

Gelassenheit schweigend annimmt. Dann wird in <strong>de</strong>r Passion <strong>de</strong>s Glauben<strong>de</strong>n, wie Mutter Teresa<br />

bezeugt, die Passion Jesu für uns heute erfaßbar und verstehbar, <strong>de</strong>nn das innere Schweigen im<br />

Glauben verweist auf das Schweigen Jesu in <strong>de</strong>r Passion. Wer zur Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Berufung in die<br />

Finsternis, die Trostlosigkeit und Verlassenheit geführt wird, erlei<strong>de</strong>t, was Christus in einer viel<br />

tieferen Weise erfahren und durchlitten hat. Der Blick auf seinen Lei<strong>de</strong>nsweg läßt Glauben<strong>de</strong> schon<br />

zur Stun<strong>de</strong> ihrer Berufung eine Freiheit, Einfachheit und Liebe zu Gott gewinnen, die nicht das<br />

Geschenk eines errungenen (geistlichen) Fortschritts ist, son<strong>de</strong>rn selber schon Geschenk <strong>de</strong>r<br />

Berufungsgna<strong>de</strong>. So verhält es sich im Leben <strong>de</strong>r Maria von <strong>de</strong>r Menschwerdung, <strong>de</strong>r Kleinen<br />

Thérèse, <strong>de</strong>r Mutter Teresa von Kalkutta wie auch beim Starez Siluan: Sie beantworten die Erfahrung<br />

<strong>de</strong>r Gottesferne mit einer zunehmen<strong>de</strong>n Bereitschaft zum Dienen. Die Erfahrung <strong>de</strong>s dunklen<br />

Gottes prägt sich in ihrem Leben so aus, daß sie ihre Sendung zu <strong>de</strong>n Mitmenschen erkennen. 15<br />

Denn nicht eine geistliche Erfahrung als solche, son<strong>de</strong>rn die Bereitschaft, nämlich zum Dienst und<br />

zur Sendung, ist das letztentschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kriterium, an <strong>de</strong>m die Echtheit <strong>de</strong>s Glaubens zu messen<br />

ist: »Wo christlich Bereitschaft zum obersten Wert aufrückt, muß Erfahrung an eine tiefer liegen<strong>de</strong><br />

Stelle ausweichen: <strong>de</strong>r ganze Stellenwert von Mystik wird dadurch verän<strong>de</strong>rt.« 16<br />

Die Dunkelheit, die sich bei <strong>de</strong>n angeführten Glaubenszeugnissen auf <strong>de</strong>n Menschen legt, ist so<br />

radikal, daß keine »künstlichen Lichter« sie verkürzen o<strong>de</strong>r gar erhellen können, vielmehr muß sie<br />

ausgehalten wer<strong>de</strong>n, selbst wenn <strong>de</strong>r Einzelne darüber in eine tiefe Depression zu geraten droht.<br />

Durchbohrt von Schmerzen, Zweifeln und Befürchtungen, die kein En<strong>de</strong> zu nehmen scheinen, gerät<br />

er in die Dunkle Nacht <strong>de</strong>s Geistes, und es will ihm scheinen, daß er, wie Starez Siluan es am<br />

14<br />

15<br />

16<br />

A.M.K. Müller (Die präparierte Zeit), zit. nach E. Ott, Die dunkle Nacht <strong>de</strong>r Seele - Depression? Untersuchungen zur geistlichen<br />

Dimension <strong>de</strong>r Schwermut, Elztal-Dallau 1981, 133.<br />

R. Brague, Was heißt christliche Erfahrung, in: IKaZ 5 (1976) 481-496, hier 495f.: »Die Erfahrung, die uns <strong>de</strong>r christliche Glaube<br />

vorschlägt, besteht darin, das zu wer<strong>de</strong>n, was erfahrbar ist. Nicht um uns in <strong>de</strong>r Beschauung unseres eigenen Bil<strong>de</strong>s zu ertränken,<br />

son<strong>de</strong>rn um <strong>de</strong>m Nächsten das göttliche Antlitz <strong>de</strong>s Dienstes in <strong>de</strong>r selbstlosen Liebe darzubieten. Der Mitmensch, zu <strong>de</strong>m<br />

ich entsen<strong>de</strong>t bin, ist also nicht eine Ergänzung meiner Gotteserfahrung, er ist ebensowenig ein Ersatz dafür. Die Sendung zu<br />

ihm hin ist die Erfahrung Gottes, wenn es sich wirklich um eine Sendung han<strong>de</strong>lt und nicht um bloße Sympathie o<strong>de</strong>r menschliche<br />

Begier<strong>de</strong>, um eine Sendung, die in uns die Sendung <strong>de</strong>s Sohnes vom Vater weg wie<strong>de</strong>rholt.«<br />

H.U. von Balthasar, Zur Ortsbestimmung christlicher Mystik, in: W. Beierwaltes/H.U.v. Balthasar/A.M. Haas, Grundfragen <strong>de</strong>r<br />

Mystik (= Kriterien 33). Einsie<strong>de</strong>ln 1976, 37-71, hier 65.<br />

8


heftigsten erfahren hat, wirklich als Leben<strong>de</strong>r zur »Hölle« hinabsteigt.<br />

Ein Vorankommen auf <strong>de</strong>m Weg durch das »Dunkel« gibt es nur, wenn an die Stelle <strong>de</strong>s Wissens<br />

die theologischen Tugen<strong>de</strong>n treten. Die Erfahrung <strong>de</strong>s Dunkels reinigt und heilt <strong>de</strong>n Menschen von<br />

allem Eigennützigen und führt ihn auf <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r Liebe. Sie ist das einzige, woran sich <strong>de</strong>r<br />

Mensch auf seinem weiteren Berufungsweg halten kann: Nicht mehr durch eine Erleuchtung <strong>de</strong>s<br />

Verstan<strong>de</strong>s noch bei einem (geistlichen) Begleiter sind Trost und Befriedigung zu erwarten, son<strong>de</strong>rn<br />

einzig in <strong>de</strong>r sehnsüchtigen Liebe zu Gott.<br />

Der Glaube ist selber so, daß er die Nacht erzeugt. Wer also <strong>de</strong>m Ruf Gottes folgen will, ist bereit,<br />

<strong>de</strong>n eigenen Maßstab <strong>de</strong>s Erkennens und Urteilens aufzugeben: »Glaube ist <strong>de</strong>r Zustand <strong>de</strong>s Verlustes.<br />

Verlust nämlich <strong>de</strong>r eigenen Maßstäblichkeit, weit über <strong>de</strong>n Bil<strong>de</strong>rverlust hinaus, Verlust<br />

seiner selbst, Umschlag <strong>de</strong>s Ergreifens in ein Ergriffenwer<strong>de</strong>n, Aushalten eines Abstan<strong>de</strong>s zu Gott,<br />

17<br />

<strong>de</strong>n man selbst nicht mehr überbrückt.« Insofern läßt sich sagen, daß die Erfahrung <strong>de</strong>s Dunkels<br />

am Beginn eines Glaubensweges ein untrügliches Zeichen für die Echtheit <strong>de</strong>r göttlichen Berufung<br />

sein kann. Führer auf <strong>de</strong>m weiteren Weg durch die Nacht ist fortan <strong>de</strong>r Glaube. Es ist kein intellektueller<br />

Glaube, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r gelebte Glaube. So fin<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r einzelne durch <strong>de</strong>n Glauben allein in die<br />

Begegnung mit Gott, wie Hans Urs von Balthasar bemerkt, und zwar als »Schau im Modus <strong>de</strong>r<br />

Nichtschau, Schau eines Anwesen<strong>de</strong>n im Modus <strong>de</strong>r Abwesenheit o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Verhüllung«<br />

Art <strong>de</strong>r »Schau im Nichtschauen« bestimmt <strong>de</strong>n weiteren Berufungsweg. 19<br />

. Diese<br />

Die beschriebene Erfahrung <strong>de</strong>r Nicht-Erfahrung im Glauben trägt das Antlitz Christi und seiner<br />

Gottverlassenheit. Was Glauben<strong>de</strong> am Beginn ihres Berufungsweges als Gottes-Nacht erfahren,<br />

führt unmittelbar in die tiefste Angleichung an <strong>de</strong>n Weg Jesu, <strong>de</strong>r die Mitte <strong>de</strong>r »Nacht« ist. Zur<br />

Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Kreuzigung verhüllt sich Gott im Dunkel <strong>de</strong>r Nacht und schweigt, damit sein WORT,<br />

das ein für allemal in seinem Sohn ausgesagt ist, in allem gehört wird. So kann <strong>de</strong>r Mensch durch<br />

die Erfahrung <strong>de</strong>r Dunklen Nacht von Gott überformt wer<strong>de</strong>n, bis hin zur Unkenntlichkeit: Am Kreuz<br />

ist Gott nicht mehr vom Tod unterschie<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nnoch wird Christi Tod am Kreuz eine sehr tiefe<br />

»Erkenntnis <strong>de</strong>r Gottheit«. Die Erfahrung <strong>de</strong>r Dunklen Nacht, die schon zur Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Berufung anheben<br />

kann, erweist sich im Blick auf <strong>de</strong>n gekreuzigten und auferstan<strong>de</strong>nen Herrn letztlich als ein<br />

authentisches »Erkennen« Gottes.<br />

Wer Gott sehen will, muß sterben. Diese Aussage wur<strong>de</strong> oft mißverstan<strong>de</strong>n und unter rein asketischem<br />

Aspekt betrachtet. Aber sie meint keine Selbstvernichtung. Wer <strong>de</strong>n Verlust aller Süßigkeit<br />

18<br />

17<br />

18<br />

19<br />

H.-B. Gerl-Falkovitz, Der prüfen<strong>de</strong> Gott. Über die »Nacht <strong>de</strong>s Glaubens« bei Edith Stein und Simone Weil, in: St. Pauly (Hg.), Der<br />

ferne Gott in unserer Zeit. Stuttgart 1998, 122-134, hier 127.<br />

H.U. von Balthasar, Herrlichkeit. Bd.II/2. Einsie<strong>de</strong>ln 1962, 504.<br />

Die mystische Vereinigung ist so grundlegend verschie<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Vollendung <strong>de</strong>r Seele im ewigen Leben, daß es auf <strong>de</strong>m bei<br />

Johannes vom Kreuz dargestellten Krisis-Weg keine erreichbare Vergöttlichung, son<strong>de</strong>rn nur Phasen eines fortwähren<strong>de</strong>n Prozesses<br />

geben kann. Auch die menschliche Unvollkommenheit muß nicht zerstört o<strong>de</strong>r hinter sich gelassen, son<strong>de</strong>rn prozeßhaft in<br />

die Umwandlung eingearbeitet wer<strong>de</strong>n (vgl. J. Sanchez <strong>de</strong> Murillo, Der Strukturgedanke in <strong>de</strong>r mystischen Purifikation bei Johannes<br />

vom Kreuz, in: Phil.Jb. 83 [1976] 266-292, hier 286).<br />

9


in Gott und die »Entblößung« durchlei<strong>de</strong>t, begegnet in seinem eigenen Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Gekreuzigten,<br />

<strong>de</strong>r ihn lehrt, allem zu entsagen, was er besitzt. Die geistige Vereinigung <strong>de</strong>r Seele mit Christus,<br />

<strong>de</strong>m gekreuzigten und auferstan<strong>de</strong>nen Herrn, vollzieht sich also nicht in geistlicher Lust und Freu<strong>de</strong><br />

und Empfindung, son<strong>de</strong>rn im erlebten Kreuzestod, sinnlich und geistig. Am En<strong>de</strong> dieses Prozesses<br />

steht <strong>de</strong>r in Christus Erlöste, <strong>de</strong>r jedoch kein verklärter, mit Offenbarungen und Visionen ausge-<br />

20<br />

zeichneter Mensch ist, son<strong>de</strong>rn an seinem Leib die Wundmale Christi trägt. Erfahren im Glauben<br />

ist ein Wi<strong>de</strong>r-Fahren, und christliche Praxis be<strong>de</strong>utet nicht allein Han<strong>de</strong>ln, son<strong>de</strong>rn auch »Lei<strong>de</strong>n«:<br />

»Nicht das Selbstverständliche, son<strong>de</strong>rn ‘das Ärgernis’ <strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rspenstigen Wirklichkeit wird zum<br />

21<br />

Interpretationsprinzip <strong>de</strong>r Wirklichkeit.« Solches wirkt »kritisch« in einer Gesellschaft und Kirche,<br />

die »apathisch« lebt, mit immer <strong>de</strong>zidierter vorgebrachtem Trauer- und Melancholieverbot.<br />

Thérèse von Lisieux weist darauf hin, daß auf <strong>de</strong>m Weg <strong>de</strong>r Berufung einzig <strong>de</strong>r Einklang mit <strong>de</strong>m<br />

Willen Gottes zählt. Die Erkenntnis <strong>de</strong>s göttlichen Willens ist, so Thérèse, für je<strong>de</strong>n i<strong>de</strong>ntisch mit<br />

seiner Sendung, die Gott ihm gibt; wobei die empfangene Sendung wie<strong>de</strong>rum eins ist mit <strong>de</strong>r vom<br />

einzelnen zu verwirklichen<strong>de</strong>n Heiligkeit<br />

, selbst wenn sie in die Erfahrung <strong>de</strong>s Nichtkönnens führt,<br />

die wohl zu <strong>de</strong>n bittersten Erfahrungen eines Berufungsweges gehört.<br />

22<br />

Je<strong>de</strong> christliche Erfahrung mit Gott, selbst die seiner Verborgenheit, en<strong>de</strong>t bei keiner Verneinung,<br />

da alles Sprechen über Gott auf <strong>de</strong>r Inkarnation beruht, also auf einem positiven und geschichtlichen<br />

Faktum. Dies hat seine Be<strong>de</strong>utung für die Krisenerfahrung <strong>de</strong>s Glaubensweges, wie Johannes<br />

Tauler sie beschreibt: Die »Ähnlichkeit« zu Gott kann in <strong>de</strong>r »Arbeit <strong>de</strong>r Nacht« zur neuen »Unähnlichkeit«<br />

wer<strong>de</strong>n, aber nicht aufgrund einer neuen, größeren Distanz zwischen Gott und<br />

Mensch, son<strong>de</strong>rn um Raum zu schaffen für eine noch größere Nähe und »Ähnlichkeit« mit Gott.<br />

Dieser Ähnlichkeit hat Gott sein ihm eigenes Prägemal gegeben, nämlich die Erniedrigung und das<br />

23<br />

Kreuz, welche Garant dafür sind, daß Gott selbst im Wi<strong>de</strong>rspruch sich entspricht. Wer Gottes<br />

»Ähnlichkeit« erfährt, sieht sich hineingenommen in die Gott eigene »Unähnlichkeit« von Menschwerdung<br />

und Kreuz, von »I<strong>de</strong>ntität in <strong>de</strong>r Entäußerung«. Auf dieser Linie zeigen alle vorgestellten<br />

Zeugen - wenn auch auf unterschiedliche Weise -, daß sie durch die leidvollen Erfahrungen <strong>de</strong>s<br />

dunklen Gottes auf <strong>de</strong>m Weg <strong>de</strong>r Nachfolge in die zunehmen<strong>de</strong> »Verähnlichung« mit <strong>de</strong>m Menschgewor<strong>de</strong>nen<br />

geführt wur<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r ihnen in <strong>de</strong>r Erfahrung <strong>de</strong>r Gottes-Nacht schon zu Beginn ihres<br />

Lebens in <strong>de</strong>r Nachfolge Anteil gab an <strong>de</strong>r ihm eigenen »Unähnlichkeit«.<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Diesen Weg hat Bonaventura überzeugend dargestellt in seinen Ausführungen über das Lebensen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s heiligen Franziskus, die<br />

auch in theologischer Hinsicht von großer Be<strong>de</strong>utung sind. - Vgl. M. <strong>Schnei<strong>de</strong>r</strong>, »Christus ist unsere Logik!« Zur Verhältnisbestimmung<br />

von Theologie und Nachfolge bei Bonaventura, Köln 1999, bes. 35ff.<br />

E. Schillebeeckx, Menschen. Die Geschichte von Gott, Freiburg-Basel-Wien 1990, 53.<br />

Thérèse erinnert an die Worte von P. Pichon: »Erinnern Sie sich an jene Worte <strong>de</strong>s Paters: ‘Die Märtyrer litten in Freu<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r<br />

König <strong>de</strong>r Märtyrer aber mit Traurigkeit.’« (Brief vom 17. September 1896 an Schwester Marie du Sacré Coeur: »Les martyrs<br />

ont souffert avec joie et le Roi <strong>de</strong>s Martyrs a souffert avec tristesse.« Das Wort stammt vom 13.10.1887.<br />

E. Jüngel, Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz <strong>de</strong>r Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen<br />

Theologie, in: EvTh, Son<strong>de</strong>rheft (München 1974) 71-122, hier 117.<br />

10


In seinem Leben mit Gott erfuhr Starez Siluan immer wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Wechsel <strong>de</strong>r Zustän<strong>de</strong> von Trost,<br />

Verlassenheit und Versuchungen, aber er lernte darin die Wachsamkeit und Nüchternheit: »Gott<br />

macht es <strong>de</strong>m Menschen nicht immer leicht. Der Herr sagt: 'Eng ist die Pforte und schmal <strong>de</strong>r Pfad,<br />

<strong>de</strong>r zum Leben führt, und wenige sind es, die ihn fin<strong>de</strong>n'(Mt 7,14). Der Weg eines Christen ist<br />

öfters folgen<strong>de</strong>r: Zuerst wird <strong>de</strong>r Mensch zu Gott hingezogen durch das Geschenk <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong>. Und<br />

dann, einmal hingezogen zu ihm, folgt eine lange Zeit <strong>de</strong>r Prüfung. Die Freiheit <strong>de</strong>s Menschen, sein<br />

Vertrauen zu Gott wer<strong>de</strong>n geprüft, bisweilen sehr hart. Wenn wir uns Gott zugewandt haben,<br />

wer<strong>de</strong>n unsere Bitten zuerst - auch die geringsten - schnell und oft wun<strong>de</strong>rbar erfüllt. Wenn aber<br />

die Zeit <strong>de</strong>r Prüfung kommt, wird alles an<strong>de</strong>rs. Der Himmel scheint sich zu verschließen und taub<br />

zu wer<strong>de</strong>n für alles Flehen <strong>de</strong>s Beten<strong>de</strong>n. Die Menschen wer<strong>de</strong>n unfreundlich; du verlierst an<br />

Achtung, und was man an<strong>de</strong>rn verzeiht, wird dir schwer angerechnet. Der Körper wird anfälliger<br />

gegen Krankheiten - die Natur, die Umstän<strong>de</strong>, die Menschen, alles kehrt sich gegen dich. Du fin<strong>de</strong>st<br />

nicht die Gelegenheit, <strong>de</strong>ine Gaben zu verwerten. Dabei erlei<strong>de</strong>st du Anfechtungen durch die<br />

dämonischen Mächte. Und was am schwersten ist - du fühlst dich von Gott verlassen. Das Leid<br />

erreicht damit seinen Höhepunkt, <strong>de</strong>nn nun ist <strong>de</strong>r ganze Mensch betroffen. Gott verläßt <strong>de</strong>n<br />

Menschen? [...) Ist das <strong>de</strong>nn möglich? Anstatt <strong>de</strong>r Nähe Gottes empfin<strong>de</strong>st du eine<br />

unaussprechliche Ferne von Gott, und alles Rufen verliert sich in <strong>de</strong>r Unendlichkeit. Die Seele<br />

verstärkt ihr Gebet und ihr Rufen nach Gott, aber sie sieht keine Hilfe. Alles ist schwer, alles<br />

verlangt viel Mühe, und die Anstrengungen gehen über ihre Kräfte. Das Leben wird qualvoll, und<br />

<strong>de</strong>r Mensch glaubt, daß auf ihm <strong>de</strong>r Zorn Gottes laste. Doch wenn diese Prüfungen vorüber sind,<br />

dann erkennt er die unbegreifliche wun<strong>de</strong>rbare Fürsorge Gottes, die ihn sorgsam auf allen Wegen<br />

24<br />

bewahrte.«<br />

In seinem Ringen um die Bewahrung <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> ging <strong>de</strong>r Mönch Siluan ziemlich weit, bis zur Schonungslosigkeit<br />

gegen sich selbst, aber all dies war nur die Kehrseite <strong>de</strong>r Trauer über <strong>de</strong>n Verlust <strong>de</strong>r<br />

fühlbaren Gottesnähe, was Qualen mit sich bringt, die sich ein an<strong>de</strong>rer nicht vorstellen kann. Wer<br />

nämlich das göttliche Licht gesehen hat, für <strong>de</strong>n bleibt in <strong>de</strong>r Welt nichts, was ihn noch anziehen<br />

könnte. In gewissem Sinn wird ihm das irdische Leben zur freudlosen Last, und unter Tränen sucht<br />

er solange <strong>de</strong>n wahren Trost, bis er ihn ahnungsweise wie<strong>de</strong>r gefun<strong>de</strong>n hat.<br />

4. Die geistliche Lehre <strong>de</strong>s Starez Siluan<br />

Am Anfang unserer Überlegungen zur geistlichen Unterweisung unseres Starez soll eines seiner<br />

Gebete stehen, in <strong>de</strong>m er die Grundhaltungen seines Stehens vor Gott anzeigt, um die er sich ein<br />

Leben lang gemüht hat:<br />

24<br />

Archimandrit Sophronius (Hg.), Starez Siluan, Mönch vom heiligen Berg Athos. Bd.l, 146f.<br />

11


»Barmherziger Gott, lehre uns durch <strong>de</strong>inen Heiligen Geist, nach <strong>de</strong>inem Willen zu leben, damit wir<br />

alle in <strong>de</strong>inem Licht dich, <strong>de</strong>n wahren Gott, erkennen, <strong>de</strong>nn ohne <strong>de</strong>in Licht erfassen wir die Fülle<br />

<strong>de</strong>iner Liebe nicht. Erleuchte uns durch <strong>de</strong>ine Gna<strong>de</strong>, damit sie unsere Herzen in <strong>de</strong>r Liebe zu dir<br />

erwärme.« 25<br />

Je<strong>de</strong>r Mensch ist einmalig und einzigartig, wie auch <strong>de</strong>r geistliche Weg etwas Unwie<strong>de</strong>rholbares<br />

ist. Zu leicht ist man versucht, aus <strong>de</strong>m geistlichen Leben ein System von Ratschlägen und Stufen<br />

zu machen und es in bestimmte Kategorien einzuordnen. Doch Gott will zu je<strong>de</strong>m ein ganz einmaliges<br />

Verhältnis aufbauen. Um hier nicht irrezugehen, ist es gut, sich <strong>de</strong>r Hilfe eines Geistlichen<br />

Vaters zu bedienen, wie Starez Siluan rät: »Beginne darum das Gebetsleben nicht ohne geistlichen<br />

Vater, <strong>de</strong>nke in <strong>de</strong>inem Stolz nicht, daß du es nur aus Büchern erlernen kannst. Wer so <strong>de</strong>nkt, wird<br />

<strong>de</strong>r Versuchung unterliegen, ja, er ist ihr zum Teil schon unterlegen. Einem Demütigen aber hilft<br />

Gott. Und wenn du keinen erfahrenen Starez fin<strong>de</strong>n kannst, solltest du <strong>de</strong>inen Beichtvater um Rat<br />

fragen - wie dieser auch sein mag -, dann wird dich <strong>de</strong>r Herr selbst schützen, <strong>de</strong>iner Demut wegen.<br />

Sei dir <strong>de</strong>ssen bewußt, daß in <strong>de</strong>inem Beichtvater <strong>de</strong>r Heilige Geist spricht, und er wird dir sagen,<br />

was dir nötig ist. Zweifelst du daran, weil du annimmst, daß <strong>de</strong>r Beichtvater nicht heiligmäßig lebt,<br />

so wer<strong>de</strong>n dir solche Gedanken Unruhe und Lei<strong>de</strong>n bringen. Dem Beten<strong>de</strong>n wird das Gebet gegeben,<br />

wie es in <strong>de</strong>r Schrift heißt. Aber das aus bloßer Gewohnheit verrichtete Gebet, ohne Zerknirschung,<br />

ohne Tränen über <strong>de</strong>ine Sün<strong>de</strong>n, ist <strong>de</strong>m Herrn nicht wohlgefällig.« 26<br />

Zu oft wird eingewen<strong>de</strong>t, daß man nicht <strong>de</strong>n richtigen Geistlichen Vater fin<strong>de</strong>t bzw. daß man<br />

einem solchen bisher »lei<strong>de</strong>r« noch nicht begegnet ist. Starez Siluan scheint es zu genügen, daß<br />

man überhaupt <strong>de</strong>n Rat eines an<strong>de</strong>ren einholt. Vielleicht ist es gut, gera<strong>de</strong> vor <strong>de</strong>m Gespräch o<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>r Beichte für ihn zu beten, damit er einem <strong>de</strong>n richtigen, das heißt von Gott kommen<strong>de</strong>n Rat gibt<br />

und man das Wort hört, das Gott selbst zu einem sprechen will. Sodann ist es natürlich notwendig<br />

und erfor<strong>de</strong>rlich, daß man tut, was einem geraten wur<strong>de</strong>.<br />

Die Essenz <strong>de</strong>s geistlichen Weges zu Gott fin<strong>de</strong>t sich im Gebet, nicht als Einzelübung, son<strong>de</strong>rn als<br />

Verweilen in <strong>de</strong>r Gegenwart Gottes, was die Heilige Schrift das »unablässige Gebet« bezeichnet.<br />

Bei Starez Siluan lesen wir: »Wer Gott liebt, vermag Tag und Nacht an ihn zu <strong>de</strong>nken - es gibt<br />

nichts, was uns daran hin<strong>de</strong>rn könnte. So hin<strong>de</strong>rte die Apostel nichts in <strong>de</strong>r Liebe <strong>de</strong>s Herrn; sie<br />

lebten in <strong>de</strong>r Welt, aber die Welt störte ihre Liebe nicht. Sie beteten für die Welt und verkün<strong>de</strong>ten<br />

das Wort [...] Nichts gibt es, was besser wäre für die Seele, als zu beten. Durch das Gebet<br />

kommen wir zu Gott. Durch das Gebet gewährt <strong>de</strong>r Herr uns Demut und Geduld, ja alle Gaben.<br />

Wer wi<strong>de</strong>r das Gebet spricht, hat gewiß nie erfahren, wie gütig <strong>de</strong>r Herr ist und wie groß seine<br />

Liebe zu uns. Von Gott kommt nichts Böses. Die Heiligen beteten unaufhörlich, nicht einen Augenblick<br />

waren sie ohne Gebet.« 27<br />

25<br />

26<br />

27<br />

Archimandrit Sophronius (Hg.), Starez Siluan, Mönch vom heiligen Berg Athos. Bd. II: Die Schriften, 26.<br />

Archimandrit Sophronius (Hg.), Starez Siluan, Mönch vom heiligen Berg Athos. Bd.l, 235f.<br />

Ebd., 238.<br />

12


Das inständige und fortwähren<strong>de</strong> Gebet vollzieht sich jenseits aller Routine und fern von je<strong>de</strong>m<br />

Ableisten eines Gebetspensums, vielmehr vollzieht sich hier alles im Austausch <strong>de</strong>r Liebe, also in<br />

einem unentwegten und gegenseitigen Liebesgespräch zwischen Gott und Mensch: »Betest du nur<br />

gewohnheitsmäßig, dann ist <strong>de</strong>in Gebet immer das gleiche. Betest du aber mit Inbrunst, so wird<br />

<strong>de</strong>in Gebet vielgestaltig: Du kämpfst gegen <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rsacher, gegen dich selbst, mit <strong>de</strong>inen<br />

Lei<strong>de</strong>nschaften; immer aber mußt du tapfer sein. Suche <strong>de</strong>n Rat erfahrener Menschen, bitte <strong>de</strong>n<br />

Herrn in Demut, und um <strong>de</strong>iner Demut willen wird er dir Einsicht geben [...] Gute Bücher zu lesen<br />

ist recht. Aber besser ist es, zu beten. Beim Lesen schlechter Bücher darbt die Seele. Nahrung und<br />

Erquickung fin<strong>de</strong>t sie nur in Gott. Allein in Gott ist Leben und Frie<strong>de</strong>. Unaussprechlich liebt uns <strong>de</strong>r<br />

Herr - und durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist erkennen wir seine Liebe. Wenn du verlangst, mit <strong>de</strong>m Herzen<br />

zu beten, es aber nicht vermagst, so sprich das Gebet mit <strong>de</strong>n Lippen und halte <strong>de</strong>inen Geist fest<br />

an die Worte <strong>de</strong>s Gebetes. Der Herr wird dir mit <strong>de</strong>r Zeit die Innigkeit im Gebet geben, und du wirst<br />

ohne Zerstreuung beten können. Versuche nicht, durch eine Technik das Gebet im Herzen erzeugen<br />

zu wollen - du wür<strong>de</strong>st <strong>de</strong>inem Herzen nur scha<strong>de</strong>n, und du könntest am En<strong>de</strong> nicht einmal mehr<br />

mit <strong>de</strong>n Lippen beten. Erkenne die Ordnung <strong>de</strong>s geistlichen Lebens: Gott gewährt die Gabe einer<br />

<strong>de</strong>mütigen und aufrichtigen Seele. Sei gehorsam, und in allem halte Maß - im Essen, in <strong>de</strong>inen<br />

28<br />

Worten, in <strong>de</strong>inen Bewegungen -, dann gibt dir <strong>de</strong>r Herr selbst das Gebet.« So spricht Starez<br />

Siluan folgen<strong>de</strong>s Gebet:<br />

»Meine Seele sehnt sich nach Dir, mein Gott,<br />

und unter Tränen suche ich Dich.<br />

Du siehst, o Gütiger, meinen Fall und meinen Gram,<br />

aber in Demut bitte ich um Dein Erbarmen.<br />

Gieße auf mich Sün<strong>de</strong>r die Gna<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Heiligen Geistes aus.<br />

Wenn ich ihrer ge<strong>de</strong>nke, sucht meine Seele von neuem Deine Barmherzigkeit.<br />

Herr, gib mir Deinen <strong>de</strong>mütigen Geist,<br />

auf daß ich Deine Gna<strong>de</strong> nicht wie<strong>de</strong>r verliere.« 29<br />

Um zu einem solch inständigen Beten zu gelangen, bedarf es <strong>de</strong>r Kraft <strong>de</strong>s Heiligen Geistes, <strong>de</strong>nn<br />

er ist es, <strong>de</strong>r unentwegt in uns betet, auch wenn wir es nicht wissen o<strong>de</strong>r wahrnehmen: »In seiner<br />

großen Liebe schenkt uns <strong>de</strong>r Herr die Gaben <strong>de</strong>s Heiligen Geistes. Doch nur unter vielen Mühen<br />

lernt es die Seele, diese Gna<strong>de</strong> zu bewahren. Als ich die Gna<strong>de</strong> <strong>de</strong>s heiligen Geistes empfing,<br />

wußte ich, daß Gott mir meine Sün<strong>de</strong>n vergeben hatte. Seine Gna<strong>de</strong> bezeugte es mir; und ich<br />

glaubte, mehr nicht zu bedürfen. - So aber darf man nicht <strong>de</strong>nken. Obwohl unsere Sün<strong>de</strong>n uns<br />

28<br />

29<br />

Ebd., 237f.<br />

Zit. nach K. Beta und Semen l. Antonow, Eine Flamme erfüllte sein Herz. Das Leben <strong>de</strong>s Starez Siluan auf <strong>de</strong>m Athos, Freiburg-<br />

Basel-Wien 1987, 17.<br />

13


ereits vergeben sind, sollen wir ihrer doch unser Leben lang in Zerknirschung und Reue ge<strong>de</strong>nken.<br />

Das tat ich nicht, verlor die Zerknirschung und hatte nun viel unter <strong>de</strong>n Dämonen zu lei<strong>de</strong>n. Ich<br />

konnte nicht begreifen, was mit mir geschehen war: Meine Seele kannte <strong>de</strong>n Herrn und seine Liebe<br />

- warum kamen doch zu mir die schlechten Gedanken? Aber <strong>de</strong>r Herr hatte Erbarmen mit mir und<br />

zeigte mir <strong>de</strong>n Weg zur Demut: 'Halte dich mit Bewußtsein in <strong>de</strong>r Hölle und verzweifle nicht.' [...]<br />

So erkennt die Seele durch eigene Erfahrung die Gefahr <strong>de</strong>s Stolzes, und sie vermei<strong>de</strong>t es, Eitelkeit,<br />

menschlichem Lob und bösen Gedanken zu folgen [...] Der Herr lehrte mich, mein Bewußtsein in<br />

<strong>de</strong>r Hölle zu halten und doch nicht zu verzagen. Wohl lernt die Seele dadurch Demut, aber die<br />

30<br />

wahre Demut ist es nicht - sie kann man nicht beschreiben« .<br />

Hier spricht Starez Siluan etwas sehr Zentrales an. Es han<strong>de</strong>lt sich um die Spannkraft geistlichen<br />

Lebens. Auch wenn <strong>de</strong>r Anfang vielleicht recht turbulent und sogar voller Fehler und Sün<strong>de</strong>n ist,<br />

richtet man sich sehr schnell im geistlichen Leben ein, ja, zuweilen ist man sich sogar <strong>de</strong>s göttlichen<br />

Wohlwollens und Erbarmens recht gewiß. Doch darüber wird <strong>de</strong>r Einzelne nachlässig und seine<br />

geistliche Praxis erstarrt in Routine, meist begleitet mit »Gedanken« und Einflüsterungen, welche<br />

einen beruhigen und sozusagen »einschläfern« wollen: »Be<strong>de</strong>nke, daß es zwei verschie<strong>de</strong>ne<br />

Gedanken geben kann, bekämpfe sie. Der eine sagt, du seist ein Heiliger - <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re, daß du nicht<br />

errettet wirst. An diesen Gedanken ist nichts Wahres, sie sind bei<strong>de</strong> vom Bösen. Vielmehr sollst du<br />

<strong>de</strong>nken: Ich bin ein großer Sün<strong>de</strong>r, Gott aber ist barmherzig, er liebt die Menschen und wird mir<br />

meine Sün<strong>de</strong>n vergeben.« 31<br />

Starez Siluan gibt angesichts solcher »Gedanken« und Einflüsterungen nur <strong>de</strong>n Rat: Am besten<br />

wird es sein, sich gar nicht auf die »Gedanken« einzulassen, <strong>de</strong>nn wenn <strong>de</strong>r Verstand Zwiesprache<br />

mit ihnen beginnt, wird sich ein endloses Gespräch entwickeln. Das Denken an Gott läßt nach, und<br />

es ist dann ein leichtes, <strong>de</strong>n Sinn <strong>de</strong>s Menschen zu verwirren. Gera<strong>de</strong> dies ist das Ziel <strong>de</strong>r Dämonen.<br />

Es gibt aber auch eine gewohnheitsmäßige Routine, welche es unbedingt zu pflegen und aufrecht<br />

zu erhalten gilt: »Im Alter erkannte ich, welche Kraft die Gewohnheit hat. Auch die Seele und <strong>de</strong>r<br />

Geist unterliegen Gewohnheiten; woran sich <strong>de</strong>r Mensch gewöhnt, das tut er. Gewöhnt er sich an<br />

die Sün<strong>de</strong>, dann wird es ihn ständig dorthin ziehen, und die Dämonen helfen ihm dabei. Gewöhnt<br />

er sich aber an das Gute, so hilft ihm Gott mit seiner Gna<strong>de</strong>. Wer sich daran gewöhnt, unablässig<br />

zu beten, <strong>de</strong>n Nächsten zu lieben und im Gebet für die Welt zu weinen, <strong>de</strong>ssen Seele wird danach<br />

immer Verlangen haben.« 32<br />

Viele erhalten anfänglich die Gna<strong>de</strong>, aber nur wenige erlangen sie nach <strong>de</strong>m Verlust wie<strong>de</strong>r zurück.<br />

Den inneren Frie<strong>de</strong>n in seinem Leben mit Gott fin<strong>de</strong>t, wer sich in allem <strong>de</strong>r göttlichen Vorsehung<br />

anvertraut, in <strong>de</strong>r gewissen Hoffnung, daß für einen bestens gesorgt ist. Starez Siluan schreibt<br />

30<br />

31<br />

32<br />

Archimandrit Sophronius (Hg.), Starez Siluan, Mönch vom heiligen Berg Athos. Bd. I, 239f.<br />

Ebd., 328.<br />

Ebd., 345.<br />

14


hierüber aus eigener Erfahrung, war er doch selber von manchem Leid und Kranksein geplagt:<br />

»Ergib dich <strong>de</strong>m Willen Gottes, dann trägst du Kummer und Krankheit leicht. Murre nicht, son<strong>de</strong>rn<br />

bete: 'Herr, du siehst meine Schwäche, du weißt, wie sündig ich bin, hilf mir, alle Lei<strong>de</strong>n zu<br />

erdul<strong>de</strong>n und dir zu danken für <strong>de</strong>ine Güte.' [...] Trifft dich ein Unglück, so <strong>de</strong>nke: 'Der Herr sieht<br />

mein Herz, und wenn es sein Wille ist, wird sich alles zum Guten wen<strong>de</strong>n, für mich und die<br />

an<strong>de</strong>ren'; und so wird <strong>de</strong>ine Seele immer Frie<strong>de</strong>n haben [...] Das Leben ist viel leichter für <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r<br />

sich <strong>de</strong>m Willen <strong>de</strong>s Herrn gänzlich ergibt. Krankheit, Armut und Verfolgung, alles nimmt er gern<br />

an und <strong>de</strong>nkt: So hat es Gott gewollt, und ich muß es meiner Sün<strong>de</strong>n wegen erdul<strong>de</strong>n. Viele Jahre<br />

schon lei<strong>de</strong> ich an heftigen Kopfschmerzen, die oft schwer zu ertragen sind, <strong>de</strong>nn diese hin<strong>de</strong>rn<br />

mich, wenn ich wachen und beten will. Viel habe ich zu Gott gebetet, daß er mich heilen möge,<br />

aber <strong>de</strong>r Herr hat mich nicht erhört; und so weiß ich, daß eine Heilung für mich nicht nützlich wäre,<br />

son<strong>de</strong>rn daß die Krankheit notwendig ist, damit meine Seele <strong>de</strong>mütig wer<strong>de</strong>.« 33<br />

Das Vor-, sogar Urbild in allem mühevollen Lei<strong>de</strong>n und Vertrauen auf Gottes Willen ist die Mutter<br />

<strong>de</strong>s Herrn, die Jesus am nächsten stand und <strong>de</strong>shalb am heftigsten von seinen Qualen gepeinigt<br />

wur<strong>de</strong>: »Wie groß muß das Leid <strong>de</strong>r Gottesmutter gewesen sein, als sie beim Kreuz stand, <strong>de</strong>nn<br />

unfaßlich groß war ihre Liebe. Und wir wissen, wer mehr liebt, lei<strong>de</strong>t auch mehr. Ihrer<br />

menschlichen Wesensart nach konnte die Gottesmutter solches Leid nicht tragen, aber sie ergab<br />

sich <strong>de</strong>m Willen Gottes, und gestärkt durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist erhielt sie die Kraft, ihren Schmerz<br />

34<br />

zu tragen. Darum wur<strong>de</strong> sie für alle Zeit <strong>de</strong>m ganzen Volk Gottes Trost in aller Trübsal.« Im<br />

Schmerz Mariens zeigt sich, daß dieser die Kehrseite ihrer Liebe ist. Wirklich lei<strong>de</strong>t nur, wer<br />

wahrhaft liebt: »Wir wissen, je größer die Liebe, <strong>de</strong>sto größer die Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Seele; je umfassen<strong>de</strong>r<br />

die Liebe, <strong>de</strong>sto voller die Erkenntnis; je heißer die Liebe, um so glühen<strong>de</strong>r das Gebet; je voll-<br />

35<br />

kommener die Liebe, um so heiliger das Leben.« Wer um diese Liebe weiß und sie lebt, <strong>de</strong>m ist<br />

sie je<strong>de</strong>n Preis wert.<br />

Viele Jahrzehnte lebte Siluan mitten unter Hun<strong>de</strong>rten von Mönchen, doch diese erkannten kaum<br />

seine Größe und beschimpften ihn als einen Scheinheiligen, ohne daß er konterte. Viele von ihnen<br />

hatten sich ein ähnliches Ziel gesteckt, merkten aber bald, daß sie zu einer solchen großen Kraft<br />

und Entschlossenheit nicht fähig waren, um es zu erreichen; so ärgerten sie sich umso mehr, als<br />

sie sahen, wie ein an<strong>de</strong>rer sich mit solch großer Mühe auf seinen geistlichen Weg machte. Starez<br />

Siluan resümiert: »Alles, was wir zur Befolgung <strong>de</strong>r Gebote Christi tun, führt uns durch Prüfungen.<br />

An<strong>de</strong>rs kann es nicht sein; und nur durch die Prüfung erhalten unsere Taten ihren ewigen Wert.<br />

Wer dieses Gesetz <strong>de</strong>s Geistes kennt, entschließt sich oft mit Bangen zur Tat <strong>de</strong>r Liebe.« 36<br />

33<br />

34<br />

35<br />

36<br />

Ebd., 247.271.<br />

Ebd., 274f.<br />

Ebd., 79.<br />

Ebd., 205.<br />

15


5. Im Dienst an <strong>de</strong>r Welt<br />

Am Anfang <strong>de</strong>s geistlichen Weges von Starez Siluan scheint es so gewesen zu sein, daß er sich<br />

um die rechte Ordnung seines Lebens vor Gott mühte. Umkehr und Reue waren in dieser Zeit die<br />

Grundhaltungen seines Glaubens. Doch zunehmend wird er sich selbst genommen und sieht sich<br />

als Mönch in <strong>de</strong>n Dienst an <strong>de</strong>r Welt und die Sorge um sie gestellt. Der Starez schreibt: »Der<br />

Mönch betet unter Tränen für die ganze Welt; darin besteht sein hauptsächlichstes Tun. Jesus<br />

Christus, <strong>de</strong>r Sohn Gottes, gibt ihm die Liebe <strong>de</strong>s Heiligen Geistes, und in dieser Liebe bangt sein<br />

Herz beständig um die Menschen, weil nicht alle <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>s Heils gehen. Der Herr selbst war in<br />

einem solchen Maße von <strong>de</strong>r Sorge um die Menschen erfüllt, daß er sich hingab in <strong>de</strong>n Tod am<br />

Kreuz«; allein durch ihr Dasein bringen die Heiligen <strong>de</strong>n Menschen - auch wenn sie von diesen<br />

unerkannt bleiben - <strong>de</strong>n Segen Gottes: »Wohlan, um solcher Menschen willen bewahrt Gott die<br />

37<br />

Welt [...] Die Welt besteht durch das Gebet, wenn das Gebet aufhörte, käme sie um« .<br />

Der Dienst <strong>de</strong>s Mönches an <strong>de</strong>r Welt und im Einsatz für sie und ihren Frie<strong>de</strong>n hat seinen Ursprung<br />

im Hohepriesterlichen Gebet Jesu, das er vor seinem Tod an <strong>de</strong>n Vater richtet. Nicht an<strong>de</strong>rs formuliert<br />

es Starez Siluan für sich: »Barmherziger Gott, gib uns <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n. Wie aber können wir <strong>de</strong>n<br />

Frie<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Seele bewahren inmitten <strong>de</strong>r Versuchungen dieser Zeit? Der Heilige Geist lehrt uns, alle<br />

Menschen zu lieben, mit <strong>de</strong>n Verirrten Mitleid zu haben und um ihre Errettung zu beten. Das Gebet<br />

gewährt uns <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n, und wenn wir ihn bewahren, wer<strong>de</strong>n wir Erlösung fin<strong>de</strong>n. Das lehrte uns<br />

auch <strong>de</strong>r heilige Seraphim von Sarow. Solange er lebte, beschützte <strong>de</strong>r Herr um dieses großen<br />

Beters willen Rußland. Nach ihm wur<strong>de</strong> uns Vater Johannes von Kronstadt gegeben. Wie eine<br />

Säule reichte sein Gebet von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> bis in <strong>de</strong>n Himmel. Und von ihm haben wir nicht nur gehört,<br />

er lebte in unserer Zeit, und wir selbst sahen ihn beten. Ich erinnere mich, wie ihn das Volk umringte<br />

und um seinen Segen bat, wenn er nach <strong>de</strong>r Liturgie die Kirche verließ. Auch in solchem<br />

Gedränge verblieb seine Seele unaufhörlich in Gott. Er verlor seinen Seelenfrie<strong>de</strong>n nicht. Denn er<br />

liebte die Menschen und hörte nicht auf, für sie zu beten: 'Herr, sen<strong>de</strong> allen Völkern Deinen<br />

Frie<strong>de</strong>n, gib Deinen Knechten Deinen Heiligen Geist, damit er ihre Herzen mit <strong>de</strong>m Feuer <strong>de</strong>r Liebe<br />

erwärme und sie jegliche Wahrheit lehre. Herr, laß Deinen Frie<strong>de</strong>n auf Deinem Volk ruhen, sen<strong>de</strong><br />

allen Menschen Deine Gna<strong>de</strong>, auf daß sie in Liebe Dich erkennen und wie die Apostel auf <strong>de</strong>m Berg<br />

Tabor sprechen: Wie wohl ist uns, Herr, mit Dir zu sein.' So betete er unablässig für die Menschen,<br />

und dadurch bewahrte er <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Seele. Wir aber verlieren ihn, weil wir keine Liebe zu <strong>de</strong>n<br />

Menschen haben.« 38<br />

Am En<strong>de</strong> unserer Überlegungen soll ein Gebet unseres Starez stehen, in <strong>de</strong>m all das zusammengefaßt<br />

ist, was wir als Essenz seines geistlichen Lebens und Lehrens ansehen dürfen:<br />

37<br />

38<br />

Ebd., 190.<br />

Zit. nach K. Beta und Semen I. Antonow, Eine Flamme erfüllte sein Herz, 46f.<br />

16


»Oh, Heiliger Geist, wie lieb bist du <strong>de</strong>r Seele,<br />

dich zu beschreiben ist unmöglich;<br />

aber die Seele erkennt <strong>de</strong>in Kommen,<br />

und du gibst <strong>de</strong>m Herzen Frie<strong>de</strong>n und Freu<strong>de</strong>.« 39<br />

39<br />

Zit. nach ebd., 29.<br />

17

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