Die nationale Ehre - welcker-online.de
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<strong>Die</strong> <strong>nationale</strong> <strong>Ehre</strong><br />
ist das Feld, auf <strong>de</strong>m die <strong>de</strong>utschösterreichische Sozial<strong>de</strong>mokratie, wenn's<br />
gilt, zu leben entschlossen ist, <strong>de</strong>nn seit<strong>de</strong>m sie ihre verdienstvolle Arbeit zur<br />
Überwindung <strong>de</strong>s Krieges been<strong>de</strong>t hat, scheint sie das geistige Inventar, mit<br />
<strong>de</strong>m einst die Lüge <strong>de</strong>r Notwehr verteidigt wur<strong>de</strong>, an sich gebracht zu haben.<br />
Den ranzigen Begriff eines Patriotismus also, <strong>de</strong>ssen bloße Vorstellung — mit<br />
all seiner Nichtvorstellung <strong>de</strong>s Kontrastes zwischen Fahnen und Flammenwerfern<br />
— schon <strong>de</strong>n Hochverrat zugunsten <strong>de</strong>r Menschheit diktiert, ja je<strong>de</strong>s<br />
Lan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>ssen Menschenart in an<strong>de</strong>rer Gefühlszone geboren ist —; dieses<br />
Relikt aus <strong>de</strong>r Sündflut, das nur <strong>de</strong>r Belebung durch Phantasiearmut harrt,<br />
um sich mit <strong>de</strong>m technischen Fortschritt zum Ruin sämtlicher Vaterlän<strong>de</strong>r zu<br />
verbün<strong>de</strong>n. Daß es <strong>de</strong>n Höhlenbewohnern, <strong>de</strong>nen die kriegerische Nie<strong>de</strong>rlage<br />
nicht mit jenen Sinnbil<strong>de</strong>rn vor Augen geführt wur<strong>de</strong>, die sie für <strong>de</strong>n Sinn <strong>de</strong>s<br />
Kriegs gehalten haben und halten — daß es dieser nicht sinnfällig besiegten<br />
und darum wie<strong>de</strong>r ermutigten Sorte geistig zugehört, ist seit 1918 ein natürliches<br />
Erlebnis, und erschütternd nur das Schauspiel <strong>de</strong>s Gegenwahns: wie das<br />
freieste Volk <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> vor einem im Stahlhelm starren<strong>de</strong>n Gespenst in <strong>de</strong>n<br />
doch verabscheuten Militarismus flüchtet. Aber kein größeres Greuel vor <strong>de</strong>m<br />
Herrn, <strong>de</strong>n sie leugnen und <strong>de</strong>n die an<strong>de</strong>rn wenigstens als Segner <strong>de</strong>r Waffen<br />
anerkennen, könnte es geben als Sozialisten, die am Spiel mit Fahnen und<br />
Flaggen Freu<strong>de</strong> haben, zum Rot noch Schwarz und Gold brauchen, sich, weit<br />
über alle wirtschaftliche Berechnung hinaus, gefühlsmäßig an <strong>de</strong>r <strong>nationale</strong>n<br />
Zusammengehörigkeit erlaben und am liebsten die trennen<strong>de</strong>n Su<strong>de</strong>ten wegräumen<br />
möchten, die das <strong>nationale</strong> Bürgertum doch ganz legitim vor <strong>de</strong>r Stirn<br />
hat und ohne die es geistig unbeschäftigt wäre. Grippe und Nationalismus:<br />
das ist nebst <strong>de</strong>m Bankrott <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>nsatz verwichener Giftschwa<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>rzeit<br />
grassiert die <strong>nationale</strong> <strong>Ehre</strong>. Es ist diesem armseligen Wrack von einem Staat,<br />
das nun einmal die Nation beherbergt, die sich die Hauptkriegsverbrecher als<br />
Führer gefallen ließ, keineswegs zu ver<strong>de</strong>nken, daß es, über die angestammte<br />
Sehnsucht nach <strong>de</strong>n Frem<strong>de</strong>n hinaus, das »Vertrauen <strong>de</strong>s Auslands« wenigstens<br />
in <strong>de</strong>m Maße zu erringen trachtet, als es sich dieses durch politische<br />
Handlungen o<strong>de</strong>r Duldungen gleichzeitig verscherzt. Aber in solchem Milieu,<br />
wo Selbstbestimmung nur die Wahl zwischen Korruption und Gewalttätigkeit<br />
be<strong>de</strong>utet und wo je<strong>de</strong> Partei <strong>de</strong>n Schmutz vor <strong>de</strong>r eigenen Tür kehrt, <strong>de</strong>n die<br />
an<strong>de</strong>re abgelagert hat, wird lauter als irgendwo in <strong>de</strong>r Welt die »<strong>nationale</strong><br />
<strong>Ehre</strong>« reklamiert, sooft an einer <strong>de</strong>r Interessentengruppen die Reihe ist, die<br />
an<strong>de</strong>re <strong>de</strong>s Hochverrats zu beschuldigen, und <strong>de</strong>r vollste Brustton, <strong>de</strong>r sich<br />
dann <strong>de</strong>m <strong>nationale</strong>n Pathos entringt, ist <strong>de</strong>r Protest gegen die Zumutung,<br />
eine »Kolonie« zu wer<strong>de</strong>n. Nun muß einmal ganz kalt und klar gesagt wer<strong>de</strong>n,<br />
daß <strong>de</strong>r Sinn <strong>de</strong>s Menschenlebens eigentlich in ganz an<strong>de</strong>ren Entscheidungen<br />
beruht als in <strong>de</strong>r, von welcher Konsumgenossenschaft man sein Futter zugewiesen<br />
bekommt, welche Schließgesellschaft für die Sicherheit und welches<br />
Unternehmen für die Reinhaltung <strong>de</strong>r Straßen zu sorgen hat. Pathos ist da<br />
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weit weniger am Platz als bei Shakespeare. Uns interessieren diese Probleme<br />
nicht mehr, geistig gehn sie uns einfach nichts an. Trifft's England, soll's England<br />
machen, trifft's Frankreich, so Frankreich, und ich ließe mich zur Not<br />
auch von <strong>de</strong>n Persern 1 verwalten. Kein Zweifel, daß in rein organisatorischen<br />
Belangen Deutschland <strong>de</strong>n Vorzug hätte, aber gera<strong>de</strong> da wäre vielleicht die<br />
Gefahr jener Verbindung <strong>de</strong>s Nutzlebens mit <strong>de</strong>m Geistigen vorhan<strong>de</strong>n, die<br />
<strong>de</strong>n Krebs <strong>de</strong>r zentraleuropäischen Kultur bil<strong>de</strong>t. Menschendank verdient je<strong>de</strong>r,<br />
<strong>de</strong>r dient; doch die Heiligung <strong>de</strong>r Gesamtdienerschaft als Autorität, die<br />
Vorstellung einer Staatsbürgerlichkeit, die <strong>de</strong>n Beamten als Vorgesetzten <strong>de</strong>s<br />
Menschen annimmt, gehört jenem Bereich fossilen Denkens zu, <strong>de</strong>m die kriegerische<br />
Romantik entspringt wie jener Mangel an Phantasie, <strong>de</strong>r die Antithese<br />
<strong>de</strong>r Technik nicht gewahr wird. Vaterland ist die Summe von Landschaft<br />
und Menschentum, von <strong>de</strong>r wir durch Geburt o<strong>de</strong>r Gewöhnung umgeben sind;<br />
Staat ist Einmischung in dieses Verhältnis und sein Anspruch auf Beteiligung<br />
am Sentiment wer<strong>de</strong> mit jener Kälte abgewiesen, die das Stigma unpatriotischer<br />
Gesinnung als geistige <strong>Ehre</strong> annimmt. Wenn wil<strong>de</strong> Völkerschaften eine<br />
nichtbo<strong>de</strong>nständige Verwaltung ertragen müssen, so ist auch <strong>de</strong>r Gedanke<br />
nicht abzuweisen, daß Völkerschaften, die wild gewor<strong>de</strong>n sind, die in <strong>de</strong>m Unvermögen,<br />
sich selbst zu verwalten, gegen <strong>de</strong>n Zimmerschmuck ihrer Kultur<br />
wüten, einer Vormundschaft teilhaft wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> Befürwortung dieses Gedankens<br />
entspräche nicht nur jenem bestverstan<strong>de</strong>nen Patriotismus, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m mitgefühlten<br />
Jammer einer ursprünglich gutmütigen Landsmannschaft kein En<strong>de</strong><br />
durch die Führung unfähiger o<strong>de</strong>r habgieriger Politiker absieht, son<strong>de</strong>rn auch<br />
jenem wahren Nationalismus, <strong>de</strong>r das heilige Erbgut einer von ihren Sprechern<br />
besu<strong>de</strong>lten Sprache nur in <strong>de</strong>r Befreiung aus <strong>de</strong>m Verkehrsgebrauch<br />
geborgen sähe und ihre <strong>Ehre</strong>nrettung, <strong>de</strong>m Volapük vorbehält. Mit einem nur<br />
von solchem Interesse, aber von keinem Phrasenschwin<strong>de</strong>l zu bewegen<strong>de</strong>n<br />
Herzen, das sich durch kein Volkstum einer Amtlichkeit angemutet o<strong>de</strong>r abgestoßen<br />
fühlt, <strong>de</strong>r ich die Steuer zu entrichten habe, spreche ich diese Meinung<br />
aus, für <strong>de</strong>ren Recht ich Verständnis und Duldung von einer Partei <strong>de</strong>r<br />
Freiheit erwarte, nicht min<strong>de</strong>r als für das Recht, eben sie über alle Maßen unerträglich<br />
zu fin<strong>de</strong>n, wenn sie sich nationalistisch gebär<strong>de</strong>t und <strong>de</strong>n groß<strong>de</strong>utschen<br />
Interessen nun gera<strong>de</strong>zu als Hinter<strong>nationale</strong> Gefolgschaft leistet. Es ist<br />
noch ein Glück, daß was immer hier verlustbringend wirkt nicht die Macht<br />
hat, <strong>de</strong>n Humor abhan<strong>de</strong>n kommen zu lassen, <strong>de</strong>r wie je<strong>de</strong>m Mißverhältnis<br />
zwischen Wollen und Gelingen auch diesem innewohnt, und daß <strong>de</strong>r tägliche<br />
Wirrwarr <strong>de</strong>r Gedanken und Taten unserer Politik sich ins Groteske auflöst.<br />
<strong>Die</strong> Christlichsozialen lassen sich von Bekessy aus Budapest die Wahrheit zutragen,<br />
daß Deutschland durch die Oktroyierung Schobers Einfluß auf unser<br />
Inneres genommen hat, und die Sozial<strong>de</strong>mokraten — die gegen Bekessys Lügen<br />
weniger einzuwen<strong>de</strong>n hatten — erzeugen in Versammlungsre<strong>de</strong>n »Bewegung«<br />
durch <strong>de</strong>n Hinweis auf <strong>de</strong>n Versuch, »uns in eine Lage zu, bringen,<br />
ähnlich <strong>de</strong>r afrikanischer Negerstämme, über die die französische Kolonialmacht<br />
herrscht«. Wenn Herr Otto Bauer warm wird, geht mich ein Frösteln<br />
an. Von <strong>de</strong>m Klischee »Ihr Herren« abgesehen, bleibt er sonst frei von Pathos,<br />
zu klug, um sich an die Weisung zu halten: »Schaff Augen dir von Glas, und<br />
wie Politiker <strong>de</strong>s Pöbels tu, als sähst du Dinge, die du doch nicht siehst«. Ein<br />
so beherrschter Führer durch Wellenberge und Wellentäler einer unabän<strong>de</strong>rlich<br />
vorgezeichneten Entwicklung, Tiktaktiker <strong>de</strong>r Parteiuhr, darf sich durch<br />
nichts überrascht und nie bewegt, niemals bewegend zeigen. Der Intelligenz,<br />
1 Da schau an, er wäre auch damit zufrie<strong>de</strong>n, in einem mohammedanischen Gottesstaat zu<br />
leben.<br />
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die mit <strong>de</strong>n Gegebenheiten operiert, steht die Benutzung <strong>de</strong>r von Herrschaften<br />
abgelegten Fetische am wenigsten an. Er schien längere Zeit <strong>de</strong>r einzige<br />
sozial<strong>de</strong>mokratische Führer, <strong>de</strong>r sich gegenüber Herrn Schober wenigstens<br />
die freie Hand vorbehalten hatte, sie ihm nicht zu reichen. Aber aus seiner<br />
Re<strong>de</strong> geht jener, <strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>n Sozialisten schon als Vertreter <strong>de</strong>r »einfachen<br />
bürgerlichen Ehrbarkeit« beglaubigt ist, als <strong>de</strong>r wahre Träger <strong>nationale</strong>r Wür<strong>de</strong><br />
hervor. Darum sei <strong>de</strong>m Redner in Erinnerung gebracht, daß es nur eine<br />
Gelegenheit gab, ihm Gefühlstöne zu glauben: als er, Tatzeuge <strong>de</strong>r Ringstraßentaten,<br />
im Parlament zur Anklage ausholte. Gewiß, er hat selbst kürzlich an<br />
<strong>de</strong>m Grabe <strong>de</strong>r Juliopfer, vor <strong>de</strong>m die längste Zeit Pietät nur markiert wur<strong>de</strong>,<br />
sich erinnert; und fast so, daß man auf Verletzung <strong>de</strong>r Disziplin o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n<br />
Plan schließen könnte, Felonie an Schober zu üben. Macht die freie Hand von<br />
ihrer Freiheit Gebrauch? Sind wir auf einem Wellenberg angelangt? Je<strong>de</strong>nfalls<br />
ist es die Betätigung einer an<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>s sozialistischen Gewissens würdigern<br />
Sorge als <strong>de</strong>r um die Nation. Was diese betrifft, so weiß man, daß man doch<br />
keineswegs die Macht an<strong>de</strong>rer Entscheidung hätte, wenn Österreich die Wahl<br />
bliebe, französische Kolonie zu wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Domäne <strong>de</strong>s Bekessy. Und auch,<br />
daß wir zunächst und mit aller <strong>nationale</strong>n <strong>Ehre</strong> nichts sind als Bekessys Verlassenschaft.<br />
Glossen<br />
DIE SOUVERÄNITÄT<br />
— nicht <strong>de</strong>r Presse, son<strong>de</strong>rn ausnahmsweise <strong>de</strong>s Staates — ist es, was <strong>de</strong>m 6<br />
—Uhr—Blatt gegenwärtig so stark aufliegt, wie das 6—Uhr—Blatt, seit<strong>de</strong>m es<br />
sich entschlossen hat, die Masseusen <strong>de</strong>s Lippowitz zu übernehmen, die er<br />
dahingeopfert, als ihm <strong>de</strong>r Unterrichtsminister Srbik, ein Historiker, eröffnete,<br />
daß nur um diesen Preis <strong>de</strong>r Lippowitz—Ring vom Staate übernommen<br />
wür<strong>de</strong>. (Seltsame Verknüpfung zwischen Gerhart Hauptmann, Heimwehr und<br />
Massage, Wirrungen im Staat, »Liebe erkaltet, Freundschaft fällt ab, Brü<strong>de</strong>r<br />
entzweien sich«, Schober tritt aus <strong>de</strong>m Kuratorium aus und ist nicht mehr<br />
Großkanzler, und Lippowitz wäre froh, statt <strong>de</strong>s Rings die Masseusen zu haben.)<br />
Immer geht es ums Prestige. Frankreich hat an Schober eine Erpressung<br />
begangen, <strong>de</strong>r als ehemaliger Polizeipräsi<strong>de</strong>nt in solchen Dingen keinen<br />
Spaß versteht und Briand eine ungünstige Leumundsnote ausstellte. Der Leitartikler<br />
<strong>de</strong>s 6—Uhr—Blatts, Deutsch zumin<strong>de</strong>st nach Namen und Gesinnung,<br />
gibt Frankreich etwas zu be<strong>de</strong>nken:<br />
Verletzungen staatlicher Souveränität und Neutralität stoßen bekanntlich<br />
in <strong>de</strong>r ganzen Welt auf beson<strong>de</strong>rs heftige Abwehrgefühle,<br />
was man ja beim Ausbruch <strong>de</strong>s Weltkrieges sehr <strong>de</strong>utlich feststellen<br />
konnte.<br />
<strong>Die</strong> Erinnerung ist insofern berechtigt, als Frankreich eben seit <strong>de</strong>m Einbruch<br />
via Belgien von einem Mißtrauen gegen Deutschland beseelt ist, das gleichfalls<br />
keine Grenze kennt. Immerhin dürfte die Alternative wegen <strong>de</strong>r Zollunion<br />
kaum mit <strong>de</strong>r damaligen Neutralitätsverletzung zu vergleichen sein, und etwas<br />
übertrieben wäre die Vermutung, daß <strong>de</strong>r Schritt Briands <strong>de</strong>n analogen<br />
Weltbrand nach sich ziehen könnte.<br />
Für 150 Millionen, nein, für die Finanzierung von 150 Millionen<br />
sollte Österreich auf seine Souveränität verzichten!<br />
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»Lieber <strong>de</strong>rhungern!«, wie die Paola in »Trapezunt«, die auch auf Prestige<br />
hält, zu sagen pflegt. In solchen Fällen ist <strong>de</strong>r Ausdruck »für ein Linsengericht«<br />
am Platz, <strong>de</strong>r auch gleich folgt (bei jenen Lesern <strong>de</strong>s 6—Uhr—Blatts,<br />
die <strong>de</strong>n Preis drücken wollen, auch: »um einen Pappenstiel«, während sie bekanntlich<br />
in <strong>de</strong>r umgekehrten Situation von 1500 Milliar<strong>de</strong>n sprechen wür<strong>de</strong>n).<br />
Also:<br />
Hat man auf <strong>de</strong>m Quai d'Orsay gar keine Vorstellung davon, was<br />
einer österreichischen Regierung passieren wür<strong>de</strong>, die für ein Linsengericht<br />
das Land an Frankreich verkauft ? Ist es in Paris unbekannt,<br />
daß die österreichischen Minister Parteiminister sind und<br />
daß die hinter ihnen stehen<strong>de</strong>n Parteien vom Erdbo<strong>de</strong>n verschwin<strong>de</strong>n<br />
wür<strong>de</strong>n, wenn ihre Leute einem solchen Lan<strong>de</strong>sverrat<br />
zustimmen?! — — Der letzte Galeriebesucher <strong>de</strong>s Wiener Parlaments<br />
hätte Herrn Briand mitteilen können, daß aus <strong>de</strong>n Plänen<br />
seiner Diplomaten nur eine überdimensionale Selbstblamage herauswachsen<br />
konnte.<br />
Herr Deutsch überschätzt <strong>de</strong>n Scharfblick <strong>de</strong>s letzten Galeriebesuchers wie<br />
die Folgen für die Parteien und die Parteiminister. <strong>Die</strong> Souveränität, die ihm<br />
aufliegt, wäre eine unbezahlbare Wertsache, wenn sie durch die Souveränität<br />
gegenüber je<strong>de</strong>r Knüppelgar<strong>de</strong> vervollkommnet wäre, die eine Partei auf die<br />
Straße schicken kann, damit sie <strong>de</strong>m zu Gaste gebetenen Ausland ihr »Judaa<br />
varreeckee!« in die Ohren brüllt. Aber ein Simandl wird nur so lange als Wür<strong>de</strong>nträger<br />
stolzieren können, als <strong>de</strong>r häusliche Skandal nicht hinausgedrungen<br />
ist. Auf die indignierte Frage, welche Vorstellungen man <strong>de</strong>nn in <strong>de</strong>r Welt<br />
von Österreich habe, kann nur geantwortet wer<strong>de</strong>n: Mit aller Anerkennung<br />
<strong>de</strong>r Naturschönheit die richtigen! Schober ist sicherlich als Hutten o<strong>de</strong>r Luther,<br />
Bismarck o<strong>de</strong>r Galilei so glaubhaft wie als Winkelried, treuer Eckart sowie<br />
braver Schweppermann. Aber er hat schließlich bei aller Standhaftigkeit<br />
die Zollunion in Genf für das Linsengericht einer englischen Konversation hingegeben,<br />
zu <strong>de</strong>r er seit <strong>de</strong>n Marienba<strong>de</strong>r Anfängen nun einmal neigt. (Umso<br />
begreiflicher <strong>de</strong>r Wunsch von rechts wie links, daß seine Ausdauer wenigstens<br />
in <strong>de</strong>r Behauptung eines Ministerpostens zur Geltung komme, als »Kontinuität«<br />
nach außen.) Und im Inland sind überall Linsengerichte aufgestellt,<br />
die — ob es nun etwa die Gleichberechtigung <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r die <strong>nationale</strong><br />
<strong>Ehre</strong> gilt — ein ganz bekömmliches Papperl bil<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ssen Genuß noch keinen<br />
aufrechten Wür<strong>de</strong>nträger umgeworfen hat. Daß vollends die hinter <strong>de</strong>r Regierung<br />
stehen<strong>de</strong>n Parteien vom Erdbo<strong>de</strong>n verschwin<strong>de</strong>n könnten, ist auch keine<br />
üble Illusion. Das hieße ja annehmen, daß die Sozial<strong>de</strong>mokratie die einzige<br />
wäre, die dann noch als Hort <strong>de</strong>r <strong>nationale</strong>n <strong>Ehre</strong> in Betracht käme. <strong>Die</strong> unmittelbare<br />
Folge wäre eine <strong>de</strong>rartige Erstarkung <strong>de</strong>s 6—Uhr—Blatts, daß es<br />
sich aus Prestigegrün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Verzicht auf die Schönheitspflege leisten könnte,<br />
so daß die armen Masseusen ihr letztes Bad für die schmutzige österreichische<br />
Politik auszutragen hätten.<br />
BLICKEN WIR ZURÜCK<br />
auf die politische Entwicklung <strong>de</strong>r letzten Jahre, vergegenwärtigen wir uns,<br />
wie alles kam, und wir wer<strong>de</strong>n fin<strong>de</strong>n, daß es eine gesinnungsmäßige Konsequenz<br />
hierzulan<strong>de</strong> nur bei Lippowitz gibt, weil seine Haltung, scheinbar so wi<strong>de</strong>rspruchsvoll,<br />
doch <strong>de</strong>m krassesten Undank entspricht, <strong>de</strong>n jemals die<br />
Macht Hinaufgelangter einem treuen Helfer wi<strong>de</strong>rfahren ließ. Am 1. April<br />
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1929 wur<strong>de</strong>n steuerzahlen<strong>de</strong> und auch sonst nützliche Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r bürgerlichen<br />
Gesellschaft aus <strong>de</strong>r Schönlaterngasse, Kumpfgasse usw. planmäßig<br />
verjagt und <strong>de</strong>m Annoncenteil <strong>de</strong>s Neuen Wiener Journals zugetrieben, das<br />
um <strong>de</strong>n Preis <strong>de</strong>r Ernennung Schobers zum Großkanzler von ihm nicht nur als<br />
das achtbarste Wiener Blatt angesprochen wur<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn auch die Lizenz<br />
bekam, am Sonntag sämtliche Arten und Abarten <strong>de</strong>s Geschlechtsverkehrs,<br />
mit beson<strong>de</strong>rer Berücksichtigung <strong>de</strong>r Gegenpole, zu kultivieren. Das ging so<br />
lange, bis es selbst <strong>de</strong>r Concordia zu bunt wur<strong>de</strong> und sie es ablehnte, die<br />
gleichzeitigen mäzenatischen Bestrebungen Lippowitzens zu unterstützen, in<strong>de</strong>m<br />
sie sich <strong>de</strong>r Fürsorge für <strong>de</strong>n Burgtheaterring entledigte, <strong>de</strong>n eben Gerhart<br />
Hauptmann auf die Hand bekommen sollte, die »Hannele« geschrieben<br />
hatte. Nun trat Lippowitz als <strong>de</strong>r anerkannte Erneuerer Österreichs an das<br />
Unterrichtsministerium mit <strong>de</strong>m Ersuchen heran, <strong>de</strong>n Ring in Obhut zu nehmen.<br />
Das Unterrichtsministerium — einge<strong>de</strong>nk <strong>de</strong>r Zeiten, wo es gefürchtet<br />
hatte, durch die Aufstellung <strong>de</strong>s Standbilds <strong>de</strong>s Mark Anton <strong>de</strong>r Schwelgerei<br />
ein Denkmal zu setzen — fand, daß die Verbindung mit einem Lupanar <strong>de</strong>n<br />
Bestrebungen eines geregelten Kultus wi<strong>de</strong>rspreche, und stellte Lippowitz die<br />
Bedingung, daß er die Masseusen opfere und die Sonntagsrubrik auf die geschlechtliche<br />
Norm beschränke, tunlichst unter Ausschaltung aller gegenpolarischen<br />
Kräfte, ja selbst unter Verzicht auf die Paarung gleichgeschlechtlicher<br />
Provinzler, die sich bis dahin mit <strong>de</strong>n Heimwehrten<strong>de</strong>nzen zu vertragen schien.<br />
Lippowitz, in einen tragischen Konflikt gezwungen, wählte die <strong>Ehre</strong>. Und<br />
was mußte er erleben? Daß seine 75 Masseusen zu einem marxistischen Blatt<br />
übergingen, um daselbst die Schönheit und später <strong>de</strong>n Körper schlechtweg zu<br />
pflegen. <strong>Die</strong>ser Umstand wie die gleichzeitige Abkehr Schobers von <strong>de</strong>n<br />
Heimwehrten<strong>de</strong>nzen brachte es mit sich, daß das Neue Wiener Journal sich<br />
fortan darauf beschränkte, <strong>de</strong>n Annoncenteil <strong>de</strong>n Regierungswünschen angepaßt<br />
zu halten. <strong>Die</strong>s wie<strong>de</strong>r hatte zur Folge, daß Schober aus <strong>de</strong>m Kuratorium<br />
<strong>de</strong>r Ringstiftung austrat, Frau Bleibtreu, die letzte Empfängerin, einen Weinkrampf<br />
bekam und jener <strong>de</strong>r Felonie beschuldigt wur<strong>de</strong>. Der Annoncenteil<br />
blieb rein. Redaktionell aber machte sich täglich lauter <strong>de</strong>r Schrei <strong>de</strong>s Augustus<br />
nach <strong>de</strong>r Teutoburger Nie<strong>de</strong>rlage geltend: »Schober, gib mir meine Legionen<br />
wie<strong>de</strong>r!« Zum Scha<strong>de</strong>n jedoch gesellte sich <strong>de</strong>r Spott, als die Arbeiter—<br />
Zeitung, ohne Rücksicht auf eine Genossin <strong>de</strong>r Schmach, vom blitzblanken<br />
Neuen Wiener Journal als <strong>de</strong>m »Masseusenblatt« sprach. Der Gipfel <strong>de</strong>r Verwegenheit<br />
wur<strong>de</strong> dann erklommen, als Sandor Weiß <strong>de</strong>n Nachweis, daß es<br />
nunmehr ein »rotes Bor<strong>de</strong>ll« gebe, durch Ausspitzelung <strong>de</strong>r armen Insassinnen<br />
zu führen unternahm und die Arbeiter—Zeitung, um abzulenken, solche<br />
Unsauberkeit nachahmte. Das arme Schwesterblatt mußte zittern und die Metierbezeichnung<br />
än<strong>de</strong>rn, um <strong>de</strong>n Redaktionsetat auch fernerhin mit Einkünften<br />
<strong>de</strong>cken zu können, <strong>de</strong>ren Ursprung doch sauberer ist als <strong>de</strong>r aus sensationellen<br />
Titeln. Zur Rettung <strong>de</strong>r unschuldigsten Opfer politischer Heuchelei<br />
dachte ich schon daran, die Annoncen kostenlos zu übernehmen, aber gera<strong>de</strong><br />
mir wäre das Preßgesetz zum Fallstrick gedreht wor<strong>de</strong>n. Ob nun pures Pharisäertum<br />
o<strong>de</strong>r Bosheit gegen <strong>de</strong>n Genossen Renner im Spiel sei, die Arbeiter—<br />
Zeitung ging letzthin so weit, einem Justizministerium, das noch verständnisloser<br />
<strong>de</strong>m Problem <strong>de</strong>r Prostitution gegenübersteht als das Unterrichtsministerium,<br />
mit <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Antwort das Schwesterblatt ans Messer zu liefern:<br />
Es ist natürlich auch alles unrichtig, was über die Beschlagnahme<br />
unzüchtiger Annoncen gesagt wird — das interessiert uns aber<br />
nicht einmal juristisch. Denn wir wissen, daß gera<strong>de</strong> da <strong>de</strong>r Preßstaatsanwalt<br />
sehr zurückhaltend ist, und genau so, wie er <strong>de</strong>n § 26<br />
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<strong>de</strong>s PG., <strong>de</strong>r eine bestimmte Preßkorruption bekämpfen wollte,<br />
selbst herrlich außer Kraft gesetzt hat, so wird er natürlich auch<br />
<strong>de</strong>n Zeitungen, die sich <strong>de</strong>r Vermittlung <strong>de</strong>s unzüchtigen Verkehrs<br />
hingeben, nichts tun. Denn bei Verletzungen von Bestimmungen,<br />
die gegen Korruption gerichtet sind, drückt dieser Herr Preßstaatsanwalt<br />
gern bei<strong>de</strong> Augen zu.<br />
Und Lippowitz, <strong>de</strong>r völlig unberührt von diesen Anwürfen bleibt, über die er<br />
füglich zur Tagesordnung schreiten kann, wird auch künftighin als <strong>de</strong>r Inhaber<br />
eines Masseusenblatts verschrien wer<strong>de</strong>n. Wenn ich an seiner Stelle<br />
wäre, wür<strong>de</strong> ich <strong>de</strong>nen, die ihn mit <strong>de</strong>r <strong>Ehre</strong> hineingelegt haben, <strong>de</strong>n Ring<br />
hinschmeißen, unwürdige Marxisten, die so schmählich die Prostitution preisgeben,<br />
beschämen und die Masseusen einfach wie<strong>de</strong>r hereinlassen.<br />
GEBÄRDEN<br />
— — erschien — — erschienen — — begab sich — — begab sich<br />
hierauf — — erschien dann — — neuerlich bei ihm erschienen<br />
— — begab sich sodann — — ich begebe mich eben — — begab<br />
sich hierauf — — bevor er sich zum Bun<strong>de</strong>spräsi<strong>de</strong>nten begab —<br />
—<br />
*<br />
— — betont — — erblickt — — auch großes Gewicht darauf gelegt<br />
— — sich bereit erklärt — — eingewirkt — — nicht aktiv beteiligt<br />
— — schlug vor — — vorzuschlagen — — behielt sich vor — —<br />
sprach sein tiefes Bedauern aus — —<br />
*<br />
<strong>Die</strong> Verhandlungen über die Kabinettsbildung dauerten ungefähr<br />
fünf Stun<strong>de</strong>n. Nach<strong>de</strong>m Dr. Seipel mittags seine Mission als been<strong>de</strong>t<br />
erklärt hatte — — machte <strong>de</strong>r Landbund noch einen Schritt<br />
— — zu einem nochmaligen Versuch — — Der Bun<strong>de</strong>spräsi<strong>de</strong>nt<br />
gab diesem Wunsche nach und betraute — — Buresch — — zunächst<br />
längere Besprechungen mit <strong>de</strong>n maßgeben<strong>de</strong>n Persönlichkeiten<br />
— — sicherte sich die Zustimmung seiner Parteigenossen<br />
— — Um 4 Uhr konferierte er mit <strong>de</strong>m Landbund, <strong>de</strong>r seine Bereitwilligkeit,<br />
in die Regierung einzutreten — — Winkler — —<br />
Hierauf besuchte — — Renner und machte ihm von seiner Mission<br />
Mitteilung. Zugleich erörterte er mit ihm die Aufgaben <strong>de</strong>r Regierung<br />
und erbat die wohlwollen<strong>de</strong> Haltung <strong>de</strong>r Opposition ... erklärte,<br />
daß sich die Haltung <strong>de</strong>r sozial<strong>de</strong>mokratischen Partei aus<br />
<strong>de</strong>n Handlungen <strong>de</strong>r Regierung ergeben wer<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r die Partei<br />
zwar oppositionell, aber unvoreingenommen gegenüberstehe.<br />
Schließlich erklärte sich <strong>de</strong>r Präsi<strong>de</strong>nt bereit, wenn die Regierungsbildung<br />
vollzogen sein wird, unverzüglich <strong>de</strong>n Nationalrat<br />
einzuberufen.<br />
Daß alles das noch gedruckt wird, wiewohl es sich seit Jahrzehnten immer<br />
wie<strong>de</strong>r so begibt, ist erstaunlich. Aber daß es sich begibt, ist noch erstaunlicher.<br />
Sie wissen doch alle so genau im Voraus, wie es sich begeben wird, daß<br />
man gar nicht versteht, wozu es sich begeben muß und daß sie sich eigens<br />
dazu noch begeben. Ein Riesenpolonius steckt hinter <strong>de</strong>r Tapete: <strong>de</strong>nn dieser<br />
Defektiv—Effekt hat Grund. Sie begeben sich, aber sonst nichts: das sind wir<br />
von Weilands Zeiten her gewohnt. Es geht immer rapi<strong>de</strong>r, es ist das Um und<br />
8
Auf unserer Begebenheit und unserer Begabung. Man hat <strong>de</strong>n Eindruck, daß<br />
auch <strong>de</strong>m heillosesten Zwist die volle Einigung darüber vorangeht, wie sie ihn<br />
been<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, und daß alles, was es an vitaler Wirklichkeit hinter <strong>de</strong>n kurialen<br />
Schmonzes gibt, nur um dieser willen und durch diese vorhan<strong>de</strong>n ist.<br />
Das Phänomen besteht in <strong>de</strong>r von keinem Umsturz zu erschüttern<strong>de</strong>n Denkform<br />
und eben darin, daß alle Lebensnot vermehrt wird durch <strong>de</strong>n unverän<strong>de</strong>rten<br />
Hang dieser Wür<strong>de</strong>nträger, zu konferieren, zu erklären, einan<strong>de</strong>r zu<br />
besuchen, zu erörtern, Schritte zu machen und Maß zu geben. »Es sind Gebär<strong>de</strong>n,<br />
die man spielen könnte.« Nichts dahinter, außer <strong>de</strong>r Not <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn.<br />
WIR ALTEN GEGNER<br />
Wie doch mit einem einzigen Wort gelogen wer<strong>de</strong>n kann! Das Zentralorgan<br />
<strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie Deutschösterreichs weiß zu <strong>de</strong>m, was Herrn Seipel<br />
mißlungen ist, zu sagen:<br />
Es ist gescheitert an <strong>de</strong>m alten Gegensatz zwischen ihm und<br />
Schober. Es ist gescheitert vor allem daran, daß Seipel darauf bestand,<br />
<strong>de</strong>n Herrn Dr. Kienböck zum Finanzminister zu machen,<br />
und Schober es für unmöglich hielt, in dieser Zeit, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Finanzminister<br />
die furchtbar schwere Aufgabe haben wird, die alten<br />
Finanzverbrechen <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>nkreditanstalt zu liquidieren, gera<strong>de</strong><br />
mit Herrn Dr. Kienböck, <strong>de</strong>m alten Freun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>nkreditanstalt,<br />
in eine Regierung zu gehen. Wir sind alte Gegner Schobers<br />
und wir haben mit ihm schwere und heftige Kämpfe geführt; aber<br />
es muß anerkannt wer<strong>de</strong>n, daß er diesmal, als er sich weigerte, in<br />
solcher Zeit mit Kienböck in einer Regierung zu sitzen, gera<strong>de</strong> so<br />
wie im vorigen Herbst, als er sich weigerte, <strong>de</strong>r Ernennung Strafellas<br />
zuzustimmen, und lieber <strong>de</strong>missionierte, ehe er seine Zustimmung<br />
gegeben hätte, die Sache <strong>de</strong>r einfachen bürgerlichen<br />
Ehrbarkeit gegenüber <strong>de</strong>n Anmaßungen <strong>de</strong>r Seipeloten vertreten<br />
hat.<br />
Jenseits <strong>de</strong>r Frage, ob Herr Schober Herrn Dr. Kienböck o<strong>de</strong>r dieser jenen mit<br />
größerem Recht be<strong>de</strong>nklich fin<strong>de</strong>t, ist hier die Selbstverständlichkeit, mit <strong>de</strong>r<br />
jener als Faktor <strong>de</strong>r Kabinettsbildung vorausgesetzt wird, bemerkenswert. Es<br />
klingt alles so plausibel, daß auch die Vorstellung <strong>de</strong>s Mannes, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Vorwurf<br />
<strong>de</strong>r Felonie ungesühnt ließ, als <strong>de</strong>s politischen Vertreters <strong>de</strong>r einfachen<br />
bürgerlichen Ehrbarkeit, gar nicht uneben wirkt, ja daß diese Erfüllung <strong>de</strong>s<br />
Begriffes mit <strong>de</strong>ssen Akzeptierung durch Sozial<strong>de</strong>mokraten überein geht.<br />
Wenn nun aber auch die Arbeiterschaft keine Ahnung davon haben mag, wie<br />
ein Charakterbild, das lange genug in <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>s Parteiwesens geschwankt<br />
hat, vor <strong>de</strong>m Völkerbund ein<strong>de</strong>utig und endgültig in sämtlichen<br />
Merkmalen mit <strong>de</strong>m lokalen Eindruck <strong>de</strong>s Bekessyfalles i<strong>de</strong>ntifiziert wur<strong>de</strong> —<br />
eines könnte sie, die ja die große Zeit <strong>de</strong>s Polizeikrieges nicht vergessen hat,<br />
vielleicht stutzig machen: wie glatt sich die Entwicklung vom Arbeitermör<strong>de</strong>r<br />
zum Vertreter <strong>de</strong>r bürgerlichen Ehrbarkeit vollzog und wie positiv heute die<br />
Partei zu <strong>de</strong>m Manne steht, <strong>de</strong>n sie durch Jahre mit einem Mut bekämpft hat,<br />
<strong>de</strong>r selbst die überparteiliche Vertrautheit eines Polizeipräsi<strong>de</strong>nten mit Achillesfersen<br />
nicht zu scheuen schien. Denn gibt es nichts, was in <strong>de</strong>r Politik nicht<br />
möglich wäre, wo man eben die Stirn hat, mit geschlossenem Mund nicht nur<br />
die Re<strong>de</strong> von gestern zu verleugnen, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>m Motiv<br />
die Antwort zu verweigern; und gelingt es, wann man will, vor jenen zu beste-<br />
9
hen, die nun einmal bloß die Aufgabe haben, Vertrauensmänner zu sein —<br />
und die Publikation <strong>de</strong>s Bil<strong>de</strong>s, das einen Grüßer und einen Wagentürlöffner<br />
vor <strong>de</strong>m Arbeiterheim zeigt, war ein unvorgesehener Zwischenfall —, so bedarf<br />
es immerhin <strong>de</strong>s Tonfalls, um sich vor Mißtrauischen ins Positive hinüberzubiegen.<br />
Dazu ist das Wort:<br />
Wir sind alte Gegner Schobers<br />
wie geschaffen. Sein wahrer Sinn wäre, daß wir seit alter Zeit und eben bis<br />
heute seine Gegner sind. Davon soll etwas in die Vorstellung <strong>de</strong>r Arbeiterschaft<br />
übergehen. Herr Schober jedoch — <strong>de</strong>r in so problematischen Fällen<br />
ehe<strong>de</strong>m Herrn El<strong>de</strong>rsch zu sich berief — mag entnehmen, daß wir einmal seine<br />
Gegner waren, welcher Version ja durchaus die Fortsetzung entspricht,<br />
daß »wir mit ihm schwere und heftige Kämpfe geführt haben«. <strong>Die</strong> Frage, wie<br />
<strong>de</strong>nn diese Kämpfe ausgegangen sind, liegt zwar nahe, aber die Gefahr, daß<br />
sie von <strong>de</strong>r Arbeiterschaft gestellt wird, ist weit. Wenn die Kämpfe mit unserem<br />
Sieg geen<strong>de</strong>t haben, wie kommt es dann, daß es Herrn Schober noch und<br />
immer wie<strong>de</strong>r noch gibt und selbst gibt, ob er nun Herrn Curtius in Genf um<br />
die Zollunion gebracht hat (weil er <strong>de</strong>n Ehrgeiz hatte, sein Elaborat englisch<br />
zu lesen und Herr Hen<strong>de</strong>rson ihn dann in freier Zwiesprache zwang, sich auf<br />
englisch aus <strong>de</strong>r Zollunion zu empfehlen) o<strong>de</strong>r ob Herrn Briand die <strong>Ehre</strong>nlegion<br />
reuen mag. Wenn aber die Kämpfe, wie zu vermuten, mit unserer Nie<strong>de</strong>rlage<br />
geen<strong>de</strong>t und zu unserer Unterwerfung geführt haben; wenn das Ge<strong>de</strong>nken<br />
dieser Kämpfe verdrängt ist durch die Erinnerung an die gemeinsam erlittene<br />
Schmach <strong>de</strong>r Bekessyzeit, die bei<strong>de</strong> alten Gegner als Narbe ziert; wenn die<br />
Unwür<strong>de</strong>nträger von damals wie<strong>de</strong>r zu einan<strong>de</strong>r kamen: was soll dann <strong>de</strong>r<br />
Hinweis auf die verblichene Gegnerschaft, <strong>de</strong>r doch kein Lorbeer mehr abzuringen<br />
ist? Wahrlich, es wäre logischer, wenn das Zentralorgan einen an<strong>de</strong>rn<br />
Gesinnungswechsel, nämlich <strong>de</strong>n zu einem Angriff gegen mich, mit <strong>de</strong>r Versicherung<br />
einleiten wollte: Wir sind alte Verehrer <strong>de</strong>s Karl Kraus, aber es muß<br />
bedauert wer<strong>de</strong>n, daß er die Sache <strong>de</strong>r einfachen bürgerlichen Ehrbarkeit im<br />
Stich gelassen hat. Denn erstens wäre es nicht gar so absurd, zu glauben, daß<br />
ich nicht viel von <strong>de</strong>r einfachen bürgerlichen Ehrbarkeit halte, seit <strong>de</strong>ren sozial<strong>de</strong>mokratische<br />
Bekenner sie im Fall Bekessy preisgaben, und zweitens weiß<br />
ich, daß ich unter ihnen noch Verehrer habe.<br />
UNMÖGLICH!<br />
Wie wir bereits berichtet haben, sind Seipels Verhandlungen mit<br />
<strong>de</strong>n Groß<strong>de</strong>utschen in <strong>de</strong>r Nacht zum Samstag gescheitert. Er hatte<br />
sich als Finanzminister <strong>de</strong>n Dr. Kienböck ausersehen, <strong>de</strong>n Advokaten<br />
<strong>de</strong>s Herrn Sieghart und <strong>de</strong>r zusammengebrochenen Bo<strong>de</strong>nkreditanstalt<br />
— —<br />
Gewiß sehr arg, und keinem sozial<strong>de</strong>mokratischen Führer wür<strong>de</strong> es heute<br />
noch einfallen, bei Sieghart Shimmy zu tanzen.<br />
NIEMALS!<br />
Seipel suchte Schober persönlich in <strong>de</strong>r Polizeidirektion auf, um<br />
ihn zum Eintritt in eine Regierung Seipel—Kienböck zu bewegen.<br />
Schober lehnte aber wie<strong>de</strong>r ab — —<br />
10
<strong>Die</strong>smal konnte sich einer auf das, was ihm in <strong>de</strong>r Polizeidirektion gesagt wur<strong>de</strong>,<br />
verlassen; da war das Gegenteil we<strong>de</strong>r zu erhoffen, noch zu befürchten.<br />
<strong>Die</strong> Rückenstärkung war durch <strong>de</strong>n großen Bru<strong>de</strong>r erfolgt, <strong>de</strong>r trotz <strong>de</strong>r Genfer<br />
Enttäuschung noch immer Wert darauf legt, Hand in Hand <strong>de</strong>r Sonne entgegenzugehen<br />
o<strong>de</strong>r Arm in Arm das Jahrhun<strong>de</strong>rt in die Schranken zu for<strong>de</strong>rn.<br />
Ferner wäre auch zu zitieren, daß nichtswürdich die Nation ist, die nicht ihr<br />
Alles freudich setzt an ihra Ehra, und zwar gegenüber Frankreich, das heißt<br />
wegen <strong>de</strong>s »französischen Erpressungsversuchs«, über <strong>de</strong>n sich Groß<strong>de</strong>utsche<br />
und Sozial<strong>de</strong>mokraten mit jenern gemeinsamen Pathos entrüsten, das im<br />
politischen Geschäft <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn die Moral vermißt und für das eigene vorrätig<br />
hat. Der Auffassung gemäß, daß Österreich streng beaufsichtigt wer<strong>de</strong>n müsse,<br />
um seine volle Selbständigkeit zu behaupten, sollte nämlich <strong>de</strong>r französische<br />
Kredit mit <strong>de</strong>m formellen Verzicht auf die Zollunion erkauft wer<strong>de</strong>n,<br />
nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r englische auf die gemütliche Genfer Aussprache hin bereits eingegangen<br />
o<strong>de</strong>r doch zugesagt war. Schober, im Verkehr mit Erpressern geübt,<br />
soll infolge<strong>de</strong>ssen ein nackensteifes: Niemals! (o<strong>de</strong>r gera<strong>de</strong>zu: Jamais!),<br />
das zum geflügelten Wort wer<strong>de</strong>n dürfte, ausgerufen haben. Viel kräftiger als<br />
Bismarcks »Nach Canossa gehen wir nicht!« Es sei, hieß es, sogar die Zumutung<br />
gestellt wor<strong>de</strong>n, nach Paris über das fernere Wohlverhalten<br />
einen in säuberlichem Französisch entworfenen Brief<br />
zu schreiben. <strong>Die</strong>se alberne Version dürfte aber bloß auf Gerüchte zurückzuführen<br />
sein, die nach <strong>de</strong>r englischen Re<strong>de</strong> Schobers in Genf entstan<strong>de</strong>n sind.<br />
Denn da hätte es wirklich nur die Antwort gegeben: Niemals!<br />
CONSECUTIO TEMPORUM<br />
— — Der österreichische Außenminister gab die einzig mögliche<br />
Antwort: Niemals! Er dürfte wohl nicht verfehlt haben, <strong>de</strong>n übrigen<br />
Mächten, die sich für das Schicksal Österreichs interessieren,<br />
von diesem Ultimatum Kenntnis zu geben. Bevor irgend sonst jemand<br />
Zeit fand, auch nur ein Wort <strong>de</strong>r Entrüstung zu sagen,<br />
schoß die Bank von England <strong>de</strong>n Österreichern das Geld vor.<br />
Daß niemand Zeit fand, wäre vielleicht dann begreiflich, wenn die Leistung<br />
o<strong>de</strong>r wenigstens die Zusage Englands vor <strong>de</strong>r Antwort an Frankreich erfolgt<br />
wäre.<br />
FACHPROBLEME<br />
— — Daraufhin erklärten sich auch die Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Nationalen<br />
Wirtschaftsblocks bereit, in die Regierung einzutreten. Es wur<strong>de</strong><br />
ihnen das Justizportefeuille angetragen. Im Groß<strong>de</strong>utschen Klub<br />
dachte man zunächst daran, Abgeordneten Dr. Hampel in die Regierung<br />
zu entsen<strong>de</strong>n, da Dr. Schürft einen Ministerposten nicht<br />
mehr übernehmen wollte. Dr. Hampel lehnte jedoch die Berufung<br />
mit <strong>de</strong>m Hinweise darauf ab, daß er nicht Jurist sei. Es wur<strong>de</strong> daher<br />
Dr. Schürff, gebeten, seinen Wi<strong>de</strong>rstand aufzugeben ... Dr. Buresch<br />
hatte inzwischen <strong>de</strong>m Vizekanzler Dr. Schober einen Besuch<br />
abgestattet und mit ihm die notwendigen Vereinbarungen getroffen.<br />
11
Der jedoch keineswegs die Berufung zum Minister <strong>de</strong>s Äußern mit <strong>de</strong>m Hinweis<br />
darauf abgelehnt hat, daß er kein Diplomat sei.<br />
UNSERE HEILIGSTE PFLICHT<br />
ist es, die wirtschaftliche Besserung mit aller Kraft anzustreben<br />
sagte Schober im Burgenland, das er, seit<strong>de</strong>m es <strong>de</strong>m Deutschtum wie<strong>de</strong>rgegeben<br />
ist, als zweite Heimat betrachte. Wenn es bei Ungarn geblieben wäre,<br />
hätte er, ohne mit <strong>de</strong>r Wimper zu zucken, sich mit Oberösterreich begnügt,<br />
weil man da halt nichts machen kann. Aber nun, da es an<strong>de</strong>rs gekommen ist,<br />
konnte er geloben:<br />
Ich wer<strong>de</strong> alles aufbieten, um auf <strong>de</strong>m beschrittenen Weg zum<br />
Wohlstand unseres Lan<strong>de</strong>s weiterzugehen.<br />
<strong>Die</strong>ser Leitgedanke liege selbstre<strong>de</strong>nd auch <strong>de</strong>r Zollunion zugrun<strong>de</strong>. (Zugrun<strong>de</strong>,<br />
wie<strong>de</strong>rholte das Echo.) Feuerwehren, Turnerschaft und Bevölkerung von<br />
Poppendorf, Wallendorf und Jennersdorf veranstalteten einen Fackelzug. Je<strong>de</strong>s<br />
Wort ein Vermächtnis; und die Neue Freie Presse fügte hinzu:<br />
Der politische Charakter dieser Reise Dr. Schobers wi<strong>de</strong>rlegt am<br />
besten die niedrigen Anwürfe über ein angebliches Weekend <strong>de</strong>s<br />
Vizekanzlers.<br />
Es sei eine Fahrt gewesen, die zu seinen Pflichten gehört hat, und kein Weekend,<br />
wie<strong>de</strong>rholt sie. Es war mehr als das. Rom, Paris, London, Genf und Jennersdorf:<br />
Ottokars Glück und Weekend. Und vielleicht kann <strong>de</strong>r Historiker,<br />
<strong>de</strong>r einmal Prophet war, doch noch <strong>de</strong>r europäischen Figur zu <strong>de</strong>m Recht verhelfen,<br />
das sich in <strong>de</strong>n Wechselfällen <strong>de</strong>s Geschicks verzettelt hat.<br />
NATURGEMÄSS<br />
— — Man wirft Dr. Schober vor, daß er die Heimwehr zertrümmert<br />
habe. Das ist falsch. Dr. Schober hat sich als Freund <strong>de</strong>r jungen<br />
Bewegung gezeigt, als aber Führer und Nutznießer <strong>de</strong>r Heimwehr<br />
bei ihm vorsprachen und ihn zur Abkehr von seiner beschwornen<br />
Pflicht veranlassen wollten, da trennte er sich von ihnen.<br />
— —<br />
DAS CREDO SCHOBERS<br />
Unter diesem 'Titel war in Prag die Re<strong>de</strong> veröffentlicht, die er zur Verteidigung<br />
<strong>de</strong>s Gedankens <strong>de</strong>r Zollunion in einer Pressekonferenz gehalten hatte<br />
und <strong>de</strong>ren Schluß lautet:<br />
Ich glaube, wir haben unseren Staaten und unserer Bevölkerung<br />
gegenüber, aber auch Europa gegenüber nur eine Pflicht erfüllt.<br />
SYMBOL<br />
12
— — Das Wort »Trinkgeld« scheint im Lexikon <strong>de</strong>s Amerikaners<br />
überhaupt nicht vorzukommen. Ich habe einen Wagentürlaufmacher,<br />
<strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>m Konzerthaus Aufstellung genommen hat, über<br />
seine diesbezüglichen Beobachtungen gefragt. »Seit neune Früh<br />
steh' i da «, sagt er, »und jetzt is zwölfe und i hab' no net an Heller<br />
verdient. Da kummt aner aussi und verlangt a Taxi. I renn, hol'<br />
eahm an Wag'n, helf eahm einsteigen, zieh' mei Kapp'l, mach'n<br />
Wag'nschlag zu, es Auto fahrt weg — und i steh' da.« Der Amerikaner<br />
ist eben <strong>de</strong>r Meinung, daß <strong>de</strong>r Mann dazu engagiert ist, um<br />
vor <strong>de</strong>m Konzerthaus zu stehen und damit nur seine Pflicht erfüllt.<br />
Das sind die Folgen.<br />
EULEN NACH ATHEN<br />
»Gut gegeben« kann man diesmal sagen und nicht nur »Immer <strong>de</strong>rselbe«,<br />
wenn man liest, was Schober auf <strong>de</strong>m Verlegerkongreß gesprochen hat:<br />
Es hieße daher Eulen nach Athen tragen, wollte ich heute neuerdings<br />
über unsere Pflicht, ihre Bemühungen um die Erhaltung und<br />
die Vervollkommnung dieses gewaltigen Instruments, das die<br />
Presse darstellt, zu unterstützen, noch viele Worte verlieren.<br />
Zirka 5000 Eulen habe ich gesammelt, die ich noch einmal auszulassen ge<strong>de</strong>nke.<br />
Ferner verglich er die Zeitung mit <strong>de</strong>r Sonne:<br />
Man erwartet sie täglich wie die Sonne, ohne daran zu <strong>de</strong>nken,<br />
welche Unsumme von Arbeit in je<strong>de</strong>m einzelnen Zeitungsblatt<br />
steckt . . .<br />
Während die Sonne viel leichter zustan<strong>de</strong>kommt und bloß da zu sein hat, damit<br />
ihr die Brü<strong>de</strong>r Hand in Hand entgegengehen. Er meinte, daß überhaupt<br />
die Güter <strong>de</strong>r Zivilisation »im allgemeinen nicht nach Gebühr geschätzt wer<strong>de</strong>n«,<br />
und zitierte zu diesem Behufe das Wort:<br />
Was du ererbt von <strong>de</strong>inen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.<br />
Was die Zollunion anbelangt, so<br />
hielten wir es für unsere Pflicht, nicht nur gegenüber unserem<br />
Volke, son<strong>de</strong>rn gegenüber ganz Europa, die Initiative zu ergreifen.<br />
Europa hat sich freilich als pflichtvergessen erwiesen; aber er habe sich doch<br />
zu einer Bemerkung verpflichtet gefühlt usw. Zum Schluß zitierte er »unsere<br />
alte Volkshymne«, nach <strong>de</strong>r wir pflichtgemäß<br />
mit vereinten Kräften gleichem Ziel entgegengehen<br />
müssen, wozu es eben <strong>de</strong>r Mithilfe <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Zeitungen bedürfe, die aber<br />
auch schon wissen, daß unser Schober viel zu schlicht ist, als daß man ihm<br />
trauen könnte.<br />
ENTSETZEN IN GENF<br />
Das Berliner Tageblatt, für das die österreichische Sozial<strong>de</strong>mokratie<br />
seit jeher eine ihrer stärksten Schwächen hat, ließ sich am 25. Mai an erster<br />
Stelle unter <strong>de</strong>m großen Titel<br />
Eindrücke von <strong>de</strong>r Genfer Tagung<br />
Curtius und Schober<br />
13
»von einem Teilnehmer und genauen Beobachter <strong>de</strong>r Genfer Beratungen« das<br />
Folgen<strong>de</strong> erzählen:<br />
Es war eine Überraschung und für die Deutschen eine Genugtuung,<br />
daß <strong>de</strong>r Reichsaußenminister Curtius eine vorzügliche Figur<br />
in <strong>de</strong>r schwierigen Situation gemacht hat. Er hat auch das Amt<br />
<strong>de</strong>s Vorsitzen<strong>de</strong>n mit Wür<strong>de</strong> und Haltung verwaltet. — — Sein<br />
persönlicher Erfolg be<strong>de</strong>utet um so mehr, als die Situation im ganzen<br />
für Deutschland von vornherein verloren war. — —<br />
Der österreichische Vizekanzler Schober hat sich dadurch nicht<br />
genützt, daß er darauf bestand, englisch zu sprechen. Sein Akzent<br />
erregte gera<strong>de</strong>zu Entsetzen, und man weiß seit langem, daß solche<br />
sprachliche Kleinigkeiten in Genf eine größere Wirkung tun,<br />
als es sachlich gerechtfertigt ist. Er zeigte außer<strong>de</strong>m eine bemerkenswerte<br />
Eitelkeit, was seine Beliebtheit nicht gesteigert hat.<br />
<strong>Die</strong> altösterreichische Höflichkeit und Liebenswürdigkeit, die man<br />
auch an ihm schätzt, verlor dadurch etwas. Aber er schnitt doch<br />
nicht ganz schlecht ab, <strong>de</strong>nn es gelang ihm, die Gründung eines<br />
»österreichischen Komitees« zu verhin<strong>de</strong>rn — es wur<strong>de</strong> schon<br />
überall über ein »Bestechungskomitee « gespöttelt —, und er hat<br />
damit offenbar unter wohlwollen<strong>de</strong>r Unterstützung Englands o<strong>de</strong>r<br />
vielleicht sogar auf Englands geheime Anregung eine weitere Beeinträchtigung<br />
<strong>de</strong>r österreichischen Unabhängigkeit verhin<strong>de</strong>rt.<br />
Hen<strong>de</strong>rson hat Österreich auch dadurch geholfen, daß er Schober<br />
plötzlich die überraschen<strong>de</strong> Frage wegen <strong>de</strong>s Fortgangs <strong>de</strong>r österreichisch—<strong>de</strong>utschen<br />
Verhandlungen stellte. Denn hätte er damit<br />
nicht vorgegriffen, wür<strong>de</strong> die gleiche Anfrage, aber in ganz wesentlich<br />
schärferer Formulierung, von Briand gekommen sein.<br />
Trotz<strong>de</strong>m liegt in Schobers Antwort die eigentliche Nie<strong>de</strong>rlage,<br />
die die Zollunionsmächte über das unvermeidliche Maß hinaus in<br />
Genf erlitten haben. Denn die Situation ist jetzt die, daß Österreich<br />
mit je<strong>de</strong>m Land unterhan<strong>de</strong>ln darf, nur mit Deutschland<br />
nicht. Seine Gebun<strong>de</strong>nheit ist einseitig und von völlig außergewöhnlicher<br />
Strenge. — —<br />
Ganz im Wi<strong>de</strong>rspruch also zu <strong>de</strong>m günstigen Eindruck, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r König von<br />
England von <strong>de</strong>m Englisch unseres Repräsentanten hatte, welcher die Vervollkommnung<br />
auf die Gelegenheit zurückführen konnte, Seiner Majestät Vater in<br />
Marienbad überwachen zu dürfen, und stolz davon in einem Interview erzählt<br />
hat.<br />
WER IST DAS?<br />
Er kann so und er kann auch an<strong>de</strong>rs; seine Persönlichkeit gibt keine<br />
Gewähr für <strong>de</strong>n Kurs seiner Regierung.<br />
Weil er es nämlich eine Zeit lang mit <strong>de</strong>r Heimwehr hielt. Aber gemeint ist<br />
Herr Buresch.<br />
UND DAS?<br />
Es ist eine bürgerliche Regierung, die da gebil<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n ist. Und<br />
schon die Tatsache, daß auch dieser Regierung wie<strong>de</strong>r Herr — —<br />
14
angehört, ist für uns Sozial<strong>de</strong>mokraten Grund genug, dieser Regierung<br />
keinen Vorschuß an Vertrauen zu gewähren.<br />
Nämlich unter sämtlichen vorrätigen Klebern, die schon als solche stigmatisiert<br />
waren, Herr Vaugoin. An<strong>de</strong>ren kann wie<strong>de</strong>r vertraut wer<strong>de</strong>n.<br />
ABER DAS!<br />
So mußten sie sich schließlich bequemen, eine Regierung ohne<br />
Seipel und ohne Kienböck zu bil<strong>de</strong>n und in sie <strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Seipeloten<br />
so verhaßten — — doch wie<strong>de</strong>r aufzunehmen.<br />
DER KLEBER<br />
Der größte Teil <strong>de</strong>r bisherigen Minister wird von <strong>de</strong>r neuen Regierung<br />
übernommen. Vizekanzler und Außenminister ist wie<strong>de</strong>r<br />
Schober<br />
[; Innenminister <strong>de</strong>r Landbündler Winkler; Heeresminister <strong>de</strong>r<br />
Vaugoin],<br />
<strong>de</strong>r einfach in je<strong>de</strong>r Regierung kleben bleibt, obwohl er für je<strong>de</strong><br />
Regierung die stärkste Belastung ist.<br />
Einstmals hätte <strong>de</strong>r Passus auch ohne die eingeklammerte Zeile erscheinen<br />
können.<br />
DER ENTGEGENKOMMER<br />
<strong>Die</strong> Jovialität, mit <strong>de</strong>r er alle politischen Fragen, und seien es die<br />
schwersten, zu behan<strong>de</strong>ln versucht — — ermöglicht es ihm auch,<br />
sich sehr rasch über Grundsätze, die er bisher verfochten hat, hinwegzusetzen.<br />
So hat er es auch mit <strong>de</strong>r Heimwehr gehalten: eines<br />
Tages ist er mit einem Hahnenschwanz am Hut aufgewacht, und<br />
eines Tages hat er wie<strong>de</strong>r versucht. vergessen zu lassen, welchen<br />
Kopfputz er zwei Jahre lang getragen hat ...<br />
Aber nein, es ist von Herrn Buresch die Re<strong>de</strong>.<br />
»WAS WIRD SCHOBER TUN?«<br />
fragt man in Berlin, da sein groß<strong>de</strong>utsches Organ nicht nur entgegen <strong>de</strong>r Entscheidung<br />
<strong>de</strong>s Verfassungsgerichtshofs das Rasserecht <strong>de</strong>r Universität, son<strong>de</strong>rn<br />
auch das Staatsbürgerrecht »nach <strong>de</strong>m Grundsatz <strong>de</strong>r rassischen Volkszugehörigkeit«<br />
reklamiere, nach<strong>de</strong>m er selbst einst auf <strong>de</strong>m Wege <strong>de</strong>r Jüdischen<br />
Telegraphenagentur für die staatsbürgerliche Gleichheit <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n voll<br />
und ganz eingetreten sei.<br />
Wird die groß<strong>de</strong>utsche Parteileitung <strong>de</strong>m Beschluß <strong>de</strong>s Verfassungsgerichtshofs<br />
Rechnung tragen? Schwerlich. Also wird Schober<br />
die offizielle Führung <strong>de</strong>r Groß<strong>de</strong>utschen — wenn er auch<br />
nicht ihr Klubobmann ist, so ist er doch ihr Parteiführer — nie<strong>de</strong>rlegen?<br />
15
Er wird ein Bekenntnis <strong>de</strong>r staatsbürgerlichen Gleichheit <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n nie<strong>de</strong>rlegen.<br />
Was voll und ganz ausreichen wird, um ihm<br />
die einmütige Unterstützung <strong>de</strong>r liberalen und <strong>de</strong>mokratischen<br />
Wähler, die Schober um seiner Persönlichkeit willen bei <strong>de</strong>n Nationalratswahlen<br />
im Herbst fand,<br />
auch für die Präsi<strong>de</strong>ntenwahl, um <strong>de</strong>ren Ausgang das Berliner Tageblatt besorgt<br />
ist, zu sichern. Er wird hinsichtlich je<strong>de</strong>r Richtung seine Pflicht erfüllen.<br />
Wem eben diese Fähigkeit, aus überparteilichem Denken die jeweils gegebene<br />
Konsequenz zu ziehen, Zweifel weckt, <strong>de</strong>m ist nicht zu helfen, er bleibt<br />
<strong>de</strong>m Zauber entrückt, <strong>de</strong>r ein Symbol <strong>de</strong>r Rechenschaft überhebt. Ö<strong>de</strong> Rationalisiert,<br />
die ein Blümlein fragen, warum es blüht, einen Vogel, warum er<br />
singt. Sie begreifen gewiß nicht einmal, daß, wenn in <strong>de</strong>r »Prinzessin von Trapezunt«<br />
Jäger auftreten, sie nicht jagen, son<strong>de</strong>rn singen. Was Schober tun<br />
wird? »Singen wird er halt!«<br />
DER TREUE ECKART<br />
beginnt allmählich das Pech zu haben, daß man ihm mißtraut o<strong>de</strong>r wenn wir<br />
ihn lieber für <strong>de</strong>n Winkelried nehmen wollen, als <strong>de</strong>r er sich einst vorgestellt<br />
hat, so geschieht es ihm, daß man ihm nicht über die Gasse <strong>de</strong>r Freiheit traut.<br />
Es kommt jetzt <strong>de</strong>r von mir an die Wand gemalte Teufel zum Vorschein. »Verhüte<br />
Gott«, schrieb ich im Mai 1930, »daß dieser Lippowitz die einzige Autorschaft,<br />
die ihm zuzuschreiben ist, die an <strong>de</strong>r Gestalt Schobers, enthülle, wie<br />
soeben Lu<strong>de</strong>ndorff sich <strong>de</strong>r Erschaffung Hin<strong>de</strong>nburgs gerühmt hat!« Er enthüllt.<br />
Für je<strong>de</strong> geopferte Masseuse baut er ein Stück <strong>de</strong>r Autorität <strong>de</strong>s Großkanzlers<br />
ab. Den reitet jener Teufel und er muß sich, ausgerechnet in Dres<strong>de</strong>n,<br />
gegen Anwürfe, über die er sonst zur Tagesordnung schreitet, verteidigen<br />
lassen. Er hat bekanntlich an <strong>de</strong>r Heimwehr so gehan<strong>de</strong>lt wie an mir, an<br />
Frankreich, an Bekessy, an Deutschland, an Lippowitz, an allen, <strong>de</strong>nen er mit<br />
Treu und Redlichkeit beistehen wollte. Da läßt er erklären, er habe sich von<br />
<strong>de</strong>r Heimwehr, <strong>de</strong>ren Pabst 1 er bei sich amtieren ließ, erst getrennt, als sie<br />
ihn vom Wege <strong>de</strong>r Pflicht abbringen wollte. Und schon taucht Banquos Geist<br />
im Neuen Wiener Journal auf und erinnert seinen Macbeth daran, daß er treu<br />
und redlich mit jenen über die Diktatur gepackelt habe, bis sich ihm die Führer<br />
<strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie ergaben und ihn auf <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r Pflicht zurückführten,<br />
»Schobers fast kindliche Eitelkeit«, schreibt Lippowitz — <strong>de</strong>r ihn bereits<br />
auf eine Stufe mit mir stellt —, lasse ihn nicht ruhen, wenn einmal »ein kritisches<br />
Wort über sein seltsames Tun und Lassen fällt«, und nun behauptet er<br />
(9. Juli) nicht weniger als dies:<br />
Schober war nicht nur zur Verlegung <strong>de</strong>s Parlaments nach Kremsmünster,<br />
wo es unter Druck <strong>de</strong>r Selbstschutzverbän<strong>de</strong> gestellt<br />
wer<strong>de</strong>n sollte, bereit, son<strong>de</strong>rn auch zur Besetzung <strong>de</strong>s Wiener<br />
Rathauses und Einsetzung eines Regierungskommissärs für die<br />
bolschewistische Stadtverwaltung an Stelle <strong>de</strong>r Herren Seitz und<br />
Breitner.<br />
<strong>Die</strong>se Absicht hatte <strong>de</strong>r jetzige Vizekanzler vor Politikern und Publizisten<br />
in lehrreichen Gesprächen auseinan<strong>de</strong>rgesetzt, und die<br />
Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Anschauungen war erst eingetreten, als seine persönliche<br />
Eitelkeit durch die in <strong>de</strong>n bekannten, am Schottenring 11<br />
1 Major Pabst, Heimwehrführer<br />
16
erliegen<strong>de</strong>n Protokollen festgehaltene Abbitte <strong>de</strong>r sozial<strong>de</strong>mokratischen<br />
Führer befriedigt war. (Daß er Protokolle abfaßte, ist bei<br />
einem gewesenen Polizeipräsi<strong>de</strong>nten nur zu begreiflich!)<br />
Darauf erfolgte (10. Juli) eine Erklärung <strong>de</strong>s Vizekanzlers:<br />
Gegenüber <strong>de</strong>n in einem gestrigen Wiener Blatte veröffentlichten<br />
Behauptungen, Vizekanzler Dr. Schober sei, bevor er Bun<strong>de</strong>skanzler<br />
wur<strong>de</strong>, notorisch zu all <strong>de</strong>m bereit und entschlossen gewesen,<br />
was er, nach<strong>de</strong>m er in Amt und Wür<strong>de</strong>n war, als seiner beschwornen<br />
Pflicht wi<strong>de</strong>rsprechend erklärte, ersucht Vizekanzler Dr.<br />
Schober festzustellen, daß diese Mitteilung unwahr ist. Nach <strong>de</strong>m<br />
Tag von St. Lorenzen (18. August 1929) waren die Heimwehren zu<br />
einem Putsch entschlossen, und es war die natürliche Aufgabe <strong>de</strong>s<br />
damaligen Leiters <strong>de</strong>s <strong>Die</strong>nstes <strong>de</strong>r öffentlichen Sicherheit, <strong>de</strong>s<br />
Polizeipräsi<strong>de</strong>nten Schober, <strong>de</strong>n in Betracht kommen<strong>de</strong>n Heimwehrführern<br />
das Unsinnige und Unmögliche ihres Planes darzulegen<br />
und ihnen auch zu erklären, daß sie mit <strong>de</strong>r geschlossenen<br />
Abwehr durch die legalen Machtmittel <strong>de</strong>s Staates — Bun<strong>de</strong>sheer,<br />
Gendarmerie und Polizei — zu rechnen hätten. — — Damit sind<br />
auch die übrigen phantastischen Behauptungen <strong>de</strong>sselben Artikels<br />
abgetan.<br />
<strong>Die</strong> natürliche Aufgabe <strong>de</strong>s damaligen Leiters wäre statt Darlegung und Erklärung<br />
Verhaftung gewesen. Macht nun schon die jetzige Erklärung klar, daß<br />
<strong>de</strong>m Vorwurf <strong>de</strong>r Untreue mit einem Faktum aus <strong>de</strong>r Zeit eben dieser — <strong>de</strong>ssen<br />
Wahrheit vorausgesetzt — entgegnet wird, so tut Lippowitz, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r<br />
Zeit <strong>de</strong>r Großkanzlerschaft die strenge Massage gelernt hat, ein Übriges, in<strong>de</strong>m<br />
er (11. Juli) das Folgen<strong>de</strong> veröffentlicht:<br />
Hat Schober einen Doppelgänger?<br />
Interessante Behauptungen eines ehemaligen Abgeordneten.<br />
Ein ehemaliger prominenter Abgeordneter sen<strong>de</strong>t uns eine Zuschrift,<br />
in <strong>de</strong>r es unter an<strong>de</strong>rem heißt: »Wenn <strong>de</strong>r Vizekanzler<br />
Schober jetzt <strong>de</strong>mentiert, daß er irgendwann mit <strong>de</strong>n Heimwehren<br />
weit ausgreifen<strong>de</strong> Pläne diskutiert habe, so wird man nicht annehmen<br />
können, daß <strong>de</strong>r Vizekanzler etwa lügt. Infolge<strong>de</strong>ssen bleibt<br />
nur <strong>de</strong>r Schluß, daß in <strong>de</strong>n Monaten August und September 1929<br />
offenbar ein Doppelgänger, täuschend ähnlich in Maske und Stimme<br />
<strong>de</strong>m damaligen Polizeipräsi<strong>de</strong>nten, in <strong>de</strong>n Räumen am Schottenring<br />
11 Politikern und Publizisten gegenüber erklärt habe, er<br />
sehe keinen an<strong>de</strong>ren Ausweg aus <strong>de</strong>r Situation als Verlegung <strong>de</strong>s<br />
Parlaments nach Kremsmünster, wozu das Gesetz die Handhabe<br />
gebe, und Stellung <strong>de</strong>s Nationalrates dort unter Druck <strong>de</strong>r Heimwehren.<br />
Derselbe Doppelgänger sprach auch von <strong>de</strong>r Besetzung<br />
<strong>de</strong>s Rathauses unter Einsetzung eines städtischen Kommissärs für<br />
Wien. <strong>Die</strong>ser Doppelgänger müßte nach meiner Meinung unter<br />
Zuhilfenahme einer <strong>Ehre</strong>nwache raschest interniert wer<strong>de</strong>n, damit<br />
nicht weiterer Scha<strong>de</strong>n für die Allgemeinheit entstehe.«<br />
<strong>Die</strong>se Darstellung, die die verlassene Heimwehr auf einem Niveau <strong>de</strong>r Satire<br />
zeigt, das gewiß nur <strong>de</strong>r Ergiebigkeit <strong>de</strong>s Objektes zu verdanken ist, zielt offenbar<br />
auf eine Stellvertretung durch <strong>de</strong>n armen Peppler, <strong>de</strong>ssen Wacker von<br />
so durchdringen<strong>de</strong>r Wirksamkeit war, daß man eine Erklärung <strong>de</strong>s rätselhaften<br />
Vorgangs hat, wie die ahnungslosen Heimwehrführer durch Maske und<br />
17
Stimme düpiert wer<strong>de</strong>n konnten und man gera<strong>de</strong>zu von einer Düplizität <strong>de</strong>r<br />
Fälle sprechen könnte. Man möchte nun glauben, daß statt eines abermaligen<br />
Dementis — welches <strong>de</strong>nn auch gar nicht versucht wur<strong>de</strong> — wegen <strong>de</strong>r Vorwürfe<br />
<strong>de</strong>s versuchten Verfassungsbruchs, <strong>de</strong>r Felonie und <strong>de</strong>r wenngleich nur<br />
in satirischer Form behaupteten Lüge ein an<strong>de</strong>res Verfahren platzgreifen<br />
müßte. Schon damit die vom Bun<strong>de</strong>sbru<strong>de</strong>r zu erwarten<strong>de</strong> Frage, was Schober<br />
tun wird, einmal die richtige Antwort erhalte. Denn als Lippowitz einst<br />
einen an<strong>de</strong>rn Brief veröffentlichte, sprach ihm jener seinen Dank aus mit <strong>de</strong>r<br />
Begründung:<br />
Wenn <strong>de</strong>r unabhängige Herausgeber <strong>de</strong>s »Neuen Wiener Journals«<br />
sich so zur Polizeibehör<strong>de</strong> und zu ihrem Chef einstellt, so<br />
muß das höher gewertet wer<strong>de</strong>n als Lob und Ta<strong>de</strong>l von Parteiblättern.<br />
Was er tun wird? No, halt auf <strong>de</strong>n Zeppelin schaun:<br />
ES LIEGT AM NAMEN<br />
Für Aufrechterhaltung <strong>de</strong>r Ruhe und Besonnenheit.<br />
Von Oberhausmitglied Dr. Bela Schober.<br />
Generaldirektor <strong>de</strong>r Ungarischen Nationalbank.<br />
Fiebernd suchte <strong>de</strong>r Blick. Da:<br />
— — hielt es die Regierung für ihre Pflicht — —<br />
LEICHT IST ES NICHT<br />
so zwischen links und rechts, rivalisieren<strong>de</strong>n jüdischen Ratgebern, die es zuweilen<br />
hinreißt sich für die Sache <strong>de</strong>r Freiheit einzusetzen und die dann von<br />
18
<strong>de</strong>r sozialistischen Stu<strong>de</strong>ntenschaft zu einem heroischen Kampf gegen »Elemente«<br />
beglückwünscht wer<strong>de</strong>n, und standhalten Bo<strong>de</strong>nständigen, die <strong>de</strong>n<br />
Endsieg dieser Elemente gegen die Legalität durchsetzen möchten, unbeschädigt<br />
zu lavieren. Wie man das macht, da müßten wohl jene die diesbezüglichen<br />
Ezes geben, da sich die an<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>n Belangen schwerer zurechtfin<strong>de</strong>n.<br />
Ich habe es auch nicht leicht und bin, was speziell die Freiheit betrifft, <strong>de</strong>m<br />
Verdacht ausgesetzt, die Sache nicht von <strong>de</strong>r Person trennen zu können. Eine<br />
gewisse Entspannung tritt schließlich insofern ein, als in <strong>de</strong>r publizistischen'<br />
Fülle, die je<strong>de</strong>r Tag bringt, die Sachen <strong>de</strong>m Wechsel unterliegen und die Personen<br />
obenauf bleiben. Irgendwie wird alles gut ausgeben und kein Richter<br />
hat hier die Funktion, daß man ihn brauchen wird, zumal wenn er eh schon<br />
entschie<strong>de</strong>n hat.<br />
ASSIMILATION<br />
ist im politischen Zusammenleben oft zu beobachten. Der markanteste Fall<br />
dürfte <strong>de</strong>r einer Angleichung unserer Sozial<strong>de</strong>mokratie an die Schoberwelt<br />
sein, die sich nunmehr sogar auf die sprachlichen Normen erstreckt. Daß die<br />
sozialistische Stu<strong>de</strong>ntenschaft die Rektorate <strong>de</strong>r Wiener Hochschulen ersucht,<br />
gegen Gewalttäter »rücksichtslos die Polizeigewalt in Anspruch zu nehmen«,<br />
dagegen wäre natürlich von keinem Standpunkt aus etwas einzuwen<strong>de</strong>n, mag<br />
es auch <strong>de</strong>r Presse <strong>de</strong>s Rowdytums eine Erinnerung an jenen 15. Juli nahelegen,<br />
und es hätte höchstens, wenn's politisch noch erlaubt wäre, mit schroffer<br />
Abhebung von <strong>de</strong>m Walten einer Polizeigewalt zu geschehen, <strong>de</strong>ren »alte<br />
Gegner« wir sind. Aber verblüffend ist <strong>de</strong>r völlige Verlust dieses Ge<strong>de</strong>nkens<br />
bis zur Übernahme <strong>de</strong>s ehe<strong>de</strong>m mit Recht verpönten Polizeijargons. <strong>Die</strong> rücksichtslose<br />
Aufbietung <strong>de</strong>r Polizeigewalt soll<br />
gegen diese Elemente<br />
erfolgen, und die sozialistische Stu<strong>de</strong>ntenschaft verspricht, daß sie bei allen<br />
Bemühungen die Rektoren<br />
voll und ganz<br />
unterstützen wer<strong>de</strong>. Mehr kann man schon wirklich nicht verlangen, und es<br />
ist eben nur daraus zu erklären, daß sie sich in ihrer Stellung hinter Schober<br />
in nichts mehr von <strong>de</strong>n Konzeptsbeamten unterschei<strong>de</strong>n wollen. Fehlt nur<br />
noch, daß statt Freiligrath Rückert zitiert wird. Zur politischen Anpassung<br />
auch sprachlich sein Scherflein beizutragen, grenzt je<strong>de</strong>nfalls an Pflichterfüllung.<br />
MARKSTEIN UND NASENSTÜBER<br />
Der Freisinn dagegen spricht so:<br />
Und die Schaffung dieses Marksteins auf <strong>de</strong>m Wege zur wirklich<br />
<strong>de</strong>mokratischen, allen Staatsbürgern auch praktisch gleiches<br />
Recht geben<strong>de</strong>n Republik Österreich, diesen empfindlichen Nasenstüber<br />
für alle reaktionären Dunkelmänner, die da glaubten, es<br />
gebe kein Gewissen und keine Mannhaftigkeit mehr, danken wir<br />
Ihnen, hochverehrter Herr Regierungsrat.<br />
Auch geloben sie:<br />
Es wird uns immer einge<strong>de</strong>nk sein, wie Sie als einziger — —<br />
19
<strong>de</strong>r dann mit <strong>de</strong>n »Denkern und Führern <strong>de</strong>r großen französischen Revolution«<br />
verglichen wird. Unterzeichnet ist es von <strong>de</strong>r »Kanzlei <strong>de</strong>r Deutsch—Demokratischen<br />
Hochschülervereinigung«, einem Vorsitzen<strong>de</strong>n und einem Führer<br />
solcher Schrift. Das Demokratische wäre hinreichend beglaubigt; im Deutschen<br />
wer<strong>de</strong>n wohl, wenn erst die Ruhe fürs Studium wie<strong>de</strong>rhergestellt sein<br />
wird, noch Fortschritte erzielt wer<strong>de</strong>n. Von <strong>de</strong>n Christlichsozialen liegt keine<br />
Kundgebung vor. Sonst bekäme man gewiß zu lesen, daß ihnen die Lorbeerreiser<br />
einge<strong>de</strong>nk sind.<br />
ETWAS VOLLKOMMENES<br />
Aus <strong>de</strong>r Ansprache eines Führers <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Stu<strong>de</strong>ntenschaft:<br />
Wir wollen beweisen, daß wir hinter <strong>de</strong>m Schöpfer <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>ntenordnung,<br />
Prorektor Gleispach, und hinter <strong>de</strong>m <strong>de</strong>rzeitigen Rektor<br />
stehen, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m ganzen aka<strong>de</strong>mischen Senat stets voll und<br />
ganz hinter <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Stu<strong>de</strong>ntenschaft steht.<br />
DIE SPRACHE DER DEUTSCHEN IN OSTERREICH<br />
Der Rassenstreit in <strong>de</strong>utschen Län<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>r noch eine Berechtigung hätte,<br />
wenn eine <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn Rasse die Verhunzung ihrer Sprache zum Vorwurf<br />
machen könnte, müßte längst mit <strong>de</strong>m Einverständnis been<strong>de</strong>t sein, daß keine<br />
<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n die Sprache <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s sprechen kann, und höchstens noch ein<br />
Streit darüber möglich, welche von bei<strong>de</strong>n sie ärger verhunzt. Sicherlich ist<br />
die jüdische Presse vor allem als Sprachver<strong>de</strong>rberin <strong>de</strong>r Ausrottung wert,<br />
aber was soll andrerseits <strong>de</strong>r Ruf »Deutschland erwache!« für einen Sinn haben,<br />
wenn die Bo<strong>de</strong>nständigen außer diesem und <strong>de</strong>m entgegengesetzten Imperativ<br />
keine schwierigere Konstruktion bewältigen können? <strong>Die</strong> <strong>de</strong>utschchristliche<br />
Presse wird doch nicht im Ernst glauben, daß sie mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />
Sprache eine intimere Beziehung unterhält als die an<strong>de</strong>re, die die Weltanschauung<br />
<strong>de</strong>r Kleinen Schiffgasse zu kultureller Geltung bringt? In keiner<br />
Sprache <strong>de</strong>r Welt wäre es möglich, daß die Wortführer <strong>de</strong>r öffentlichen Meinung<br />
sie so wenig beherrschen o<strong>de</strong>r ihr so sorglos dienen, wie es rechts und<br />
links in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschgeschriebenen Presse <strong>de</strong>r Fall ist. Daß ein Pariser Bäcker<br />
besser französisch spricht als <strong>de</strong>r Wiener Zunftgenosse <strong>de</strong>utsch, versteht sich<br />
von selbst, aber er beschämt darin auch <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Leitartikler. Das geringste,<br />
was man von Deutsch<strong>nationale</strong>n verlangen könnte, wäre, sollte man<br />
meinen, daß sie <strong>de</strong>utsch sprechen. Aber sie legen im Gegenteil nicht <strong>de</strong>n geringsten<br />
Wert darauf, in diesem Punkt es <strong>de</strong>n Fremdrassigen zuvorzutun. <strong>Die</strong><br />
sogenannte »Dötz« betätigt je<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn <strong>nationale</strong>n Ehrgeiz eher als <strong>de</strong>n, das<br />
kostbarste Gut <strong>de</strong>r Nation vor <strong>de</strong>m Zugriff <strong>de</strong>r 'Neuen Freien Presse', <strong>de</strong>s<br />
'Tag' und <strong>de</strong>r 'Arbeiter—Zeitung' zu schützen. Daß in diesem eigenartigsten<br />
aller Staatswesen ein ehemaliger Justizminister bei einem Straßenradau zu<br />
tun hat, muß weiter nicht auffallen. Aber noch weniger fällt auf, daß <strong>de</strong>r Herr<br />
Dr. Hueber seinem Blatt die folgen<strong>de</strong> Schil<strong>de</strong>rung gibt.<br />
Auf <strong>de</strong>r Lastenstraße, hinter <strong>de</strong>m Rathaus, bedrängte die Polizei<br />
<strong>de</strong>n Zug <strong>de</strong>r <strong>de</strong>monstrieren<strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten. Als hierbei eine kleine<br />
Gruppe in <strong>de</strong>n Park auf <strong>de</strong>m Friedrich—Schmidt—Platz ausweichen<br />
wollte, riegelte die Polizei <strong>de</strong>n Park ab und drosch mit Gumminiknütteln<br />
rücksichtslos von rückwärts auf die sich bereits auf<br />
20
<strong>de</strong>m Abmarsch befindliche Menge ... Polizisten auf Krafträ<strong>de</strong>rn<br />
fuhren in die Menge, ohne Rücksichtnahme auf die Sicherheit <strong>de</strong>r<br />
Leute.<br />
<strong>Die</strong> sich dort befindliche Polizei dürfte wohl <strong>de</strong>n Hakenkreuzlern zarter entgegengekommen<br />
sein, als diese allerorten <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache. Schon »nach<br />
rückwärts« ist <strong>de</strong>m Sprachgefühl entgegengerichtet; »von rückwärts« kann<br />
man nicht einmal geschlagen wer<strong>de</strong>n, geschweige <strong>de</strong>nn schlagen. Er wollte<br />
sagen »von hinten«. Das einzige <strong>de</strong>utsche Wort ist »Krafträ<strong>de</strong>r«. Welch ein<br />
Bild <strong>de</strong>s Jammers, von <strong>de</strong>utschen Männern auf die sich bereits auf <strong>de</strong>m Rückzug<br />
befindliche <strong>de</strong>utsche Sprache so rücksichtslos von rückwärts ohne je<strong>de</strong><br />
Rücksichtnahme auf die Frem<strong>de</strong>n gedroschen zu sehn!<br />
MANGEL AN SCHWUNG UND ELAN<br />
Daß die Sozial<strong>de</strong>mokraten die Erbärmlichkeit, mit Herrn Seipel eine Regierung<br />
zu bil<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn doch nicht riskieren konnten (und es vorziehen durften,<br />
Herrn Schober in eine an<strong>de</strong>re zu setzen) wird vom Rabbiner <strong>de</strong>s Freisinns<br />
wie folgt beklagt:<br />
— — Es ist also auch von dieser Seite nicht <strong>de</strong>r Schwung und <strong>de</strong>r<br />
Elan zu spüren, stark genug, um sich über alle Hin<strong>de</strong>rnisse hinwegzusetzen;<br />
selbst Mißliebiges anzunehmen, auch Peinlichstes<br />
über sich ergehen zu lassen, in <strong>de</strong>m Vollgefühl <strong>de</strong>r ungeheuren<br />
Verantwortung.<br />
»Um Gotteswillen, nicht diese Stimme, nicht diese Stimme!« Es ausrufend,<br />
warf einst Frank We<strong>de</strong>kind eine Aufführung hin, als ihn <strong>de</strong>r Veranstalter wegen<br />
eines Zwischenfalls beruhigen wollte. So möchte man diesem ganzen<br />
Wirrwarr von Troglodyteninteressen, genannt Vaterland, <strong>de</strong>n Rücken kehren,<br />
wenn noch diese Vorbeterstimme hineintönt:<br />
Macht Schluß mit <strong>de</strong>r Verwirrung!<br />
EIN VOLLTREFFER<br />
Ein Festgruß <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Gästen.<br />
Anläßlich <strong>de</strong>s Kongresses <strong>de</strong>utscher Verleger.<br />
Wien, 31. Mai.<br />
Dürfen wir Feste feiern mitten in <strong>de</strong>r Not <strong>de</strong>s Augenblicks? Haben<br />
wir, <strong>de</strong>utsche und österreichische Presse, das Recht, unsere geistige<br />
Gemeinschaft zu erhärten, da materielle Bedrängnis die Gemüter<br />
nie<strong>de</strong>rpreßt? — — Wir antworten mit einem herzhaften Ja.<br />
Denn es ist keine gewöhnliche und gleichgültige Feier, um die es<br />
sich han<strong>de</strong>lt; kein müßiges Gere<strong>de</strong>, das sich in seiner eigenen<br />
Nichtigkeit noch aufbläht, es ist eine große Heerschau <strong>de</strong>r Presse<br />
und damit eines <strong>de</strong>r unentbehrlichen Kulturorgane <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen<br />
Volkes, die hier in Wien sich von heute an vollziehen wird, es ist<br />
zugleich ein großer Akt <strong>de</strong>s gegenseitigen Sichkennenlernens, <strong>de</strong>r<br />
von je<strong>de</strong>m Gesichtspunkte aus <strong>de</strong>n höchsten Wert besitzt. Nicht<br />
zu politischen Zwecken im engeren Sinne <strong>de</strong>s Wortes geschieht<br />
diese Tagung, <strong>de</strong>nn die hohe Politik gehorcht manchmal <strong>de</strong>m traurigen<br />
Sprichwort: die Kunst geht nach Brot, Aber <strong>de</strong>r Spruch <strong>de</strong>s<br />
21
Evangeliums ist wahr geblieben: Der Mensch lebt nicht vom Brot<br />
allein. — —<br />
Was ist das gemeinsame Merkmal, das <strong>de</strong>utsche und österreichische<br />
Presse verbin<strong>de</strong>t? Wir möchten es mit einem Worte zu <strong>de</strong>finieren<br />
suchen: Individualismus. — — Nicht nur wir Zeitungsverleger<br />
müssen diesen Typus bewahren, aus Selbstachtung und im Bewußtsein<br />
unserer politischen und wirtschaftlichen Pflichten, nein,<br />
auch <strong>de</strong>r Staat, ja selbst die Regierung müssen diesen Typus aufs<br />
höchste schätzen. Denn so wie <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Journalismus aus<br />
<strong>de</strong>m Gedanken <strong>de</strong>r Aufklärung im heutigen Sinne erwachsen ist,<br />
so wie auf ihm das goldklare Auge Lessings segnend ruht und bei<br />
uns die Humanität von Sonnenfels, so muß <strong>de</strong>r Journalist sich<br />
auch die reinste Tugend dieses Zeitalters bewahren: die durch<br />
nichts zu täuschen<strong>de</strong> Ehrlichkeit, die Weite <strong>de</strong>s Blickes ohne<br />
Rücksicht auf persönliche Umstän<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n intellektuellen Mut,<br />
aber zu gleicher Zeit auch die Wärme <strong>de</strong>s Gemüts, die vor <strong>de</strong>m alles<br />
töten<strong>de</strong>n Verstand rettet.<br />
<strong>Die</strong> <strong>de</strong>utsche Presse wird sich diese erhabene Tradition bewahren,<br />
<strong>de</strong>nn niemand sieht klarer als die Journalisten <strong>de</strong>n Grundgedanken<br />
dieser Zeit, als einer Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Hemmungen, <strong>de</strong>r Geburtswehen,<br />
<strong>de</strong>s langsamen Sichdurchringens zur wahren Befriedung.<br />
Aber diese Hemmungen können nicht so stark sein, daß sie unser<br />
»Inwendiges« zerstören, wie Meister Schönherr gesagt hat. Mag<br />
Alberich auch die Zwerge peitschen im <strong>Die</strong>nste seines Machtwillens.<br />
<strong>Die</strong> Menschheit wird nicht ewig <strong>de</strong>m gehorchen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
Ring <strong>de</strong>s Schreckens besitzt, diesen Ring, <strong>de</strong>r zu gleicher Zeit<br />
auch einen Fluch an sich trägt. — — In diesem Sinne begrüßen<br />
die »Neue Freie Presse« und ihr Herausgeber, begrüßen Wien<br />
und ganz Österreich die Gäste aus <strong>de</strong>m Reiche.<br />
So hat er noch nie gejü<strong>de</strong>lt!<br />
WENN ER DEN DAUMEN HÄLT<br />
jü<strong>de</strong>lt er so:<br />
Wien, 16. Juni.<br />
Es ist ein Wen<strong>de</strong>punkt. <strong>Die</strong>se Äußerung einer <strong>de</strong>r maßgeben<strong>de</strong>n<br />
Persönlichkeiten bleibt kennzeichnend. Eine an<strong>de</strong>re hervorragen<strong>de</strong><br />
Persönlichkeit betonte gestern, so oft man auch durch Hoffnungen<br />
enttäuscht wor<strong>de</strong>n sei, diesmal müsse schon <strong>de</strong>r Name Sir Robert<br />
Kin<strong>de</strong>rsley Bürgschaft dafür bieten, daß es sich nicht wie<strong>de</strong>r<br />
um flüchtige Erscheinungen han<strong>de</strong>lt. Wir glauben uns also nicht<br />
<strong>de</strong>s ungebührlichen, <strong>de</strong>s ruchlosen Optimismus schuldig zu machen,<br />
wenn wir <strong>de</strong>m Gefühl Ausdruck geben: das Ärgste ist überstan<strong>de</strong>n<br />
— —.<br />
Selbst <strong>de</strong>r Name Kin<strong>de</strong>rsley klingt in diesem Mund merkwürdig.<br />
GECHARTERT<br />
22
hat er sich <strong>de</strong>n Zeppelin, zugerufen hat er ihm »Gut Land!«, und bo<strong>de</strong>nständige<br />
Bun<strong>de</strong>sminister haben sich »das rot—weiß—rote Abzeichen <strong>de</strong>r Neuen<br />
Freien Presse sofort angeheftet«, was will man mehr.<br />
WO SIE DEN SOMMER VERBRINGEN<br />
und ich darum nicht, kann man wie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Neuen Wiener Journal erfahren,<br />
während es ohnedies bekannt ist, woran ich arbeite. Zum Beispiel an <strong>de</strong>m<br />
Folgen<strong>de</strong>n:<br />
Franz Lehar.<br />
Ich verbringe <strong>de</strong>n Sommer wie alljährlich im »vielverlästerten«,<br />
aber ebenso »geliebten« Bad Ischl.<br />
Aber weshalb die Anführungszeichen?<br />
Wanda Achsel.<br />
Mein Arzt wünscht, daß ich nach Karlsbad fahre (und Karlchen<br />
Hochsinger dul<strong>de</strong>t keinen Wi<strong>de</strong>rspruch!), ich selbst möchte nach<br />
Italien und meine Freun<strong>de</strong> wollen mich unbedingt per Auto durch<br />
die ganze Schweiz führen. Also wer wird recht behalten? Das ist<br />
hier die Frage, <strong>de</strong>ren Beantwortung ich schuldig bleiben muß.<br />
Man kann gespannt sein, wie das ausgehen wird.<br />
Eines aber ist sicher, daß das »Neue Wiener Journal« mein treuer<br />
Reisebegleiter sein wird, und <strong>de</strong>shalb weiß ich schon im vorhinein,<br />
daß ich mich glänzend unterhalten wer<strong>de</strong>.<br />
<strong>Die</strong> hat wenigstens eine Lösung, während eine Kollegin sich schon durch die<br />
bloße Frage bedrängt fühlt:<br />
Lilli Claus.<br />
Oh, o du schlimmes Wiener Journal!<br />
Nun hast du geschaffen mir Not und Qual<br />
Durch <strong>de</strong>ine Frage; ich habe die Wahl<br />
Noch gar nicht getroffen aus großer Zahl.<br />
Und nach<strong>de</strong>m sie alles reiflich erwogen hat, kommt sie nur zu <strong>de</strong>m Resultat:<br />
So weiß ich heute wirklich noch nicht,<br />
Was heuer im Sommer mit mir geschicht —<br />
»Neues Wiener Journal«, du Bösewicht!<br />
Italien? Schweiz? Ostsee? ich weiß es nicht.<br />
Wie an<strong>de</strong>rs Maikl:<br />
Schwimmend in <strong>de</strong>n Wasserstru<strong>de</strong>ln,<br />
Will ich stärken Geist und Seele,<br />
Und mit Makkaroninu<strong>de</strong>ln<br />
Meinen Leib und meine Kehle.<br />
Also Tenor mit Leib und Seele und überdies, wie er aufklärend mitteilt, gebürtiger<br />
Tiroler. Reimers? Selbstre<strong>de</strong>nd Wik auf Föhr! Eine reichs<strong>de</strong>utsche Sängerin<br />
schwärmt von <strong>de</strong>r schönen Weanastadt und will erst im nächsten Jahr<br />
ihre Zelte<br />
in <strong>de</strong>r Nähe vom »Häuserl am Roan«<br />
aufschlagen. Dagegen zieht es <strong>de</strong>n Herrn Haeussermann — Komiker — nach<br />
Mondsee. Warum aber?<br />
Frag' nicht warum ich gehe,<br />
Frag' nicht warum!<br />
Es ist <strong>de</strong>s Käses Nähe,<br />
Darum! Darum!<br />
23
Dagegen so etwas erfreut doch immer:<br />
Berta Zuckerkandl—Szeps.<br />
Ich wer<strong>de</strong> mich vorerst zwei Monate im Sanatorium »Westend«<br />
bei Purkersdorf einer sehr weise dosierten Erholungskur unterziehen,<br />
wie sie jetzt unter <strong>de</strong>m Namen »Regenerationskur« vielfach<br />
von vielen Ärzten wärmer empfohlen wird, als eine sogenannte<br />
Ferienreise. Dann gehe ich wie alljährlich nach Salzburg zu Max<br />
Reinhardt. — —<br />
(Das ist die Nachkur. Nicht wie<strong>de</strong>rzuerkennen wird sie sein, wenn sie zurückkommt.)<br />
In dieser Gesellschaft beeilt sich nun auch Herr Thomas Mann, <strong>de</strong>m<br />
Neuen Wiener Journal zu antworten, wo er <strong>de</strong>n Sommer verbringen wird.<br />
Schließlich, immerhin besser als wenn man erführe, woran er arbeitet. Während<br />
Herr Walter v. Molo faktisch nicht vor <strong>de</strong>r Drohung zurückschrickt:<br />
Ich verbringe heuer <strong>de</strong>n Sommer in meinem Arbeitszimmer.<br />
WORAN ARBEITEN SIE?<br />
Eine neue Arbeit Einsteins.<br />
Privattelegramm <strong>de</strong>s »Neuen Wiener Journals«.<br />
Berlin, 9. Juni.<br />
In einer Sitzung <strong>de</strong>r physikalisch—mathematischen Klasse <strong>de</strong>r<br />
preußischen Aka<strong>de</strong>mie <strong>de</strong>r Wissenschaften überreichte Professor<br />
Albert Einstein eine Arbeit, betitelt: »Systematische Untersuchung<br />
über kompatible Feldgleichungen, welche in einem Riemannschen<br />
Raum mit Fernparallelismus gesetzt wer<strong>de</strong>n können.«<br />
Es wird eine allgemeine Metho<strong>de</strong> gegeben und durchgeführt, welche<br />
die gewissen entsprechen<strong>de</strong>n kompatiblen Feldgleichungen<br />
für einen Riemann—Raum mit Fernparallelismus systematisch abzuleiten<br />
gestattet. Es ergeben sich so vier verschie<strong>de</strong>ne Gleichungstypen,<br />
von <strong>de</strong>nen zwei die Feldgleichungen <strong>de</strong>r Gravitation<br />
in ihrer bisherigen Form als Son<strong>de</strong>rfall enthalten.<br />
Schön, aber welchen Leser <strong>de</strong>s Neuen Wiener Journals hätte nicht doch mehr<br />
interessiert, wo er <strong>de</strong>n Sommer verbringt!<br />
ELISABETH BERGNER KOMMT IM FLUGZEUG AUS MÜNCHEN<br />
Ferngespräch mit <strong>de</strong>r Künstlerin<br />
Heute abends beginnt im Raimund—Theater das Elisabeth—Bergner—Gastspiel<br />
— —<br />
Elisabeth Bergner war heute vormittags noch in München.<br />
Das Telephongespräch, das einer unserer Mitarbeiter mit ihr angemel<strong>de</strong>t<br />
hatte, weckte sie aus <strong>de</strong>m Schlaf.<br />
Journalistischer Erfolg. Gera<strong>de</strong>zu das Schulbeispiel einer Chuzpe, durch die<br />
möglicherweise das Auftreten gefähr<strong>de</strong>t wird. Anstatt nun einen Tobsuchtsausbruch<br />
zu bekommen, <strong>de</strong>r hier viel berechtigter wäre als nach einer abfälligen<br />
Kritik, gibt sie, um dieser vorzubeugen, Auskunft:<br />
»Ich komme erst drei Stun<strong>de</strong>n vor <strong>de</strong>r Aufführung in Wien an. Ich<br />
habe das Stück ja oft gespielt und führe mein eigenes Ensemble<br />
mit, mit <strong>de</strong>m ich vollkommen eingespielt bin, so daß ich nicht die<br />
kleinste Verständigungsprobe brauche. So ruhe ich mich hier vor-<br />
24
mittags noch aus — ich schlafe, wenn ich nicht geweckt wer<strong>de</strong>,<br />
immer <strong>de</strong>n ganzen Vormittag, weil mich die Tournee sehr anstrengt<br />
— und<br />
schauen Sie, daß Sie weiterkommen? Im Gegenteil.<br />
fliege mit <strong>de</strong>r fahrplanmäßigen Verkehrsmaschine um 14:35 Uhr<br />
nach Wien. Ich soll dort um 17 Uhr eintreffen, so daß mir noch genug<br />
Zeit bleibt, ins Theater zu fahren und mich umzuklei<strong>de</strong>n.<br />
Und nun geht's los. Wie sie sich auf Wien freut, sie ist ja selbst Wienerin und<br />
hat »sogar noch« Verwandte in Wien (Muatterl?), eine ganze Menge Kindheitserinnerungen<br />
sollen bei <strong>de</strong>r Gelegenheit aufgefrischt wer<strong>de</strong>n, dann<br />
geht's auf Erholung, und was die nächsten Pläne betrifft, ach das ist ja alles<br />
erst im September ...<br />
Auf Wie<strong>de</strong>rsehen am Abend.<br />
Kurz, was halt so <strong>de</strong>r Star am Telephon plappern muß, wenn <strong>de</strong>r Herr Ullmann<br />
(aufgewachsen bei mir!) es wünscht. Als ob's die Bursche nicht im<br />
Schlaf verfassen könnten, ohne <strong>de</strong>n <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>rn zu stören. Den kleinen Theaterleuten<br />
wäre gegen die Preßdiktatur noch zu helfen. Aber nichts muß mehr<br />
unterducken, als was prominiert. Man fragte mich, ob ich, alles nie<strong>de</strong>rreißend,<br />
einem Vertreter <strong>de</strong>s heroischen Faches, <strong>de</strong>r sich gegen mich für <strong>de</strong>n<br />
Kerr entschei<strong>de</strong>n mußte, nicht <strong>de</strong>nnoch Gerechtigkeit wi<strong>de</strong>rfahren lasse und<br />
in seinem Ödipus nicht die Elemente tragischer Wirkung erkenne. Doch, erwi<strong>de</strong>rte<br />
ich: er hat Furcht und ich hab Mitleid.<br />
LOHN FÜR TELEPHON<br />
Das Phänomen Elisabeth Bergner ist damit noch lange nicht erschöpft.<br />
Nicht, wie man meint, son<strong>de</strong>rn damit, daß er sie einen »hol<strong>de</strong>n Schmetterling<br />
<strong>de</strong>r Lächerlichkeit« genannt hat. Aber es scheint sich doch auf <strong>de</strong>n telephonischen<br />
Weckruf zu beziehen:<br />
— — Aus dieser verführerisch saloppen Müdigkeit strömt es wie<br />
unendlicher Lebensekel, sanft und unerbittlich. Um diese junge<br />
Frau ist die Melancholie <strong>de</strong>r Abendröte, ist <strong>de</strong>r Reiz einer Ohnmacht,<br />
die alles durchschaut und alles verschmäht.<br />
Nur eben doch nicht, sich in aller Früh von <strong>de</strong>r Presse aufwecken zu lassen.<br />
Darin ist sie ja auch unerreichbar: <strong>Die</strong>sen erschreckten und zugleich<br />
verachtungsvollen Kin<strong>de</strong>rblick kann man nicht imitieren.<br />
Selbst wenn man ihn am Telephon sehen könnte. Nun, etwas Aufgewecktes<br />
war immer in ihrer Art.<br />
Es läge nahe, sie die Hohenfels <strong>de</strong>r intellektuellen Generation dieser<br />
Tage zu nennen.<br />
Welcher intellektuellen Generation <strong>de</strong>nn? Das sollte doch einmal klargestellt<br />
wer<strong>de</strong>n. Warum wird die Generation <strong>de</strong>nn immer intellektuell genannt, die<br />
sich zwischen Berlin, Prag und Wien die ausgesuchtesten Schwachköpfe, bloß<br />
weil sie mit ein paar psychologischen Termini hantieren können, die Adjektivschmuser,<br />
die Bejaher aus Mangel und Polemiker ohne Atem, als Wortführer<br />
gefallen läßt? in einem Privatbrief <strong>de</strong>r sechziger Jahre war mehr Stil als in<br />
einer Nationalbibliothek heutiger Zeitungsbän<strong>de</strong>. Freilich auch aus Mangel an<br />
Telephon weniger Verbindung mit <strong>de</strong>r Presse.<br />
25
ROTARIER<br />
sein erscheint leichter als zu wissen, was es be<strong>de</strong>utet. Ob sie nun eine Art<br />
Freimaurer, Schlaraffen ohne Papierkrone o<strong>de</strong>r Heber <strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>nverkehrs<br />
schlechtweg sind — daß sie die fortschrittliche Entwicklung <strong>de</strong>r Menschheit<br />
durch die Rotationsmaschinen bejahen, ist gewiß. Sie kommen größtenteils<br />
aus <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong>, das <strong>de</strong>r hiesige Humor »Dollarika« nennt. Sind sie für Lynchungen?<br />
Haben sie sich für Sacco und Vanzetti eingesetzt? Wünschen sie,<br />
daß neun Negerknaben <strong>de</strong>r elektrische Stuhl erspart bleibe, o<strong>de</strong>r helfen sie<br />
ihn zurechtmachen? <strong>Die</strong> Sozial<strong>de</strong>mokratie scheint große Hoffnungen auf sie<br />
zu setzen. Wenigstens hat Herr Seitz sie mit <strong>de</strong>n Worten begrüßt:<br />
Rotary ist heute einer <strong>de</strong>r wichtigsten Gedanken, <strong>de</strong>nn worunter<br />
wir alle lei<strong>de</strong>n, alle Völker <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, das ist die Depression <strong>de</strong>r<br />
Weltwirtschaft, das ist die Tatsache, daß die Er<strong>de</strong> zwar Güter genug<br />
hat, um alle Menschen glücklich zu machen, daß aber viele<br />
Menschen von <strong>de</strong>m Genuß dieser Güter ausgeschlossen sind. Viele<br />
tausend und tausen<strong>de</strong> Hän<strong>de</strong> müssen heute feiern.<br />
Rotary wolle nunmehr das erfüllen, was eigentlich das Programm <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokraten<br />
ist:<br />
die neuen Formen zu fin<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Güter— und Warenaustausch<br />
funktionieren kann, und in <strong>de</strong>n <strong>Die</strong>nst <strong>de</strong>r gesamten<br />
Menschheit zu stellen.<br />
Mit Recht meinte Herr Seitz, in <strong>de</strong>r großen Weltmaschinerie stimme irgen<strong>de</strong>twas<br />
nicht, vielleicht sei es nur ein kleines Zahnrad — womit er sinnig auf »Rotarys<br />
Zeichen« anspielte —, vielleicht sei das ganze System falsch. Hier liege<br />
die große Frage, die also nicht, wie man bisher meinte, vom Sozialismus, son<strong>de</strong>rn<br />
die von <strong>de</strong>n Rotariern nun beantwortet wer<strong>de</strong>n soll, und zwar im<br />
<strong>Die</strong>nste <strong>de</strong>r Menschheit.<br />
Denn:<br />
Der Rotarier will sein Leben und das Leben <strong>de</strong>r Völker günstiger<br />
gestalten.<br />
Auch das hat er ja mit vielen Parteigenossen <strong>de</strong>s Bürgermeisters gemeinsam.<br />
Selbst wenn mithin gar kein Grund bestün<strong>de</strong>, daß die Sozial<strong>de</strong>mokraten verzichten,<br />
vielmehr angezeigt wäre, daß bei<strong>de</strong> Interessentengruppen einverständlich<br />
vorgehen, um die neuen Formen für <strong>de</strong>n Güter— und Warenaustausch<br />
zu fin<strong>de</strong>n, so dürfte doch eine Beschaffung neuer Denkformen noch<br />
nicht in Aussicht genommen sein, son<strong>de</strong>rn vorläufig bloß »Das Land <strong>de</strong>s Lächelns«<br />
als Festvorstellung für die Rotarier.<br />
SCHÖNBRUNNER JAUSE FÜR DIE ROTARIER<br />
Minister Heinl und Gattin hatten für gestern nachmittag die Rotarier<br />
nach Schönbrunn zu einer Jause eingela<strong>de</strong>n. Das Blumenparterre<br />
war für die Gäste reserviert, Tausen<strong>de</strong> von Frem<strong>de</strong>n und<br />
sehr viele Wiener hatten sich pünktlich um 5 Uhr bei noch schönem<br />
Wetter in Schönbrunn eingefun<strong>de</strong>n. Auf <strong>de</strong>m Blumenparterre<br />
war ge<strong>de</strong>ckt. Unzählige Tische prangten entzückend im Schmuck<br />
rosiger Heckenröschen. Eine Menge von frohen, eleganten Men-<br />
26
schen, von schönen, elegant geklei<strong>de</strong>ten Frauen strömte über das<br />
Parterre und besetzte die Jausentische. <strong>Die</strong> Jause war wienerisch,<br />
es gab Kaffee mit Schlagobers, Wiener Bäckereien, Eis, Limona<strong>de</strong>n<br />
und österreichische Zigarren und Zigaretten. Ein Flieger<br />
kreiste über <strong>de</strong>m zum Festsaal umgestalteten, herrlichen, historischen<br />
Gartenplatz, kam immer tiefer und warf als Willkomm Blumen<br />
über <strong>de</strong>n Tischen ab. — —<br />
Wiener Blumen? Newyorker »Bäckereien« hätte er — ohne Ahnung <strong>de</strong>s Umstan<strong>de</strong>s,<br />
daß es in Wien Wiener Bäckereien gibt — hinabwerfen können. Aber<br />
bei österreichischen Zigarren und Zigaretten mußte es in Anbetracht <strong>de</strong>r hohen<br />
Gefällsstrafe sein Bewen<strong>de</strong>n haben. Wo gibts das noch auf <strong>de</strong>r weiten<br />
Welt? Und ob in Paris wohl von <strong>de</strong>n vielen Parisern gesprochen wür<strong>de</strong>, die<br />
man bei einer Gelegenheit in Paris bemerkt hat? <strong>Die</strong>se Berichterstattung, die<br />
nicht untergeht, kann von <strong>de</strong>r Vorstellung nicht loskommen, daß einem Automobil<br />
ein Frem<strong>de</strong>r entstieg, während diejenigen, die es umstan<strong>de</strong>n, Wiener<br />
waren. Wie sie ihn anschauen, das eben soll für ihn die Sehenswürdigkeit<br />
sein. Dabei diese Unbefangenheit <strong>de</strong>r Reklamierung von Gütern, die es auch<br />
an<strong>de</strong>rswo gibt. Welche Berichterstattung <strong>de</strong>r Welt wür<strong>de</strong> erwähnen, daß in einem<br />
Restaurant Zigarren und Zigaretten zu haben waren, aber österreichische<br />
sind eine Spezialität, auch wenn es keine »Spezialitäten« sind. Welche<br />
Berichterstattung wür<strong>de</strong> hervorheben, daß es Eis und Limona<strong>de</strong> gegeben hat?<br />
Daß es aber, das Merkmal einer »wienerischen Jause« bil<strong>de</strong>n soll, und so zu<br />
tun, als ob Rotarier zwischen Boston und Konstantinopel <strong>de</strong>rlei noch nie verkostet<br />
hätten und dafür dankbar zu Herrn Heinl emporschauen müßten, ist<br />
einfach eine Frechheit.<br />
ROTARY—JAUSE AUF DEM KOBENZL<br />
Unser herrlicher Kobenzl war gestern nachmittag das Ziel einer<br />
gigantischen Autokarawane, die die Damen <strong>de</strong>r Rotarier zu einer<br />
echten Wiener Jause entführte. — — Auf <strong>de</strong>r Terrasse entwickelte<br />
sich dann bald ein überaus lebhaftes Treiben, ein Kommen und<br />
Gehen, ein herzliches Grüßen und Winken von Tisch zu Tisch, von<br />
Wagen zu Wagen ...<br />
Welch liebenswürdiger Einfall <strong>de</strong>r Chefin <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>npalais Krupnik,<br />
auch ihrerseits die Rotary—Ladies mit einer herzlichen Geste<br />
willkommen zu heißen! Sechs auffallend smarte, junge Damen, in<br />
<strong>de</strong>n allerneuesten, eleganten Original—Krupnik—Mo<strong>de</strong>llen, machten<br />
die Honneurs. <strong>Die</strong>se kleine improvisierte Mo<strong>de</strong>promena<strong>de</strong><br />
wur<strong>de</strong> bald zum Gegenstand lebhafter Diskussion. Vielleicht am<br />
meisten Beifall erntete ein <strong>de</strong>koratives Spitzenkomplet in Rosaschwarz,<br />
ein flottes Brunnenkomplet in Weiß mit breiter Blaufuchsverbrämung.<br />
Nur schwer trennte man sich von diesem einzig schönen Punkte,<br />
<strong>de</strong>r — man konnte es wie<strong>de</strong>rholt hören! — unstreitig zu <strong>de</strong>n nachhaltigsten<br />
Erinnerungen <strong>de</strong>r Rotarier zählen wird.<br />
So arbeitet halt je<strong>de</strong>r von uns im <strong>Die</strong>nst an <strong>de</strong>r Menschheit.<br />
SONNE IM HERZEN<br />
27
hast du manchmal beim Anblick <strong>de</strong>r Zeitung, die wie die Sonne dir strahlt,<br />
welcher sie Schober verglich. (Distichon!) Hoovers Botschaft — Österreich<br />
stimmt zu — Hausse an <strong>de</strong>n Weltbörsen — Gelingen <strong>de</strong>r Afrika—Expedition eines<br />
Wieners, <strong>de</strong>r fast nur Völker mit hoher Intelligenz angetroffen hat, die<br />
sich photographieren ließen — Butler wird von Renner und Schober begrüßt<br />
— Buresch und Brüning wollen einan<strong>de</strong>r pflegen und vertiefen (obschon nicht<br />
mehr ausbauen) — Der Weltpessimismus wird nicht siegen — sie selbst macht<br />
ein neues Preisausschreiben und führt die Jugend — Rotarier sehen dich an —<br />
Salten und Werfel dagegen im Haag zum Pen—Klub—Kongreß eingetroffen —<br />
Reinhardt kommt heute nach Wien. Nichts fehlt mehr, alles wird gut ausgehn.<br />
Und im Abendblatt geht es wie<strong>de</strong>r drunter und drüber und die Bo<strong>de</strong>nständigen<br />
verprügeln auf <strong>de</strong>r Universität solche, die studieren wollen. Außer daß<br />
Reinhardt tatsächlich eingetroffen ist, nichts, was <strong>de</strong>n Optimismus stärken<br />
könnte.<br />
Mies ist am Abend die Welt und mü<strong>de</strong> verröchelt die Stimme,<br />
die uns am Morgen geweckt. Nunmehr nur knurrt sie: Gebts Ruh!<br />
SEIN EINTREFFEN<br />
als etwas, was unsern Optimismus stärken könnte, war satirische Erfindung,<br />
bevor das 6—Uhr—Blatt — die Seminar—Sorge verwaltend — darüber unter<br />
<strong>de</strong>m Titel schrieb:<br />
Hoffnung!<br />
ERFÜLLUNG<br />
ist <strong>de</strong>r Titel für die Mitteilung <strong>de</strong>r Tatsache, daß die österreichische Regierung<br />
ihren letzten Beweis von Standhaftigkeit annulliert hat und die Antiseminarier<br />
vor <strong>de</strong>m Pressesturm zurückgewichen sind.<br />
In letzter Zeit fan<strong>de</strong>n<br />
nicht wie man glauben sollte, son<strong>de</strong>rn<br />
von hoher katholischer Seite verschie<strong>de</strong>ne Vermittlungsaktionen<br />
zwischen Unterrichtsminister Dr. Czermak und Professor Reinhardt<br />
statt, die schließlich dazu führten, daß<br />
er nach Abschluß je<strong>de</strong>r Saison gekündigt wer<strong>de</strong>n kann. Aber die Hauptsache<br />
ist, daß <strong>de</strong>r Optimismus gesiegt hat und nebst <strong>de</strong>r Hoover—Aktion das Seminar<br />
zustan<strong>de</strong>kommt. Mehr als das:<br />
<strong>Die</strong> Lehrer stellen sich — und das ist das Entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> — vollkommen<br />
kostenlos zur Verfügung. Nicht ein einziger erhält ein Fixum<br />
— es wäre zwar auch nicht einzusehen, warum dafür noch gezahlt wer<strong>de</strong>n soll<br />
—<br />
son<strong>de</strong>rn es wur<strong>de</strong> vereinbart, daß aus <strong>de</strong>n Überschüssen Entschädigungen<br />
bezahlt wer<strong>de</strong>n.<br />
Und wer entschädigt die Schüler?<br />
ARME JUNGE LEUTE<br />
die sich<br />
28
in <strong>de</strong>n von glühen<strong>de</strong>r Begeisterung erfüllten <strong>Die</strong>nst <strong>de</strong>r Kunst stellen<br />
können, ohne über <strong>de</strong>r Sorge um das Schulgeld zu zerbrechen:<br />
das ist <strong>de</strong>r Glanz, <strong>de</strong>r über <strong>de</strong>r Seminar—Erneuerung liegt.<br />
DER GENIUS UND SEINE FREUNDE<br />
Den wahren Vorteil eines privaten Reinhardt—Seminars wird natürlich<br />
Wien haben. Wer Reinhardt kennt, weiß, daß er die künstlerische<br />
Seele Wiens, <strong>de</strong>ssen große und erhabene Tradition <strong>de</strong>r<br />
Begeisterung, die Atmosphäre seiner Huldigung, die <strong>de</strong>m Genius<br />
unentbehrliche Lebensluft ist, entsprechend zu würdigen weiß.<br />
Und wie! Nur, wenn man schon zugibt, daß Herr Reinhardt ein Genius ist, so<br />
stimmt vielleicht nicht ganz, daß <strong>de</strong>m Genius Huldigung unentbehrlich ist.<br />
Richtig mag wie<strong>de</strong>r sein, daß er »seinen Freun<strong>de</strong>n gesagt hat«:<br />
daß dieses Seminar nur in Wien bestehen kann, nur in dieser Luft<br />
improvisatorischer Begabung und be<strong>de</strong>nklosen Enthusiasmus.<br />
Ganz feine Nuance. Denn einen »be<strong>de</strong>nkenlosen« Enthusiasmus als die<br />
Grundlage <strong>de</strong>s Seminars wollten er wie seine Freun<strong>de</strong> <strong>de</strong>nn doch wohl nicht<br />
annehmen.<br />
DIE KUNST IM DIENSTE DES EHEMANNS<br />
Reinhardt nicht lettischer Staatsbürger.<br />
Mitteilungen von informierter Seite.<br />
Max Reinhardt ist nicht, wie behauptet wur<strong>de</strong>, Lette gewor<strong>de</strong>n,<br />
um seine seit Jahren angestrebte Scheidung durchzuführen, und<br />
hat sich auch nicht um die lettische Staatsbürgerschaft beworben;<br />
das brauchte er gar nicht zu seiner Scheidung. Er mußte die<br />
Scheidung nur in einem Lan<strong>de</strong> durchführen lassen, in <strong>de</strong>ssen Eherecht<br />
nicht das Nationalitäts—, son<strong>de</strong>rn das Territorialprinzip zur<br />
Anwendung kommt.<br />
Er konnte also tschechoslowakischer Staatsbürger bleiben, mußte<br />
aber sein offizielles Domizil und min<strong>de</strong>stens einen Teil seiner Tätigkeit<br />
nach so einem Lan<strong>de</strong> verlegen. — —<br />
Max Reinhardt hat auch nicht, um sein lettländisches Domizil zu<br />
beweisen, Grundbesitz erworben, son<strong>de</strong>rn muß die Eherechtsvergünstigung,<br />
die er erhielt, mit eines dreijährigen, ziemlich intensiven<br />
Theaterarbeit in Lettland bezahlen. Er hat bis 1934 Verträge<br />
mit <strong>de</strong>r lettischen Nationaloper und <strong>de</strong>m Deutschen Theater in<br />
Riga abgeschlossen und seine dortige Tätigkeit schon vor Monaten<br />
mit einer »Fle<strong>de</strong>rmaus«—Aufführung begonnen und für die<br />
nächste Zeit einen Offenbachschen »Orpheus« vorbereitet.<br />
Ach ich hab' sie verloren ...<br />
FLEISSAUFGABE<br />
— — Für die Tänze wur<strong>de</strong>n die Solisten <strong>de</strong>r Lettländischen Nationaloper<br />
verpflichtet. <strong>Die</strong> Einstudierung besorgt die Primaballerina<br />
<strong>de</strong>r Lettländischen Nationaloper, Alexandra Feodorowa. — —<br />
29
An dieser neuen »Schönen Helena« Max Reinhardts sind also Berlin,<br />
Wien und Riga beteiligt.<br />
UNERHÖRTES<br />
Der berühmte Ausstattungschef Ladislaus Czettel<br />
erzählt von Reinhardt und <strong>de</strong>r »Schönen Helena«<br />
— — Es war ein unerhörter und ganz großer Erfolg Reinhardts,<br />
<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Inszenierung <strong>de</strong>r »Schönen Helena« wie<strong>de</strong>r eine Meisterleistung<br />
geschaffen hat. — —<br />
— — Es ist eine Tatsache und keine Phrase, daß mich noch nie ein<br />
Regisseur so unerhört angeregt hat wie eben Reinhardt, für <strong>de</strong>n<br />
das Kostümliche sehr wichtig ist. Da die Auftritte <strong>de</strong>r Schauspieler<br />
nicht aus <strong>de</strong>n Kulissen, son<strong>de</strong>rn durch <strong>de</strong>n Zuschauerraum geschehen,<br />
ist es das Auge, das sie zuerst genießt, ehe das Wort<br />
noch eine Rolle spielt; <strong>de</strong>r erste Eindruck ist <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Schau und<br />
dann kommt erst <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Gehörs.<br />
Mit verschwen<strong>de</strong>rischer Großzügigkeit hat außer<strong>de</strong>m Reinhardt<br />
das schönste Frauenmaterial zur Verfügung gestellt, das in Europa<br />
aufzutreiben ist. — — klei<strong>de</strong>t und entklei<strong>de</strong>t sich auf <strong>de</strong>r Bühne<br />
mit einer solchen Grazie, daß das Publikum ganz fasziniert ist.<br />
Dazu kam ... eine neue Ent<strong>de</strong>ckung Reinhardts ... gewachsen wie<br />
ein entzücken<strong>de</strong>r Bub — — Das Rigaer Ballett — — ergänzt <strong>de</strong>n<br />
unerhörten Eindruck. Der Chor, aus <strong>de</strong>m Korngold alles herausgeholt<br />
hat und <strong>de</strong>r eine Arbeit leistete, wie man sie auf einer Operettenbühne<br />
noch nicht gehört hat, besteht gleichermaßen aus unerhört<br />
schönen Männern und Frauen, die einen um so größeren Eindruck<br />
machen, als Reinhardt die Bühne nach rechts und links vergrößern<br />
und so die Chormitglie<strong>de</strong>r als Augenwei<strong>de</strong> nahezu im<br />
Publikum stehen und sitzen ließ. Beson<strong>de</strong>re Freu<strong>de</strong> bereitete es<br />
mir ... Wallburg und Frie<strong>de</strong>ll persifliert anzuziehen. Zu Frie<strong>de</strong>lls<br />
Kostüm als Merkur hat mich beson<strong>de</strong>rs sein Geist und Witz, <strong>de</strong>r<br />
durch die ganze Aufführung geht, angeregt.<br />
240 Kostüme ließ ich für die »Schöne Helena« anfertigen — —<br />
Das alles kann ich nicht.<br />
30
Von <strong>de</strong>m Ruhme <strong>de</strong>r berühmtesten Menschen gehört immer<br />
etwas <strong>de</strong>r Blödsichtigkeit <strong>de</strong>r Bewun<strong>de</strong>rer zu; und ich bin<br />
überzeugt, daß solchen Menschen das Bewußtsein, daß sie<br />
von einigen, die weniger Ruhm, aber mehr Geist haben,<br />
durchgesehen wer<strong>de</strong>n, ihren ganzen Ruhm vergällt. Eigentlich<br />
ruhiger Genuß <strong>de</strong>s Lebens kann nur bei Wahrheit bestehen.<br />
G. Chr. Lichtenberg<br />
Der Kontakt<br />
Wie vorauszusehen war, hat sich ein solcher zwischen Reinhardt und<br />
<strong>de</strong>n Rotariern ergeben, und zwar in Form eines Vortrags, <strong>de</strong>n er schon öfter,<br />
ich glaube auch vor Letten, gehalten hat, <strong>de</strong>n darum das 6—Uhr—Blatt drucken<br />
konnte, bevor er gehalten wur<strong>de</strong>, und <strong>de</strong>r vielleicht schon vorhan<strong>de</strong>n<br />
war, bevor er ihn schrieb. Wer ihn getippt hat, kann ich natürlich nicht wissen,<br />
aber ich tippe auf Kahane. Denn sollte Reinhardt die Gedanken, die »nie<strong>de</strong>rzuschreiben«<br />
inmitten erlebnisreichen Daseins und <strong>de</strong>m Druck <strong>de</strong>r Arbeit ich in<br />
<strong>de</strong>n letzten Jahren die wenigen Atempausen benützt habe,<br />
nie<strong>de</strong>rgeschrieben haben, so stün<strong>de</strong> ich vor <strong>de</strong>m Wun<strong>de</strong>r eines Fortschritts<br />
stilistischer Ausdrucksfähigkeit, wie ich ihn seit 1893, als ich zum erstenmal<br />
etwas Nie<strong>de</strong>rgeschriebenes von Reinhardt las, nicht einmal an mir selbst erleben<br />
konnte. Gleichwohl möchte ich nicht behaupten, daß die Gedanken, die er<br />
da in <strong>de</strong>n letzten Jahren nie<strong>de</strong>rgeschrieben hat, auch nur einen einzigen enthalten,<br />
sie sind Schmus, und bloß die literatenhafte Flüssigkeit und Untiefsinnigkeit<br />
ist das Erstaunliche an <strong>de</strong>m Artikel, <strong>de</strong>r höchstens da und dort durch<br />
eine typische Wendung an die Zeiten erinnern. könnte, wo Professur und <strong>Ehre</strong>ndoktorat<br />
noch nicht einmal erträumt waren, wie etwa die<br />
über das Theater und das Kino, <strong>de</strong>m blassen Vetter <strong>de</strong>s Theaters<br />
…<br />
Herr Reinhardt stellt sich <strong>de</strong>n Rotariern und wohl sich selbst »als Eingeborenen<br />
jener Insel <strong>de</strong>r Seligen« vor, »<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>r spielen bis zum En<strong>de</strong> ihres<br />
Lebens«. Mit einem Wort, <strong>de</strong>r reine Schüler <strong>de</strong>r Lasker und weit entfernt<br />
von <strong>de</strong>n Dingen, die die Abendkasse betreffen. Aber als jener führt er nicht,<br />
wie man vermuten sollte, ein idyllisches, son<strong>de</strong>rn ein »ziemlich unruhiges Leben«,<br />
mehr als das: außer seinem eigenen<br />
auch die Leben Tausen<strong>de</strong>r von Charakteren<br />
— als hätte man an einem nicht genug —<br />
die in meiner Sphäre aus <strong>de</strong>n Werken unserer eigenen Zeiten und<br />
<strong>de</strong>r Vergangenheit aufscheinen.<br />
Da gibt es <strong>de</strong>nn, wiewohl fast ebensoviele Subdirektoren und Dramaturgen<br />
immer hinterher sind, eine Arbeit, von <strong>de</strong>r man sich keine Vorstellung macht,<br />
außer eben solchen, die dann zustan<strong>de</strong>kommen und von <strong>de</strong>nen ich zum Beispiel<br />
die <strong>de</strong>s »Kaisers von Amerika« in guter Erinnerung habe. Herr Reinhardt<br />
durchforscht Natur und Bestimmung jener Tausen<strong>de</strong>r, nämlich <strong>de</strong>r Charaktere<br />
— er versichert es vor ebensovielen Rotariern —, und <strong>de</strong>rart vollständig,<br />
daß sie vor seinen Augen<br />
leibhaftig und atmend erscheinen. Ich kenne sie durch und durch,<br />
ihre Geheimnisse und ihre Abgeschlossenheit, je<strong>de</strong> Bewegung, je<strong>de</strong>n<br />
Laut und je<strong>de</strong>n Blick.<br />
31
Ich wür<strong>de</strong> zwar wetten, daß er zum Beispiel von <strong>de</strong>r Goetheschen Helena —<br />
wie von <strong>de</strong>r Offenbach'schen — keine Bewegung, keinen Laut und keinen<br />
Blick kennt, aber da es ihm ein Feuilletonist eingeflößt hat und mundus <strong>de</strong>cipi<br />
vult, nützt we<strong>de</strong>r mein Wi<strong>de</strong>rstand noch sein eigener: sie »bestürmen« ihn;<br />
rastlos, sagt er, muß er »mit <strong>de</strong>r Wünschelrute umherwan<strong>de</strong>rn«, um Gelegenheiten<br />
zu ihrer Gestaltung zu ent<strong>de</strong>cken.<br />
Sie verlangen von mir ständig und unwi<strong>de</strong>rstehlich die Erlösung<br />
aus ihrer Traumwelt in die Welt <strong>de</strong>r Wirklichkeit, so daß ich unablässig,<br />
unermüdlich umherwan<strong>de</strong>rn muß, auf <strong>de</strong>r Suche nach<br />
<strong>de</strong>n Möglichkeiten für ihre Inkarnation.<br />
No ist das ein Leben? Charlatantalusqualen! Eine jener Möglichkeiten ergibt<br />
sich für <strong>de</strong>n Bedauernswerten noch in Riga, wo er drei Jahre inkarnieren muß,<br />
um nicht nur die Gestalten aus <strong>de</strong>r Traumwelt zu erlösen, son<strong>de</strong>rn auch sich<br />
aus einer Privatmisere, so daß er schließlich, wegmü<strong>de</strong>, aber doch selbstbewußt,<br />
von sich sagen kann:<br />
Ich bin <strong>de</strong>shalb ein rastloser Jäger auf <strong>de</strong>m schmalen Pfad zwischen<br />
Traum und Wirklichkeit.<br />
Ja, das sind abgründige Dinge aus einem Bezirk <strong>de</strong>s Visionären, wo unsereiner<br />
nicht zuhause ist, <strong>de</strong>r alle Mühe hat, mit <strong>de</strong>n Gespenstern <strong>de</strong>s Tages fertig<br />
zu wer<strong>de</strong>n. So ein Zauberer, <strong>de</strong>r nur Reibaro machen muß, um Häuser zu<br />
füllen, schlägt sich durch zwischen <strong>de</strong>n Reklamien, die ihm zusetzen:<br />
Geschwind, geschwin<strong>de</strong>r!<br />
Und immer weiter!<br />
Dann wie<strong>de</strong>r zau<strong>de</strong>rnd,<br />
Geschwätzig plau<strong>de</strong>rnd.<br />
Es ist so heiter,<br />
Den alten Sün<strong>de</strong>r<br />
Uns nach zu ziehen.<br />
Was dann folgt, ist die Abwandlung seines Königsgedankens, <strong>de</strong>n er mehr aus<br />
<strong>de</strong>m Rayon <strong>de</strong>r Wirklichkeit bezogen hat: daß Zuschauer im Theater sein müssen.<br />
Das ist, wie er mit Recht hervorhebt, nicht nur eine wirtschaftliche Notwendigkeit,<br />
son<strong>de</strong>rn es han<strong>de</strong>lt sich auch um <strong>de</strong>n Kontakt, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Schauspieler<br />
unentbehrlich ist. Zum Beweise <strong>de</strong>ssen — <strong>de</strong>nn Herr Reinhardt hält es<br />
für unerläßlich, zu beweisen, daß man ohne Wasser nicht schwimmen und im<br />
Finstern kein Feuilleton schreiben kann — erzählt er eine ö<strong>de</strong> Theateranekdote,<br />
die eher das Gegenteil beweist: wie ein besessener Dilettant, <strong>de</strong>r nicht<br />
merkt, daß er die Zuschauer schon vertrieben hat, weiter <strong>de</strong>klamiert, bis <strong>de</strong>r<br />
Direktor ihm die Schlüssel <strong>de</strong>s Theaters in die Hand drückt mit <strong>de</strong>m Ersuchen,<br />
zuzusperren, wenn er fertig sei.<br />
<strong>Die</strong>se Geschichte ist sehr bezeichnend für je<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m<br />
Theater in Verbindung steht.<br />
Nur für je<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sie nicht versteht. Er will natürlich sagen, je<strong>de</strong>r müsse sie<br />
bezeichnend fin<strong>de</strong>n: für »die groteske Unmöglichkeit, für sich allein zu spielen«.<br />
<strong>Die</strong> Anekdote beweist aber höchstens, daß die Illusion vorhan<strong>de</strong>ner Zuschauer<br />
— selbst für schlechtes Spiel — genügt: die Möglichkeit, für sich allein<br />
zu spielen, wenn man nur glaubt, daß man nicht für sich allein spiele. <strong>Die</strong><br />
Unmöglichkeit ist bloß praktisch dadurch bewiesen, daß eben die Zuschauer<br />
vertrieben wur<strong>de</strong>n und daß solches <strong>de</strong>m Direktor unerwünscht ist (weil er<br />
sonst selbst zusperren muß). Herr Reinhardt hat die einfache Anekdote, die<br />
eine Verspottung <strong>de</strong>s Dilettantismus ist, einfach nicht verstan<strong>de</strong>n. Aber er<br />
gibt, gleich <strong>de</strong>m besessenen Dilettanten, nicht nach:<br />
32
Sie wird Ihnen zeigen, wie wichtig und entschei<strong>de</strong>nd die Rolle ist,<br />
die das Publikum im Theater zu spielen hat ... Das Theater kann<br />
unter keinen Umstän<strong>de</strong>n ohne das Publikum auskommen.<br />
An und für sich eine tiefe und neue Erkenntnis, bis zu <strong>de</strong>r die Professoren Saltenburg<br />
und Rotter vielleicht noch nicht vorgedrungen sind, wiewohl gewiß<br />
auch sie Wert darauf legen, daß je<strong>de</strong>r Gemeinplatz besetzt sei. Aber nicht allein<br />
<strong>de</strong>r Direktor braucht das Publikum, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>r Schauspieler, <strong>de</strong>m<br />
ja nicht immer die Illusion zu verschaffen ist, daß Leute da sind, auch nur solche,<br />
die sich schon entfernt haben. Herr Reinhardt schließt aus <strong>de</strong>r Anekdote,<br />
es sei unmöglich,<br />
daß <strong>de</strong>r wirkliche Schauspieler jemals das Publikum vergißt. Auch<br />
im Augenblick <strong>de</strong>r größten Erregung ist er sich <strong>de</strong>ssen bewußt,<br />
daß Tausen<strong>de</strong> ihn atemlos beobachten ...<br />
Da haben wir wie<strong>de</strong>r die run<strong>de</strong> Summe, mit <strong>de</strong>r heute wohl nur bei Charell<br />
gerechnet wird. Aber auch <strong>de</strong>r schlechte Schauspieler war sich <strong>de</strong>ssen bewußt<br />
und bloß nicht, daß jene sich im Dunkeln geräuschlos entfernt hatten,<br />
bis er eben informiert wur<strong>de</strong>. (<strong>Die</strong> Anekdote meint freilich, daß er sich auch<br />
dadurch nicht abschrecken läßt.) Wären sie von Anfang an nicht dagewesen,<br />
so hätte vielleicht nicht einmal er auftreten können. Natürlich bedarf es <strong>de</strong>s<br />
Fluidums, welches Herr Reinhardt erforscht hat, aber mitten im »pathetischen<br />
Monolog«, um <strong>de</strong>n es sich in <strong>de</strong>r Geschichte han<strong>de</strong>lt, muß <strong>de</strong>r Besessene<br />
nicht spüren, daß es fehlt, während er in <strong>de</strong>r Konversation die ausbleiben<strong>de</strong><br />
Lachwirkung vermissen und stutzig wer<strong>de</strong>n dürfte. <strong>Die</strong> Anekdote zeigt, an<strong>de</strong>rs<br />
als Herr Reinhardt glaubt, in <strong>de</strong>r Tat, daß <strong>de</strong>r Schauspieler Zuschauer<br />
braucht, aber noch besser wür<strong>de</strong> sie es zeigen, wenn sie ihn, <strong>de</strong>r ihre Entfernung<br />
gespürt o<strong>de</strong>r von ihr erfahren hat, zu sprechen aufhören ließe, bevor<br />
ihm <strong>de</strong>r Direktor die Schlüssel in die Hand drückt. Man darf aber, wenn die<br />
Notwendigkeit <strong>de</strong>r Zuschauer immerhin bewiesen wäre, nun nicht etwa glauben,<br />
daß darum die Schauspieler überflüssig sind. Reinhardts Gedanke beruht<br />
vielmehr in <strong>de</strong>r Annahme einer Wechselwirkung und wenn man <strong>de</strong>r Version<br />
<strong>de</strong>r Neuen Freien Presse Glauben schenken darf, so hätte er gesagt:<br />
Wenn Sie bis zu <strong>de</strong>n Wurzeln unserer Kunst vordringen, wer<strong>de</strong>n<br />
Sie wahrnehmen, daß zur dramatischen Wie<strong>de</strong>rgabe vor allem<br />
zwei Wesen notwendig sind: <strong>de</strong>r Spieler und <strong>de</strong>r Zuschauer. Wenn<br />
einer von bei<strong>de</strong>n nicht anwesend ist o<strong>de</strong>r nicht seine Schuldigkeit<br />
tut, kann man <strong>de</strong>n Vorhang fallen lassen, ja es wäre gar nicht nötig<br />
gewesen, ihn aufzuziehen.<br />
Erst in diesem Falle wäre also auch ein Vorhangzieher notwendig, respektive<br />
überflüssig. Aber ohne Schauspieler kann nicht gespielt wer<strong>de</strong>n. Nicht wahr,<br />
das hört sich hinterdrein so einfach an, ist aber wie alle umstürzen<strong>de</strong>n Gedanken,<br />
zu <strong>de</strong>nen auch das Ei <strong>de</strong>s Kolumbus gehört, etwas, <strong>de</strong>ssen man erst habhaft<br />
wird, wenn man bis zu <strong>de</strong>n Wurzeln vorgedrungen ist. Bitte, wann hätte<br />
<strong>de</strong>nn jemals eine Vorstellung beginnen können, wenn keine Schauspieler da<br />
waren, wo man ohnedies zittern muß, daß sie von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn Theatern, von<br />
Tonfilm, Funk und was es jetzt so gibt, in <strong>de</strong>r letzten Minute eintreffen. Aber<br />
erst wenn bei<strong>de</strong> Teile da sind, also auch die Zuschauer, die ja vielfach gleichfalls<br />
abgehalten sind, kann sich <strong>de</strong>r rechte Kontakt einstellen. Das ist doch<br />
klar und man wür<strong>de</strong> vermuten, daß in an<strong>de</strong>rn Zeiten, wenn ein <strong>Ehre</strong>ndoktor<br />
<strong>de</strong>r Phflosophie (Frankfurt a/M.) gewagt hätte, <strong>de</strong>rlei Erkenntnisse einem Auditorium<br />
anzubieten, faule Kolumbuseier, schnell beschafft, auf das Podium<br />
geflogen wären. Heute und hier wird es in sämtlichen Versionen, die die Abschreiber<br />
und Stenographen erlangen können, noch im Druck verbreitet. Herr<br />
33
Reinhardt, <strong>de</strong>r also <strong>de</strong>n »Kontakt« ent<strong>de</strong>ckt hat, <strong>de</strong>n hun<strong>de</strong>rt Schauspielergenerationen<br />
(tausend wäre übertrieben) stärker als sein Ensemble erlebt haben,<br />
prophezeit — und seine Stimme hebt sich und <strong>de</strong>r Druck sperrt sich —,<br />
daß um dieses Kontaktes willen »eine Revolution <strong>de</strong>s Theaters« ausbrechen<br />
wer<strong>de</strong>:<br />
Der Zwischenraum zwischen Bühne und Publikum wird verringert<br />
wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Schauspieler wird seiner Aufmachung und <strong>de</strong>s überflüssigen<br />
Pompes entklei<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n und mitten im Publikum stehen<br />
— so wie es in <strong>de</strong>n früheren Zeiten <strong>de</strong>s Theaters war und zur<br />
Zeit von Shakespeare.<br />
(<strong>Die</strong>se kulturhistorische Wahrnehmung, von Kahane vielleicht doch nicht vertretbar<br />
— selbst nicht von Frie<strong>de</strong>ll —, ward auch nach Berlin telegraphiert.)<br />
Und dann wer<strong>de</strong>n die von Motten zerfressenen alten Kostüme verschwin<strong>de</strong>n<br />
und ebenso <strong>de</strong>r kostspielige und antiquierte Reichtum<br />
<strong>de</strong>r Dekorationen.<br />
Mit einem Wort, aller Inbegriff <strong>de</strong>r Regie <strong>de</strong>s Herrn Reinhardt (»für <strong>de</strong>n«, wie<br />
wir wissen und auch Interviews entnehmen, »das Kostümliche sehr wichtig<br />
ist«), <strong>de</strong>r ganze zugkräftige Plun<strong>de</strong>r seiner »Helena«—Aufmachung, die Krupnik—Entourage<br />
samt jenem Blumensteg, mit <strong>de</strong>m er sich heute begnügt, um<br />
<strong>de</strong>n Kontakt herzustellen. Aber dieser war hinreichend »in <strong>de</strong>n früheren Zeiten<br />
<strong>de</strong>s Theaters« vorhan<strong>de</strong>n, wo <strong>de</strong>r Schauspieler noch auf <strong>de</strong>r Bühne war<br />
(und nur bei »Kean« in <strong>de</strong>r Loge o<strong>de</strong>r bei theatralischen Atelierscherzen im<br />
Parkett, während wie<strong>de</strong>r begünstigte Zuschauer bei Shakespeare auf <strong>de</strong>r Bühne<br />
sitzen durften). Der Professor, <strong>de</strong>r etwas läuten gehört hat und die Entwicklung<br />
<strong>de</strong>s Theaters als Drehbühne auffaßt, »glaubt an die Unsterblichkeit<br />
<strong>de</strong>s Theaters«, zu <strong>de</strong>ren Beweis offenbar seine Versuche, es umzubringen, unerläßlich<br />
sind. Ja er erklärt gera<strong>de</strong>zu, daß die Aufgabe <strong>de</strong>s Schauspielers<br />
»nicht Verkleidung, son<strong>de</strong>rn Enthüllung« sei, welches Bonmot aber keine Anspielung<br />
auf die Situation seines Berges Ida sein soll, vielmehr bloß zu <strong>de</strong>m<br />
Diktum fortgesetzt wird:<br />
Gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Schauspieler ist es, <strong>de</strong>r nicht lügen kann.<br />
Herr Reinhardt hat schon lange nicht gespielt. Dagegen hat er kürzlich ausgesagt,<br />
daß ihm von einem Wechsel in <strong>de</strong>r Stellung <strong>de</strong>s Kerr zu seinem Theater<br />
nicht das Geringste bekannt sei. Als man ihm die kritischen Kontraste vorhielt,<br />
verlor er seine Haltung und meinte, er sehe schon, daß er »in eine theaterfrem<strong>de</strong><br />
Atmosphäre geraten« sei, und er habe nie so großen Wert auf Kritiken<br />
gelegt, wie offenbar angenommen wür<strong>de</strong>. In seiner Re<strong>de</strong> vor <strong>de</strong>n Rotariern<br />
soll er dann noch gesagt haben:<br />
Wir nehmen genau wahr, wie ein herzliches Lachen uns befreien<br />
kann, wie ein tiefer Seufzer o<strong>de</strong>r ein Ausbruch von Wut uns augenblickliche<br />
Rettung bringt. Wie oft sehnen wir uns unwissentlich<br />
nach einer Gelegenheit für solche Ausbrüche!<br />
Das bezog sich aber nicht darauf. Auch nicht die Berufung auf die Mission <strong>de</strong>s<br />
Dichters, <strong>de</strong>r<br />
die Fackel hält, um hineinzuleuchten in das Chaos <strong>de</strong>r menschlichen<br />
Seele.<br />
Marischka, <strong>de</strong>r doch auch ein maitre <strong>de</strong> plaisir ist, wür<strong>de</strong> keinen festlichen<br />
Anlaß benutzen, so hoch zu traben und gar <strong>de</strong>n Gedanken in die Menge zu<br />
werfen:<br />
Der Durchschnittsmensch erfährt während seines Lebens Liebe<br />
und Haß. Er begräbt ihm teure Wesen und schließlich stirbt er<br />
selbst.<br />
34
In diesem Zusammenhang verlor sich <strong>de</strong>r Doktor in philosophische Erkenntnisse<br />
über »die uns angeborne Fähigkeit zu lieben und zu hassen, sich zu<br />
freuen und zu lei<strong>de</strong>n«, die wir Menschen freilich nicht in <strong>de</strong>m Maße entwickeln<br />
wie wir uns bemühen, »unsere Muskel« zu stärken (richtiger<br />
»Muskeln«; bei diesen Pluralen tappen die Schriftsteller, aus Furcht vor Dialekt,<br />
vielfach noch im Dunkeln, also: schöne Mä<strong>de</strong>l gibt's in <strong>de</strong>r »Helena« und<br />
die Herren zeigen ihre Muskeln). Was aber <strong>de</strong>n Kontakt anlangt, so wer<strong>de</strong> —<br />
und hier hob sich wie<strong>de</strong>r die Stimme und sperrte sich <strong>de</strong>r Druck — »eines Tages«<br />
die Wissenschaft die geheimnisvollen Ströme analysieren, die zwischen<br />
Bühne und Zuschauerraum hin— und hergehen. Dann wird<br />
es möglich sein, diese unmittelbaren Wirkungen zu kalkulieren<br />
und sie im Interesse <strong>de</strong>r Sache auszunützen.<br />
Das ist bei <strong>de</strong>r »Schönen Helena« schon heute nicht schwer, und mir wird es,<br />
soweit es sich um die geheimnisvollen Ströme zwischen <strong>de</strong>r Bühne und einem<br />
Kritikersitz han<strong>de</strong>lt, bald gelingen. Zur Erforschung <strong>de</strong>s Kontaktes jedoch,<br />
<strong>de</strong>n Herr Reinhardt meint, dürfte die Wissenschaft zu spät kommen, da er ja<br />
bis dahin schon <strong>de</strong>n Schauspieler mitten ins Publikum gesetzt haben wird, damit<br />
er gleich merke, daß es nicht mehr vorhan<strong>de</strong>n sei. Denn er gelangt, in völliger<br />
Verwechslung zweier Begriffe von Kontakt, zu <strong>de</strong>r Vorstellung, dieser sei<br />
am stärksten, wenn er durch die räumliche Verbindung aufgehoben ist. Solche<br />
Lappalien muß allerdings ein festlich gestimmtes Auditorium nicht merken,<br />
und nur Gedanken, die unmittelbar faßlich sind, wie etwa, daß »die<br />
höchste Bestrebung <strong>de</strong>s Theaters die Wahrheit« sei, setzen sich leicht <strong>de</strong>r<br />
Kontrolle aus. Und Herr Reinhardt meint — wiewohl er gern auf <strong>de</strong>r Bühne<br />
darstellt, wie im Leben telephoniert wird — keineswegs »die äußerliche naturalistische<br />
Wahrheit einer Alltagswelt«,<br />
aber die tiefste Wahrheit <strong>de</strong>r Seele.<br />
Was sich Rotarier anhören, ohne die Freu<strong>de</strong> an ihrer Mission, welche immer<br />
sie sei, zu verlieren. Noch höher wird es ihm von <strong>de</strong>n Korybanten angerechnet,<br />
<strong>de</strong>ren Glaube Berge versetzt in Zeiten <strong>de</strong>r Pleite, wo er selbst an die Unsterblichkeit<br />
<strong>de</strong>s Theaters glaubt, sie drucken es sogar und nennen, was da<br />
mit Sehermiene und Kalkulatorstimme verkün<strong>de</strong>t wird:<br />
ein Credo beson<strong>de</strong>rer Art ... ein »ich glaube«, das wir Wiener<br />
dringen<strong>de</strong>r entbehrt haben als manche an<strong>de</strong>ren.<br />
Ich glaube zwar nicht, weil ich weiß, was die Kunstgewerbler <strong>de</strong>r Kunst angetan<br />
haben, aber die Gelegenheit für herzliches Lachen ist willkommen, sobald<br />
sie <strong>de</strong>n Kontakt zwischen eigener Praxis und frem<strong>de</strong>r Erkenntnis herzustellen<br />
versuchen. Mit vollkommener Nach<strong>de</strong>nklichkeit zieht Herr Reinhardt das Fazit,<br />
daß die Zeit die Schauspieler, die früher solche »mit Körper und Seele«<br />
waren, korrumpiert habe, in<strong>de</strong>m sie ihre Lei<strong>de</strong>nschaften gebändigt hat:<br />
Heute ist das Fleisch willig, aber <strong>de</strong>r Geist ist schwach und die Interessen<br />
<strong>de</strong>r Schauspieler sind geteilt.<br />
Wem sagt er das! Den Rotariern, welche nicht wissen, daß es schon in meiner<br />
Strophe zu »Pariser Leben« vorkommt, die aber nach allem, was man hört,<br />
auch <strong>de</strong>r »Schönen Helena« gelten dürfte:<br />
Jetzt spiel'n s', wie recht und billig,<br />
wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Offenbach.<br />
Ja, das Fleisch wär' schon willig,<br />
aber <strong>de</strong>r Geist ist halt schwach.<br />
35
Der Fall <strong>Die</strong>bold<br />
Wien, 17. Juni 1931.<br />
An die Feuilleton—Redaktion <strong>de</strong>r Frankfurter Zeitung<br />
Sehr geehrte Herren!<br />
Sie hatten die Freundlichkeit, sich öfter mit Anfragen an uns zu<br />
wen<strong>de</strong>n und auch Herrn Karl Kraus ihre publizistischen <strong>Die</strong>nste<br />
gegen Herrn O. E. Hesse geselligen An<strong>de</strong>nkens zu offerieren. Erkenntlichkeit<br />
für dieses Anbot hat uns späterhin berechtigt, Sie in<br />
direkter brieflicher Ansprache auf die Ignoranz eines Berichterstatters<br />
hinzuweisen, <strong>de</strong>r sich herausgenommen hatte, auf Grund<br />
<strong>de</strong>s Eindrucks einer Provinzaufführung <strong>de</strong>r »Briganten« über Offenbachs<br />
Prachtwerk und <strong>de</strong>ssen Bearbeitung abzuurteilen. Damals<br />
haben Sie für einen etwaigen künftigen Fall gründliche Remedur<br />
zugesagt. Gestützt auf so freundliche Gesinnung haben wir<br />
Sie auch auf die Be<strong>de</strong>nkenlosigkeit ihres Herrn <strong>Die</strong>bold hingewiesen,<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Eindruck einer provinziellen Aufführung von »Pariser<br />
Leben« in Berlin zur Grundlage eines Mißurteils über dieses unvergängliche<br />
Werk machte, das ihm freilich auch noch aus <strong>de</strong>r<br />
Frankfurter Schändung durch die Herren Scher und Salomon bekannt<br />
war. <strong>Die</strong> dürftige Antwort, die Sie <strong>de</strong>n Herrn <strong>Die</strong>bold selbst<br />
erteilen ließen, ist in <strong>de</strong>r Fackel behan<strong>de</strong>lt wor<strong>de</strong>n. Als kritischer<br />
Richter noch nicht hinreichend befangen durch diese Zurechtweisung<br />
wie durch die vorangegangene Betrachtung seiner Kennerschaft<br />
anläßlich <strong>de</strong>s »kaum mehr lebensfähigen 'Blaubart'«, hat<br />
Herr <strong>Die</strong>bold bald darauf in <strong>de</strong>r Frankfurter Zeitung eine unqualifizierbare<br />
Auslassung über <strong>de</strong>n in Berlin aufgeführten Epilog zu<br />
<strong>de</strong>n »Letzten Tagen <strong>de</strong>r Menschheit« veröffentlicht, eine Äußerung,<br />
auf die die Fackel bis heute lei<strong>de</strong>r nicht Gelegenheit hatte<br />
zurückzukommen, die aber <strong>de</strong>r Frankfurter Zeitung selbst so be<strong>de</strong>nklich<br />
vorkam, daß sie sie durch die Klammerbemerkung einer<br />
Zusage unterbrach, <strong>de</strong>mnächst und offenbar in ganz an<strong>de</strong>rem Sinne<br />
sich mit <strong>de</strong>m Gesamtwerk <strong>de</strong>s Herausgebers <strong>de</strong>r Fackel zu befassen.<br />
Das ist nun allerdings inzwischen durch eine Reihe etwas<br />
abgründiger Essays geschehen, die vielleicht mit <strong>de</strong>r besten Absicht<br />
<strong>de</strong>m Leser doch nicht hinreichen<strong>de</strong> Klarheit über ein von <strong>de</strong>r<br />
eigenen journalistischen Parteien Haß und Gunst verwirrtes Charakterbild<br />
verschafft haben. Was die Wirkung auf Herrn <strong>Die</strong>bold<br />
betrifft, so mochte sie im Gegenteil in <strong>de</strong>r Zeitigung <strong>de</strong>s Wunsches<br />
liegen, einer immerhin so ausführlichen Würdigung bei nächster<br />
Gelegenheit, die sich bieten o<strong>de</strong>r herbeiführen lassen könnte, mit<br />
einer kurzen Herabwürdigung zu begegnen. Das Mißvergnügen<br />
<strong>de</strong>s Herrn <strong>Die</strong>bold war zuvor auch schon durch eine private Entgleisung<br />
genährt wor<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m er nämlich in einem Berliner Restaurant,<br />
als in seiner Nachbarschaft die Re<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>n ihm unbekannten<br />
Vorleser Karl Kraus kam, die Frage einwarf: »Ach <strong>de</strong>r?<br />
Ist <strong>de</strong>r noch immer so hysterisch?«, hitzig wur<strong>de</strong> und da ihm ein<br />
Gesprächspartner die Hysterie, die er jenem zum Vorwurf machte,<br />
als <strong>de</strong>n Urgrund seines eigenen Betragens darlegte, dieses in aller<br />
Form mit einem durch allzu reichliche Mahlzeit hervorgerufenen<br />
Erregungszustand entschuldigte. <strong>Die</strong>se Entschuldigung nun moch-<br />
36
te Herrn <strong>Die</strong>bold nachträglich zur Reue gereichen und ihn in seinem<br />
Vorhaben befestigen, bei nächster Gelegenheit wie<strong>de</strong>r publizistisch<br />
seinen Mann zu stellen, damit nebst allem an<strong>de</strong>rn Verdruß<br />
auch <strong>de</strong>r private faux pas wettgemacht sei, in<strong>de</strong>m ja doch<br />
jeglicher Umstand, <strong>de</strong>r sonst einen Kritiker befangen machen<br />
müßte, Herrn <strong>Die</strong>bold zu animieren scheint, seine Unbefangenheit<br />
zu zeigen. <strong>Die</strong>se Gelegenheit ergab sich nun durch die Aufführung<br />
<strong>de</strong>r von Karl Kraus übersetzten Offenbach'schen »Perichole« am<br />
Berliner Staatstheater, wiewohl darüber bereits <strong>de</strong>r zuständige<br />
Fachreferent, und zwar in etwas auffälligem Gegensatz zu <strong>de</strong>n enthusiastischen<br />
Urteilen zweier Wiener Korrespon<strong>de</strong>nten <strong>de</strong>r<br />
Frankfurter Zeitung geurteilt hatte, welche freilich die Chance<br />
hatten, aus <strong>de</strong>r weit lebendigeren Vorführung durch <strong>de</strong>n Bearbeiter<br />
selbst <strong>de</strong>n berechtigten Schluß auf die Lebendigkeit <strong>de</strong>s Werkes<br />
ziehen zu können. Wie es aber im publizistischen Leben so<br />
geht, mußten Offenbach und <strong>de</strong>r Autor <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Textes für<br />
eine unzulängliche Aufführung büßen, <strong>de</strong>ren Unzulänglichkeit in<br />
<strong>de</strong>r Premiere ja auch von <strong>de</strong>r gesamten Berliner Kritik mit einem<br />
schöpferischen Übel verwechselt wur<strong>de</strong>. Aber dieser Kontrast <strong>de</strong>s<br />
Berliner Musikreferats <strong>de</strong>r Frankfurter Zeitung zu <strong>de</strong>m Eindruck,<br />
<strong>de</strong>n <strong>de</strong>ren Wiener Korrespon<strong>de</strong>nten (einer war <strong>de</strong>r Musiker Kienek)<br />
von <strong>de</strong>m Vortrag <strong>de</strong>s unvergleichlich lebendigen Werkes<br />
empfangen hatten, schien Herrn <strong>Die</strong>bold beiweitem noch nicht<br />
stark genug, und obgleich ihn die Berliner Aufführung <strong>de</strong>r i»Perichole«<br />
ressortgemäß nicht das Geringste anging, benützte er die<br />
Gelegenheit <strong>de</strong>r Berliner Totmachung von Nestroys »Lumpazivagabundus«,<br />
über die er zu referieren hatte und für die er nicht<br />
min<strong>de</strong>r das blutlebendige Original verantwortlich machte, um<br />
Herrn Karl Kraus wegen <strong>de</strong>r Belebung <strong>de</strong>r »Perichole« zu attackieren.<br />
Schon das Referat über »Lumpazivagabundus« als solches<br />
wimmelt von versteckten Angriffen auf <strong>de</strong>n Mann, <strong>de</strong>r die<br />
Schuld hat, am meisten zur Ehrung Nestroys durch die Gegenwart<br />
beigetragen zu haben, und <strong>de</strong>ssen positiver Anteil darum ebenso<br />
schlecht wegkommt wie die aufgeführte Schändung, durch welche<br />
<strong>de</strong>r Geist <strong>de</strong>s Lumpazivagabundus eine Auffrischung etwa im<br />
Geiste <strong>de</strong>s entwichenen Imre Bekessy erfuhr, in<strong>de</strong>m nicht die<br />
Lumpen Knieriem und Zwirn <strong>de</strong>m Feenkönig auf <strong>de</strong>n Leim gehen<br />
und sich bessern, son<strong>de</strong>rn dank <strong>de</strong>m Sieg <strong>de</strong>s bösen Prinzips <strong>de</strong>r<br />
Leim von ihnen zur Lumperei bekehrt wird. Herr <strong>Die</strong>bold, <strong>de</strong>ssen<br />
theaterkritische Autorität sich <strong>de</strong>r Bühnenerfahrung verdankt, die<br />
er als Komparse <strong>de</strong>s Burgtheaters in <strong>de</strong>ssen Verfallszeit erworben<br />
hat, ent<strong>de</strong>ckt bei dieser Gelegenheit vor allem, daß <strong>de</strong>r Lumpazivagabundus<br />
»einmal als heute kaum verständliche Parodie von<br />
Raimunds 'Verschwen<strong>de</strong>r' lebte« — Raimunds, »<strong>de</strong>s Wienerischen<br />
Klein—Fausts«, wie Herr <strong>Die</strong>bold <strong>de</strong>kliniert — , und er ist so gebil<strong>de</strong>t,<br />
Hebbels Rachewort über Nestroy von <strong>de</strong>r stinken<strong>de</strong>n Rose<br />
falsch zu zitieren. Hauptsächlich aber rechnet er ohne Nennung<br />
eines Namens mit <strong>de</strong>n Nichtswürdigen ab, die »seit zwanzig Jahren<br />
mit erhobenem Finger« für die Be<strong>de</strong>utung Nestroys einzutreten<br />
wagen. <strong>Die</strong>s wäre nun, da es ja <strong>de</strong>m Referat <strong>de</strong>s Herrn <strong>Die</strong>bold<br />
zugehört, inappellabel wie alles, was im Gebiet einer »Fachkritik«<br />
vor sich geht, in <strong>de</strong>r doch je<strong>de</strong>r Mangel an Kompetenz<br />
37
38<br />
durch Aufgeblasenheit wettgemacht wird und zu <strong>de</strong>r in einem<br />
Theaterparkett eben <strong>de</strong>rjenige am berufensten ist, <strong>de</strong>r weniger<br />
von <strong>de</strong>r Sache versteht als die an<strong>de</strong>rn. Was aber ginge bei dieser<br />
Gelegenheit, wenn er sie sich nicht nähme, <strong>de</strong>n Herrn <strong>Die</strong>bold Offenbach<br />
an, <strong>de</strong>ssen »Perichole« doch schon von drei Kritikern <strong>de</strong>r<br />
Frankfurter Zeitung besprochen war? Er wagt es, wo das ehrwürdig<br />
lebendige Bühnenleben Nestroys geschän<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>, von einem<br />
»Auffrisieren von literarischen Mumien« zu sprechen, um auf<br />
»Offenbachs längst gestorbene 'Perichole'« übergehen zu können,<br />
die »durch <strong>de</strong>n Wiener Karl Kraus unlängst eine falsche Auferstehung<br />
aus <strong>de</strong>m Grabe hat erlei<strong>de</strong>n müssen, wo sie bei Meilhac und<br />
Halévy so köstlich ruhte«; und er scheut sich nicht, jenen in einen<br />
unaussprechlichen Zusammenhang zu bringen, um schließlich als<br />
einzigen »lebendigen Mann und echten Dichter« — gegen Nestroy<br />
und Offenbach — Herrn Zuckmayer mit <strong>de</strong>m Geleitwort »Er lebe!«<br />
auf die Nachwelt zu empfehlen, wohin zu gelangen diesem doch<br />
ausschließlich dadurch ermöglicht sein dürfte, daß in <strong>de</strong>r Fackel<br />
die Beschreibung enthalten war, wie Herr Zuckmayer die ihm von<br />
<strong>de</strong>r Firma Adler verliehene Schreibmaschine öffentlich bedienen<br />
muß. Es mag geglaubt wer<strong>de</strong>n, daß Herr <strong>Die</strong>bold, <strong>de</strong>r ganz bestimmt<br />
von <strong>de</strong>r Grabesruhe <strong>de</strong>r »Perichole« bei Meilhac und<br />
Halévy bis zur falschen Auferstehung keine Ahnung hatte, dieser<br />
in <strong>de</strong>r Staatsoper beigewohnt hat und in die Begeisterung <strong>de</strong>s Publikums,<br />
die sich tatsächlich weniger <strong>de</strong>m unsterblichen Wert <strong>de</strong>s<br />
Werks als <strong>de</strong>n billigen Humorexzessen einer großenteils mittelmäßigen<br />
Darstellung verdankt, mit gutem Gewissen nicht einzustimmen<br />
imstan<strong>de</strong> ist. Darin wür<strong>de</strong> er mit <strong>de</strong>m Autor <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen<br />
Textes, <strong>de</strong>r seinen Offenbach nicht wie<strong>de</strong>rzuerkennen vermochte,<br />
ganz und gar übereingehen. Ein Minimum von Theatersachverstand<br />
müßte ihn jedoch spüren lassen, daß weniger noch als <strong>de</strong>r<br />
Erfolg beim naiven Publikum <strong>de</strong>r Mißeindruck <strong>de</strong>m Werk selbst<br />
zuzuschreiben ist. Sogar die gehässigsten wie die dümmsten Berliner<br />
Theaterkritiker haben bloß die Tempoverschleppung durch<br />
die Schauspieler <strong>de</strong>m vermeintlichen Übel einer textlichen Länge<br />
zugeschrieben; keiner hat sein Entzücken an <strong>de</strong>r Offenbach'schen<br />
Musik durch die Aversion gegen <strong>de</strong>n Textautor gedämpft, je<strong>de</strong>r<br />
die Rettung eines verschollenen Wertes anerkannt. Herr <strong>Die</strong>bold<br />
hat — von allem abgesehen, was das sogenannte »Bestemm« über<br />
ein kritisches Gemüt vermag — wie<strong>de</strong>r einmal das Pech gehabt,<br />
sich von <strong>de</strong>r Lebendigkeit eines Musikdramas, in <strong>de</strong>m je<strong>de</strong> Note<br />
und je<strong>de</strong>s Textwort doch mehr Leben hat als <strong>de</strong>r ganze »Hauptmann<br />
von Köpenick« und eine adäquate kritische Betrachtung,<br />
nicht überzeugen zu können, weil er <strong>de</strong>n Vortrag <strong>de</strong>s Werkes in<br />
Berlin versäumt hat, aus <strong>de</strong>m er bei einiger Ehrlichkeit und etwas<br />
gutem Willen annähernd so enthusiastische Schlüsse gezogen hätte<br />
wie seine Kollegen in Wien. Er hat sich seinerzeit die »Stilmischung«<br />
in <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>s Blaubart nicht erklären können, weil er<br />
das Malheur hatte, <strong>de</strong>ssen Lamento, <strong>de</strong>n hinreißen<strong>de</strong>n Übergang<br />
aus <strong>de</strong>m Weinen ins Lachen, von Herrn Slezak anstatt von <strong>de</strong>m<br />
Vortragen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Podiums zu vernehmen, und er schließt von einer<br />
Aufführung, in <strong>de</strong>r noch die lebendigste und rapi<strong>de</strong>ste Szene<br />
<strong>de</strong>r heiteren Bühne, die Steigerung <strong>de</strong>s Rausches in »Perichole«,
als Länge wirkt, mit süffisantem Mitleid auf die Verstorbenhelt<br />
<strong>de</strong>s Werkes, über das er doch schon zu an<strong>de</strong>rer Ansicht gelangt<br />
wäre, wenn er nur <strong>de</strong>n gedruckten Text gelesen hätte. Daß Herr<br />
<strong>Die</strong>bold auch hier wie so häufig ein Theaterwissen usurpiert, das<br />
ihm nicht zukommt, beweist er, wie nicht min<strong>de</strong>r häufig, gleich an<br />
Ort und Stelle. Denn wenn er bloß das Vorwort zur Buchausgabe<br />
angesehen hätte, so könnte er die »Perichole« — <strong>de</strong>ren Urtext zu<br />
kennen er vorgibt, wiewohl er vor <strong>de</strong>r Lektüre <strong>de</strong>s Berliner Theaterzettels<br />
kaum <strong>de</strong>ren Namen gekannt haben dürfte — unmöglich<br />
zu »diesen freien Bearbeitungen von erledigten Werken« zählen,<br />
weil er dann informiert wäre, daß hier zwar eine neue Übersetzung,<br />
aber nichts weniger als eine »freie Bearbeitung« vorliegt,<br />
die wie im an<strong>de</strong>rn Fall Handlung und Sinn umkrempelt und eine<br />
berühmte Musik durch neue Gassenhauer ersetzt, son<strong>de</strong>rn eine<br />
mit <strong>de</strong>m höchsten Respekt vor <strong>de</strong>m Originalwerk besorgte Restaurierung,<br />
<strong>de</strong>r es gelingen sollte, durch Beseitigung eines dramaturgischen<br />
Fehlers, über <strong>de</strong>n die französischen Autoren in zwei Fassungen<br />
nicht hinüberkommen konnten, das wertvollste Musikdrama<br />
Offenbachs Note auf Note für die Bühne zu retten. Schon ein<br />
Blick auf <strong>de</strong>n mitgedruckten französischen Gesangstext müßte einem<br />
halbwegs gewissenhaften Kritiker die Lust benehmen, hier<br />
zugleich an <strong>de</strong>m Wert <strong>de</strong>s Originals zu zweifeln und eine modische<br />
»Auffrisierung« zu vermuten. Natürlich Ist es vor allem Sache<br />
<strong>de</strong>s Lesers einer Zeitung, sich nicht auszukennen, wenn ihm<br />
nicht nur aus Wien und Berlin über dieselbe Erscheinung diametral<br />
entgegengesetzte Meinungen beigebracht wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn<br />
wenn <strong>de</strong>r Berliner Korrespon<strong>de</strong>nt sich vielleicht auch darum gereizt<br />
fühlt, <strong>de</strong>n Erwecker <strong>de</strong>r Perichole als Mumienschän<strong>de</strong>r hinzustellen,<br />
weil kurz zuvor <strong>de</strong>r Darmstädter Korrespon<strong>de</strong>nt gegenüber<br />
einer Ermordung <strong>de</strong>s Blaubart, <strong>de</strong>n Herr <strong>Die</strong>bold nicht für lebensfähig<br />
erklärt hat, sich auf eben jenen berief, <strong>de</strong>r »einzig sich<br />
geistig legitimiert und theatralisch begabt genug zeige, um <strong>de</strong>n<br />
Geist Offenbachs und seiner Werktypen wie<strong>de</strong>r heraufzubeschwören<br />
und zu dieser, unserer Zeit gültig sprechen zu lassen«. Gewiß,<br />
selbst ein noch so animos gefärbtes Mißurteil, das nicht nur <strong>de</strong>r<br />
stärksten Gelegenheit, sich Lügen strafen zu müssen: <strong>de</strong>m Eindruck<br />
<strong>de</strong>s Vortrags, aus <strong>de</strong>m Wege geht, son<strong>de</strong>rn auch die heimlich<br />
erlangbare Möglichkeit einer Revision durch Lektüre, die Gefahr<br />
<strong>de</strong>s Respekts vor einer nachweisbaren Sprachleistung vermei<strong>de</strong>t<br />
— gewiß, selbst <strong>de</strong>r unkontrollierbare Vorgang einer Urteilsbildung,<br />
die ein Vorurteil zur öffentlichen Meinung ausprägt,<br />
vermöchte sich noch immer als Fachkritik zu gebär<strong>de</strong>n, wenn <strong>de</strong>r<br />
Täter ressortmäßig gestützt, wenn Herr <strong>Die</strong>bold als zuständiger<br />
Referent berufen wäre, über die »Perichole« seine unmaßgebliche<br />
und <strong>de</strong>nnoch maßgeben<strong>de</strong> Ansicht zu äußern. Wie er aber diese<br />
bei <strong>de</strong>n Haaren herbeizieht, um in einem gewollt absur<strong>de</strong>n Zusammenhang<br />
etwas gegen <strong>de</strong>n Bearbeiter <strong>de</strong>r »Perichole« und gegen<br />
diese selbst um <strong>de</strong>s Bearbeiters willen vorzubringen, bil<strong>de</strong>t sicherlich<br />
eine <strong>de</strong>r stärksten moralischen Sensationen, <strong>de</strong>ren das kritische<br />
Handwerk seit langem fähig war, und man wäre begierig zu<br />
erfahren, ob dieser Fall nicht auch auf <strong>de</strong>m Wiener Kongreß <strong>de</strong>r<br />
Zeitungsverleger in <strong>de</strong>m Kapitel vorgekommen ist, das <strong>de</strong>n beru-<br />
39
40<br />
higen<strong>de</strong>n Titel führte: »<strong>Die</strong> Wahrhaftigkeitspflicht <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />
Presse«. Es wird Sie vielleicht interessieren, daß wir unter an<strong>de</strong>rn<br />
von französischer literarischer Seite auf die Tat <strong>de</strong>s Herrn <strong>Die</strong>bold<br />
aufmerksam gemacht wur<strong>de</strong>n und zwar mit <strong>de</strong>r ausgesprochenen<br />
Vermutung, daß sie »nicht so sehr dumm als unehrlich« sei. Aber<br />
das Aufsehen in Berlin, Wien und Prag, kurz überall dort, wo man<br />
die »Perichole« vom Podium gehört hatte, und auch in Kreisen,<br />
die <strong>de</strong>r Frankfurter Zeitung nahestehen, war nicht geringer, und<br />
die allgemeine Ansicht, <strong>de</strong>r sich Herr Karl Kraus diesmal anschließt,<br />
geht dahin, daß Herr <strong>Die</strong>bold ein befangener Kunstrichter<br />
sei, <strong>de</strong>r nicht allein dort, wo er die äußere Befugnis hat seine<br />
Ranküne in die Wagschale zu werfen, von ihr Gebrauch macht,<br />
son<strong>de</strong>rn förmlich die Gelegenheit sucht, sie gegen das enthusiastische<br />
Urteil <strong>de</strong>s eigenen Blattes durchzusetzen. <strong>Die</strong>se Neigung <strong>de</strong>s<br />
Herrn <strong>Die</strong>bold wenn schon nicht zu beweisen, da man ja psychische<br />
Vorgänge nicht obduzieren kann, so doch vor aller Welt<br />
glaubhaft zu machen, erklärt sich Herr Karl Kraus überall dort bereit,<br />
wo Herr <strong>Die</strong>bold ihm die Gelegenheit dazu so leicht verschafft<br />
wie er sich selbst die Gelegenheit, jener zu frönen, und vor<br />
je<strong>de</strong>m Forum, das im Vergleich einer Aufführung, <strong>de</strong>r Herr <strong>Die</strong>bold<br />
als Privatmann, und eines Vortrags, <strong>de</strong>m zwei an<strong>de</strong>re Mitarbeiter<br />
<strong>de</strong>r Frankfurter Zeitung als Referenten beigewohnt haben,<br />
zu entschei<strong>de</strong>n haben wür<strong>de</strong>, ob <strong>de</strong>r Schluß von <strong>de</strong>m Eindruck auf<br />
das Werk selbst hier o<strong>de</strong>r dort berechtigt o<strong>de</strong>r auf persönliche Befangenheit<br />
zurückzuführen sei. Um diese Entscheidung zu ermöglichen,<br />
wür<strong>de</strong> dafür gesorgt wer<strong>de</strong>n, daß Herr <strong>Die</strong>bold <strong>de</strong>r Reihe<br />
nach über sämtliche publizistischen und privaten Diversionen zu<br />
einer Sache <strong>de</strong>s Herrn Karl Kraus Rechenschaft abzulegen und<br />
die Frage zu beantworten hätte, ob er sich nicht durch die regelmäßig<br />
vorausgegangenen Anfechtungen seiner kritischen Kompetenz<br />
durch die Fackel alteriert gefühlt habe, und es wür<strong>de</strong> insbeson<strong>de</strong>re<br />
auch dafür gesorgt wer<strong>de</strong>n, daß nicht nur <strong>de</strong>m Beruf,<br />
son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>r speziellen Wirksamkeit <strong>de</strong>s Herrn <strong>Die</strong>bold nahestehen<strong>de</strong><br />
Kreise über <strong>de</strong>n gera<strong>de</strong>zu nie<strong>de</strong>rschmettern<strong>de</strong>n Eindruck<br />
aussagen, <strong>de</strong>n seine offensive Einmischung in eine künstlerische<br />
Angelegenheit hervorgerufen hat, <strong>de</strong>r sie mit zahllosen Auditorien<br />
das lebendigste, reinste und beglückendste Erlebnis verdanken.<br />
Für Ihre so freudige Bereitwilligkeit, uns gegen <strong>de</strong>n<br />
Herrn Hesse—Gesell beizustehen, haben wir ihnen gedankt, und<br />
nicht min<strong>de</strong>r wußten wir es zu schätzen, daß Sie sich bei uns über<br />
Äußerungen, die Ihnen die Wahrheitsliebe <strong>de</strong>s Herrn Großmann<br />
zu beeinträchtigen schienen, vergewissert haben. Es wäre aber<br />
auch an <strong>de</strong>r Zeit, daß Sie nicht nur uns, son<strong>de</strong>rn Ihrem eigensten<br />
publizistischen Ansehen gegen <strong>de</strong>n Herrn <strong>Die</strong>bold beistehen und,<br />
ehe Sie ihm das Wort in einer Sache <strong>de</strong>s Herrn Karl Kraus erteilen,<br />
seine Wahrheitsliebe durch Erkundigung bei uns nachprüfen.<br />
Wie immer Sie es jedoch damit halten mögen, <strong>de</strong>r Herausgeber<br />
<strong>de</strong>r Fackel wird sich und das öffentliche Interesse, für das er<br />
wirkt, auch in diesem Falle selbst zu schützen wissen. Denn Sie<br />
wer<strong>de</strong>n, wenn es Ihnen nicht längst schon bekannt ist, sogar aus<br />
<strong>de</strong>n Essays, die Sie zur Würdigung seiner Arbeit veröffentlichten,<br />
klar entnommen haben, daß er nicht Neigung und Geduld hat,
nach<strong>de</strong>m er durch mehr als dreißig Jahre <strong>de</strong>n Ausübern journalistischer<br />
Anmaßung im kulturellen Bereich auf die Finget gesehen<br />
hat, diesen Hang in seinem eigensten Bezirk und an ihm selbst<br />
sich austoben zu lassen.<br />
Mit vorzüglicher Hochachtung<br />
Der Verlag <strong>de</strong>r Fackel.<br />
*<br />
Wir lesen in <strong>de</strong>r 'Frankfurter Zeitung': Vor einigen Jahren heiratete<br />
ein sechsundvierzigjähriger Kaufmann in Warschau ein um<br />
zwanzig Jahre jüngeres Mädchen. — —<br />
Interessant, aber etwas an<strong>de</strong>res hat die Neue Freie Presse in <strong>de</strong>r Frankfurter<br />
Zeitung (25. Juni) übersehen:<br />
Theater <strong>de</strong>r Dichtung<br />
Seit vielen Jahren liest Karl Kraus in Berlin, in Wien, in Prag, in<br />
Paris, in München und an an<strong>de</strong>ren Orten Goethe, Shakespeare,<br />
Gogol, Nestroy, We<strong>de</strong>kind, Offenbach unter <strong>de</strong>m Programmwort<br />
»Theater <strong>de</strong>r Dichtung«. Reiner als in allen Theateraufführungen<br />
<strong>de</strong>r Zeit führt in diesen Vorlesungen <strong>de</strong>r Geist Regie. Ein Podium,<br />
auf <strong>de</strong>m sich nichts befin<strong>de</strong>t als ein Tisch und ein Stuhl, zaubert<br />
die geniale Kraft und Theaterlei<strong>de</strong>nschaft dieses Vorlesers zur<br />
vielstimmigen, lebendigsten Bühne um.<br />
<strong>Die</strong>s als Einleitung zu einem Abdruck <strong>de</strong>s Aufrufs, <strong>de</strong>r jetzt mit <strong>de</strong>m Motto<br />
Frank We<strong>de</strong>kinds und vielen Unterschriften <strong>de</strong>utscher und französischer Namen<br />
versandt wird. Es wür<strong>de</strong> hier nicht zitiert wer<strong>de</strong>n, wenn es nicht als eine<br />
Art Antwort <strong>de</strong>r 'Frankfurter Zeitung' auf jenen Brief und als Äußerung zum<br />
Fall <strong>Die</strong>bold <strong>de</strong>utlich zu erkennen wäre.<br />
Notizen<br />
<strong>Die</strong> Abfassung und Versendung jenes Aufrufs zur Gründung eines<br />
»Theaters <strong>de</strong>r Dichtung« als eines Ensembletheaters, <strong>de</strong>r als Motto eine in<br />
<strong>de</strong>r Fackel gedruckte Anre<strong>de</strong> verwen<strong>de</strong>t, ist die wohlgemeinte und vom Vortragen<strong>de</strong>n<br />
keineswegs veranlaßte o<strong>de</strong>r unterstützte Handlung ihm unbekannter<br />
Hörer (welche weit größere Hoffnungen in die Realisierbarkeit <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e<br />
setzen als er selbst). Daß nicht er es ist, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Aufruf versen<strong>de</strong>t, geht aus<br />
<strong>de</strong>m Text klar hervor; nur weil Zeitungen und Zeitschriften zwar zitieren,<br />
aber nicht lesen können, muß es ausdrücklich erklärt sein.<br />
Wenn Zeit und Umstän<strong>de</strong> es erlauben, soll einmal zu <strong>de</strong>r Aufführung eines<br />
angeblichen »König Lear« durch Herrn Bassermann im Deutschen Volkstheater,<br />
bei <strong>de</strong>r das einzige Tragische meine Anwesenheit war, ein Kapitel<br />
Dramaturgie und Bühnensprachlehre beigesteuert wer<strong>de</strong>n. »Jetzt be<strong>de</strong>ckt uns<br />
Schweiß und Blut.«<br />
*<br />
— — Niemand an<strong>de</strong>rer, als eben die Bergner, spricht, aka<strong>de</strong>misch<br />
genommen, so mangelhaft, so durchsetzt mit Dialekt, so nachlässig<br />
in <strong>de</strong>r Vokalisierung. Und doch läßt sich keine an<strong>de</strong>re fin<strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>ren Sprechen alle aka<strong>de</strong>mischen Gesetze so wirkungsvoll aus-<br />
41
löscht, <strong>de</strong>ren Sprechen so hol<strong>de</strong> Seelenmusik wird, so melodisch,<br />
so einschmeichelnd, so hinreißend beredsam. Ihre Erscheinung ist<br />
dürftig, aber von dieser kleinen, dürftigen Erscheinung, von dieser<br />
geringen Personage, die sich außer<strong>de</strong>m noch schlecht o<strong>de</strong>r unachtsam<br />
hält, geht ein Zauber aus, <strong>de</strong>m man nicht zu wi<strong>de</strong>rstehen<br />
vermag.<br />
Ganz so, wie es <strong>de</strong>m guten alten Salten scheint, <strong>de</strong>r wirklich stärkere Schauspielerinnen<br />
gesehen hat, ist es nun nicht. Das Unaka<strong>de</strong>mische — die Wolter,<br />
<strong>de</strong>m Heroinenmaß nicht gewachsen, war lange Zeit vorbildlich für Dialekt<br />
und nachlässige Vokalisierung — be<strong>de</strong>utet we<strong>de</strong>r Minus noch Wert. Doch <strong>de</strong>r<br />
Zauber <strong>de</strong>r Bergner ist eine Privatangelegenheit, <strong>de</strong>ren Umsetzung in Bühnenwirkung<br />
nur in einer dissoluten Theaterzeit, die oben und unten kein Ensemble<br />
hat, möglich wur<strong>de</strong>. <strong>Die</strong>se Wirkung — erlaubt, wo das Wort improvisiert<br />
o<strong>de</strong>r ersetzt wer<strong>de</strong>n kann, unleidlich bei Shakespeare — vollzieht sich<br />
überhaupt nicht mit <strong>de</strong>m Mittel <strong>de</strong>r Bühnensprache. Künstlerische und in allen<br />
Theaterzeiten vorstellbare Substanz <strong>de</strong>r Bergner, <strong>de</strong>r ein Gott zu sagen<br />
nahm, was sie lei<strong>de</strong>t, ist die Fähigkeit mimischen Ausdrucks, die allerdings,<br />
wie nach <strong>de</strong>m greulichen Ariane—Tonfilm zugegeben wer<strong>de</strong>n muß, etwas Außeror<strong>de</strong>ntliches<br />
ist. Wo <strong>de</strong>r Film tönt, dient er — weit über das übliche Maß<br />
hinaus, wonach im erreichten technischen Stand Bauchredner mit <strong>de</strong>r Zunge<br />
an die Leinwand stoßen — förmlich zur Darstellung <strong>de</strong>s »Versagens«, eines<br />
Mangels, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Natur verhängt scheint, um die Verständigung, über das<br />
Gesprochene durch das schöne stumme Spiel zu ermöglichen. Blandine Ebinger<br />
lispelt von <strong>de</strong>m hol<strong>de</strong>sten Wun<strong>de</strong>r, mit <strong>de</strong>m Sprache die Frauennatur szenisch<br />
beglaubigt. Unirdisch je<strong>de</strong>s Wort ihrer »Trommlerin«, sirenenhaft je<strong>de</strong>r<br />
Ton, mit <strong>de</strong>m sie im Couplet das Irdischeste zu sagen hat. Wäre nicht Herr<br />
Jeßner Regisseur ihrer Ophelia gewesen (son<strong>de</strong>rn ein an<strong>de</strong>rer), ihr Blumentanz<br />
in <strong>de</strong>n Tod wäre als Eindruck geblieben: bis zu <strong>de</strong>m Symbol <strong>de</strong>s Untergangs<br />
in solcher Theaterzeit, »in<strong>de</strong>s sie Stellen alter Weisen sang, als ob sie<br />
nicht die eigne Not begriffe, wie ein Geschöpf, geboren und begabt für dieses<br />
Element«.<br />
FUNKSTUNDE<br />
19. Mai, 9 Uhr 10<br />
Sen<strong>de</strong>rgruppe Berlin (auch nach Breslau)<br />
Vorlesung Karl Kraus<br />
Der Alpenkönig und <strong>de</strong>r Menschenfeind<br />
(I, 7, 11 bis 21)<br />
Vorre<strong>de</strong>: Heinrich Fischer<br />
Begleitung: Alexan<strong>de</strong>r Ecklebe<br />
*<br />
25. Mai, 8 Uhr<br />
Berlin — Stettin — Mag<strong>de</strong>burg<br />
(Auch nach Königsberg)<br />
Offenbach—Zyklus IX:<br />
Blaubart<br />
Operette in drei Akten (vier Bil<strong>de</strong>rn) von Jaques Offenbach, Text nach<br />
Meilhac und Halévy von Julius Hopp. Bearbeitung und Wortregie:<br />
42
Karl Kraus. — Dirigent: Generalmusikdirektor Paul Breisach. — Leitung:<br />
Cornelis Bronsgeest<br />
Herren und Damen, Pagen und Leibwachen vom Hofe <strong>de</strong>s Königs,<br />
Reisige <strong>de</strong>s Ritters Blaubart, Bauern und Bäuerinnen.<br />
<strong>Die</strong> Handlung spielt in <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>r Kreuzzüge<br />
Chöre: Maximilian Albrecht<br />
Berliner Funk—Orchester<br />
Nun, da <strong>de</strong>r Offenbach—Zyklus eigentlich been<strong>de</strong>t ist, wäre dankbar festzustellen,<br />
daß die Arbeit mit <strong>de</strong>n Überresten <strong>de</strong>r Theaterbetriebe, die <strong>de</strong>r Rundfunk<br />
gewährt, erfreulicher war und künstlerisch ergebnisreicher als die mit<br />
je<strong>de</strong>m geschlossenen Ensemble und daß die akustischen Kulissen reinere<br />
Theaterluft umfaßt haben. Es gelang, bei vollem Einsatz <strong>de</strong>r Leistung von<br />
Chor und Orchester, <strong>de</strong>m Offenbach—Stil durch eine zielbewußte Zurückdrängung<br />
<strong>de</strong>s Opernelements nahezukommen, <strong>de</strong>ssen eigentliche Vertreter<br />
jedoch (die Damen Eisinger, Frind und Hussa) wie die mitwirken<strong>de</strong>n Kräfte<br />
<strong>de</strong>r neuen Operette (Alfred Braun, Rita Georg und Tru<strong>de</strong> Hesterberg) durch<br />
sprachliche Arbeit weit über das Niveau <strong>de</strong>r Theatergewöhnung gebracht<br />
wer<strong>de</strong>n konnten. Bei doppelt so viel Proben wären mit diesen neun Ensembles<br />
mustergültige Offenbach—Aufführungen zu erreichen. Nebst einer ganzen<br />
Reihe stilechter Leistungen im Dialog o<strong>de</strong>r Sprechgesang (wie <strong>de</strong>r Herren<br />
Alexan<strong>de</strong>r, Kuthan, Kuttner, Loos, Pröckl und Rex, <strong>de</strong>r Damen Roma Bahn, Josefine<br />
Dora, Käte König und Jenny Marba); nebst <strong>de</strong>r Überbietung vollsten<br />
Bühnenlebens durch rein akustische Eindrücke wie: Sarmientos Anwerbung<br />
<strong>de</strong>s Roland in »Saragossa« (Bronsgeest und Donath), das Stiefel—Finale in<br />
»Briganten« (Leopold Hainisch und Chor), die Offenbach—Huldigung <strong>de</strong>r Zanetta<br />
in »Trapezunt« (Cäcilie Lvovsky) und <strong>de</strong>n verklingen<strong>de</strong>n Ruf <strong>de</strong>s Alvarez<br />
in »Blaubart« (Peter Lorre), ist mit beson<strong>de</strong>rem Dank das Hervortreten eines<br />
43
echten Gesangskomikers (namentlich in »Madame l'Archiduc« und »Perichole«)<br />
zu vermerken: Leo Reuß, <strong>de</strong>r ganz naturhaft wie<strong>de</strong>r die durch <strong>de</strong>n neuen<br />
Antihumor unterbrochene Tradition fortsetzt. — <strong>Die</strong> Rundfunkkritik, <strong>de</strong>r Not<br />
gehorchend, nicht <strong>de</strong>r eignen Dummheit, konnte bei aller Unbeliebtheit <strong>de</strong>s<br />
Bearbeiters und Wortregisseurs nicht umhin, die lebendige, allem heutigen<br />
Maß entrücken<strong>de</strong> Theaterwirkung dieses Offenbach—Zyklus zuzugeben und<br />
anzuerkennen. Sie stellt eine Einrichtung dar, die in ihrer Simplizität weit<br />
staunenswerter ist als das Radio selbst. (Hoffentlich kommt einmal die Gelegenheit,<br />
die Wun<strong>de</strong>r dieser Technik — ich habe sie alle gesammelt — zu beschreiben.)<br />
Man könnte aber auch sagen: Ein unvermeidliches Übel <strong>de</strong>s Rundfunks,<br />
das schwer auf die Nerven <strong>de</strong>r Mitwirken<strong>de</strong>n fällt, sind heute noch diese<br />
journalistischen Nebengeräusche. Der Fortschritt hält noch nicht so weit,<br />
zu verhin<strong>de</strong>rn, daß Zurückgebliebene zuhören. Aber wenn er einmal so weit<br />
halten wird, daß man sie dabei sehen kann, dann ist zu hoffen, daß sie sich<br />
genieren wer<strong>de</strong>n.<br />
*<br />
»Offenbach beherrscht das <strong>de</strong>utsche Rundfunkprogramm. Nach<br />
einer statistischen Aufstellung <strong>de</strong>r Reichsrundfunkgesellschaft,<br />
die Erhebungen darüber angestellt hat, welche literarischen und<br />
musikalischen Werke von <strong>de</strong>n neun <strong>de</strong>utschen Sen<strong>de</strong>gesellschaften<br />
in <strong>de</strong>r Zeit vom Oktober 1929 bis einschließlich September<br />
1930 bevorzugt wor<strong>de</strong>n sind, steht Offenbach mit 54 Aufführungen<br />
seiner Werke an <strong>de</strong>r Spitze. Erst mit großem Abstand (mit je<br />
20 Aufführungen) folgen Operetten von Franz Lehar und Leo Fall.<br />
— — «<br />
Das Neue Wiener Journal hat seinerzeit <strong>de</strong>n Generalmusikdirektor<br />
Klemperer <strong>de</strong>n Plab, die »Perichole« an seiner Berliner Staatsoper aufzuführen,<br />
mitteilen lassen, und jetzt erfahren die Wiener Leser aus einem »Gespräch<br />
mit Artur Bodanzky«, <strong>de</strong>m musikalischen Leiter <strong>de</strong>r Metropolitanoper<br />
in Newyork, daß die Aufführung tatsächlich stattgefun<strong>de</strong>n hat:<br />
— — In Berlin München und Köln hatte ich Gelegenheit, einigen<br />
sehenswerten Aufführungen beizuwohnen, worunter ich Offenbachs<br />
»Perichole« beson<strong>de</strong>rs erwähnen möchte.<br />
Ich wür<strong>de</strong> ja nicht <strong>de</strong>sgleichen tun, da ich ein ziemlich genauer Kenner <strong>de</strong>s<br />
Werkes bin. Immerhin scheint genug davon übriggeblieben zu sein, um bis<br />
zur Sperrung <strong>de</strong>r Krolloper an die zwanzig Aufführungen zu ermöglichen und<br />
das Entzücken berühmter Musiker zu rechtfertigen. Wie es da nur kommen<br />
mag, daß die Flöten <strong>de</strong>r Korrespon<strong>de</strong>nten schweigen? Und rutscht so etwas<br />
durch o<strong>de</strong>r hat <strong>de</strong>r Interviewte Vollständigkeit zur Bedingung gemacht? Bei<br />
<strong>de</strong>r Neuen Freien Presse wär's ihm nicht gelungen. Da hat Herr Goldmann sogar<br />
unter <strong>de</strong>n siebzehn Offenbach—Melodien, die <strong>de</strong>r junge Korngold in die<br />
»Schöne Helena« zu stopfen gewagt hat, eine aus »Perichole« verschweigen<br />
müssen. »Seufzerbrücke« — da ist <strong>de</strong>r Zusammenhang nicht so bekannt, da<br />
hat jener, wiewohl immerhin Millionen Funkhörer von ihr wissen, noch fragen<br />
können:<br />
Wer weiß heute noch, daß alle diese Operetten und Opern existieren,<br />
wer kennt auch nur die Titel?<br />
Aber <strong>de</strong>n Titel »Perichole« zum erstenmal bei Gelegenheit <strong>de</strong>r »Helena« zu<br />
nennen, wäre <strong>de</strong>nn doch nicht möglich gewesen. Ist das eine Gesellschaft!<br />
Und <strong>de</strong>rgleichen hat es endlich durchgesetzt, daß <strong>de</strong>r Begriff einer »<strong>Ehre</strong> <strong>de</strong>r<br />
44
Presse« gesetzlich anerkannt wird und Individuen sich beleidigt fühlen dürfen,<br />
wenn man ganz allgemein das, was sie erzeugen, ein Dreckblatt nennt.<br />
Wien, <strong>de</strong>n 8. Juni 1931<br />
Sehr verehrter Meister Kraus!<br />
Wie wir erfahren kommen an <strong>de</strong>n Berliner Reinhardtbühnen von<br />
Ihnen bearbeitete Offenbachoperetten heraus und gestatten wir<br />
uns hiermit, unsere <strong>Die</strong>nste für die Besetzung dieser Operetten<br />
anzubieten. Bitte sich über meine Leistungsfähigkeit, bei <strong>de</strong>r Direktion<br />
<strong>de</strong>s Theaters in <strong>de</strong>r Josefstadt sowie bei <strong>de</strong>r Direktion <strong>de</strong>r<br />
Marischka Karczagbühnen (<strong>de</strong>ren alleiniger Vertreter ich bin) zu<br />
informieren.<br />
Ich wür<strong>de</strong> mich sehr geehrt fühlen, für Sie irgendwie tätig sein zu<br />
können<br />
und zeichne mit vorzüglicher<br />
Hochachtung<br />
— —<br />
10. Juni 1931<br />
An das Theatergeschäftsbüro — —<br />
Wir danken für ihr freundliches Anbot ihrer <strong>Die</strong>nste für Besetzungen,<br />
möchten Sie aber fragen, von wem Sie erfahren haben, daß<br />
»an <strong>de</strong>n Berliner Reinhardtbühnen von Karl Kraus bearbeitete Offenbachoperetten<br />
herauskommen«. <strong>Die</strong> dramaturgischen Beziehungen<br />
<strong>de</strong>s Herrn Karl Kraus zu <strong>de</strong>n genannten Bühnen beschränken<br />
sich darauf, daß er ihrem Leiter gelegentlich in Berlin—Moabit<br />
bei Zeugenaussagen begegnet ist. Ganz abgesehen davon<br />
könnten wir die von Ihnen empfohlene Erkundigung über Ihre<br />
Leistungsfähigkeit lei<strong>de</strong>r nicht vornehmen, weil wir we<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r<br />
Direktion <strong>de</strong>s Theaters in <strong>de</strong>r Josefstadt noch mit <strong>de</strong>n Marischka<br />
Karczagbühnen (<strong>de</strong>ren alleiniger Vertreter Sie sind) in Verbindung<br />
stehen.<br />
Mit vorzüglicher Hochachtung<br />
— —<br />
<strong>Die</strong> bedingte Verurteilung armer Schauspieler wegen eines Religions<strong>de</strong>likts,<br />
<strong>de</strong>ssen Vollendung Herr Reinhardt wegen seiner Verbindung mit <strong>de</strong>m<br />
Erzbischof von Salzburg unterlassen hat, verdient unbedingte Verurteilung.<br />
Aber <strong>de</strong>r »verbroigte Loibusch« — das bis heute noch nicht enträtselte Symbol<br />
aller heimischen Wirrnis in Wort und Tat — wäre mit allem, was als Gewalttätigkeit<br />
verklei<strong>de</strong>ter Protektionsgeist, was als Parteifurcht verkappte<br />
Gottesfurcht da angestellt haben, beiweitem nicht vollständig, wenn nicht die<br />
berufsmäßige Frei<strong>de</strong>nkerei dazukäme, die wie<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>n Versuch, mit Gott ein<br />
Theatergeschäft zu machen, unter ihre Fittiche nimmt. Ein Ketzer ist Herr<br />
Hasenclever weiß Gott nicht, und ihn, gleich <strong>de</strong>m sozial<strong>de</strong>mokratischen Verteidiger<br />
Eisler, »einen <strong>de</strong>r begabtesten und ernstesten jungen <strong>de</strong>utschen<br />
Dichter« zu nennen, <strong>de</strong>m es »sich um eine ernste Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit<br />
<strong>de</strong>m Gottesbegriff gehan<strong>de</strong>lt hat«, dürfte an Kühnheit sein geistiges Wagnis<br />
stark übertreffen. Ein Religions<strong>de</strong>likt hat er beiweitem nicht begangen, wohl<br />
aber <strong>de</strong>n Mangel eines Strafgesetzes fühlbar gemacht, das es verböte, mit<br />
45
niedrigen Scherzen über höhere Dinge — ob sie nun Gott o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Menschen,<br />
Kunst o<strong>de</strong>r Natur, Liebe o<strong>de</strong>r Leid betreffen — Tantiemen zu erstreben. Einer<br />
Sozial<strong>de</strong>mokratie, die sich <strong>de</strong>m Unterfangen als Hort zur Verfügung stellt und<br />
die Libertinage ohne Prüfung geistiger Befugnis protegiert, seien die Sätze zitiert,<br />
die die 'Vossische Zeitung' sonst die Zuflucht aller Linksbüberei, über<br />
ein Werk <strong>de</strong>s Herrn Hasenclever und <strong>de</strong>s in Wien beson<strong>de</strong>rs goutierten Toller<br />
schreibt, über <strong>de</strong>n Film »Menschen hinter Gittern«, und zwar unter <strong>de</strong>m Titel<br />
»Zuchthaus und Happy end«:<br />
<strong>Die</strong> Dialoge sind freilich ein Kapitel für sich. Daß sie als Papier<strong>de</strong>utsch<br />
bestehen, wäre eine zu geringe Charakterisierung für diesen<br />
unwahrhaftigen, leeren und geschmacklosen Gallert, <strong>de</strong>n wir<br />
zwei Stun<strong>de</strong>n lang zu hören bekamen. Da sitzt kein Wort richtig,<br />
und je<strong>de</strong>r Ton ist unecht. Bald schmalzige Hel<strong>de</strong>npose — bald unerträglicher<br />
»Humor«. Um nur ein einziges Beispiel zu nennen: da<br />
sagt ein Häftling über <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn, er sei doch eigentlich gar kein<br />
gewalttätiger Kerl, <strong>de</strong>nn er habe zwar seiner Mutter <strong>de</strong>n Hals<br />
durchgeschnitten, aber hinterher habe es ihm leid getan! Wenn<br />
Walter Hasenclever einen solchen Dialog mit seinem Schriftstellernamen<br />
<strong>de</strong>ckt, so ist das seine Sache. Daß aber auch Ernst Toller,<br />
<strong>de</strong>r doch das Leben <strong>de</strong>r Gefangenen aus eigener qualvoller Erfahrung<br />
kennt, jetzt Witzchen darüber im Stil von »3 Tage Mittelarrest«<br />
reißt — wie soll man solche Wandlung wohl begreifen?<br />
<strong>Die</strong> Wandlung, die keine geistige Persönlichkeit berührt hat, war schon eingetreten,<br />
als Herr Toller sein Erlebnis für Mosse gebrauchsfertig machte. In<br />
Berlin kommen die Chefs <strong>de</strong>r Warenhäuser allmählich dahinter. In Wien wird<br />
man noch lange die Hasenclever, Toller, Tucholsky und Kästner, die kaum das<br />
Feuilletonmaß haben, wegen ungenierten Betragens für Freiheitskämpfer halten.<br />
*<br />
<strong>Die</strong> Kompagnone <strong>de</strong>s Films »Menschen hinter Gittern« erklären, daß sie<br />
gegen die Verunstaltung ihres Geisteswerks protestiert und die Weglassung<br />
ihrer Dichternamen durchgesetzt haben. Bis zu <strong>de</strong>m Tag <strong>de</strong>r Vorführung<br />
scheint ihnen dies nicht gelungen zu sein. Der Vollständigkeit halber müßten<br />
sie nun auch erläutern, worin sich die Filmleute, <strong>de</strong>nen sie ihren Text anvertrauten,<br />
an diesem vergriffen haben und wie er ursprünglich beschaffen war.<br />
In so glaubhaftem Maße wie bei Brecht erscheint bei <strong>de</strong>n Herren Hasenclever<br />
und Toller eine Reduzierung <strong>de</strong>s geistigen Niveaus kaum durchführbar.<br />
Wien, 12. Juni<br />
An die Funk—Stun<strong>de</strong><br />
Berlin—Charlottenburg<br />
Wir bestätigen mit <strong>de</strong>m besten Dank <strong>de</strong>n Empfang <strong>de</strong>r Mitteilung,<br />
daß Sie für das im Rahmen einer Feierstun<strong>de</strong> zum Vortrag gelangte<br />
Gedicht »Zum ewigen Frie<strong>de</strong>n« eine Lizenzgebühr überwiesen<br />
haben. Wir möchten Sie nur grundsätzlich ersuchen, uns in etwaigen<br />
künftigen Fällen vorher <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>s Vortragen<strong>de</strong>n bekanntzugeben,<br />
weil wir nach vielen üblen Erfahrungen die Lizenz<br />
als solche nicht je<strong>de</strong>m Vortragen<strong>de</strong>n erteilen können und manchem<br />
auch schon entzogen haben. Es ginge nun also doch wohl<br />
nicht an, daß etwa ein Vortragen<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>m wir selbst die Erlaubnis<br />
schon verweigert haben, gleichwohl eine Arbeit in sein Funkpro-<br />
46
gramm — gegen Saalvorträge besteht kein Schutz — ohneweiters<br />
aufnimmt. Wir vermuten ja durchaus nicht, daß <strong>de</strong>r Vortragen<strong>de</strong><br />
ihrer »Feierstun<strong>de</strong>« in diese Reihe gehört, möchten Sie aber in<br />
diesem Falle gleichwohl bitten, uns wenigstens nachträglich —<br />
auch wegen eines möglichen statistischen Ausweises — Namen<br />
(und Datum) bekanntzugeben. Auch möchten wir bemerken, daß<br />
wir in je<strong>de</strong>m bisherigen Fall die Erlaubnis <strong>de</strong>s Vortrags eines Werkes<br />
von Karl Kraus stets von <strong>de</strong>r Angabe <strong>de</strong>s Programmes abhängig<br />
gemacht haben, da <strong>de</strong>r Autor es grundsätzlich ablehnt, in <strong>de</strong>r<br />
Umgebung gewisser seit <strong>de</strong>m Kriegsschluß pazifistischer Literaten<br />
(wie z. B. <strong>de</strong>r Herren Kerr und Tucholsky) zu erscheinen. Sollte<br />
entgegen unserer Annahme keine autorrechtliche Möglichkeit<br />
solcher Verhin<strong>de</strong>rung und bloß <strong>de</strong>r Anspruch auf die Lizenzgebühr<br />
bestehen, so ist unser Wunsch selbstverständlich gegenstandslos,<br />
es wäre <strong>de</strong>nn, daß Sie gleichwohl bereit sind, ihn in Zukunft<br />
wie nachträglich zu erfüllen. In diesem Falle möchten wir<br />
Sie bitten, uns auch das Programm, in <strong>de</strong>m »Zum ewigen<br />
Frie<strong>de</strong>n« Platz gefun<strong>de</strong>n hat, gefälligst mitzuteilen.<br />
Mit <strong>de</strong>m besten Dank im Voraus und<br />
vorzüglicher Hochachtung<br />
Der Verlag <strong>de</strong>r Fackel<br />
Berlin, <strong>de</strong>n 26. Juni<br />
An <strong>de</strong>n Verlag <strong>de</strong>r Fackel<br />
Wir nehmen Bezug auf ihr Schreiben vom 12. dieses Monats und<br />
teilen Ihnen mit, daß das Gedicht <strong>de</strong>s Herrn Karl Kraus »Zum ewigen<br />
Frie<strong>de</strong>n« im Rahmen einer Feierstun<strong>de</strong> am 15. März zum Vortrag<br />
gelangte. <strong>Die</strong>se Veranstaltung wur<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m Zentralinstitut<br />
für Erziehung und Unterricht übertragen. Das Programm stand in<br />
allen seinen Einzelheiten erst kurz vor <strong>de</strong>r Veranstaltung fest und<br />
wur<strong>de</strong> uns daher auch erst kurz vor <strong>de</strong>r Sendung zur Kenntnis gebracht.<br />
Aus <strong>de</strong>r beigefügten Aufstellung wollen Sie bitte die Namen<br />
<strong>de</strong>r Mitwirken<strong>de</strong>n und die zum Vortrag gebrachten Beiträge<br />
ersehen.<br />
Wir sind gern bereit, die in ihrem Schreiben vorn 12. dieses Monats<br />
ausgesprochenen Wünsche in Zukunft zu beachten, soweit es<br />
sich um Sendungen Ihrer Werke han<strong>de</strong>lt. Da aber in diesem Fall<br />
<strong>de</strong>r Arbeiter—Radio—Bund Deutschlands e. V., Berlin SW 61,<br />
Yorckstr. 14, verantwortlicher Veranstalter ist, geben wir anheim,<br />
sich unmittelbar mit ihm ins Benehmen zu setzen.<br />
Mit vorzüglicher Hochachtung<br />
<strong>Die</strong> Funk—Stun<strong>de</strong><br />
Das Programm bestand aus<br />
Beiträgen von O. Paulus, K. Tucholsky, W. Bauer, Karl<br />
Kraus, Herwegh, Nietzsche, Hebbel, Dehmel, Goethe. (Mitwirken<strong>de</strong>:<br />
Gertrud Eysoldt, Toni van Eyck, Paul Grätz, Alfred<br />
Beierle.)<br />
An <strong>de</strong>n Arbeiter—Radio—Bund Deutschlands e. V.,<br />
Berlin SW 61, Yorckstr. 14<br />
Einer Mitteilung <strong>de</strong>r Berliner Funkstun<strong>de</strong> entnehmen wir, daß Sie<br />
im Rahmen einer Feierstun<strong>de</strong> am 15. März das Gedicht »Zum ewi-<br />
47
gen Frie<strong>de</strong>n« von Karl Kraus zum Vortrag bringen ließen. Mit <strong>de</strong>m<br />
besten Dank für ihre freundliche Absicht bitten wir, uns in etwaigen<br />
künftigen Fällen das Programm rechtzeitig bekanntgeben zu<br />
wollen, da <strong>de</strong>r Autor es ablehnt, in einem solchen zum Beispiel mit<br />
Herrn Kurt Tucholsky, <strong>de</strong>r ihm als feuilletonistischer Mitarbeiter<br />
<strong>de</strong>r bürgerlichen Presse, Verfasser eines Werbegedichts für eine<br />
Kriegsanleihe und auch sonst bekannt ist, zu figurieren, und mit<br />
ihm keine Feierstun<strong>de</strong> zu begehen wünscht.<br />
Mit vorzüglicher Hochachtung<br />
Der Verlag <strong>de</strong>r Fackel<br />
Zeitstrophen<br />
Wiewohl die Produktion, die in <strong>de</strong>n 204 Seiten <strong>de</strong>s so betitelten Ban<strong>de</strong>s<br />
mit einer Notenbeilege von 44 Kompositionen aus 23 Werken enthalten ist,<br />
gewiß nicht mit <strong>de</strong>n Leistungen <strong>de</strong>r Herren Tucholsky, Mehring, Kästner und<br />
Ringelnatz nebst Schlagermelodien vergleichbar ist und darum keine Aussicht<br />
hat, von <strong>de</strong>r linksradikalen und sonstigen bürgerlichen Presse beachtet zu<br />
wer<strong>de</strong>n, so mögen sich doch wenigstens die Leser <strong>de</strong>r Fackel gesagt sein lassen,<br />
daß sie nur als Zulauf zu betrachten sind, wenn sie nicht auch dieses<br />
Buch lesen. Was sich »Worte in Versen « nennt, hat begreiflicherweise vor<br />
solcher Sorte schweren Stand, weil darin in <strong>de</strong>n seltensten Fällen einer <strong>de</strong>r<br />
Namen vorkommt, <strong>de</strong>nen die satirische Prosa ein gut Teil ihrer Anziehungskraft<br />
verdankt. <strong>Die</strong>se ist keineswegs zu verschmähen, da schließlich doch das<br />
ungeistige Motiv <strong>de</strong>s Interesses irgen<strong>de</strong>inmal durch einen tieferen Nutzen<br />
aufgewogen wird. Unlogisch ist aber die Verschmähung <strong>de</strong>r »Zeitstrophen«,<br />
in <strong>de</strong>nen ja eben das enthalten erscheint, was jene in <strong>de</strong>n Glossen suchen, zu<br />
<strong>de</strong>nen sie keine an<strong>de</strong>re Beziehung haben als die einer Agnoszierung <strong>de</strong>r Opfer.<br />
Daß diese nunmehr im Lie<strong>de</strong> fortleben und die Glosse zur Strophe ward;<br />
daß die Herzliebchen auf Flügeln <strong>de</strong>s Gesanges fortgetragen wer<strong>de</strong>n und die<br />
Rhythmen Offenbachs es mit allen Übeln <strong>de</strong>r Zeit aufnehmen, sollte, mag diese<br />
noch so amusisch sein, für die Verbreitung <strong>de</strong>r Zeitstrophen doch kein Hin<strong>de</strong>rnis<br />
bil<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> folgen<strong>de</strong>n sind — nach <strong>de</strong>m Erscheinen <strong>de</strong>s Ban<strong>de</strong>s — zu<br />
<strong>de</strong>n Berliner Vorträgen von »Blaubart« und »Perichole« entstan<strong>de</strong>n und dann<br />
zum großen Teil auch in <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn Städten <strong>de</strong>r letzten Vortragsreise laut gewor<strong>de</strong>n.<br />
<strong>Die</strong> Toscanini—Strophe im Höflingscouplet (Berlin) — Motiv »Stab<br />
und Stock« — hatte eine kaum je zuvor erlebte Saal<strong>de</strong>monstration zur Folge,<br />
Schober ist stets seiner Wirkung sicher, und das Lettenmotiv griff durch bis<br />
zu <strong>de</strong>r Bestätigung <strong>de</strong>s Zeitgefühls, das ein unzulänglicher Regisseur nicht<br />
gehabt hatte, <strong>de</strong>r einen Witz in die Welt gesetzt hat, in<strong>de</strong>m er doch alles wer<strong>de</strong>n<br />
durfte, Schweizer, Hollän<strong>de</strong>r, Amerikaner, alles, nur nicht Lette. (Es<br />
reimt sich zu leicht und selbst das Dementi, daß er für <strong>de</strong>n üblen Privatzweck<br />
nur ein Kunstlette gewor<strong>de</strong>n sei, schafft die Anekdote nicht mehr aus <strong>de</strong>r<br />
Welt. Lette bleibt Lette.) Auf <strong>de</strong>m Podium gilt es — hun<strong>de</strong>rtmal mehr als für<br />
die journalistische Wirkung, die die Aktualität durch die Suggestion <strong>de</strong>s<br />
Druckes usurpiert o<strong>de</strong>r erzeugt —, das gegenwärtigste Bedürfnis zu erspüren<br />
und zu erfüllen, und für das, was auf ein Auditorium wirkt, kann Herr Reinhardt<br />
mein Seminarschüler wer<strong>de</strong>n! Er hätte es an <strong>de</strong>r (fünf Minuten vor <strong>de</strong>m<br />
Auftreten entstan<strong>de</strong>nen) Strophe <strong>de</strong>s Bolero in <strong>de</strong>r »Perichole« erleben kön-<br />
48
nen — wenn er solchem Erlebnis nicht doch noch vorzöge, auf dringliche Ladung<br />
als mein Zeuge in Moabit zu erscheinen.<br />
(Graf Oskar und Chor in »Blaubart«)<br />
»Höfling muß mit krummem Rücken ... «<br />
Gegen alle Presseliga<br />
habe ich es vorgefühlt:<br />
Der Herr Reinhardt hat in Riga<br />
seinen Rest von Ruhm verspielt.<br />
Der Fehler liegt an <strong>de</strong>r Regie.<br />
Ich riskiere [[: eine Wette: :]]<br />
er bleibt nicht mehr [[: lang ein Lette, :]]<br />
[: und ich glaub, er war es nie. :]<br />
Wir riskieren [[: eine Wette: :]]<br />
er bleibt nicht mehr [[: lang ein Lette, :]]<br />
er bleibt nicht mehr lang ein Lette,<br />
ja vielleicht war er es nie.<br />
Und in Preßburg hätt', ich wette,<br />
man geglaubt es nie!<br />
Mussolini, er verzieh nie,<br />
wenn ihm einer nicht pariert.<br />
Und doch hat <strong>de</strong>r Toscanini<br />
nie die Hymne aufgeführt.<br />
Weil er ganz an<strong>de</strong>rs dirigiert!<br />
Rüpel schlugen seinen Rücken,<br />
mit <strong>de</strong>m Stock schlug man <strong>de</strong>n Rücken,<br />
weil er sich nicht wollte bücken,<br />
mit <strong>de</strong>m Stabe sich nicht bücken.<br />
[: <strong>Ehre</strong> <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>m sie gebührt! :]<br />
Weil er sich nicht wollte bücken,<br />
mit <strong>de</strong>m Stabe sich nicht bücken,<br />
schlugen Rüpel seinen Rücken,<br />
mit <strong>de</strong>m Stocke seinen Rücken.<br />
Rüpel schlugen ihm <strong>de</strong>n Rücken,<br />
weil er an<strong>de</strong>rs dirigiert.<br />
Laßt uns vor <strong>de</strong>m Stab uns bücken,<br />
<strong>de</strong>n kein Stock regiert!<br />
(Don Andrès und Chor in »Perichole«)<br />
»Inkognito«<br />
Ohne daß ich was merken lasse,<br />
schleich heimlich ich manchmal zu Kroll,<br />
kauf eine Karte an <strong>de</strong>r Kasse —<br />
Sie wissen schon: zu Perichole.<br />
Zwar tät ein Freiplatz mir gebühren,<br />
49
doch ist kein Sitzpreis mir zu hoh —<br />
kann ich <strong>de</strong>n Curjel kontrollieren<br />
[: <strong>de</strong>n Curjel kontrollieren :]<br />
[: inkognito! :]<br />
Er geht hinein inkognito!<br />
[: Ich mach's <strong>de</strong>m Curjet nicht leicht,<br />
<strong>de</strong>r mir was hinterm Rücken streicht<br />
Inkognito. :]<br />
Ich strich ihm das Inkognito!<br />
Er strich ihm das Inkognito!<br />
<strong>Die</strong> Fle<strong>de</strong>rmaus zu inszenieren,<br />
wo immer es nur möglich wär' —<br />
leicht läßt sich das Motiv aufspüren:<br />
<strong>de</strong>m <strong>Ehre</strong>ndoktor bringt's halt Ehr.<br />
Das Ganze war eine Operette<br />
mit an<strong>de</strong>rm Text, doch apropos —<br />
<strong>de</strong>n Ruhm davon getragen hätte<br />
aus Riga wer, ich wette,<br />
wär' er nicht längst ein Lette<br />
[: inkognito! :]<br />
Fatal ist ein Inkognito!<br />
[: Regie macht leicht uns dumm, und darum<br />
wird aufgeklärt das Publikum<br />
inkognito. :]<br />
[: Er inszeniert inkognito! :]<br />
(Piquillo und Terzett in »Perichole«)<br />
»<strong>Die</strong> Frauen! die Frauen!«<br />
Dem Frauenlob weiht unsre Liga<br />
noch eine Strophe zum Couplet.<br />
Warum <strong>de</strong>r Reinhardt reist' nach Riga,<br />
das, Euer Gna<strong>de</strong>n, wissen S' eh.<br />
Regie war's, Regie nur.<br />
Alles sich dreht<br />
um sie — drum man bis Riga geht<br />
und kehrt zurück dann als ein Lett.<br />
Um die Regie nur<br />
alles sich dreht.<br />
Darum man sogar bis Riga geht<br />
und wird ein Lett!<br />
(Don Pedro, Panatellas und Chor in »Perichole«)<br />
Bolero: »Wir Gatten beugten stumm die Rücken«<br />
Ein Volk, sagt Schober, in zwei Staaten —<br />
so kam die Zollunion in Sicht.<br />
Trala ...<br />
50
Gesagt getan, und schon verraten:<br />
in Genf erfüllt er seine Pflicht.<br />
Trala ...<br />
<strong>Die</strong>se Nibelungentreue<br />
stets aufs Neue<br />
liest man ab ihm vom Gesicht.<br />
[: Wie war's diesmal zu erklären? :]<br />
[: Man sollt' hören :]<br />
wie perfekt er englisch spricht.<br />
How do you do trala ...<br />
How do you do trala ...<br />
<strong>Die</strong> Fle<strong>de</strong>rmaus zu inszenieren,<br />
das reizt <strong>de</strong>n Reinhardt da und dort.<br />
Trala ...<br />
Sie auch in Riga vorzuführen,<br />
es riß ihn hin, es riß ihn fort.<br />
Trala ...<br />
Immer die Kultur zu retten,<br />
ich möcht' wetten,<br />
drauf legt er auch dort Gewicht.<br />
[: Ja er ward gleich ganz zum Letten. :]<br />
Nur wenn Sie's geglaubt ihm hätten —<br />
die in Preßburg glauben's nicht!<br />
Trala ...<br />
Trala ...<br />
Notizen<br />
Wien, Architektenvereinssaal, ½ 8 Uhr<br />
11. Mai:<br />
lphigenie auf Tauris.<br />
(Auf <strong>de</strong>m Plakat zur Wahl: Shakespeare: Das Wintermärchen / Goethe:<br />
lphigenie / Gogol: Der Revisor / Offenbach: Madame l'Archiduc, <strong>Die</strong> Schwätzerin<br />
von Saragossa.)<br />
13. Mai:<br />
350. Wiener Vorlesung<br />
Hamlet.<br />
(Zur Wahl: Shakespeare: Hamlet / Nestroy—Abend / Offenbach: <strong>Die</strong><br />
Seufzerbrücke, Perichole.)<br />
51
Berlin, Breitkopf—Saal, ½ 8 Uhr<br />
21. Mai:<br />
Blaubart.<br />
Begleitung: Georg Knepler.<br />
27. Mai:<br />
Vorwort: Zur Aufführung an <strong>de</strong>r Staatsoper das Zitat »Offenbach über<br />
Sänger und Sängerinnen« (aus Nr. 852 — 856, S. 47).<br />
Perichole.<br />
Mähr.—Ostrau, Großer Saal <strong>de</strong>s Lidovydum, 8 Uhr<br />
29. Mai:<br />
Perichole.<br />
Prag, Mozarteum, ½ 8 Uhr<br />
1. Juni:<br />
Perichole.<br />
Begleitung 27., 29. Mai und 1. Juni: Franz Mittler.<br />
Zu <strong>de</strong>m Vortrag <strong>de</strong>r Toscanini—Strophe (S. 67 {49}):<br />
Sympathie für Toscanini.<br />
Aus Anlaß <strong>de</strong>r Mißhandlung Toscaninis<br />
durch Faschisten in Bologna<br />
hat, nach einer Meldung aus Mailand,<br />
<strong>de</strong>r berühmte Musiker Sergius<br />
Kussewitzky öffentlich erklärt, daß<br />
er seine Konzertverträge mit <strong>de</strong>r<br />
Mailän<strong>de</strong>r Scala lösen wer<strong>de</strong>, da er<br />
nicht in Italien auftreten wolle,<br />
wenn Toscanini von <strong>de</strong>n italienischen<br />
Theatern geächtet wer<strong>de</strong>.<br />
Über hun<strong>de</strong>rt Kriminalbeamte mit<br />
<strong>de</strong>m Polizeipräsi<strong>de</strong>nten an <strong>de</strong>r Spitze<br />
und zahlreiche Carabinieri waren<br />
über die ganze Scala verteilt, um<br />
eine neue Sympathiekundgebung zu<br />
verhin<strong>de</strong>rn. Kapellmeister Fritz Reiner<br />
wur<strong>de</strong> vor Beginn <strong>de</strong>s Konzerts<br />
aufgefor<strong>de</strong>rt, <strong>de</strong>n Königsmarsch und<br />
die Faschistenhymne »Giovinezza«<br />
zu spielen, welcher Auffor<strong>de</strong>rung er<br />
sofort nachkam, was eine brausen<strong>de</strong><br />
faschistische Kundgebung auslöste.<br />
Und es ist nicht aufgefallen, wie sich Mitropas Kulturvertretung benommen<br />
hat? Außer <strong>de</strong>n Meldungen und kleinen Notizen kein Ton <strong>de</strong>s Protestes 1 ,<br />
kein Leitartikel, wie er doch vorrätig ist, wenn in Prag ein <strong>de</strong>utscher Tonfilm<br />
bedroht wird und die <strong>de</strong>utsche Gesandtschaft die Vorstellung zu verbreiten<br />
wünscht, es sei ihr eine Fensterscheibe eingeschlagen wor<strong>de</strong>n. Nun, daß die<br />
Presse von <strong>de</strong>r Feigheit bedient wird, wäre selbst im Fall Toscanini kaum eine<br />
Überraschung. Wo aber blieben die Kulturprotestler? Wo die zwischen <strong>de</strong>n<br />
Rassen geborenen Brü<strong>de</strong>r Mann und die zwischen <strong>de</strong>n Rassen vermitteln<strong>de</strong>n<br />
an<strong>de</strong>rn Brü<strong>de</strong>r? Freilich, ich hab's leicht, da ich wegen meiner Unbeliebtheit<br />
in Österreich ohnehin nicht nach Italien reisen kann. Aber wie kommen unbescholtene<br />
<strong>de</strong>utsche Kulturträger dazu, ihres Visums verlustig zu gehen?<br />
1 Genau wie heute (2013) das Politikergesin<strong>de</strong>l dazu schweigt, daß in Ägypten die Christen<br />
(meist Kopten) verfolgt wer<strong>de</strong>n. Ihre Kirchen wer<strong>de</strong>n abgebrannt, sie wer<strong>de</strong>n aus ihren<br />
Häusern vertrieben und ermor<strong>de</strong>t. In <strong>de</strong>r Stadt Delga sprühte dieses mohammedanische<br />
Lumpenpack an die vor mehr als an<strong>de</strong>rthalb tausend Jahren gebaute Jungfrau-Maria-Kirche<br />
die Worte „Märtyrer-Moschee“. Quelle: http://www.pi-news.net/2013/10/<strong>de</strong>n-koptenwird-<strong>de</strong>r-alltag-zur-holle-gemacht/#more-363038<br />
52
In <strong>de</strong>n nicht immer erfreulichen, geistig durchaus hoch über seinen berühmtesten<br />
Dramen stehen<strong>de</strong>n Tagebüchern Grillparzers fin<strong>de</strong>t sich eine Eintragung,<br />
die ein Blitzlicht auf die Gestalt wirft jenes von <strong>de</strong>r mitteleuropäischen<br />
Intelligenz noch immer verzogenen Lieblings <strong>de</strong>r Grazien, nach<strong>de</strong>m er<br />
ihn an an<strong>de</strong>rer Stelle als »hübschen, run<strong>de</strong>n, jungen Mann« sympathisch gefun<strong>de</strong>n<br />
hat, <strong>de</strong>r »wie die Lebenslust und, mit seinem breiten Nacken, wie die<br />
Lebenskraft aussieht«. <strong>Die</strong> ganze Welt <strong>de</strong>s Journalismus, <strong>de</strong>ssen eigentlicher<br />
Urheber jener war, bevor sie ihn für <strong>de</strong>n Erfin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Lyrik ausgeben konnte,<br />
ist mit <strong>de</strong>n Worten abgezeichnet:<br />
Hierauf zu Rothschild zu Tische. Vortreffliches Diner. Man kann<br />
nicht gemeiner aussehen und zum Teil sich benehmen, als <strong>de</strong>r<br />
Hausherr. <strong>Die</strong> Hausfrau gegen ihn eine Göttin, obschon sie mir<br />
weniger gefiel als das erste Mal. Heine ist da, unwohl, lei<strong>de</strong>nd.<br />
Man fetiert ihn sehr, ne noceat, wie man sagt. — —<br />
*<br />
»<strong>Die</strong> Journalisten sind wie die Schehereza<strong>de</strong> gegen das Publikum,<br />
sie halten es mit ihren abgerissenen und unterbrochenen Erzählungen<br />
nur so hin, daß es ihnen nicht <strong>de</strong>n Kopf abschlage.«<br />
Goethe, 8. August 1824<br />
Aus Friedrich Wilhelm Riemers Tagebüchern<br />
*<br />
An<strong>de</strong>rs als sich die Sozial<strong>de</strong>mokratie »Kin<strong>de</strong>r als Zeitungsleser« (siehe Nr.<br />
852 — 856,S. 1 ff.) vorstellt:<br />
Soll in <strong>de</strong>r Welt Toleranz herrschen, so muß die Gewöhnung, Beweispunkte<br />
abzuwägen, und ebenso die Praxis, Lehrsätzen nicht<br />
völlig beizustimmen, <strong>de</strong>ren Wahrheit nicht begründbar ist, unter<br />
<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Schule gelehrten Materien sich befin<strong>de</strong>n. Zum Beispiel<br />
müßte die Kunst <strong>de</strong>s Zeitungslesens gelehrt wer<strong>de</strong>n. Der Lehrer<br />
sollte irgen<strong>de</strong>in Ereignis auswählen, das eine tüchtige Anzahl Jahre<br />
zurückliegt und seinerzeit die politischen Lei<strong>de</strong>nschaften aufgerührt<br />
hat. Er müßte <strong>de</strong>n Schulkin<strong>de</strong>rn vorlesen, was von <strong>de</strong>n Zeitungen<br />
auf <strong>de</strong>r einen Seite und was von <strong>de</strong>nen auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn<br />
dazu gesagt wur<strong>de</strong>, und daneben einen unparteiischen Bericht<br />
über <strong>de</strong>n wahren Tatbestand. Er müßte dartun, wie ein geübter<br />
Leser aus <strong>de</strong>m jeweils einseitigen Bericht sich das wirkliche Begebnis<br />
herausschälen könnte, und er wür<strong>de</strong> ihnen begreiflich machen,<br />
daß in <strong>de</strong>n Zeitungen alles mehr o<strong>de</strong>r weniger unwahr ist.<br />
Der zynische Skeptizismus, <strong>de</strong>r solchen Lehren entspringt, wür<strong>de</strong><br />
die Kin<strong>de</strong>r fürs spätere Leben immun machen gegen <strong>de</strong>n Appell<br />
an <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>alismus, an jenen I<strong>de</strong>alismus nämlich, durch <strong>de</strong>n anständige<br />
Leute dazugebracht wer<strong>de</strong>n, die Entwürfe von Schurken<br />
zu för<strong>de</strong>rn.<br />
Bertrand Russell, »Wissen und Wahn.<br />
Skeptische Essays.« Originalverlag: Allen & Unwin.<br />
Deutsch von Karl Wolfskehl, Drei Masken Verlag.<br />
*<br />
53
Barcelona, 7. Juli 1930.<br />
An <strong>de</strong>n Verlag »<strong>Die</strong> Fackel«<br />
Wien.<br />
Aus <strong>de</strong>m Vorwort eines kleinen Skizzenbuches (»Ho jas <strong>de</strong> la<br />
vida«) <strong>de</strong>s vor kurzem verstorbenen Santiago Rusinol teilt Ihnen<br />
<strong>de</strong>r Absen<strong>de</strong>r dieser Zeilen folgen<strong>de</strong> Stelle — in <strong>de</strong>r Übersetzung<br />
— mit:<br />
»Du wirst fin<strong>de</strong>n, daß wir das, was sich Fortschritt nennt,<br />
<strong>de</strong>shalb schmerzlich betrachten, weil wir in Wahrheit nichts<br />
haben, was man als Fortschritt ansehen kann; du wirst bemerken,<br />
daß ich viele Dinge satirisch betrachte, aber mit<br />
<strong>de</strong>r Bitternis <strong>de</strong>r Ohnmacht <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>r, ohne sie bessern zu<br />
können, sie so beschreibt, wie er sie sieht, und nicht, wie er<br />
sie ersehnt; du wirst sehen, daß uns Fortschritt etwas an<strong>de</strong>res<br />
be<strong>de</strong>utet als <strong>de</strong>r großen Mehrheit: nicht Maschinen, Eisen,<br />
Dampf, gera<strong>de</strong> Linien, Bequemlichkeit; son<strong>de</strong>rn Ästhetik<br />
für die Augen, Poesie für das Leben, I<strong>de</strong>en für <strong>de</strong>n Geist<br />
und tiefste Kunst für unsre Erhebung. Du wirst sehen, daß<br />
entgegen allem Schwin<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s Heute es uns freut, das Erbe<br />
<strong>de</strong>r Vergangenheit durchzugehen, um ihre Blüten zu suchen<br />
und mit ihnen eine neue Kunst zu formen; eine Kunst, die<br />
nicht mit tandhafter Aufmachung die Dummen verblen<strong>de</strong>t;<br />
eine geistige Kunst voll echter Feinheiten; eine Kunst, die<br />
wir in unserem Land verehrt sehen wollten und <strong>de</strong>ren erste<br />
<strong>Die</strong>ner und letzte Künstler wir wären. «<br />
Nichts an<strong>de</strong>res als die gedankliche Verwandtschaft dieses Mannes<br />
mit <strong>de</strong>m Autor ihres Verlages, <strong>de</strong>ssen Wort mir tausend Mal mehr<br />
Heimat be<strong>de</strong>utet als alles, was es sonst dort geben kann, hat mich<br />
bewogen, Ihnen das mitzuteilen. In <strong>de</strong>m schmerzlichen Gefühl,<br />
<strong>de</strong>m Schreibtisch, <strong>de</strong>r sich gelegentlich in <strong>de</strong>n Vorlesungstisch,<br />
verwan<strong>de</strong>lt, unbestimmbar lang ferne zu sein (und wenn mir das<br />
Wort erlaubt ist, möchte ich in aufrichtigst gefühlter Anteilnahme<br />
sagen: »Heimat ist mir sein Schreibtisch, wo immer er stehen<br />
mag«) be<strong>de</strong>utet das unerwartete Auftauchen von Worten verwandter<br />
Geisteswelt an frem<strong>de</strong>m Ort eine durch keine Distanz jemals<br />
zu zerstören<strong>de</strong> Zugehörigkeit.<br />
Seit Mitte Mai 1931 wur<strong>de</strong>n die folgen<strong>de</strong>n Beträge Unterstützungszwecken<br />
zugeführt:<br />
An das Blin<strong>de</strong>n—Erziehungs—Institut (Wittelsbachstraße) (Erlös aus älteren<br />
Nummern <strong>de</strong>r Fackel und einem Autogramm) S 18.60.<br />
Von Rundfunk—Erträgnissen Berlin an Bedürftige S 918.—.<br />
Rundfunk—Lizenzgebühr (für <strong>de</strong>n Vortrag »Zum ewigen Frie<strong>de</strong>n«) an<br />
<strong>de</strong>n Fonds für die Opfer <strong>de</strong>s 15. Juli S 29.74.<br />
Der Erlös aus <strong>de</strong>n Programmen 11. und 13. Mai (Wien) an die Österreichische<br />
Rote Hilfe S 5*45,; aus <strong>de</strong>n Programmen 21. und 27. Mai (Berlin) für<br />
Bedürftige S 10.30; aus <strong>de</strong>m Programm 29. Mai (Mähr.—Ostrau) an die Jugendfürsorge<br />
Mähr.—Ostrau S 10.50; aus <strong>de</strong>m Programm 1. Juni (Prag) an<br />
Kin<strong>de</strong>rschutz und Jugendfürsorge Prag S 28.23.<br />
Diversen Zwecken S 14.—.<br />
Spen<strong>de</strong> Jahoda & Siegel für Bedürftige S 300.—.<br />
54
Der Steuerbehör<strong>de</strong> ein Teil <strong>de</strong>s Ertrags <strong>de</strong>r Vorlesungen 11. und 13.<br />
Mai als Nachzahlung für die in <strong>de</strong>n Jahren 1925 bis 1928 wohltätigen Zwecken<br />
gewidmeten Erträgnisse S 68.61.<br />
Gesamtsumme seit Mitte Juli 1922: S 82.862.80.<br />
Arnold Zweig, »Ju<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Bühne« (Welt—Verlag, Berlin<br />
1928): »Ein Intermezzo: Karl Kraus« S. 252 — 254; Egon Frie<strong>de</strong>ll, »Kulturgeschichte<br />
<strong>de</strong>r Neuzeit« (C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München<br />
1930): S. 169; Klabunds Literaturgeschichte (neugeordnet und ergänzt von<br />
Ludwig Goldschei<strong>de</strong>r, Phaidon—Verlag, Wien 1930): S. 344; Hans Reimann,<br />
»Vergnügliches Handbuch <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache« (Gustav Kiepenheuer Verlag,<br />
Berlin 1931): S. 14, 232, 278, 297; »Der gül<strong>de</strong>ne Schrein«, Jahrbuch <strong>de</strong>r<br />
Deutschen Dichter—Gedächtnis—Stiftung (Hamburg 1930 / 31, S. 21): »Der<br />
Weltkriegsroman « von Dr. G. Hermann; 'Buch— und Kunstrevue' (Kattowitz,<br />
28. Februar): »Was ihr wollt«, ebda. (28. März): »Walzer aus Wien«; 'Prager<br />
Tagblatt' (3. Juni): »Offenbachs Perichole, durch Karl Krause von Walter<br />
Seidl, ebda. (9. Juni): Berichtigung; 'Prager Presse' (3. Juni): »Theater <strong>de</strong>r<br />
Dichtung« von o. p.; 'Sozial<strong>de</strong>mokrat' (Prag, 5. Juni): »Karl Kraus liest Perichole'«<br />
von Emil Franzel; von <strong>de</strong>mselben 'Tribüne' (Prag, April). »Zur Ju<strong>de</strong>nfrage«<br />
und »De moribus Germanorum«; '<strong>Die</strong> neue Menschheit' (Leipzig, 6.<br />
Juni): »Aufruf für Karl Kraus« von Julius Epstein, ebda. (27. Juni): Bemerkungen<br />
und »Der neue Remarque« von Walther Karsch; 'Der Scheinwerfer' (Essen,<br />
Mai IV, 16): »<strong>Die</strong> Literaten und die Musik« von Heinrich Strobel, ebda.<br />
(Mai / Juni 17. / 18.): »<strong>Die</strong> Antwort <strong>de</strong>s Literaten« von Rolf Nürnberg, »Johann<br />
Nestroy« von Karl Fuss; 'Der Osten' (Zeitschrift <strong>de</strong>r Breslauer Literarischen<br />
Gesellschaft 'Der Osten', 55. Jahr): »Der Verein Breslauer Dichterschule«,<br />
Vorwort von Paul Barsch; 'Frankfurter Zeitung' (25. Juni): »Theater <strong>de</strong>r Dichtung«<br />
; Hans Kristeller, »Der Aufstieg <strong>de</strong>s Kölners Jacques Offenbach, ein Musikerleben<br />
in Bil<strong>de</strong>rn« (Adalbert Schultz Verlag, Berlin 1931): Vorbemerkung<br />
und an<strong>de</strong>re Stellen.<br />
*<br />
Von Ernst Křenek ist die Komposition »Durch die Nacht«, ein Zyklus aus<br />
»Worte in Versen«, im Verlag <strong>de</strong>r Universal—Edition erschienen. »<strong>Die</strong> Nachtigall«<br />
wur<strong>de</strong> am 5. Juni in <strong>de</strong>r Berliner Funk—Stun<strong>de</strong> (Sängerin: Marguerite<br />
Perras, Dirigent: Georg Szell) aufgeführt.<br />
*<br />
In Nr. 852 — 856, S. 37, Z. 14 (im zitierten Original) statt<br />
»Entstehung«: Entstellung; S. 47, Z. 13 nach »entledigen« ein Komma; S. 52,<br />
Z. 8 statt »204«: 205.<br />
<strong>Die</strong>sem Heft liegt das Notenblatt bei, das an die Stelle <strong>de</strong>r auf S. 7 <strong>de</strong>r<br />
Beilage <strong>de</strong>r »Zeitstrophen« gedruckten Musik von Adolf Müller gehört (siehe<br />
Nr. 852 — 856, S. 52 {41}).<br />
*<br />
<strong>Die</strong> Berliner Börsen—Zeitung — das schwerindustrielle Blatt, bei <strong>de</strong>m<br />
ein Wiener Sozial<strong>de</strong>mokrat engagiert ist — hatte gefun<strong>de</strong>n, daß »Perichole«<br />
Längen habe. Das hatte eine Vorgeschichte, von <strong>de</strong>r in Nr. 852 — 856, S. 22<br />
{17} die Re<strong>de</strong> war. <strong>Die</strong>se Re<strong>de</strong> hat wie<strong>de</strong>r ein Nachspiel, von <strong>de</strong>m S. 94 {70}<br />
<strong>de</strong>s vorliegen<strong>de</strong>n Heftes han<strong>de</strong>lt. <strong>Die</strong> Längen <strong>de</strong>r »Perichole« aber korrespondierten<br />
mit <strong>de</strong>m dramaturgischen Problem <strong>de</strong>s »Wintermärchens«, das auf einer<br />
verweigerten Freikarte beruhte. Der Kritiker teilte sich's ein, in<strong>de</strong>m er<br />
nur <strong>de</strong>n Rezitator, nicht <strong>de</strong>n Bearbeiter gelten ließ. Er entschloß sich dann<br />
55
mit <strong>de</strong>r Zeit (9. April), das Folgen<strong>de</strong> zu drucken, ohne daß <strong>de</strong>r Kadi die Verspätung<br />
bemängelnswert fand:<br />
Karl Kraus und das »Wintermärchen«.<br />
Der Schriftsteller Karl Kraus läßt uns mit <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung zur<br />
Veröffentlichung folgen<strong>de</strong> Berichtigung zugehen:<br />
Sie schreiben in ihrer Ausgabe vom 2. Dezember 1930:<br />
» — jüngst wan<strong>de</strong>rte man in <strong>de</strong>n Breitkopf—Saal, um festzustellen,<br />
ob das vielbefeh<strong>de</strong>te »Wintermärchen« <strong>de</strong>s englischen<br />
Dichters glorreicher Sommer durch die Sonne <strong>de</strong>s<br />
Karl Kraus wur<strong>de</strong>. Nun, viel Geist hat <strong>de</strong>r Bearbeiter nicht<br />
verschwen<strong>de</strong>t: er benutzte die Dorothea Tieck—Übersetzung,<br />
strich ein paar Sätze heraus, än<strong>de</strong>rte einige Worte ab<br />
und schien im übrigen die Empfindung zu haben, daß man<br />
Shakespeare, selbst das 'Wintermärchen', nicht allzusehr<br />
bearbeiten darf. An<strong>de</strong>rs als Karl Kraus, <strong>de</strong>r Bearbeiter, wirkte<br />
<strong>de</strong>r Interpret Karl Kraus. — — «<br />
<strong>Die</strong> in diesen Sätzen enthaltene Behauptung ist unwahr. Wahr ist,<br />
daß die Bühnenbearbeitung <strong>de</strong>s »Wintermärchens«, die auf<br />
Grundlage <strong>de</strong>r Tieckschen Übersetzung erfolgt ist, vielfache dramaturgische<br />
und sprachliche Än<strong>de</strong>rungen aufweist. Wahr ist, daß<br />
von 132 Seiten <strong>de</strong>r im Verlag Georg Reimer erschienenen Ausgabe<br />
8 im ersten, 5 im zweiten, 4 im dritten, 15 im vierten und 8 ½<br />
im fünften Akt, also im Ganzen 40 ½ Seiten gestrichen sind.<br />
Es stellt sich also heraus, daß <strong>de</strong>r Kritiker die Verkürzung als so gelungen<br />
empfand, daß ihm an <strong>de</strong>m Werk nichts außer <strong>de</strong>r Freikarte gefehlt hat. (Das<br />
Gegenstück zu <strong>de</strong>m Fall, daß einer nach <strong>de</strong>r zweiten Aufführung <strong>de</strong>r »Perichole«<br />
äußerte, sie sei dank <strong>de</strong>n Strichen, gegen die sich <strong>de</strong>r Bearbeiter mit<br />
Unrecht gewehrt habe, ein ganz normaler Theaterabend gewesen, und hierauf<br />
zur Kenntnis nahm, die Striche seien nicht durchgeführt wor<strong>de</strong>n.) Ein höheres<br />
Lob ist nie einer Shakespeare—Bearbeitung gezollt wor<strong>de</strong>n. Der<br />
schwerindustrielle Kritiker (wiewohl er das »Wintermärchen« offenbar im<br />
Kopf hatte) ahnte nicht, wie schwer sich's ein Bearbeiter machen muß, um<br />
<strong>de</strong>n Eindruck zu erzeugen, er habe sich's leicht gemacht. Natürlich »wan<strong>de</strong>rte«<br />
aber niemand in <strong>de</strong>n Breitkopf—Saal, um <strong>de</strong>rgleichen festzustellen, und<br />
unaufgeklärt bleibt auch, warum <strong>de</strong>r Verdruß wegen <strong>de</strong>r Freikarte auf das<br />
»vielbefeh<strong>de</strong>te« Wintermärchen <strong>de</strong>s englischen Dichters abfärben mußte. Alles<br />
in allem: kein ehrliches Handwerk; wenn ich einen Sohn hätte, er dürfte<br />
mir alles eher wer<strong>de</strong>n als Journalist.<br />
*<br />
Das Zentralorgan <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sozial<strong>de</strong>mokratie, das sich »Vorwärts«<br />
nennt, hat sich <strong>de</strong>r auf S. 46 {35} <strong>de</strong>r Nr. 852 — 856 angekündigten Remedur<br />
(in seinem Abend vom 20. Mai) unterworfen, und zwar folgen<strong>de</strong>rmaßen:<br />
§ 11<br />
»Es wird fortberichtigt« — wünscht Karl Kraus.<br />
Auf Grund <strong>de</strong>s § 11 <strong>de</strong>s Preßgesetzes läßt uns <strong>de</strong>r Wiener Schriftsteller<br />
Karl Kraus durch einen Berliner Rechtsanwalt folgen<strong>de</strong><br />
»Berichtigung« zugehen:<br />
Sie schreiben in ihrer Ausgabe vom 23. April 1931 unter <strong>de</strong>m Titel<br />
»Der Grubenbund beißt Hitler«, daß das im 'Völkischen Beobachter'<br />
abgedruckte und Grillparzer zugeschriebene Gedicht:<br />
56
Sie haben Epochen<br />
Im Sturme zerbrochen,<br />
Nicht je<strong>de</strong>m, nicht allen<br />
Sind sie zu Gefallen.<br />
Sie malen Gedichte,<br />
Sie bauen an Bil<strong>de</strong>rn,<br />
<strong>Die</strong> sind nicht zu schil<strong>de</strong>rt,<br />
<strong>Die</strong> Ju<strong>de</strong>n, sie wil<strong>de</strong>rn<br />
In <strong>de</strong>utscher Kunst —<br />
Doch nimmer umsunst.<br />
Wir Blin<strong>de</strong>n, wir Tauben,<br />
Wir müssen dran glauben.<br />
Sie wissen, <strong>de</strong>m Ju<strong>de</strong>n kann nichts gescheh'n,<br />
Man wird doch, man wird doch da seh'n.<br />
»von <strong>de</strong>m Wiener Literaten Karl Kraus, <strong>de</strong>r noch lebt, stammt«.<br />
<strong>Die</strong>se Behauptung ist unwahr. Wahr ist, daß dieses Gedicht nicht<br />
von Karl Kraus stammt, son<strong>de</strong>rn daß <strong>de</strong>r »Chor <strong>de</strong>r Bacchanten«<br />
aus <strong>de</strong>r Satire »Literatur« von Karl Kraus, <strong>de</strong>r im 'Völkischen Beobachter'<br />
als Gedicht von Grillparzer verwen<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>, folgen<strong>de</strong>rmaßen<br />
lautet:<br />
Wir haben Epochen<br />
im Sturme zerbrochen.<br />
Was sollen die Formen<br />
<strong>de</strong>n Neuen, Enormen!<br />
Nicht je<strong>de</strong>m, nicht allen<br />
sind wir zu Gefallen.<br />
Wir malen Gedichte,<br />
wir bauen an Bil<strong>de</strong>rn,<br />
wir haben Gesichte,<br />
die sind nicht zu schil<strong>de</strong>rn.<br />
Wohl aber zu lallen.<br />
Wir bellen, wir ballen.<br />
Wir malen, wir dichten,<br />
ohne uns zu verpflichten;<br />
die Blin<strong>de</strong>n und Tauben,<br />
die müssen dran glauben.<br />
Wir wissen, es kann uns nix gschehn.<br />
Man wird doch, man wird doch da sehn.<br />
Unsere Leser haben sicher aus <strong>de</strong>m Zusammenhang unserer Ausführungen<br />
entnommen, daß ein Gedicht von Karl Kraus als Grundlage<br />
für <strong>de</strong>n zum Zweck <strong>de</strong>r launigen Irreführung abgewan<strong>de</strong>lten<br />
Text gedient habe, <strong>de</strong>n man als antisemitischen Erguß Grillparzers<br />
ausgab, ebenso wie das Heine—Gedicht »Deutschland« als<br />
Grundlage für <strong>de</strong>n angeblichen Fund aus Grimm diente. Herr Karl<br />
Kraus legt aber anscheinend Wert darauf, daß sein Name öfter genannt<br />
wird, als <strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r Leser notwendig erscheint.<br />
Ohne Verlangen nach abermaliger Wie<strong>de</strong>rgabe <strong>de</strong>s selbstverständlich<br />
fehlerhaft gesetzten richtigen Zitats — mit solchen Lappalien darf man we<strong>de</strong>r<br />
einer <strong>de</strong>utschen Redaktion noch einem Kadi kommen — ist zum Nachwort die<br />
folgen<strong>de</strong> Klarstellung erteilt wor<strong>de</strong>n. (Ähnlich wie in »Perichole«: »Aber einen<br />
Brief muß ich vorher schreiben an jeman<strong>de</strong>n.« »An wen?« »An eine alte Tante.«)<br />
57
An die Redaktion <strong>de</strong>s 'Vorwärts'<br />
Berlin<br />
Sie schreiben unter <strong>de</strong>m Titel: »'Es wird fortberichtigt' — wünscht<br />
Karl Kraus«, daß Ihre Leser »sicher aus <strong>de</strong>m Zusammenhang unserer<br />
Ausführungen entnommen haben«, das Gedicht habe »als<br />
Grundlage für <strong>de</strong>n zum Zweck <strong>de</strong>r launigen Irreführung abgewan<strong>de</strong>lten<br />
Text gedient«. Da es sich hier um keine unwahre tatsächliche<br />
Behauptung han<strong>de</strong>lt, son<strong>de</strong>rn nur um eine Ausre<strong>de</strong>, um eine<br />
Meinung, an <strong>de</strong>ren Haltbarkeit Sie selbst nicht glauben, so können<br />
Sie diesmal nicht gezwungen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m tatsächlich vorhan<strong>de</strong>nen<br />
Wunsch <strong>de</strong>s Herrn Karl Kraus, daß fortberichtigt wer<strong>de</strong>,<br />
zu entsprechen. Sie schätzen aber ganz gewiß nicht <strong>de</strong>n<br />
Scharfsinn <strong>de</strong>r Leser <strong>de</strong>s 'Vorwärts', die ja an die primitivste publizistische<br />
Darstellung gewöhnt sind, so hoch ein, daß Sie nicht<br />
selbst von <strong>de</strong>r Unwahrhaftigkeit <strong>de</strong>r Angabe durchdrungen wären,<br />
jene hätten die Behauptung, daß »das im 'Völkischen Beobachter'<br />
abgedruckte Gedicht von <strong>de</strong>m Wiener Literaten Karl Kraus<br />
stammt«, auf das richtige Maß zurückführt. Auch auf einer völligen<br />
Wie<strong>de</strong>rherstellung <strong>de</strong>s von Ihnen fehlerhaft gesetzten richtigen<br />
Zitats wollen wir nicht und können wir vielleicht nicht bestehen,<br />
weil typographische Fahrlässigkeit wohl als vis major anerkannt<br />
wür<strong>de</strong>. Lei<strong>de</strong>r kann aber auch Ihre Meinung nicht preßgesetzlich<br />
korrigiert wer<strong>de</strong>n, Herr Karl Kraus lege »anscheinend<br />
Wert darauf, daß sein Name öfter genannt wird, als <strong>de</strong>r Mehrzahl<br />
<strong>de</strong>r Leser notwendig erscheint«. Was <strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r Leser <strong>de</strong>s<br />
'Vorwärts' da notwendig erscheint, interessiert ihn ganz und gar<br />
nicht, wiewohl ihm das Schicksal dieser Leser seit <strong>de</strong>n Zeiten, da<br />
ein Wilhelm Liebknecht zugleich Chefredakteur <strong>de</strong>s 'Vorwärts'<br />
und Mitarbeiter <strong>de</strong>r 'Fackel' war, im Allgemeinen natürlich nahegeht.<br />
Wahr jedoch, obschon preßgesetzlich nicht feststellbar, ist,<br />
daß er nicht <strong>de</strong>n geringsten Wert auf Nennung seines Namens<br />
durch <strong>de</strong>n 'Vorwärts' legt, vielmehr nur <strong>de</strong>n größten Wert darauf,<br />
daß eine ihn betreffen<strong>de</strong> Unwahrheit je<strong>de</strong>smal richtiggestellt wer<strong>de</strong>.<br />
In<strong>de</strong>m er dafür sorgt — was selbstverständlich immer geschehen<br />
wird —, sucht er ja <strong>de</strong>n 'Vorwärts' von <strong>de</strong>r Gewohnheit, seinen<br />
Namen zu nennen, im Gegenteil abzubringen und ihn auch<br />
noch in diesem Punkte zum Anschluß an die bürgerliche Presse zu<br />
bewegen.<br />
Hochachtungsvoll<br />
Der Verlag <strong>de</strong>r Fackel<br />
Ein Grubenhund<br />
zielt gegen Anmaßung o<strong>de</strong>r Mißbrauch publizistischer Macht, gegen die Aneignung<br />
welchen Scheines immer, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Publikum einleuchtet, und dient<br />
<strong>de</strong>m sittlichen Zweck, das Absur<strong>de</strong>, das <strong>de</strong>r Zauber <strong>de</strong>r in Autorität verwan<strong>de</strong>lten<br />
Anonymität plausibel macht, <strong>de</strong>m Bann zu entreißen und dorthin zu<br />
führen, wo es rechtens hingehört: ad absurdum. <strong>Die</strong> Auffor<strong>de</strong>rung, es statt<br />
mit <strong>de</strong>n Troglodyten, <strong>de</strong>nen das Wun<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Druckwesens noch etwas Neues<br />
ist und die die Uhr <strong>de</strong>r Zeit noch ins Maul nehmen, lieber mit <strong>de</strong>r Intelligenz<br />
58
zu versuchen, ist mißverstan<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n. Der Leser, <strong>de</strong>r es mit <strong>de</strong>r Arbeiter—<br />
Zeitung (5. Juli) versucht hat und sich als »Vortrab <strong>de</strong>r Generaloffensive« vorstellend,<br />
das Ergebnis »Im Sinne <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung« übersen<strong>de</strong>t, sei darauf<br />
aufmerksam gemacht, daß er diesen Sinn verfehlt hat, in<strong>de</strong>m mit <strong>de</strong>r Enthüllung,<br />
jene wisse nicht, daß ein Zitat aus <strong>de</strong>m Aphorismenbuch »Nachts« nicht<br />
von Matteotti sei, nicht das Geringste bewiesen wird. Der Umstand, daß viele<br />
Sätze, die die aufstreben<strong>de</strong> Generation dort veröffentlicht, von mir stammen,<br />
schließt die Möglichkeit doch keineswegs aus, daß ihnen nicht je<strong>de</strong>r Satz von<br />
mir bekannt ist, und da sie zwar ihre Verehrung für mich verleugnen, aber<br />
schließlich ja nicht vermei<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Franzen, <strong>de</strong>ssen Wein sie gern trinken,<br />
wenigstens dort zu nennen, wo es sich nicht umgehen läßt; da man doch nicht<br />
gut behaupten könnte, ihr Wi<strong>de</strong>rstreben — mag es auch unsittlicher sein —<br />
komme <strong>de</strong>m mechanischen Totschweigen <strong>de</strong>r übrigen bürgerlichen Presse<br />
gleich, so wür<strong>de</strong> eine Reklamierung <strong>de</strong>s Aphorismus in Form einer Berichtigung<br />
we<strong>de</strong>r eine Blamage noch einen Tort be<strong>de</strong>uten. Und eben da ich dies<br />
sage, nimmt die Arbeiter—Zeitung freiwillig — vielleicht aus falscher Besorgnis,<br />
sie wür<strong>de</strong> sonst gezwungen wer<strong>de</strong>n — die geringfügige Last auf sich, <strong>de</strong>n<br />
Sachverhalt festzustellen. Freilich irrt sie dabei in <strong>de</strong>r Definition <strong>de</strong>s »Grubenhun<strong>de</strong>s«,<br />
zu <strong>de</strong>ssen Wesen es gehören soll, »daß er einen erkennbaren inneren<br />
Wi<strong>de</strong>rspruch enthalte, <strong>de</strong>ssen Übersehen eben die Leichtfertigkeit o<strong>de</strong>r<br />
Unwissenheit <strong>de</strong>r Zeitung enthüllt«; fragt aber mit Recht, was <strong>de</strong>nn dadurch<br />
enthüllt wer<strong>de</strong>,<br />
daß ein nahezu unbekannter, schöner Satz fälschlich, wie es <strong>de</strong>r<br />
Einsen<strong>de</strong>r behauptete, für einen Ausspruch <strong>de</strong>s einen gehalten<br />
wur<strong>de</strong>, wiewohl er in Wahrheit ein Aphorismus eines an<strong>de</strong>rn ist?<br />
Abgesehen von <strong>de</strong>m schlechten Deutsch solcher Zurechtweisung kommt wirklich<br />
nichts dabei heraus. Höchstens noch, daß die Wesensbestimmung <strong>de</strong>s<br />
Grubenhun<strong>de</strong>s zu eng gefaßt ist. Der Wi<strong>de</strong>rspruch, <strong>de</strong>r an und für sich durchaus<br />
nicht erkennbar sein muß, kann ein solcher sein, <strong>de</strong>r erst nachträglich<br />
durch die Tatsache <strong>de</strong>r Publikation in Erscheinung tritt, etwa wenn die Arbeiter—Zeitung<br />
dazu zu bringen wäre, etwas zu drucken, was, an sich ganz logisch,<br />
ja einer vormaligen Gesinnung entsprechend, sie in Wi<strong>de</strong>rspruch mit einer<br />
heutigen brächte. Hier ist ein großer Spielraum offen und es bleibt einer<br />
Phantasie, die sich vom Verstand beraten läßt, vorbehalten, ihn einzunehmen.<br />
Ein Grubenhund kann, sobald er nur auf <strong>de</strong>n rechten falschen Punkt losgelassen<br />
wird, weit über die Enthüllung von Unwissenheit o<strong>de</strong>r Leichtfertigkeit<br />
<strong>de</strong>n Wert einer Strafexpedition haben. Rührend ist ja die Qualifizierung <strong>de</strong>s<br />
»nahezu unbekannten, schönen Satzes«, als <strong>de</strong>ssen Ursprungsort richtig die<br />
Fackel Nr. 445 — 453 mit Datum und Seite angegeben wird. Aber <strong>de</strong>r Satz ist<br />
auch in <strong>de</strong>m Buche »Nachts« erschienen, <strong>de</strong>ssen Unbekanntheit beim Publikum<br />
vielleicht auf das Schuldkonto <strong>de</strong>r sozialistischen Publizistik gehört, das<br />
jedoch einem Mitarbeiter <strong>de</strong>r Arbeiter—Zeitung, <strong>de</strong>r im Jahre 1917 noch nicht<br />
aktiv war, immerhin bekannt sein dürfte, wie erst kürzlich an einem an<strong>de</strong>rn<br />
Aphorismus dieses Buchs dargetan wer<strong>de</strong>n konnte. Wie immer <strong>de</strong>m nun sein<br />
mag, ein »Grubenhund« war die Irreführung, als <strong>de</strong>ren Opfer die Arbeiter—<br />
Zeitung leichten Gewissens bestehen kann, wirklich nicht, <strong>de</strong>nn selbst eine<br />
Redaktion, die in je<strong>de</strong>r Zeile, mit <strong>de</strong>r sie Zeitbegebenheiten dürftig glossiert,<br />
ihre geistige Verbindung mit mir bekennen muß — so ungern sie auch bereit<br />
wäre, sie zuzugeben —, ist nicht verpflichtet, je<strong>de</strong> Zeile von mir zu kennen,<br />
<strong>de</strong>r ja selbst manche schon vergessen hat und nur an sie erinnert wird, wenn<br />
er sie in <strong>de</strong>r Arbeiter—Zeitung wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>t.<br />
59
Dagegen muß sie die Neue Freie Presse kennen. Und zwar aus <strong>de</strong>m einfachen<br />
Grund, weil sie von <strong>de</strong>m kulturellen Drang beseelt ist, Autoren zu zitieren,<br />
die sie so wenig kennt wie mich, und zugleich von <strong>de</strong>m Naturtrieb, mich<br />
aus <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Erscheinungen auszumerzen. Da es sich nun doch einmal ergeben<br />
könnte, daß sich die Kreise dieser und meiner Welt in einem Punkte<br />
<strong>de</strong>r Anschauung berühren, und also unter <strong>de</strong>n Autoren, <strong>de</strong>ren Zitate ihr ein<br />
Wohlgefallen verursachen, ich Platz zu fin<strong>de</strong>n hätte, so ist das Terrain für<br />
einen zielbewußten Grubenhund gegeben, <strong>de</strong>r in Einem <strong>de</strong>n kulturellen Ehrgeiz<br />
und die naturhafte Ranküne ad absurdum führt. Einer ihrer Mitarbeiter<br />
hat ihr einmal die Bosheit angetan, die Verse:<br />
Man färbt jetzt die Bäume,<br />
wir töten die Träume<br />
in irgen<strong>de</strong>inem Zusammenhang einzuschmuggeln. Als ich, <strong>de</strong>r Anregung <strong>de</strong>s<br />
Reimes folgend, die Gelegenheit wahrnahm, auf diese prophetische Vorwegnahme<br />
eines chemischen Verfahrens wie zugleich <strong>de</strong>r Psychoanalyse durch<br />
<strong>de</strong>n Dichter Seume in einer kleinen Schmonzette hinzuweisen, wollte sie sich<br />
in kein Gedränge einlassen, und so ging ich <strong>de</strong>r Chance verlustig, festzustellen,<br />
daß jene Verse nicht von Seume, son<strong>de</strong>rn von einem an<strong>de</strong>rn seien. Eine<br />
günstigere Gelegenheit ergab sich durch die »Jugendbeilage«, die ja für solche<br />
Experimente wie geschaffen ist. In ihr frönt — nebst aller sonstigen Unvorstellbarkeit<br />
— die Neue Freie Presse seit langem <strong>de</strong>m Hang, die Jugend,<br />
die sie sonst crawlen lehrt o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rweitig praktisch beschäftigt, gra<strong>de</strong>nwegs<br />
zu Goethe zu führen. Ich habe nun gegen die Verbindung <strong>de</strong>r Sphäre, in<br />
<strong>de</strong>r schon an leiten<strong>de</strong>r Stelle die Prosa <strong>de</strong>r Wirkwarenfirma Ittner zur Geltung<br />
kommt, mit Goethesätzen starke Be<strong>de</strong>nken, ich sage mir, die Neue Freie Presse<br />
soll Goethe nicht in <strong>de</strong>n Mund nehmen, und überhaupt, ich hab gern über<br />
allen Gipfeln Ruh (darin mit <strong>de</strong>m alten Biach d'accord). Da fand ich — am 5.<br />
Juni — die Zuschrift einer jungen Dame, in <strong>de</strong>r versichert war, »irgendwann«<br />
sei »doch je<strong>de</strong>r von uns einmal zu Goethe gekommen«, <strong>de</strong>r »jung und uralt«<br />
sei, aber er zwinge nieman<strong>de</strong>n zu sich, er sage ja doch selbst:<br />
Ich hindr' euch nicht, wo's euch beliebt zu wei<strong>de</strong>n:<br />
Denn ihr seid jung und ich bin alt geboren.<br />
Doch wer es tue, <strong>de</strong>r wer<strong>de</strong> überreich dafür belohnt. Zu solchen wollte nun<br />
auch ich gehören. Glücklicherweise stand daneben die Zuschrift eines Jünglings,<br />
<strong>de</strong>r, mit andrem Zeichen auf mich einwirkend, mehr die Goethe—<br />
Fremdheit <strong>de</strong>r jungen Generation betonte und meinte, die be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Werke<br />
wür<strong>de</strong>n »in <strong>de</strong>r Schule gelesen — und nie wie<strong>de</strong>r«. Wonach eine vielsagen<strong>de</strong><br />
Geste <strong>de</strong>r Redaktion zum Ausdruck kam:<br />
(? Anm. <strong>de</strong>r Red.)<br />
Kurzum, es hatte ihr die Red verschlagen, und sie gewann sie erst wie<strong>de</strong>r, als<br />
jener vollends die Kühnheit hatte, zu erklären, »das große To<strong>de</strong>sjahr« wer<strong>de</strong><br />
es nicht zeigen, aber es stimme trotz<strong>de</strong>m: »die Jugend hat keine Beziehung<br />
mehr zu Goethe«. Und sie sprach wie folgt:<br />
(Wir veröffentlichen diese Zuschrift auszugsweise in <strong>de</strong>r Hoffnung,<br />
daß sie <strong>de</strong>n stärksten Wi<strong>de</strong>rspruch erwecken wird. Anm. d.<br />
Red.)<br />
(Weitere Äußerungen wer<strong>de</strong>n folgen.)<br />
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, und da überdies in <strong>de</strong>r gleichen Jugendbeilage<br />
das Gedicht einer jungen Dame enthalten war, worin die Verszeile<br />
stand.<br />
Ich bin so müd',<br />
60
so hatte ich das Stichwort und <strong>de</strong>n Ruf zur Lei<strong>de</strong>nschaft, um meine Chloë Gol<strong>de</strong>nberg<br />
zu stärkstem Wi<strong>de</strong>rspruch anzufeuern. Sie war auch sofort außer<br />
sich (wenngleich nicht außer mir) und schrieb das Folgen<strong>de</strong> an die Neue<br />
Freie Presse:<br />
Verehrte Redaktion <strong>de</strong>r Jugendbeilage!<br />
Ihre Hoffnung, daß die Zuschrift von A. C. in <strong>de</strong>r Nr. vom 5. Juni<br />
stärksten Wi<strong>de</strong>rspruch erwecken wird, geht reichlich in Erfüllung.<br />
Wenigstens in <strong>de</strong>m Kreise unserer Jugendvereinigung »Literatur«,<br />
die sich vornehmlich mit Goethe beschäftigt und sich immer wie<strong>de</strong>r<br />
an seinen schönsten und schwersten Gaben (»Pandora«, »Helena«—Szenen<br />
etc.) erbaut. In <strong>de</strong>n Goethe—Tagen am Rhein und<br />
am Main, vor <strong>de</strong>m »großen To<strong>de</strong>sjahr«, von welchem <strong>de</strong>r Verfasser<br />
jener Zuschrift kühn voraussagt, daß es die »Goethefremdheit<br />
<strong>de</strong>r jungen Generation« nur verhüllen wer<strong>de</strong>, erfaßt uns Scham<br />
über die Möglichkeit, daß solches »Bekenntnis« dargeboten wer<strong>de</strong>n<br />
kann. Das in <strong>de</strong>r benachbarten erfreulicheren Zuschrift zitierte<br />
Wort<br />
»Ich hindr' euch nicht, wo's euch beliebt zu wei<strong>de</strong>n:<br />
Denn ihr seid jung und ich bin alt geboren«<br />
klingt wie die Antwort <strong>de</strong>r ewigen Stimme aus <strong>de</strong>m Grab. Aber,<br />
als gleichgestimmt, fän<strong>de</strong> hier wahrhaft auch das Schlußwort eines<br />
an<strong>de</strong>rn schönen Goethe—Spruches Anwendung, <strong>de</strong>n er nach<br />
<strong>de</strong>r lphigenie <strong>de</strong>nen um Pustkuchen (<strong>de</strong>n bekannten Goethe—<br />
Nörgler) mit stolzer Beschei<strong>de</strong>nheit zugerufen hat, die <strong>de</strong>m »Jung<br />
und Uralten« klassizistisches Epigonentum zum Vorwurf gemacht<br />
hatten:<br />
»Bin Epigone, Ahnenwertes Ahner.<br />
Ihr aber seid die kundigen Thebaner!«<br />
Mit aufrichtigem Dank<br />
C. L. Gol<strong>de</strong>nberg<br />
Chloë wäre <strong>de</strong>nn doch nicht gegangen; man muß vorlieb nehmen. <strong>Die</strong> Neue<br />
Freie Presse — <strong>de</strong>r es nebst <strong>de</strong>m wohlschmecken<strong>de</strong>n Pustkuchen die »Goethe<br />
—Tage am Rhein und am Main« angetan hatten — brachte die Zuschrift,<br />
wenngleich nicht unbesonnen. Son<strong>de</strong>rn mit geringfügigen Än<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r<br />
Jugendbeilage vom 11. Juni. Sie hat wie<strong>de</strong>r einmal nicht blind zum Druck beför<strong>de</strong>rt,<br />
son<strong>de</strong>rn sorgsam redigiert. <strong>Die</strong> »Gaben« waren, weil zu preziös, in<br />
»Schöpfungen« verwan<strong>de</strong>lt, »etc.«, weil zu trivial, in »usw.« Das Wort »Wi<strong>de</strong>rspruch«<br />
war dankenswerter Weise spationiert, ebenso die ganze Stelle von<br />
»Scham« bis »dargeboten wer<strong>de</strong>n kann«, wobei freilich statt »kann« »konnte«<br />
gesetzt war. Dann wur<strong>de</strong> nicht übel geän<strong>de</strong>rt: » ... wie die Antwort jener ewigen<br />
Stimme selbst aus <strong>de</strong>m Grab«, dagegen das Weitere trivialisiert in:<br />
Aber auch das Schlußwort eines an<strong>de</strong>rn schönen Goethe—Spruches<br />
sollte hier Erwähnung fin<strong>de</strong>n. Nach <strong>de</strong>r »Iphigenie« hat er es<br />
<strong>de</strong>nen um Pustkuchen ... zugerufen ...<br />
Immerhin war meine stolze Beschei<strong>de</strong>nheit (gemeinhin als Eitelkeit verschrien)<br />
gerühmt, mein schöner Goethe—Spruch anerkannt, nur lei<strong>de</strong>r, da ihn offenbar<br />
Setzer wie Redakteur nicht verstan<strong>de</strong>n, um seine Schönheit gebracht,<br />
in<strong>de</strong>m statt <strong>de</strong>s »Ahnenwertes« ein »ahnenswertes« als rätselhafter Akkusativ<br />
vor <strong>de</strong>m »Ahner« stand. Das verdroß mich sehr. Nicht min<strong>de</strong>r die Scheu <strong>de</strong>r<br />
Neuen Freien Presse, <strong>de</strong>n Namen Gol<strong>de</strong>nberg zu nennen. Ich hatte nicht in<br />
letzter Linie die Absicht gehabt, die durch <strong>de</strong>n 'Völkischen Beobachter' kompromittierte<br />
Jugendvereinigung »Literatur« mit Hilfe <strong>de</strong>r Neuen Freien Pres-<br />
61
se zu rehabilitieren, aber sie machte mir einen Strich durch die Gol<strong>de</strong>nberg.<br />
Gewiß mochte nicht ihr eigener Antisemitismus <strong>de</strong>r Grund sein, wohl aber die<br />
Rücksicht auf die groß<strong>de</strong>utsche Partei wie speziell auf Schober, <strong>de</strong>r für Zitate<br />
ein Auge hat. <strong>Die</strong> Zuschrift erschien also lei<strong>de</strong>r unter C. L. G., was aber die<br />
Gol<strong>de</strong>nberg nicht abhielt, <strong>de</strong>r Neuen Freien Presse für <strong>de</strong>n Abdruck aufrichtig<br />
zu danken und sie zu bitten, jenen sinnstören<strong>de</strong>n Druckfehler zu korrigieren<br />
und <strong>de</strong>n Ahnenwert wie<strong>de</strong>rherzustellen. <strong>Die</strong>se Bitte blieb, wiewohl es sich<br />
doch um einen Goethe—Spruch han<strong>de</strong>lte, unbeachtet. Ich versuchte, ehe ich<br />
selbst auf <strong>de</strong>n Plan trat, noch durch Vermittlung eines Literarhistorikers auf<br />
die Neue Freie Presse einzuwirken. Sein Ballon d'essai hatte <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n<br />
Wortlaut:<br />
11. Juni 1931.<br />
Sehr geehrter Herr Redakteur!<br />
Ich gestatte mir die Mitteilung, daß die in Ihrer Nummer vom 11.<br />
Juni enthaltene Zuschrift von C. L. G. bei aller Erfreulichkeit <strong>de</strong>s<br />
Inhaltes (Stellung <strong>de</strong>r heutigen Jugend zu Goethe) einen schweren<br />
Irrtum enthält. Abgesehen davon, daß es in <strong>de</strong>n zitierten und Goethe<br />
zugeschriebenen Versen nicht »ahnenswertes Ahner«, son<strong>de</strong>rn<br />
»Ahnenwertes Ahner« heißen muß (<strong>de</strong>r Epigone ahnt <strong>de</strong>n<br />
Wert <strong>de</strong>r Ahnen), so möchte ich darauf hinweisen, daß es sich bei<br />
diesem Zitat bloß um einen in <strong>de</strong>r Literaturgeschichte lange eingewurzelten<br />
Irrtum han<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>n die Goetheforschung bereits vor<br />
<strong>de</strong>r großen Weimarer Ausgabe beseitigt hat und über <strong>de</strong>n gera<strong>de</strong><br />
ich in meiner Schrift über zeitgenössische Goethe—Polemik (Pustkuchen,<br />
Menzel, Kotzebue und Börne) abgehan<strong>de</strong>lt habe. Der<br />
Spruch stammt nicht von Goethe, stellt keine Antwort an Pustkuchen<br />
wegen <strong>de</strong>r Angriffe auf die lphigenie dar, son<strong>de</strong>rn ist im Gegenteil<br />
die parodistische Vorwegnahme einer nie erteilten Antwort<br />
Goethes, erschienen unter <strong>de</strong>m Titel »Bekenntnis« in <strong>de</strong>m<br />
von Wieland herausgegebenen »Deutschen Merkur«, aus jener<br />
Zeit, wo Goethe sich gegen Wieland (»Götter, Hel<strong>de</strong>n und Wieland«)<br />
gestellt hat. Das Gedicht, anonym gedruckt, wur<strong>de</strong> lange<br />
Goethe selbst zugeschrieben, eine Version, die doch schon wegen<br />
<strong>de</strong>r polemischen Stellung Goethes gegen Wieland, in jener Zeit,<br />
unhaltbar war. Es fin<strong>de</strong>t sich tatsächlich in keiner einzigen Ausgabe,<br />
die bei Lebzeiten Goethes o<strong>de</strong>r seit <strong>de</strong>r großen Weimarer erschienen<br />
ist, vor allem nicht in <strong>de</strong>r Cotta'schen Jubiläumsausgabe.<br />
Es ist bemerkenswert, daß die Satire Pustkuchens an <strong>de</strong>n Eingangsworten<br />
<strong>de</strong>s Gedichtes<br />
»Ich bin nur einer von <strong>de</strong>n Epigonen,<br />
die in <strong>de</strong>m alten Haus <strong>de</strong>r Sprache wohnen«<br />
erkannt wur<strong>de</strong>, und daß Burkhardt (Repertorium zu Wielands<br />
Deutschem Merkur 1873) es war, <strong>de</strong>r als <strong>de</strong>r erste auf die Absurdität,<br />
Goethe ein solches Bekenntnis zuzuschreiben, hingewiesen<br />
hat.<br />
Mit vorzüglicher Wertschätzung und <strong>de</strong>m Dank dafür, daß Sie in<br />
so tatkräftiger Weise die Jugend zu Goethe führen helfen<br />
Dr. Josef Vesthoff<br />
Graz, Jakoministraße<br />
zzt. Wien<br />
<strong>Die</strong>ser Wunsch, die Neue Freie Presse in einen Germanimathias son<strong>de</strong>rgleichen<br />
zu verstricken, war nicht nur Stichelei, son<strong>de</strong>rn Übermut. Gleichwohl<br />
62
glaube ich, daß bloß technische Grün<strong>de</strong> sie abgehalten haben, die interessante<br />
Miszelle zu bringen, und daß sie in weniger bewegter Zeit und einem weniger<br />
kostspieligen Raum ihr diesen gewährt hätte. Tappt sie doch gleichzeitig<br />
mit einer Sicherheit, die man nicht genug bewun<strong>de</strong>rn möchte, durch die Nebel<br />
<strong>de</strong>s Einsteinschen Weltalls, wo ihr je<strong>de</strong>r Kometenschuster mittelst Knieriemen<br />
einen großen Bären aufbin<strong>de</strong>n kann. <strong>Die</strong> Wahrheit freilich, daß <strong>de</strong>r<br />
Spruch nicht von Goethe stammt — <strong>de</strong>r gleich <strong>de</strong>r Neuen Freien Presse <strong>de</strong>n<br />
Pustkuchen totgeschwiegen hat und wie Schober über <strong>de</strong>ssen Anwürfe zur<br />
Tagesordnung schritt —, und daß er sich tatsächlich in keiner einzigen Ausgabe<br />
fin<strong>de</strong>t, war lei<strong>de</strong>r auf diesem Wege so wenig feststellbar wie die Tatsache,<br />
daß das Zitat einen an<strong>de</strong>rn Wortlaut hat. Und es blieb mir schon nichts übrig<br />
als die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Vesthoffs Literaturgeschichte zu<br />
berichtigen, war nicht möglich, da sie nicht veröffentlicht wur<strong>de</strong>; so mußte<br />
<strong>de</strong>r Erfolg in einem Frontabschnitt, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Gol<strong>de</strong>nberg erzielt war, genügen.<br />
Am 29. Juni langte die folgen<strong>de</strong> Berichtigung ein, und schon »in <strong>de</strong>r<br />
nächsten Nummer«, am 30. — nicht etwa »in <strong>de</strong>r übernächsten« — erschien<br />
sie, wenngleich mit <strong>de</strong>r jetzt erlaubten Weglassung <strong>de</strong>r Formel, die <strong>de</strong>n Hinweis<br />
auf <strong>de</strong>n § 23 und auf die Stelle <strong>de</strong>r Publikation enthielt:<br />
GOETHE UND DIE JUGEND<br />
Wir erhalten folgen<strong>de</strong> Zuschrift: Sie veröffentlichen unter <strong>de</strong>m Titel<br />
»Goethe und die Jugend« eine Zuschrift, in <strong>de</strong>r es heißt: »Aber<br />
auch das Schlußwort eines an<strong>de</strong>ren schönen Goethe—Spruches<br />
sollte hier Erwähnung fin<strong>de</strong>n. Nach <strong>de</strong>r »Iphigenie« hat er es <strong>de</strong>nen<br />
um Pustkuchen (<strong>de</strong>n bekannten Goethe—Nörgler) mit stolzer<br />
Beschei<strong>de</strong>nheit zugerufen, die <strong>de</strong>m »Jung und Uralten« klassizistisches<br />
Epigonentum zum Vorwurf gemacht, hatten:<br />
»Bin Epigone, ahnenswertes Ahner.<br />
Ihr aber seid die kundigen Thebaner!«<br />
<strong>Die</strong> in diesem Satze enthaltene Behauptung, daß Goethe diese<br />
Worte <strong>de</strong>nen um Pustkuchen (<strong>de</strong>n bekannten Goethe—Nörgler)<br />
zugerufen habe, ist unwahr. Wahr ist vielmehr, daß diese Worte<br />
<strong>de</strong>n Schluß <strong>de</strong>s Gedichtes »Bekenntnis« von Karl Kraus (»Worte in<br />
Versen«, Band II, Seite 24) bil<strong>de</strong>n; wahr ist, daß die erste Zeile<br />
<strong>de</strong>r zitierten Stelle nicht lautet: »Bin Epigone, ahnenswertes Ahner.«<br />
son<strong>de</strong>rn: »Bin Epigone, Ahnenwertes Ahner.«<br />
Dr. Oskar Samek.<br />
Zwischen Gerichtssaal und Sport. Auf die juristische Frage, ob es nicht erst<br />
am 2. (o<strong>de</strong>r 9.) Juli zu bringen war, nämlich in <strong>de</strong>r Jugendbeilage, wo es mehr<br />
aufgefallen wäre und <strong>de</strong>r Jugend als Beispiel gedient hätte, wollte ich mich in<br />
<strong>de</strong>r gerechten Erwägung nicht einlassen, daß ich in diesem Falle ja doch wie<strong>de</strong>r<br />
überlegt hätte, ob die Jugendbeilage als »Nummer« aufzufassen sei und<br />
die Berichtigung nicht sofort im Hauptblatt zu bringen war. Ich gab mich also<br />
zufrie<strong>de</strong>n, und schließlich hatte es ja auch sein Gutes, ungestört von meinem<br />
Spruch als Wi<strong>de</strong>rspruch und <strong>de</strong>ssen Reklamierung für Worte in Versen, die Jugend<br />
sich nun wie<strong>de</strong>r zu Goethe bekennen zu lassen. Wiewohl sich doch im<br />
Grun<strong>de</strong> nur die Chloë Gol<strong>de</strong>nberg geregt hatte, berief sich da einer auf <strong>de</strong>n<br />
»großen Wi<strong>de</strong>rspruch«, <strong>de</strong>n die Neue Freie Presse heraufbeschwor, und ein<br />
junger Prager, <strong>de</strong>m eigentlich die Problemstellung zu verdanken ist, meinte<br />
abschließend von Goethe:<br />
er bleibt das Mekka auch nach <strong>de</strong>m großen Zerstörer Krieg.<br />
63
So ist es <strong>de</strong>r Neuen Freien Presse gelungen, selbst jenen Teil <strong>de</strong>r Jugend, <strong>de</strong>r<br />
etwas broiges war, ganz mit Goethe zu versöhnen und einem, <strong>de</strong>r noch<br />
schüchtern vorzubringen wagte, zu Anfang <strong>de</strong>s zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rts sei<br />
er aber doch weniger gelesen wor<strong>de</strong>n, versetzte sie die Anm. d. Red.:<br />
(<strong>Die</strong>se Auffassung ist nicht in <strong>de</strong>n Tatsachen begrün<strong>de</strong>t.)<br />
Der Erfolg ihrer Propaganda gipfelte aber unstreitig in <strong>de</strong>r Feststellung:<br />
<strong>Die</strong> arabische Jugend liest Goethe.<br />
Hoffentlich nicht mit <strong>de</strong>m neu aufgefun<strong>de</strong>nen Spruch. Da jedoch die <strong>de</strong>utsche<br />
Jugend sich immerhin auch für Gerichtssaal und insbeson<strong>de</strong>re für Sport interessiert,<br />
so ist zu erwarten, daß sie meine Bemühung, sie zu Goethe zu führen,<br />
nicht unbeachtet gelassen hat. Deren tieferer Sinn trotzt <strong>de</strong>m Einwand, <strong>de</strong>r<br />
sich leicht mel<strong>de</strong>t und hier ausnahmsweise nicht am Platze wäre: daß es<br />
nichts gegen die journalistische Bildung beweist, einem Autor etwas zuzuschreiben,<br />
was er nicht geschrieben hat. Gewiß ist es unmöglich, zu wissen,<br />
was alles von Goethe, und noch weniger möglich zu wissen, was alles nicht<br />
von ihm stammt. Aber die Neue Freie Presse mit Goethe hineinzulegen, entspricht<br />
sogar <strong>de</strong>r Definition, die die Arbeiter—Zeitung von einem Grubenhund<br />
gibt als <strong>de</strong>m Träger eines »erkennbaren inneren Wi<strong>de</strong>rspruchs«. Ein solcher<br />
ist doch schon ein richtiges Goethe—Zitat im Mun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Neuen Freien Presse.<br />
Durch das falsche soll ihr nur <strong>de</strong>r Hang abgewöhnt wer<strong>de</strong>n und auf eine<br />
Art, die sie reichlich verdient hat. Denn abgesehen davon, daß sie sich von<br />
sämtlichen Sprüchen einzig an <strong>de</strong>n von <strong>de</strong>m gebrannten Kind zu halten hätte,<br />
und abgesehen von <strong>de</strong>r Kühnheit eines Wirkwaren—Moniteurs, die Erlaubnis,<br />
»wo's euch beliebt zu wei<strong>de</strong>n«, nicht nur unbe<strong>de</strong>nklich Goethe zuzuschreiben,<br />
son<strong>de</strong>rn von ihr auch für Goethe Gebrauch zu machen, gibt es einen Autor,<br />
von <strong>de</strong>m sie je<strong>de</strong> Zeile zu kennen hat: <strong>de</strong>n sie totschweigt. Sonst kann es für<br />
sie keine Sicherheit geben, daß nicht von eben diesem alles ist, was sie von<br />
Goethe zitiert. In<strong>de</strong>m dieser Grubenhund in Einem das Flunkern mit einer aufgesetzten<br />
Kultur und <strong>de</strong>n Mechanismus <strong>de</strong>r Unterdrückung ad absurdum<br />
führt, erfüllt er <strong>de</strong>n tiefsten Sinn <strong>de</strong>r Einrichtung: eine Strafexpedition zu<br />
sein.<br />
Der ge<strong>de</strong>mütigte Journalismus weiß sich freilich sofort schadlos zu halten.<br />
Habe ich ihm die Literaturrubrik, in die er mich bewußt nie einlassen<br />
wird, unsicher gemacht, und mußte er zwischen Gerichtssaal und Sport von<br />
mir Notiz nehmen, so kann er für diesen, bei <strong>de</strong>m ich nichts zu suchen habe,<br />
unbesorgt sein und sich mit jenem rächen. Da hat jemand <strong>de</strong>n son<strong>de</strong>rbaren<br />
Einfall gehabt, in einem embarras <strong>de</strong>s richesses 1 an heimischen Möglichkeiten<br />
ausgerechnet <strong>de</strong>n verbannten Bekessy einen »Falloten« zu nennen, und<br />
dieser <strong>de</strong>n noch kurioseren Einfall, wegen Beleidigung zu klagen. Der Verteidiger<br />
beantragte die Vorladung <strong>de</strong>s Vizekanzlers Dr. Schober und an<strong>de</strong>rer<br />
Zeugen<br />
(die in manchen Blättern genannt waren). Man ist gespannt, wen man da unter<br />
an<strong>de</strong>rn bemerken wird — neben Schober, <strong>de</strong>r das Zitieren einmal in <strong>de</strong>r<br />
Lei<strong>de</strong>form erleben soll. <strong>Die</strong> Neue Freie Presse kann <strong>de</strong>m Ausgang insofern mit<br />
Beruhigung entgegensehen, als sie bestimmt weiß, daß Goethe bei dieser Gelegenheit<br />
nicht zitiert wird.<br />
1 Mangel an Möglichkeiten<br />
64
Ich kann nicht leugnen, mein Mißtrauen<br />
gegen <strong>de</strong>n Geschmack unserer Zeit ist bei<br />
mir vielleicht zu einer ta<strong>de</strong>lnswürdigen<br />
Höhe gestiegen. Täglich zu sehen, wie<br />
Leute zum Namen Genie kommen, wie die<br />
Kellerassel zum Namen Tausendfuß, nicht<br />
weil sie so viel Füße haben, son<strong>de</strong>rn weil<br />
die meisten nicht bis auf vierzehn zählen<br />
wollen, hat gemacht, daß ich keinem mehr<br />
ohne Prüfung glaube.<br />
G. Chr. Lichtenberg<br />
Reinhardt und Reinhold<br />
Mein Schreiben, <strong>de</strong>m ich objektiv genug gegenüberstehe, um es sowohl<br />
in gebun<strong>de</strong>ner wie insbeson<strong>de</strong>re in ungebun<strong>de</strong>ner Sprache für besser und angebrachter<br />
zu halten als das irgen<strong>de</strong>ines <strong>de</strong>utschen Zeitgenossen, erscheint<br />
mir gleichwohl hinreichend problematisch und als eine mich nur bis zum Augenblick<br />
<strong>de</strong>r Unabän<strong>de</strong>rlichkeit mit und dank allen Zweifeln befriedigen<strong>de</strong><br />
Leistung. Worin ich mich jedoch immer einem Maßstab absoluter Wertung gewachsen<br />
fühlte, das war die nachschöpferische Gestaltung mit sprachlichen<br />
Mitteln und insbeson<strong>de</strong>re die mit <strong>de</strong>n darstellerischen Mitteln <strong>de</strong>s Vortrags.<br />
Nicht leicht und gern, aber mit <strong>de</strong>m unerbittlichen Respekt vor <strong>de</strong>m Werk —<br />
<strong>de</strong>ssen Wertbegriff <strong>de</strong>r Habgier unerreichbar bleibt — schicke ich mich drein,<br />
wenn ich in <strong>de</strong>n Belangen Offenbach und Shakespeare von Reinhardt und<br />
Reinhold übertroffen bin und mein Theater <strong>de</strong>r Dichtung, auf das ich mir weit<br />
mehr zugute tat als auf meine Dichtung, nun erledigt wäre. Wohl mag ich<br />
mich rühmen können, <strong>de</strong>n Rausch in <strong>de</strong>r »Perichole« so glaubhaft zum Ausdruck<br />
gebracht zu haben, daß mir ein begeisterter Fachmann je zwei Flaschen<br />
Malaga, Porto, Ma<strong>de</strong>ira, Xeres und Alikante ins Haus schickte: die ich<br />
zwar nicht trinken kann, weil ich sonst <strong>de</strong>n Rausch nicht darzustellen vermöchte,<br />
die ich aber als anschauliche Form <strong>de</strong>s Beifalls in <strong>Ehre</strong>n halten will<br />
und als etwas, was, wie jemand meinte, <strong>de</strong>m Ensemble <strong>de</strong>r Krolloper nie wi<strong>de</strong>rfahren<br />
wäre. Wohl mag es mir — und das ist noch mehr — gelungen sein,<br />
als Großherzogin einen Hamburger Kaufherrn so zu betören, daß er mir eine<br />
Einladung zum Stelldichein in die Gar<strong>de</strong>robe schickte. Aber wenn mir auch<br />
unstreitig auf <strong>de</strong>m Podium — <strong>de</strong>nn im Leben bin ich ganz an<strong>de</strong>rs — die Wirkung<br />
nicht versagt ist, die einer reicheren Fülle von Schönheit, wie sie Reinhardt<br />
zur Schau stellt, »letzten En<strong>de</strong>s« zukommt, so weiß ich natürlich nicht,<br />
ob ich es mit <strong>de</strong>m Geist, also mit Saßmann, aufnehmen könnte, <strong>de</strong>r am Werke<br />
war, um <strong>de</strong>r Offenbach'schen Musik neue Verse anzuschmiegen (wo er nicht<br />
wegen <strong>de</strong>r Wirkung die alten stehn gelassen hat). Alles in allem dürfte es sich<br />
hier so verhalten, daß die wahre Offenbach—Renaissance, die in <strong>de</strong>m Entschluß<br />
besteht, eine Ba<strong>de</strong>anstalt für sämtliche Geschlechter mit Offenbach'scher<br />
Musik aufzumachen, <strong>de</strong>r Schaulust eben doch mehr bietet als meine<br />
dürftigen Inszenierungen, <strong>de</strong>ren einziges Requisit das kleine Fe<strong>de</strong>rmesser<br />
in »Perichole« bil<strong>de</strong>t. Ich hatte gehofft, in noch zwölf Jahren damit durch die<br />
Mauer meines Gefängnisses zu dringen, aber es geht wohl nicht. Was nun<br />
Shakespeare anlangt, so mag sich, wie bei »Wintermärchen« und »Lear«, die<br />
Wirkung ergeben haben, daß sich die Leute bei aller Ergriffenheit doch nicht<br />
ins Theater versetzt fühlten, wo ihnen eine Mehrzahl von Gestalten unmöglich<br />
macht, diese auseinan<strong>de</strong>rzuhalten, und wo sie nur die einzige neuzeitliche<br />
65
Stimme jenes Drillmeisters zu hören glauben, <strong>de</strong>r ihnen <strong>de</strong>n Shakespeare'schen<br />
Vers verhunzt. Das soll freilich heuer im Burgtheater, und zwar<br />
bei »Lear« und »Richard III.«, ganz an<strong>de</strong>rs gewesen sein, wo Herr Ernst Reinhold<br />
nach <strong>de</strong>m übereinstimmen<strong>de</strong>n Urteil <strong>de</strong>r Wiener Kritik hun<strong>de</strong>rtfach das<br />
vermocht hat, was sie mir bisher nicht nachgesagt hatte und was ich mir infolge<strong>de</strong>ssen<br />
einbil<strong>de</strong>te, wiewohl es mit <strong>de</strong>nselben Worten die ausländische Kritik<br />
von mir behauptet, soweit sie, ohne eingela<strong>de</strong>n zu sein, referiert.<br />
Viele Schauspieler, Dichter und Schriftsteller waren gekommen,<br />
um dabei zu sein, wenn es einer unternimmt, allein <strong>de</strong>n »Lear« zu<br />
beschwören.<br />
Schon das kann man mir nicht nachrühmen, zu <strong>de</strong>ssen Beschwörungsversuch<br />
sie ja um keinen Preis, also wenn man ihnen noch aufs Billett draufgezahlt<br />
hätte, gekommen wären. Einer von ihnen schreibt, Reinhold gebe<br />
noch in <strong>de</strong>r Einzelheit <strong>de</strong>n Lebens— und Schicksalsraum <strong>de</strong>s ganzen<br />
Dramas. Eine einmalige, eine unheimliche Leistung. Wer sie<br />
vollbracht hat, in <strong>de</strong>m muß viel Kraft, Wille und Anschauung für<br />
das lebendige Theater verborgen sein. Der darf darum nicht im<br />
Abseitigen gehalten wer<strong>de</strong>n, seine schöpferische Macht muß unser<br />
an Persönlichkeit so armes Theater zu spüren bekommen.<br />
Das klingt ja nun wirklich wie das, was jetzt allerorten, außerhalb dieses Ortes,<br />
zu <strong>de</strong>m Plan gesagt wird, das Theater <strong>de</strong>r Dichtung in ein Ensembletheater<br />
zu verwan<strong>de</strong>ln. Und vermutlich wird es wie alle ekstatischen Töne, die<br />
man über jenen hört, irgendwie damit zusammenhängen. Freilich muß ich,<br />
auch ohne Reinhold gehört zu haben, zugeben, daß er manche Wirkungen vor<br />
mir voraushat. Er erschien »auf einer beson<strong>de</strong>rs geschaffenen Bühne, die in<br />
Purpur schimmerte«, und ein Kritiker (<strong>de</strong>r nicht weniger als dreimal referiert)<br />
zählt zu seinen stärksten Szenen:<br />
die Erscheinungen <strong>de</strong>r von grüngrauem Licht umspielten, erstaunlich<br />
individualisierten Geister, die Richard im Traume erscheinen<br />
und ihn mit ihrem Fluche bela<strong>de</strong>n: »Despair and die!« — »Verzweifl'<br />
und stirb!« — und ihr segnen<strong>de</strong>s Hinneigen zu Richmond.<br />
Nach diesen Szenen wälzte sich ein dunkler Klumpen, als Silhouette<br />
auf rotglühen<strong>de</strong>m Hintergrund sichtbar, schreiend und gräßlich<br />
aufstöhnend, ein Gepeinigter auf einem Schreckenslager — —<br />
Scheint hier somit zu <strong>de</strong>r sprecherischen Wirkung noch eine szenische hinzugekommen<br />
zu sein, die sich mit <strong>de</strong>n Mitteln <strong>de</strong>s Architektensaales überhaupt<br />
nicht herbeiführen ließe, so ist dieser Vortragen<strong>de</strong> auch mit zwei natürlichen<br />
Fähigkeiten entschie<strong>de</strong>n im Vorsprung: englisch und aus <strong>de</strong>m Gedächtnis zu<br />
sprechen. Damit, und alles in allem, steht es nun so. Vielleicht ist es Neid,<br />
vielleicht eine Art Verfolgungswahn, <strong>de</strong>r sich aus <strong>de</strong>r isolierten Stellung eines<br />
Mannes erklären mag, <strong>de</strong>r keine Freikarten hergibt und darum die ihm von<br />
<strong>de</strong>r Presse entgegengebrachte Sympathie, die sich nur nicht turbulent äußern<br />
kann, beständig verkennt; vielleicht ist es Beziehungswahn aus Mangel an<br />
Verbindungen — aber ich habe das starke Mißtrauen, daß es sich (während<br />
Reinhardt auch von selbst die Herzen gewinnt) im Fall Reinhold um ein General—Bestemm<br />
han<strong>de</strong>lt. Ich stelle mir — in <strong>de</strong>r Einbildung, die sie mir sicher<br />
glauben — es so vor, daß eine bestimmte und ausdruckswillige Quantität von<br />
Begeisterung für mich vorliegt und, da ihr eine gewisse Reserve auferlegt ist,<br />
irgendwo hinaus muß. Da kommt einer, <strong>de</strong>r zum erstenmal das tut, was ich<br />
seit Jahrzehnten gewohnt bin: ein ganzes Drama vorzutragen, und <strong>de</strong>m<br />
schlägt dann die notgedrungene Verdunkelung zum »Phänomen« aus. Ich erlebe<br />
es ja auf manchem Gebiet meiner Tätigkeit, viele Ausüber profitieren von<br />
66
<strong>de</strong>m, was im Gefühlsleben <strong>de</strong>r Presse durch mich »verdrängt« ist, und ich erschließe<br />
es im beson<strong>de</strong>ren Falle daraus, daß einem Dilettanten <strong>de</strong>s Podiums,<br />
<strong>de</strong>r in Deutschland grassiert, von Salten ein Feuilleton gewidmet wur<strong>de</strong>, das<br />
ganz ähnliche Farben auftrug und so ziemlich das enthielt, was über mich in<br />
Wien geschrieben wür<strong>de</strong>, wenn es dürfte. Es ist aber auch durchaus möglich,<br />
daß mein Verdacht unberechtigt ist, daß ich die Lorbeeren, die eine rachsüchtige<br />
Literatenschaft meiner Leistung entzieht und auf die ich noch weit besser<br />
pfeifen als singen kann, ganz zu Unrecht in einen Konnex mit <strong>de</strong>m Verdienst<br />
<strong>de</strong>s Herrn Reinhold bringe, und daß ihm faktisch die Worte gebühren:<br />
Ja, das alles war einmalig und unvergeßlich. Ich glaube kein<br />
Mensch außer diesem fabelhaften Reinhold kann ein solches Panorama<br />
lebensvoller gestalten, solcherart shakespearisch vor uns<br />
entrollen.<br />
Gegen einen Glauben, <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Korrektur durch Erfahrung zu erwehren<br />
weiß, ist ja nichts einzuwen<strong>de</strong>n. Aber <strong>de</strong>r Zweifel wurzelt in <strong>de</strong>m Umstand,<br />
daß keiner dieser Urteiler, in <strong>de</strong>ren Bewußtsein ein Theater <strong>de</strong>r Dichtung<br />
doch existent ist, die Gelegenheit benützt, entwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ssen Unzulänglichkeit<br />
zu behaupten o<strong>de</strong>r wenigstens das Geständnis abzulegen, daß es ihm unbekannt<br />
sei. Herr Liebstöckl, <strong>de</strong>r an das Walten einer höheren Gerechtigkeit<br />
glaubt, weil sein Handwerk ihn an <strong>de</strong>r irdischen verzweifeln läßt, geht einen<br />
Schritt weiter und scheut nicht die Fiktion, als sei sein Urteil bereits <strong>de</strong>r<br />
Kenntnis aller vorhan<strong>de</strong>nen Möglichkeiten, es zu bil<strong>de</strong>n, abgewonnen. Nach<br />
einer berechtigten Zurückweisung <strong>de</strong>s Beer—Hofmannschen Gelüstes, die<br />
bei<strong>de</strong>n Teile <strong>de</strong>s »Faust« zu einem Theaterabend zusammenzuziehen, betrachtet<br />
er <strong>de</strong>n Fall Reinhold, um die Überlegenheit <strong>de</strong>s Solovortrags gegenüber<br />
<strong>de</strong>m Theater zu beweisen, <strong>de</strong>ren Problem freilich nicht das Geringste mit<br />
<strong>de</strong>r dramaturgischen Frage zu schaffen hat, und gelangt zu einem Schluß, <strong>de</strong>r<br />
mit allem, was jemals außerhalb Wiens über das Theater <strong>de</strong>r Dichtung gesagt<br />
wur<strong>de</strong>, übereingeht:<br />
Ein Wun<strong>de</strong>r hat man erst kürzlich erlebt, da Herr Reinhold im<br />
Burgtheater »Richard III.« sprach. Da war außer einem gespenstig<br />
erleuchteten Tisch mit dunkelrotem Überwurf niemand an<strong>de</strong>rer<br />
sichtbar als Herr Reinhold allein. Wenn er <strong>de</strong>n Richard sprach,<br />
zog er bloß die linke Schulter höher, das war alles! Trotz<strong>de</strong>m<br />
stand die Szene lebendig im gesprochenen Wort — — Wir haben<br />
also <strong>de</strong>n Fall erlebt, daß ein einziger Mann ein einziges Drama<br />
spielt und weit und breit kein Regisseur zu sehen ist als <strong>de</strong>r Sprecher<br />
selbst! Wenn es bei uns noch einen Menschen gäbe, <strong>de</strong>r ein<br />
ähnliches Wun<strong>de</strong>r mit Goethes »Faust« bewirken könnte, ließe<br />
sich dieser ganze verkürzte, ins Prokrustesbett gezwängte<br />
»Faust« glatt ersparen. Lei<strong>de</strong>r: es gibt ihn nicht!<br />
<strong>Die</strong> glatte Ersparung wäre zwar nur dann möglich, wenn <strong>de</strong>r Vortragen<strong>de</strong> zur<br />
analogen dramaturgischen Pfuschertat entschlossen wäre, da einem ungekürzten<br />
»Faust« fünf Vortragsaben<strong>de</strong> entsprechen. Aber daß es <strong>de</strong>n Menschen<br />
nicht gibt, <strong>de</strong>r diese leisten könnte, wenn ein Auditorium mitkäme, o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Helena—Akt und <strong>de</strong>m fünften <strong>de</strong>s zweiten Teils ohne einen an<strong>de</strong>rn<br />
Behelf als <strong>de</strong>n eines Tisches (selbst mit Nachlaß <strong>de</strong>r gespenstigen Erleuchtung)<br />
das von einer Christenseele ersehnte Wun<strong>de</strong>r bereits bewirkt hat<br />
— da müßte, wie ein Witzwort meint, <strong>de</strong>r Liebstöckl lügen, wenn er die Wahrheit<br />
sagen wollte. Er wird schon nicht. (Und mir ist, als ob er nicht hätte:<br />
<strong>de</strong>nn wenn mein Gedächtnis nicht so trügerisch ist wie sein Urteil, so hat er<br />
einst, als ungela<strong>de</strong>ner Beschauer, eben das Wun<strong>de</strong>r attestiert, das mit <strong>de</strong>m<br />
67
Helena—Akt bewirkt wur<strong>de</strong>. Und ich lasse mir das Attest — vom 21. I. 1924 —<br />
ausheben:<br />
Eigenartige Eindrücke empfing ich von einer Vorlesung, die Karl<br />
Kraus im Gewerbeverein hielt. Mit einer Indisposition kämpfend,<br />
bewältigte er ein Riesenprogramm: zwischen wertvollen und<br />
merkwürdig schönen eigenen Dichtungen (»Worte in Versen« und<br />
»Traumstück«) stand die Helenaszene aus <strong>de</strong>m zweiten Teile <strong>de</strong>s<br />
»Faust«, mit wesentlichen Kürzungen, die gleichwohl Atem und<br />
Glut dieses unerhörten und unvergleichlichen Intermezzos keineswegs<br />
beeinträchtigten. Neu war für mich, <strong>de</strong>r Karl Kraus zum ersten<br />
Male lesen hörte, insbeson<strong>de</strong>re seine Art, die schwierigen,<br />
scheinbar nur für <strong>de</strong>n Leser geschaffenen Chöre durch mitverwobene<br />
Musik aus zweierlei Quellen (die überaus modulationsfähige<br />
Stimme <strong>de</strong>s Sprechers mischte sich mit einer nach seinen Angaben<br />
gesetzten Klavierbegleitung) in tönen<strong>de</strong>s und leuchten<strong>de</strong>s Leben<br />
zu tauchen; die mystische Anmut <strong>de</strong>r Verse empfängt dadurch<br />
gleichsam Flügel, <strong>de</strong>ren rhythmisches Schlagen und Rauschen die<br />
Sinne gefangen nimmt und die Phantasie beschwingt. Karl Kraus<br />
ist eine in sich geschlossene und gefestigte Persönlichkeit; seine<br />
Weltanschauung ist nicht die meine, und seine Hassenskraft, obwohl<br />
aus ethischen Motiven entsprungen, weht oft wie etwas<br />
Frem<strong>de</strong>s an mir vorbei ... aber die übergroße Armut unserer Zeit<br />
an Charakteren, Temperamenten, starken Geistern und Sprachgestaltern<br />
weist einer Erscheinung von solcher Intensität sicherlich<br />
ihren Platz und ihre Be<strong>de</strong>utung zu. Hinter <strong>de</strong>m Fackelträger Karl<br />
Kraus steckt wohl ein zweiter Karl Kraus, <strong>de</strong>r ein Lichtbringer<br />
sein könnte, wenn ihm <strong>de</strong>r erste gestatten wür<strong>de</strong>, zu erkennen,<br />
daß das Wesen <strong>de</strong>s Feuers die schöpferische Wärme ist und nicht<br />
die verzehren<strong>de</strong> Flamme; er hält das verschlossene Buch mit <strong>de</strong>n<br />
sieben Siegeln in seinen nervösen Fingern, die nicht wagen, es zu<br />
öffnen ....<br />
Immerhin schien das <strong>de</strong>s »Faust« geöffnet und schiene es heute noch mehr.<br />
Wer »zum ersten Male« in eine Vorlesung kommt, sagt die Wahrheit und lügt<br />
erst nach sieben Jahren wie<strong>de</strong>r.) Vielleicht gelingt das Wun<strong>de</strong>r, daß ein einziger<br />
Mann ein einziges Drama spielt, Herrn Reinhold noch besser als mir; min<strong>de</strong>stens<br />
mit Shakespeare, da er es ja mit Goethe, Niebergall, Raimund, Hauptmann,<br />
We<strong>de</strong>kind, Gogol, Nestroy und Offenbach noch nicht versucht hat.<br />
Doch selbst die Presse wird mir das Mißtrauen, das ich gegen ihr Urteil im<br />
Allgemeinen und ganz beson<strong>de</strong>rs in diesem Falle hege, nicht ver<strong>de</strong>nken, vielmehr<br />
glauben, daß ich, wiewohl auch nicht völlig unbefangen, selber besser<br />
als sie imstan<strong>de</strong> wäre, mich zu überzeugen. Ich wer<strong>de</strong> also Herrn Reinhold zuhören,<br />
wenn er wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n »Lear« spricht, von <strong>de</strong>m ich ja — im Gegensatz zu<br />
Richard III. — je<strong>de</strong>n Buchstaben in— und auswendig kenne. Inwendig ist<br />
wichtiger. <strong>Die</strong> freie Re<strong>de</strong> wie das Englisch wird mich zwar nicht beirren, aber<br />
ich vermute, daß es die an<strong>de</strong>rn Hörer beirrt, sowohl die, die es nicht verstehen,<br />
wie die, die es verstehen, und solche, <strong>de</strong>nen bloß die Gedächtnisleistung<br />
imponiert. Mir ja nicht: <strong>de</strong>r sie im Vorhinein für Unfug und für ein Manöver<br />
<strong>de</strong>r Ablenkung hält. Ich will versuchen, trotz meiner eigenen, etwas an<strong>de</strong>rsgearteten<br />
Übung und meinem schwer entbehrlichen Glauben an sie, urteilsfähig<br />
zu bleiben. Sollte jedoch mein Urteil Zweifeln ausgesetzt sein — weil ja auch<br />
einer geringeren Eitelkeit als <strong>de</strong>r meinen hier Objektivität abgesprochen wür<strong>de</strong><br />
—, so bliebe nur die Entscheidung durch ein Kunstgericht, das sogar aus<br />
68
Wiener Kritikern bestehen könnte, wenngleich sie in diesem Falle weit befangener<br />
wären als die Partei. Für diesen Zweck müßte aber Herr Reinhold darauf<br />
verzichten, englisch und auswendig zu sprechen. Englisch kann ich nicht<br />
und ohne Text treff' ich's nicht, wiewohl ich's auswendig kann. (Sonst hätte<br />
ich fast gesagt: das ist keine Kunst, englisch und ohne Text treff' ich's auch.)<br />
Denn es kommt darauf an, das sichtbare Buch so unsichtbar zu machen, daß<br />
nur die Gestalten sichtbar wer<strong>de</strong>n, die daraus hervortreten. Scheinwerfer<br />
brauchen wir nicht; sie könnten vom Sein ablenken. Purpur wer<strong>de</strong> vermie<strong>de</strong>n.<br />
Das Buch ist unerläßlich. Dann wollen wir, wenn Herausfor<strong>de</strong>rung und Heroldruf<br />
hörbar wur<strong>de</strong>n, entschei<strong>de</strong>n lassen, wer Edgar und wer Edmund ist;<br />
und wer bei<strong>de</strong>s.<br />
Glossen<br />
ZWEI KRITIKER<br />
scheinen Wendungen ausgetauscht zu haben, aber so, daß ein je<strong>de</strong>r noch etwas<br />
zurückbehielt:<br />
»Wir folgen, im Innersten gepackt, <strong>de</strong>m von Reinhold meisterhaft<br />
profilierten schurkischen Gloster, <strong>de</strong>r seinen Weg zum Throne<br />
Englands über Berge von Gemor<strong>de</strong>ten nimmt.«<br />
»Aber Ernst Reinhold spricht sie nicht bloß, er stellt sie dar. Und<br />
nicht Richard, <strong>de</strong>n Duke of Gloster, allein, <strong>de</strong>n im Blute waten<strong>de</strong>n,<br />
durch ein Meer von Blut <strong>de</strong>n Thron erklimmen<strong>de</strong>n Mör<strong>de</strong>r … «<br />
Wie es eben bei einer elementarischen Erschütterung zugeht, sind die Berge<br />
ins Meer gefallen, so daß man durch dieses klimmen muß.<br />
PAUL GOLDMANN<br />
nimmt Notiz, in<strong>de</strong>m er bei Gelegenheit <strong>de</strong>r »Schönen Helena« Musik von<br />
Korngold, Text von Frie<strong>de</strong>ll und Saßmann feststellt,<br />
daß die Bearbeiter, im Gegensatz zu Bearbeitern an<strong>de</strong>rer Operetten,<br />
die in letzter Zeit auf Berliner Bühnen neu inszeniert wor<strong>de</strong>n<br />
sind, doch ihre Aufgabe sehr gut gelöst haben.<br />
Gleichwohl scheint ja ein epochaler Mumpitz herausgekommen zu sein.<br />
ER HAT'S SCHWER<br />
— — Im übrigen: was wür<strong>de</strong> wohl <strong>de</strong>r Komponist, <strong>de</strong>r seine Operetten<br />
als dramatische Kunstwerke schuf und die Bühnenwirkung<br />
je<strong>de</strong>r Szene, je<strong>de</strong>r Textstelle, je<strong>de</strong>r Musiknummer sorgfältig berechnete<br />
— was wür<strong>de</strong> wohl Offenbach zu einer Bearbeitung <strong>de</strong>r<br />
»Schönen Helena« gesagt haben, die das Recht in Anspruch<br />
nimmt, Libretto und Partitur nach Gutdünken zu än<strong>de</strong>rn?<br />
Nach dieser grundsätzlichen Verwahrung darf <strong>de</strong>r Neuinszenierung<br />
<strong>de</strong>r »Schönen Helena« durch Max Reinhardt all das Lob ge-<br />
69
spen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, das sie verdient. Man soll nicht bearbeiten, gewiß!<br />
Aber wenn, dann soll man so bearbeiten — — — —<br />
<strong>Die</strong> Musik hat Erich Wolfgang Korngold bearbeitet. Haben die<br />
neuen Librettisten nur die Grundlinien <strong>de</strong>r Handlung beibehalten<br />
und sonst fast alles geän<strong>de</strong>rt, so hat <strong>de</strong>r Bearbeiter <strong>de</strong>r Musik die<br />
Partitur in allem Wesentlichen bestehen lassen.— —<br />
EINER, DER NOCH TIEFER BLICKT<br />
Karl Kraus, <strong>de</strong>r die Offenbach—Bearbeitungen am laufen<strong>de</strong>n Band<br />
liefert, wird sich bitter kränken, daß er da nicht mittun durfte.<br />
Reinhardts Helfer sind Egon Frie<strong>de</strong>ll und Hanns Saßmann.<br />
Schreibt <strong>de</strong>r Leiter <strong>de</strong>s Berliner Organs <strong>de</strong>r Schwerindustriellen — Chef jenes<br />
Wiener Sozial<strong>de</strong>mokraten, <strong>de</strong>r sich gleichfalls in Offenbach—Bearbeitungen<br />
auskennt —, nach<strong>de</strong>m ich auch gelegentlich einer Shakespeare—Bearbeitung<br />
so wenig Gehör bewiesen habe, daß ich die Bitte um Verzicht auf <strong>de</strong>n sogenannten<br />
Kadi unbeachtet ließ. Meine Lieferung am laufen<strong>de</strong>n Band nun beschränkt<br />
sich auf die selbstsüchtige Wonne einer Flucht, die ich mir einmal im<br />
Jahr aus eben dieser Trostlosigkeit in einen neuen Offenbach gestatte, <strong>de</strong>n ich<br />
— für <strong>de</strong>n eigensten Podiumzweck — jeweils als <strong>de</strong>n alten wie<strong>de</strong>rherstelle und<br />
<strong>de</strong>ssen Benutzung <strong>de</strong>n sich bewerben<strong>de</strong>n Theaterpfuschern zu verweigern<br />
eine Haupttätigkeit <strong>de</strong>s Verlags <strong>de</strong>r Fackel bil<strong>de</strong>t. <strong>Die</strong> Gewährung an einen<br />
Rundfunk, <strong>de</strong>m natürlich nichts »geliefert« wur<strong>de</strong>, was nicht längst vorhan<strong>de</strong>n<br />
war, geschah unter <strong>de</strong>n strengsten stilistischen Kautelen und mit <strong>de</strong>r Gewißheit,<br />
daß hier ein künstlerischer Wille am Werke ist und noch je<strong>de</strong>r einzelne<br />
Chorist echtere Beziehung zu theatralischem Werte beweist als an<strong>de</strong>rnorts<br />
eine ganze sichtbare Solistenschar. Das Verdienst dieses Rundfunks, in einem<br />
Jahre neun Offenbachs herauszubringen, mit <strong>de</strong>nen ich mich ohne solchen Antrieb<br />
lange vorher und lange Zeit hindurch beschäftigt hatte, stellt sich <strong>de</strong>m<br />
Koofmichgehirn, das für seine Äußerungen nicht mehr verantwortlich ist, sobald<br />
es sie drucken lassen darf, als meine Lieferung am laufen<strong>de</strong>n Band dar.<br />
Man kann sich natürlich darauf verlassen, daß Herr Reinhardt, <strong>de</strong>r allerdings<br />
die Schöne Helena schon vor zwanzig Jahren kompromittiert hat, nunmehr<br />
auch mit je<strong>de</strong>m von mir wie<strong>de</strong>rhergestellten Offenbach, <strong>de</strong>ssen Musik ja vogelfrei<br />
ist und <strong>de</strong>ssen Textrechte, sofern sie noch bestehen, erlangbar sind,<br />
seine Geschäfte machen wird. Und soweit die Zunge <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Presse<br />
reicht, also von Wien bis Riga, wäre ihm selbst dann je<strong>de</strong> Unterstützung garantiert,<br />
wenn nicht <strong>de</strong>r Nährbo<strong>de</strong>n aller Anerkennung jener Daffke gegen<br />
mich wäre, von <strong>de</strong>m heute sämtliche Parasiten meines Gedankens und sämtliche<br />
Dilettanten meiner Praxis leben und wer will ge<strong>de</strong>iht, <strong>de</strong>r eben das, was<br />
er nicht hat, vor mir voraus hat. Daß mich Reinhardts »Schöne Helena«<br />
kränkt, ist wahr. Aber die I<strong>de</strong>e, daß ich, <strong>de</strong>r noch je<strong>de</strong>r — nachweisbaren —<br />
Versuchung, Herrn Reinhardt an meiner eigensten Offenbach—Renaissance<br />
nassauern zu lassen, mit einem Gelächter begegnet bin, um das mich die unverschan<strong>de</strong>lte<br />
Helena benei<strong>de</strong>n könnte — die Vorstellung, daß ich froh gewesen<br />
wäre, da »mitzutun«, läßt mich nur das eine Wort fin<strong>de</strong>n: Mein Herr, Sie<br />
belieben zu hohnepipeln! Gewiß mag es <strong>de</strong>n Kolumbus verdrießen, daß <strong>de</strong>r<br />
Salten sich jetzt mit <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung Amerikas auftut. Trotz<strong>de</strong>m wäre es verfehlt,<br />
<strong>de</strong>n Fall meiner Aussperrung durch Herrn Reinhardt mit <strong>de</strong>r Möglichkeit<br />
vergleichen zu wollen, daß Kolumbus sich bitter kränkt, weil er keine Reiseberichte<br />
für die Neue Freie Presse schreiben kann. Vielmehr müßte man,<br />
70
wenn die Berliner Börsenzeitung so etwas von ihm behaupten wollte, <strong>de</strong>n Versuch,<br />
ihn durch <strong>de</strong>n Kakao zu ziehen, umgekehrt mit <strong>de</strong>m Vergleich zurückweisen:<br />
dies grenze gera<strong>de</strong>zu an die Möglichkeit, zu behaupten, Herr Kraus<br />
sei gekränkt, weil er nicht bei Reinhardts Helena mittun durfte und ihm bei<br />
Vergebung <strong>de</strong>r Arbeit die Herren Frie<strong>de</strong>ll und Saßmann vorgezogen wur<strong>de</strong>n.<br />
(Derselbe Herr Kraus, <strong>de</strong>r selbst die Bitte jenes Rundfunks, die Helena zu bearbeiten,<br />
abschlug, erstens, weil seine Schreibfe<strong>de</strong>r noch nie einer äußern Anregung<br />
gehorcht hat, und zweitens, weil er keinen Zugang zu einem Text fän<strong>de</strong>,<br />
<strong>de</strong>r ihm ebenso unantastbar wie unbrauchbar erscheint, und weil ihm im<br />
Gegensatz zu <strong>de</strong>n Bescheidwissern, die nur <strong>de</strong>n Orpheus und die Helena kennen<br />
und darum die hun<strong>de</strong>rt an<strong>de</strong>ren Kostbarkeiten o<strong>de</strong>r Seltenheiten für<br />
»Werke zweiten Ranges« erklären, fast je<strong>de</strong>s musikdramatisch reizvoller<br />
dünkt als die Götter— und Hel<strong>de</strong>nsatire, die, wenn schon nicht verklungen<br />
und vertan, einer Zeit doch entrückt ist, <strong>de</strong>ren Niveau nicht einmal die Kontrastbeziehung<br />
<strong>de</strong>r Gestalten ermöglicht. Womit aber nicht gesagt sei, daß ein<br />
Antrieb nicht aus <strong>de</strong>r Kenntnis <strong>de</strong>r Reinhardtschen Fassung und einem Blick<br />
auf das lettländische Ballett nachwachsen könnte.)<br />
VERANTWORTUNG<br />
— — Bei einem ministeriellen Frühstück am Qual d'Orsay, das <strong>de</strong>n<br />
diesjährigen Kongreß abschloß, entwickelte Dr. Raoul Auernheimer<br />
... in französischer Sprache ein Bild <strong>de</strong>r österreichischen Literatur,<br />
die mit Grillparzer und Stifter anfängt, mit Schnitzler und<br />
Wildgans nicht aufhört«. Er wies auf ihre beson<strong>de</strong>re Lage und<br />
Verantwortung innerhalb <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literatur hin — — Lebhafter<br />
Beifall sowohl <strong>de</strong>r Gastgeber als <strong>de</strong>r Delegierten unterstrich<br />
die kulturpolitische Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r kleinen Re<strong>de</strong>.<br />
Wenn Professoren <strong>de</strong>r Sorbonne und <strong>de</strong>s Collège <strong>de</strong> France dabei waren, wer<strong>de</strong>n<br />
sie wohl gestaunt haben, warum die österreichische Literatur just vor einem,<br />
<strong>de</strong>n sie für <strong>de</strong>n Nobelpreis vorschlugen, aufhört.<br />
GESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITERATUR<br />
von Paul Wiegler (Ullstein), zweiter Band, behan<strong>de</strong>lt u. a.,<br />
A<strong>de</strong>lt, Angermayer, Auernheimer, Aufricht—Ruda, Vicki Baum,<br />
Brociner, Bronnen, Csokor, Adolph Donath, Edschmid, Eidlitz,<br />
Paul Frank, Fröschel, Großmann, Hasenclever, Wilhelm Herzog,<br />
Holitscher, Kappus, Marta Karlweis, Kisch, Kornfeld, Lernet—Holenia,<br />
Lissauer, Ernst Lothar, Hans Müller, Manzer, Natonek, Robert<br />
Neumann, Perutz, Rehfisch, Rößler, Strobl, Tagger, Toller,<br />
Trebitsch, Unruh , Vollmöller, Theodor Wolff.<br />
<strong>Die</strong> Vorre<strong>de</strong> schließt:<br />
Viele Dichter sind zu behan<strong>de</strong>ln und noch mehr Schriftsteller. Es<br />
wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Verfasser beglücken, wollte man auch für diesen Band<br />
die Liebe zur Dichtung und zu <strong>de</strong>nen, die sie leben o<strong>de</strong>r gelebt haben,<br />
ihm zuerkennen.<br />
Alle, außer einem, sollen das Leben behalten, sagt Hamlet. Aber Sein o<strong>de</strong>r<br />
Nichtsein, das ist hier die Frage. In <strong>de</strong>r Encyklopaedia Britannica kommt meines<br />
Wissens keiner <strong>de</strong>r Herren o<strong>de</strong>r Damen in erheblichem Maße vor.<br />
71
STARK ÜBERTRIEBEN<br />
Wollen Sie<br />
trotz Ihrer Berufsarbeit die Verbindung mit <strong>de</strong>n großen<br />
geistigen Strömungen unserer Zeit nicht verlieren —<br />
wollen Sie<br />
völlig parteilose sachliche Informationen über wichtige kulturpolitische<br />
Vorgänge —<br />
wollen Sie<br />
für wenig Geld in kurzweiliger Form einen Überblick über<br />
das literarische und geistige Leben <strong>de</strong>r Gegenwart —<br />
Dann lesen Sie<br />
<strong>Die</strong> Literarische Welt<br />
Je<strong>de</strong> Nummer enthält<br />
Artikel über aktuelle Zeitfragen / Referate über Theater und<br />
Film / Novellen, Skizzen, Erzählungen / Kritische Übersicht<br />
über alle wichtigen Neuerscheinungen von namhaften Autoren<br />
/ Zahlreiche Bil<strong>de</strong>r, Glossen, Anekdoten u. a.<br />
Ich will schon, aber jener will nicht.<br />
GROSSMANN MACHT MIR EINE SZENE<br />
Eine alte Beziehung, lange Zeit ein gespanntes Verhältnis, artet nunmehr<br />
in einen Briefwechsel aus (ich habe es nicht gewollt):<br />
Stefan Großmann 22.5.31. Berlin—Charlottenburg 9<br />
Eichenallee 64<br />
Westend 8874<br />
An <strong>de</strong>n Verlag<br />
<strong>Die</strong> Fackel<br />
Wien III.<br />
Hintere Zollamtsstr. 3<br />
Am heutigen Tage trat die beiliegen<strong>de</strong> Nummer <strong>de</strong>r Fackel hier<br />
ein, in <strong>de</strong>r ein Artikel, <strong>de</strong>r Herrn Großmann betrifft, rot angestrichen<br />
ist. Herr Großmann befin<strong>de</strong>t sich zur Zeit im Ausland. Da ich<br />
annehme, daß er an <strong>de</strong>m Artikel kein Interesse hat, sen<strong>de</strong> ich Ihnen<br />
die zugesandte Nummer anbei zurück.<br />
Hochachtungsvoll<br />
— —<br />
Sekretärin<br />
An Fräulein — — 6. Juni 1931<br />
Sekretärin <strong>de</strong>s<br />
Herrn Stefan Großmann<br />
Berlin—Charlottenburg 9<br />
Eichenallee 64<br />
Sehr geehrtes Fräulein!<br />
Sie teilen uns mit, daß ein Heft <strong>de</strong>r Fackel, worin ein Artikel, <strong>de</strong>r<br />
Herrn Großmann betrifft, rot angestrichen sei, bei ihnen eintraf,<br />
und sen<strong>de</strong>n das Heft an uns, da Sie annehmen, daß Herr Groß-<br />
72
mann, <strong>de</strong>r sich zur Zeit im Ausland befin<strong>de</strong>, an <strong>de</strong>m Artikel kein<br />
Interesse habe. Selbst wenn es so wahr sein sollte, daß Herr<br />
Großmann an <strong>de</strong>m Artikel kein Interesse hat, wie daß er sich zur<br />
Zeit im Ausland befin<strong>de</strong>t; wenn Sie also seine Intention erraten<br />
haben sollten anstatt sein Diktat zu empfangen, so verstehen wir<br />
noch immer nicht, warum Sie uns all dies mitteilen und uns das<br />
Heft zusen<strong>de</strong>n. Wir können uns nun allerdings <strong>de</strong>nken, daß Sie<br />
uns für <strong>de</strong>n Absen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Heftes halten. <strong>Die</strong>se Meinung wür<strong>de</strong><br />
aber auf einem Irrtum beruhen, und wir sen<strong>de</strong>n ihnen <strong>de</strong>shalb das<br />
Heft, das je<strong>de</strong>nfalls weit eher <strong>de</strong>m Adressaten als uns zugehört,<br />
wie<strong>de</strong>r zurück. Nichts könnte dafür sprechen, daß gera<strong>de</strong> wir das<br />
Heft an Herrn Großmann, an <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Herausgeber <strong>de</strong>r Fackel<br />
noch nie eine Zuwendung außer <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>m Artikel erwähnten gemacht<br />
hat, gelangen ließen. Freilich halten wir es nicht für unwichtig,<br />
daß er die Fackel liest, aber wir sind überzeugt, daß wir<br />
dafür nicht erst durch <strong>de</strong>ren Einsendung sorgen müssen, son<strong>de</strong>rn<br />
daß Herr Großmann sich die Fackel kauft, wenn er sie nicht, wie<br />
es eben diesmal geschehen ist, von wohlmeinen<strong>de</strong>r Seite geschenkt<br />
bekommt. Ihre Annahme, daß er an <strong>de</strong>m Artikel kein Interesse<br />
habe, ist ganz gewiß nicht zutreffend, es wäre <strong>de</strong>nn, daß<br />
er nach flüchtigem Überblick sich davon überzeugt hätte, daß <strong>de</strong>r<br />
Artikel im Wesentlichen kaum mehr als einen Nachdruck von Unsauberkeiten<br />
enthält, die <strong>de</strong>m Herrn Großmann ohnedies aus seinem<br />
Buche bekannt sind. Wie immer <strong>de</strong>m aber sei, und selbst<br />
wenn ein Heft, das einen Artikel über Herrn Großmann bringt,<br />
wegen starker Nachfrage vergriffen wäre, so wären wir doch<br />
nicht in <strong>de</strong>r Lage, es uns von ihm spen<strong>de</strong>n zu lassen. <strong>Die</strong> bemerkenswerte<br />
Tatsache jedoch, daß es <strong>de</strong>m Herrn Großmann von irgen<strong>de</strong>iner<br />
Seite, die ihn auf <strong>de</strong>m Laufen<strong>de</strong>n erhalten will, zugesandt<br />
wur<strong>de</strong>, hätte keineswegs <strong>de</strong>s Beweises durch Vorzeigung<br />
bedurft. Wir sen<strong>de</strong>n Ihnen <strong>de</strong>shalb das Heft zurück, nicht ohne<br />
<strong>de</strong>n Rat an Herrn Großmann, es entwe<strong>de</strong>r, sobald er aus <strong>de</strong>m Ausland<br />
heimkehrt, zu lesen, da es ja auch noch an<strong>de</strong>re interessante<br />
Beiträge enthält als <strong>de</strong>njenigen, <strong>de</strong>r ihn nicht interessiert, o<strong>de</strong>r<br />
wenn er überhaupt kein Interesse dafür haben und auch nicht imstan<strong>de</strong><br />
sein sollte, <strong>de</strong>n Absen<strong>de</strong>r ausfindig zu machen, es an einen<br />
Interessenten weiterzugehen. Schließlich möchten wir bemerken,<br />
daß <strong>de</strong>r gewiß erhebliche Umstand, daß sich die Fackel nach langer<br />
Ablenkung wie<strong>de</strong>r einmal ausführlicher mit Herrn Großmann<br />
befaßt hat, noch immer nicht <strong>de</strong>n Übermut rechtfertigt, mit uns in<br />
brieflichen Verkehr zu treten.<br />
Hochachtungsvoll<br />
Der Verlag <strong>de</strong>r Fackel.<br />
OPTIMISMUS<br />
empfiehlt Salten in einem Feuilleton, das er <strong>de</strong>m An<strong>de</strong>nken <strong>de</strong>s Erfin<strong>de</strong>rs von<br />
Odol widmet wie <strong>de</strong>ssen Freund, <strong>de</strong>m Herausgeber <strong>de</strong>r 'Dresdner Neuesten<br />
Nachrichten', <strong>de</strong>m durch die originelle Schreibart seines Namens bekannten<br />
Wollf. Er erzählt, wie er diesen auf einer Englandreise kennen und schätzen<br />
73
lernte, so daß es schon, als sie Southampton erreichten, entschie<strong>de</strong>n war, daß<br />
fortan auch ihre Lebenswege vereint sein wür<strong>de</strong>n. Denn Wollf<br />
hat eine ganz subtile Empfindung für Unabhängigkeit und ist im<br />
ganzen durchaus darauf eingestellt, das Gute, Begabte, Zukunftsreiche<br />
zu för<strong>de</strong>rn, zu bejahen, zu schützen, dafür zu kämpfen, und<br />
das Geringe, das anmaßend Mittelmäßige, das vordringlich Niedrige,<br />
wenn möglich, gar nicht zu beachten<br />
mit einem Wort, sich lieber für die Jü<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Hasen als für die Letzten Tage<br />
<strong>de</strong>r Menschheit einzusetzen. Wollf hat <strong>de</strong>n gesun<strong>de</strong>n Glauben, was schwach<br />
o<strong>de</strong>r unzulänglich sei, könne nicht leben, da sei das Totschlagen überflüssig.<br />
Doch triebkräftiges Keimen zu pflegen sei wichtigste Pflicht.<br />
Und da ganz die nämliche Auffassung Salten selbst hat und auch Wollf triebkräftig<br />
keimt, so zählt er diesen<br />
zu <strong>de</strong>n wenigen Zeitungsleuten, <strong>de</strong>nen eine dichterische Seele<br />
verliehen ward.<br />
Wollf hat nämlich ein Buch über Lingner geschrieben wie Salten über die Firma<br />
Ginzkey, das sich also »<strong>de</strong>n Büchern an<strong>de</strong>rer großer Journalisten« anreiht,<br />
aber während Salten, impressionabel wie er ist, die Anregung, die er in Maffersdorf<br />
empfing, sofort aufgriff, hat <strong>de</strong>r bedächtigere Wollf sich erst nach<br />
und nach <strong>de</strong>r Sphäre überlassen.<br />
Wollf lehnte sich gegen <strong>de</strong>n Reichtum Lingners auf, er stand steifnackig<br />
vor <strong>de</strong>m mächtigen Großindustriellen, rebellierte als Chefredakteur<br />
gegen <strong>de</strong>n Meister <strong>de</strong>r Reklame, wi<strong>de</strong>rstrebte in seinem<br />
Unabhängigkeitsgefühl <strong>de</strong>r Möglichkeit, mit <strong>de</strong>m Millionär ins Gere<strong>de</strong><br />
zu kommen.<br />
Es war offenbar das Bedürfnis, die Unabhängigkeit, in <strong>de</strong>r sich das Redaktionelle<br />
gegenüber <strong>de</strong>m Annoncenteil befin<strong>de</strong>t, zu betonen, da ja wohl auch in jener<br />
Zeit die Dresdner Neuesten Nachrichten nicht gezögert haben dürften,<br />
ganzseitige Annoncen über Odol zu bringen, einen Artikel, <strong>de</strong>ssen Gangbarkeit<br />
<strong>de</strong>r öffentlichen Meinung Deutschlands zugutekommt, wenngleich von<br />
ihm nachweislich mehr die Leser als die Redakteure Gebrauch machen. Erst<br />
allmählich unterlag Wollf <strong>de</strong>m Eindruck <strong>de</strong>r Persönlichkeit Lingners, <strong>de</strong>r, wie<br />
Salten erzählt, gleichfalls eine feiner organisierte Natur und wie so viele Kaufleute<br />
ursprünglich <strong>de</strong>m Künstlerberuf bestimmt war, bevor er einen Clown dafür<br />
bezahlte, sein dressiertes Schwein »Odol« zu nennen. (Später hat Lingner<br />
auch <strong>de</strong>r Schillerstiftung ermöglicht, einen Preis auszusetzen, <strong>de</strong>n Werfel erhielt.)<br />
Als aber Salten die ersten Male nach Dres<strong>de</strong>n kam, war <strong>de</strong>r Eindruck,<br />
<strong>de</strong>n er von Lingner empfing, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Schüchternheit, und er fand ein sehr gespanntes<br />
Verhältnis zwischen diesem und Wollf vor, ja manchmal war er Zeuge,<br />
in welch schroffer Weise Wollf die Annäherungsversuche Lingners — die<br />
dieser bei aller Schüchternheit doch unternahm — ablehnte. Erst mit <strong>de</strong>r Zeit<br />
gelang es Lingner, Wollf umzustimmen, <strong>de</strong>m offenbar ganz wie Salten die Geschicklichkeit<br />
imponierte, mit <strong>de</strong>r es <strong>de</strong>r mächtige Großindustrielle verstand,<br />
seine Erzeugnisse, »sei es nun eine Tinktur, eine Seife o<strong>de</strong>r sonst etwas <strong>de</strong>rgleichen«,<br />
auf <strong>de</strong>m Markt einzubürgern.<br />
Weil alle seine Artikel, wenn schon nicht unbedingt nützlich, was<br />
er auch in seiner Reklame niemals behauptet, so doch immer angenehm<br />
und keinesfalls schädlich wirken.<br />
Was man sicherlich auch von <strong>de</strong>n Artikeln Wollfs und Saltens behaupten<br />
kann, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n über Lingner »Helfer <strong>de</strong>r Wissenschaft« betitelt. Das ist es ja<br />
eben, was sie von meiner mehr negativen Schreibart unterschei<strong>de</strong>t, wiewohl<br />
sich auch diese endlich die Anerkennung unstreitiger Werte wie <strong>de</strong>r »Mutzen-<br />
74
acher« abgerungen hat. Und oft bin ich schon so weit, mich <strong>de</strong>r Meinung anzuschließen,<br />
die jetzt täglich, je mieser die Welt wird, von <strong>de</strong>ren Wortführern<br />
vertreten wird und die neben Schober, Reinhardt, Benedikt auch Salten bekennt,<br />
da er sie Lingners Wort, Wesen und Werk zu verdanken hat:<br />
daß es <strong>de</strong>r Welt gegenüber keine zweite Einstellung gibt, die so<br />
Iebensför<strong>de</strong>rnd, so heilsam und so fruchtbar ist wie <strong>de</strong>r Optimismus.<br />
Also angenehm wie Odol und sogar nützlicher. Und wo habe ich das Bejahen<br />
gelernt? Vom Schaufenster eines Schnei<strong>de</strong>rs (Tailor) in meiner Nachbarschaft,<br />
<strong>de</strong>ssen Name in einer photographischen Widmung verherrlicht wird,<br />
von einem Prominenten, <strong>de</strong>r nicht wie Hamlet von <strong>de</strong>s Gedankens Blässe angekränkelt<br />
erscheint:<br />
Ja—nischka o<strong>de</strong>r Nein—nischka, das ist hier keine Frage. Selbstverständlich<br />
Janischka!<br />
Hermann Thimig.<br />
Ich sehe es täglich und weiß nun, daß nichts übrig bleibt als Optimismus.<br />
ZEHN MILLIONEN SCHILLING HABEN DIE ROTARIER HIER GELASSEN<br />
o<strong>de</strong>r nach einer an<strong>de</strong>ren Version:<br />
Rotary hat 10 Millionen Schilling dagelassen.<br />
<strong>Die</strong> Optimisten behaupten<br />
(Anhänger einer Unterleibnizischen Lehre)<br />
durch <strong>de</strong>n Rotarierkongreß seien, vorsichtig gerechnet, an<strong>de</strong>rhalb<br />
Millionen Dollar o<strong>de</strong>r etwa zehn Millionen Schilling nach Wien geflossen.<br />
Das Essen allein wird auf »an<strong>de</strong>rhalb« Millionen Schilling geschätzt. Man erfährt<br />
bei dieser Gelegenheit endlich etwas über die Ten<strong>de</strong>nzen <strong>de</strong>r Rotarier.<br />
Interessant ist die Beobachtung, die fast alle Kellner gemacht haben,<br />
wonach die Amerikaner immer wie<strong>de</strong>r: »Knödln« bestellten,<br />
die sie so aussprachen, als ob sie schon eines im Mun<strong>de</strong> hätten.<br />
Offenbar haben sich die Auslän<strong>de</strong>r von dieser wienerischen Spezialität<br />
ganz beson<strong>de</strong>re Genüsse versprochen.<br />
— — Natürlich hatten auch die Heurigen Hochbetrieb. Auch in <strong>de</strong>r<br />
weiteren Umgebung Wiens bekam man die Anwesenheit <strong>de</strong>r viertausend<br />
Rotarier in <strong>de</strong>r angenehmsten Weise zu spüren.<br />
Im Wurstelprater waren die diversen Ringelspiele an manchen<br />
Aben<strong>de</strong>n einfach von U. S. A. besetzt. <strong>Die</strong> Amerikaner waren<br />
durch <strong>de</strong>n Aufenthalt in Wien überhaupt in die allerbeste Stimmung<br />
versetzt. Sie eröffneten ihr Tagesprogramm vielfach gleich<br />
morgens mit einigen Gläsern Sekt, um sich dann in die diversen<br />
Wiener Vergnügungen zu stürzen.<br />
Ganz hoch oben war <strong>de</strong>r Kobenzl, <strong>de</strong>n vorher schon die Bergner saniert hatte.<br />
Aber auf <strong>de</strong>r Ringstraße gibt es »eine Type, <strong>de</strong>n korpulenten Mann«, <strong>de</strong>r, mit<br />
<strong>de</strong>r Vermutung rechnend, daß die Amerikaner Wien für die Hauptstadt von<br />
Steiermark halten, ganz winzige Steirerhütchen feilbietet. Er hatte gleich<br />
ausverkauft.<br />
Es war das größte Vergnügen <strong>de</strong>r Amerikaner, sich mit einem so<br />
winzigen Hütel am Kopf photographieren zu lassen.<br />
Ehe sie nämlich zum Vortrag Reinhardts wallten, <strong>de</strong>r ihnen wie<strong>de</strong>r mehr als<br />
Salzburger bekannt ist. Aber nicht nur jene Type, die so glücklich darauf spe-<br />
75
kuliert, daß die Welt <strong>de</strong>n Österreicher für <strong>de</strong>n Hanswurst unter <strong>de</strong>n Nationen<br />
hält, auch<br />
die Kaufleute <strong>de</strong>r inneren Stadt, die Direktoren <strong>de</strong>r großen Hotels,<br />
die Chefs <strong>de</strong>r ersten Mo<strong>de</strong>häuser machten endlich wie<strong>de</strong>r einmal<br />
freundlichere Nasenlöcher.<br />
Ein sympathisches Bild aus <strong>de</strong>r Physiognomik <strong>de</strong>r Gewinnsucht. Alles Denken<br />
<strong>de</strong>r Menschheit ist ja längst <strong>de</strong>n freundlichen Nasenlöchern <strong>de</strong>s Koofmich unterstellt,<br />
aber so offen präsentieren sie sich doch nirgends.<br />
Das Zauberwort, das die Melodie ihrer Bilanz, wenigstens vorübergehend,<br />
so wun<strong>de</strong>rsam verän<strong>de</strong>rt hat ... lautet: Rotary!<br />
Jene aber wer<strong>de</strong>n daheim ihre Reiseerlebnisse schil<strong>de</strong>rn,<br />
<strong>de</strong>ren Refrain nur sein kann: »Wien, Wien, nur du allein!«<br />
Ja wo <strong>de</strong>nn sonst noch sollte es so was auch geben?<br />
DER WELTPESSIMISMUS WIRD NICHT SIEGEN<br />
Schwachsinn durch Röntgenbestrahlung heilbar.<br />
Privattelegramm <strong>de</strong>s »Neuen Wiener Journals«.<br />
»KEINE SCHWACHKÖPFE MEHR!«<br />
plau<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>r Schäker <strong>de</strong>r Neuen Freien Presse. Aber man kann für die Rubrik<br />
unbesorgt sein. Es han<strong>de</strong>lt sich um Versuche an Kin<strong>de</strong>rn, so daß vielleicht<br />
erst die kommen<strong>de</strong> Lesergeneration die Wirkung verspüren wird.<br />
NICHT AUSZUSCHÖPFEN<br />
<strong>de</strong>r Vorrat in einem Tölpelgehirn:<br />
Neben diesen Großgläubigern ist aber das Geschick zahlreicher<br />
kleinerer Einleger von beson<strong>de</strong>rer Tragik. Es han<strong>de</strong>lt sich hierbei<br />
um Personen, die jahrelang ihre kleinen Ersparnisse <strong>de</strong>m Bankhause<br />
anvertraut haben, keineswegs, weil sie eine beson<strong>de</strong>rs<br />
günstige Verzinsung erhielten, son<strong>de</strong>rn lediglich im Vertrauen auf<br />
die Bonität <strong>de</strong>r Firma. So hat <strong>de</strong>r bejahrte Komponist Wilhelm<br />
Kienzl, ein in geschäftlichen Dingen völlig unerfahrener, weil nur<br />
künstlerischen Interessen zugewen<strong>de</strong>ter Mensch, das <strong>Ehre</strong>ngeschenk<br />
von 20.000 S., das er anläßlich seines fünfundsiebzigsten<br />
Geburtstages von Freun<strong>de</strong>n, und Verehrern seiner Kunst erhalten<br />
hat, sowie seine übrigen beschei<strong>de</strong>nen Ersparnisse, <strong>de</strong>m Bankhaus<br />
in bar überantwortet.<br />
(Wozu noch <strong>de</strong>r sozialkritische Schmonzer unter <strong>de</strong>r Spitzmarke »Das Bankkonto<br />
<strong>de</strong>s Evangelimann«, <strong>de</strong>r stets<br />
ein Vertrauensseliger und ein Gläubiger geblieben ist<br />
das Seinige tut.) Gar nicht zu beschreiben, wie da die Gedanken, die einer<br />
nicht hat, durcheinan<strong>de</strong>r laufen. Wenn die Einlage im Vertrauen auf die Bonität<br />
<strong>de</strong>r Firma geschah, so schiene es ja eher für Erfahrung in geschäftlichen<br />
Dingen zu sprechen. Tatsächlich war die Vorstellung dieser Bonität gera<strong>de</strong>zu<br />
<strong>de</strong>m Innenleben <strong>de</strong>r Innern Stadt intabuliert. (»Auspitz — das Sicherste vom<br />
Sichern«, wie es in <strong>de</strong>ren Sprache hieß.) An<strong>de</strong>rseits hat aber <strong>de</strong>r Schmock<br />
76
doch wie<strong>de</strong>r das Klischee vorn Künstler als <strong>de</strong>m Prototyp <strong>de</strong>r geschäftlichen<br />
Ahnungslosigkeit vorrätig. Das fließt nun zusammen: schon hat er vergessen,<br />
daß die Firma wie geschaffen war, <strong>de</strong>n Unerfahrensten zu befriedigen und<br />
<strong>de</strong>n Erfahrensten zu enttäuschen, und stellt es so dar, als wäre ein Evangelimann<br />
das Opfer eines stadtbekannten Cagliostro. Wie sagt doch Hamlet,<br />
wenn auch an<strong>de</strong>rs: »O es ist gar zu schön, wenn so zwei Phrasen sich entgegen<br />
gehen!« (Und dann: »Der Mann packt mir 'ne Last auf«.)<br />
IN DIE MILLIARDEN!<br />
Ein Merkmal <strong>de</strong>r journalistischen Rasse ist die durch Aufregung bewirkte<br />
Übertreibung <strong>de</strong>s Ausdrucks. Der Leitartikler folgt ganz <strong>de</strong>m Beispiel jenes<br />
Religionslehrers, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Aufruhr <strong>de</strong>r Hor<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r ihm schon beim Eintritt entgegentönt,<br />
mit <strong>de</strong>n Worten begegnet: »Höret mich an, ihr machet mir einen<br />
Lärm — die Kan<strong>de</strong>laber zittern!« Auch wenn es keine gibt. (<strong>Die</strong> Anekdote geht<br />
weiter: »Dann wird es heißen: die Ju<strong>de</strong>n! Man hat räächt — !« Das letzte Wort<br />
ganz lang und gell.) Wenn nun diese Art von Leuten aufgeregt zu rechnen beginnt,<br />
so rechnen sie nicht in Schillingen, son<strong>de</strong>rn in Kronen, das heißt in solchen<br />
aus <strong>de</strong>r Inflation, damit es ausgiebiger ist. Man hat längst vergessen,<br />
daß ein Schilling 10.000 Kronen umfaßt. Aber hun<strong>de</strong>rt Schilling sind »eine<br />
Million!« (letzte Silbe ganz stark betont) und<br />
wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Volkstheaterverein Direktor Beer einfach seines Vertrages<br />
entheben, so müßte er selbst mit einer Summe, die vermutlich<br />
in die Milliar<strong>de</strong>n geht, alle diese laufen<strong>de</strong>n Verpflichtungen …<br />
übernehmen.<br />
Und in <strong>de</strong>r Vorstellung wird geschwelgt:<br />
— — ein Kapital, das, wie gesagt, vermutlich Milliar<strong>de</strong>n betragen<br />
müßte.<br />
— — Es han<strong>de</strong>lt sich hier schließlich um Milliar<strong>de</strong>nwerte — —<br />
Wahrscheinlich um 80.000 Schilling, also um kaum eine. Es ist spezifisch österreichisch—jüdisch;<br />
so aufgeregt kann die Berliner Kollegenschaft gar nicht<br />
sein, <strong>de</strong>r es natürlich nicht einfiele, bei ein paar tausend Mark plötzlich davon<br />
zu schwärmen, <strong>de</strong>r Betrag gehe in die Trillionen. (Ganz abgesehen davon, daß<br />
die dortigen Ju<strong>de</strong>n die Sprache <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s sprechen.) Wenn man <strong>de</strong>n Exaltados<br />
<strong>de</strong>r 'Wiener Allgemeinen' vorrechnen wollte, daß die Schönheitspflege,<br />
von <strong>de</strong>r ihre Gehälter bestritten wer<strong>de</strong>n, täglich drei Millionen trage, wür<strong>de</strong>n<br />
sie plötzlich nüchtern wer<strong>de</strong>n und antworten: »Lächerlich, höchstens 300<br />
Schilling — ein Pappenstiel im Vergleich mit <strong>de</strong>n Einnahmen, die Lippowitz<br />
verloren hat und die ( w i e d e r a u f g e r e g t ) in die Milliar<strong>de</strong>n gehn!«<br />
DIE ANALPHABETEN<br />
So wird auch jetzt vielfach behauptet, daß August Le<strong>de</strong>rer be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong><br />
Vermögenswerte seiner Firma auf sein Privatkonto geschrieben<br />
hat, was <strong>de</strong>r Struktur seiner Betriebe gemäß rechtlich<br />
ohne weiteres möglich war, und daß er jetzt einfach die Regelung<br />
an<strong>de</strong>ren überläßt, während er selbst sein Schärflein im Trockenen<br />
hat.<br />
Nur ein Schäflein als Beitrag zum Kapitel journalistischer Bildung.<br />
77
NOCH EINS<br />
Dr. Josef Kranz ist eine <strong>de</strong>r markantesten Figuren <strong>de</strong>r österreichischen<br />
Gesellschaft, ein Mann, <strong>de</strong>r schon in <strong>de</strong>r Monarchie durch<br />
seine ungeheuren Beziehungen große geschäftliche und persönliche<br />
Erfolge einheimsen konnte. Trotz seines hohen Alters gilt Dr.<br />
Kranz als ein beson<strong>de</strong>rs geistreicher Mann.<br />
WAS ES ALLES GIBT<br />
Selbst einer alten und angesehenen Patrizierfamilie entstammend,<br />
war er in <strong>de</strong>n Kreisen <strong>de</strong>r Mäzene, die tagsüber auf <strong>de</strong>n Kommandobrücken<br />
<strong>de</strong>r Industrie stehen, und abends sich die Superlative<br />
<strong>de</strong>s Lebens servieren lassen, kein Eindringling, kein Outsi<strong>de</strong>r.<br />
FEISAL<br />
— — Der König äußerte <strong>de</strong>n Wunsch, das Diner möge ausschließlich<br />
Wiener Spezialitäten enthalten und fragte auch nach einem<br />
»Wiener Backhen<strong>de</strong>l«. — — Vor <strong>de</strong>n unsterblichen Werken Tizians<br />
und Raffaels blieb er lange in tiefem Sinnen. — —<br />
ROTHSCHILD MUSS SICH EINSCHRÄNKEN<br />
lautet <strong>de</strong>r wahre Katastrophentitel, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Kehrseite <strong>de</strong>s Blattes steht,<br />
das <strong>de</strong>n Endsieg in einem heroischen Kampf für die Freiheit verkün<strong>de</strong>t. Was<br />
kaufen wir uns für diese, wenn <strong>de</strong>r Glaube an Rothschild wankt, wenn <strong>de</strong>r<br />
»überdimensionale Begriff« seines Vermögens einstürzt, mit einem Wort,<br />
wenn Rothschild sich einschränken muß! Nun, wenn das Letzte, was uns außer<br />
<strong>de</strong>r <strong>Ehre</strong> geblieben ist: <strong>de</strong>r Trost, daß es Rothschild gibt, auch noch dahinschwin<strong>de</strong>n<br />
soll, dann hilft nichts als die Festigkeit, mit <strong>de</strong>r man das Verhängnis<br />
zwingt, Rechenschaft abzulegen:<br />
Da man nun einmal von Rothschild spricht, so muß man klar sprechen.<br />
Man muß das Phantom greifen, muß es menschlich—empirisch<br />
messen. Wie groß war das Vermögen Rothschilds und wer<br />
sind die Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Familie, die sich hinter <strong>de</strong>m Sammelnamen<br />
verbergen? Was haben die Rothschilds verloren und wieviel<br />
ist ihnen geblieben? Wie haben sie gelebt und wie wer<strong>de</strong>n sie leben?<br />
Bei dieser Gelegenheit stellt sich heraus, daß eines <strong>de</strong>r Palais nicht verkäuflich<br />
wäre, weil die Küche allein von 56 Personen bedient wer<strong>de</strong>n müßte. (Ehrfürchtiges<br />
Raunen geht durch die Gemein<strong>de</strong>, man hört nur ein ßßß ... ! o<strong>de</strong>r<br />
»<strong>Die</strong> leben!«) Auch befin<strong>de</strong>t sich daselbst eine Kuppel,<br />
die ein Torpedoschiff darstellt und das ganze Gebäu<strong>de</strong> in mystisches<br />
Dunkel hüllt.<br />
Da aber nicht je<strong>de</strong>r bei Torpedos aufgewachsen ist, wird an einen Verkauf<br />
nicht zu <strong>de</strong>nken sein, und das mystische Dunkel erschwert selbst <strong>de</strong>n Einblick,<br />
<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Publizist zu for<strong>de</strong>rn ein Recht hat. Man erfährt immerhin genug<br />
78
von <strong>de</strong>r Kreuzung feudaler und orthodoxer Beson<strong>de</strong>rheiten, die <strong>de</strong>n menschlicher<br />
Fassungskraft unerreichbaren Begriff Rothschild zusammengesetzt haben.<br />
Während <strong>de</strong>r eine <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Firma ausschei<strong>de</strong>n muß, weil er<br />
eine Christin heiratet, ist <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Patronatsherr von 15 Kirchen, für die er<br />
zu sorgen hat. Das wäre noch das Geringste. Was aber geschehen wür<strong>de</strong>,<br />
wenn sich Rothschild wirklich einschränken müßte, ist gar nicht abzusehen:<br />
Wenn Rothschild seinen ungeheuren Haushalt restringiert, wenn<br />
er seine Palais versperrt, wenn er seine Gärten schließt, wenn er<br />
seine Jag<strong>de</strong>n vernachlässigt, wenn er aufhört, die Armen zu unterstützen,<br />
wenn sein Rennstall nicht mehr die Hauptattraktion <strong>de</strong>s<br />
Wiener Galoppsports ist,<br />
wenn man im Theater und bei an<strong>de</strong>ren festlichen Anlässen <strong>de</strong>n<br />
Baron Rothschild nicht mehr sehen wird, so ist das ein Verlust,<br />
<strong>de</strong>r mit Worten nicht zu umschreiben ist. Rothschild hat zu Wien<br />
gehört wie die Ringstraße, und wenn ein Sturmwind die Häuser<br />
abtragen wür<strong>de</strong>, die kahlen Grundmauern wür<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Eindruck<br />
wie<strong>de</strong>rspiegeln, <strong>de</strong>n das Fehlen <strong>de</strong>r Rothschilds im Kulturbild <strong>de</strong>r<br />
Stadt be<strong>de</strong>uten wür<strong>de</strong>.<br />
Noch ist es nicht so weit. Noch darf man nicht glauben, daß eine<br />
Macht wie Rothschild gebrochen ist. — — Was bleibt, ist ungeheuer,<br />
aber nicht genug, um <strong>de</strong>n Glauben zu erhalten, <strong>de</strong>r Rothschilds<br />
größte Aktivpost war.<br />
An <strong>de</strong>m Verlust, <strong>de</strong>r ihm vor Augen geführt wird, muß Rothschild ermessen,<br />
wie hoch ihn die Presse einschätzt. Es geschah in <strong>de</strong>m Blatt, zu <strong>de</strong>ssen Füßen<br />
die sozialistische Jugend ihre Huldigung nie<strong>de</strong>rgelegt hat. Am nächsten Tag<br />
wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>mentiert, und wenngleich sich Rothschild einschränken muß, so<br />
bleibt er doch <strong>de</strong>m Kulturbild erhalten. Aber <strong>de</strong>r älteren Generation <strong>de</strong>r Arbeiter—Zeitung<br />
wird man nichts vormachen. »Was man heute von Rothschild<br />
hält?« Ein Börsensal namens Moritz Rothschild habe sich Karten drucken las-<br />
79
sen, auf <strong>de</strong>nen er mitteilt, daß er mit Louis Rothschild we<strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ntisch noch<br />
verwandt ist.<br />
Das hält man heute von Rothschild.<br />
Man muß also, und wenn die Welt voll Hakenkreuzler wäre, zugeben, daß<br />
Universität und Schottenring stark benachbart sind.<br />
WAS EIN JOURNALISTISCHES GEHIRN PRODUZIERT<br />
und zwar in <strong>de</strong>r 'Allgemeinen':<br />
Herr Stefan Auspitz! Herr Theodor Auspitz! So wie Sie sich das<br />
vorstellen, wird die Sache nicht gehen.<br />
Wenn ein kleiner Greisler insolvent wird, dann mobilisiert sich gegen<br />
ihn sofort <strong>de</strong>r ganze Schreckensapparat <strong>de</strong>r Zivil— und Strafjustiz<br />
und kommt nicht früher zum Stillstand, bis <strong>de</strong>r letzte Topf<br />
aus <strong>de</strong>m La<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r letzte Stuhl aus <strong>de</strong>r Wohnung verkauft ist, <strong>de</strong>r<br />
Kridatar behält buchstäblich nichts als das Hemd am Leibe und<br />
kann noch froh sein, wenn er es nicht mit <strong>de</strong>m Sträflingsgewand<br />
vertauschen muß. Nun weiß man ja, daß seit jeher nur die Kleinen<br />
gehenkt wur<strong>de</strong>n und die Großen davongelaufen sind. Aber in Ihrem<br />
Falle Herr Stephan Auspitz, Herr Theodor Auspitz, wird das<br />
nicht gehen. Es wird aus vielen Grün<strong>de</strong>n nicht gehen.<br />
Erstens einmal sind Sie nicht xbeliebige Greisler, son<strong>de</strong>rn Ihr<br />
Name war typisch und repräsentativ für das bürgerliche Wirtschaftsansehen<br />
dieser Stadt. So festgemauert war dieser Namensruf,<br />
daß Ihnen niemand ihr seigneurales Dasein, ihre Abseitsstellung<br />
vom Geschäftlichen mißgönnt o<strong>de</strong>r übelgenommen hat. Nun<br />
<strong>de</strong>nn: Sie haben 160 Millionen Goldkronen von Ihrem Vater geerbt.<br />
Ein Teil, ein kleiner Teil dieses Vermögens, wur<strong>de</strong> in die Firma<br />
gesteckt, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re, größere Teil bil<strong>de</strong>t das Privatvermögen<br />
<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Brü<strong>de</strong>r. Was stellen Sie sich jetzt vor?<br />
Sehr einfach: daß ein dürftiger Gedanke in sein Gegenteil verhatscht ist — die<br />
Kleinen wer<strong>de</strong>n gehenkt, die Großen läßt man laufen, hier aber wird es nicht<br />
gehen, weil es sich um keine Kleinen han<strong>de</strong>lt —; und zweitens, daß es eben<br />
doch gehen wild, weil es sich um Große han<strong>de</strong>lt. Und ferner, daß, wie alles in<br />
<strong>de</strong>r Wirklichkeit geht, auch alles im Journalistischen geht, weil je<strong>de</strong>r davor so<br />
großen Respekt hat, daß er nicht darauf achtet. Und schließlich, daß es nicht<br />
<strong>de</strong>n geringsten. Eindruck macht, wenn ich we<strong>de</strong>r die großen noch die kleinen<br />
Journalisten laufen lasse.<br />
WAS IST WAHRHEIT?<br />
Soubrette heiratet Multimillionär:<br />
» — — Sam Fengel lernte die Künstlerin vor acht Tagen gelegentlich<br />
einer Soiree bei (Baron) Rudolf Haymerle in Wien kennen<br />
— — «<br />
» — — Sie hat ihren Bräutigam erst vor fünf Tagen in Wien bei Baron<br />
Haymerle kennen gelernt — — «<br />
Nicht einmal das wissen sie!<br />
80
DER REPORTER<br />
wie ihn, nach <strong>de</strong>m Amerikanischen, aber doch auch für österreichische Verhältnisse<br />
Salten schaut:<br />
— — Einmal noch kommt er in <strong>de</strong>n Justizpalast, in das Pressezimmer,<br />
um seine Habseligkeiten mitzunehmen, um <strong>de</strong>n Kollegen die<br />
Hän<strong>de</strong> zu schütteln, einmal noch, für wenige Minuten. Und ist verloren.<br />
<strong>Die</strong> Ereignisse stürzen über ihn her, reißen ihn mit, bringen<br />
sein Blut zum Sie<strong>de</strong>n, seinen Reportergeist zur Raserei. Nichts<br />
kann ihn halten. Nicht die Braut, die er warten, die er verzweifeln<br />
läßt, die er anlügt, die er sich vom Hals schaffen möchte, um zu<br />
arbeiten. Er schaut zu, wie man seine künftige Schwiegermutter<br />
knebelt, sie gewaltsam hinwegschleppt. — — »Ich bin kein Bürger!«<br />
schreit Hildy Johnson, wenn er die Braut, die Zukunft, die<br />
ruhige Stellung beiseite schleu<strong>de</strong>rt, um sich <strong>de</strong>m <strong>Die</strong>nst am Ereignis<br />
hinzugeben. Wer ein richtiger Zeitungsmann ist, muß sein Leben<br />
lang ein Zeitungsmann bleiben. — — Den Beruf eines Journalisten,<br />
eines Reporters kann man nicht erwählen, dazu muß man<br />
geboren wer<strong>de</strong>n. Sitzt einem dieser satanisch himmlische Beruf<br />
im Blut, dann gibt's keine Rettung. <strong>Die</strong>ser Beruf ist eine innere<br />
Mission, ist Besessenheit, ist Er<strong>de</strong>nsendung und Schicksal.<br />
Dämonisch, ohne Zweifel. Aber vielleicht brächte dann und wann ein Hinauswurf<br />
Erlösung?<br />
SO IST ES!<br />
<strong>Die</strong> Leute, die im schäbigen Journalistenzimmer <strong>de</strong>s Gerichtsgebäu<strong>de</strong>s<br />
von Chikago herumlungern, je<strong>de</strong>n Augenblick sprungbereit,<br />
um das Ereignis an <strong>de</strong>r Gurgel zu packen und zur Strecke zu<br />
bringen, sind Reporter — — <strong>Die</strong> Luft, mit Spannung, Tabakqualm,<br />
Speisengeruch, schlechter Ausdünstung und Flüchen gela<strong>de</strong>n,<br />
birgt Sensationen im Rohzustand, ungeborene Neuigkeiten, die<br />
nur darauf warten, unter die Leser zu kommen. — — Eine Pokerpartie<br />
ist im Gange; man plau<strong>de</strong>rt und raucht bei offenem Fenster,<br />
wirft die Speisereste einer kärglichen Mahlzeit in <strong>de</strong>n trostlosen<br />
Lichthof — — Unweit von diesem Zimmer wartet ein unschuldig<br />
Verurteilter auf seine Hinrichtung — —<br />
ODER SO?<br />
— — Für <strong>de</strong>n Appetit <strong>de</strong>r Zeitung, die alles verträgt und <strong>de</strong>r nichts<br />
genug fett ist, passiert noch immer zu wenig, und <strong>de</strong>r Reporter ist<br />
<strong>de</strong>r Jäger mit Pfer<strong>de</strong>kräften hinter <strong>de</strong>r Meldung her, die er wahr<br />
o<strong>de</strong>r falsch zur Strecke bringt. Es muß etwas geschehen fürs<br />
Blatt, und eine Hinrichtung wird (in Chikago natürlich) so angesetzt,<br />
daß sie noch ins Morgenblatt kommt. — —<br />
81
BESTIMMT ABER SO<br />
wie es im Programm <strong>de</strong>s Theaters, das <strong>de</strong>n Schund aufführt, heißt:<br />
— — Es gehört viel Takt und Feingefühl dazu, mit Menschen zu<br />
sprechen, <strong>de</strong>ren nächste Angehörige o<strong>de</strong>r Freun<strong>de</strong> in eine Mordaffäre<br />
verwickelt sind.<br />
— — Der Reporter ist zu einem Wahrzeichen unserer Zeit gewor<strong>de</strong>n.<br />
— — Er geht, selbst unberührt von Sensationen, die er verzeichnet,<br />
<strong>de</strong>n gera<strong>de</strong>n Weg vom Leben in die Redaktion, ein unbeeinflußbarer<br />
Pol, <strong>de</strong>r Wahres, Wirkliches aufnimmt und weitergibt,<br />
und keine Macht <strong>de</strong>r Welt kann ihn bewegen, auch nur einen<br />
Schritt rechts o<strong>de</strong>r links abzuweichen.<br />
GAR NICHTS WISSEN SIE!<br />
» — — und zog sich einen Bruch <strong>de</strong>s rechten Unterschenkels zu.<br />
— — «<br />
» — — und hat sich einen Bruch <strong>de</strong>s linken Unterschenkels zugezogen.<br />
— —«<br />
Daß es auch da Standpunkte geben soll? ich glaub keiner Zeitung mehr ein<br />
Wort!<br />
TEMPO TEMPO!<br />
Hitler—Stu<strong>de</strong>nt wirft eine Bombe.<br />
Warum »eine« ?<br />
Kommunist unterschlägt städtische Gel<strong>de</strong>r.<br />
Schmock Artikel. Und in solchem Tempo trottet alter Droschkenkutscher wie<br />
'Vorwärts' mit:<br />
Papst verflucht Mussolini.<br />
UNGLEICHHEIT<br />
ist es, was mich verdrießt und zumal bei einem sozialistischen Blatt wie <strong>de</strong>m<br />
'Abend', <strong>de</strong>r im Fortschritt <strong>de</strong>r Titelgebung natürlich mithatschen muß. Auf einer<br />
einzigen Seite diese Divergenz:<br />
Schwurgericht berät bis in die Morgenstun<strong>de</strong>.<br />
Schön; aber warum daneben<br />
Eine Greisin vergiftet ihren Schwiegersohn<br />
Weil sie noch aus <strong>de</strong>r Zeit stammt, wo man Artikel hatte?<br />
Und warum<br />
Eine Windhose über Namiest.<br />
Da kommts doch nicht mehr darauf an, sie trägt ja sogar Dächer ab. Taifun,<br />
Windhose und Erdbeben, er, sie, es, wer<strong>de</strong>n in ihrer elementaren Gewalt<br />
durch <strong>de</strong>n Artikel eher abgeschwächt. Ganz wie:<br />
Der Riesenkrach im Deutschen Volkstheater.<br />
82
EIN SONDERLING<br />
— — Doktor Hietel verlangte aber immer wie<strong>de</strong>r, daß das Theater<br />
ein Geschäft sein müsse und daß danach vor allem das Programm<br />
zusammengestellt wer<strong>de</strong>.<br />
GEIST ODER GELD<br />
betitelt <strong>de</strong>r 'Abend' ein Kapitel und wenn ihn noch <strong>de</strong>r Sandor Weiß regierte,<br />
wür<strong>de</strong> man die Alternative einer For<strong>de</strong>rung vermuten, die sich dann unter<br />
Umstän<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m Geist zufrie<strong>de</strong>n gibt. Es han<strong>de</strong>lt sich aber um eine Betrachtung<br />
<strong>de</strong>r Volkstheaterkrise. Geld: das ist, nachweisbar durch Anteilscheine,<br />
<strong>de</strong>r Doktor Hietel. Und Geist: das ist <strong>de</strong>r Doktor Beer.<br />
WAS DAS GELD VOM GEIST ERZÄHLT<br />
Bei <strong>de</strong>r Erwähnung von Differenzen, die zwischen mir und Direktor<br />
Beer bestehen sollen, wur<strong>de</strong> auch <strong>de</strong>r Fall <strong>de</strong>s Ausstattungschefs<br />
Schalud erwähnt, in <strong>de</strong>m ich mich freilich mit Direktor Beer<br />
nicht einverstan<strong>de</strong>n erklären konnte. Der Pachtvertrag enthält<br />
nämlich eine Bestimmung, die <strong>de</strong>n Direktor verpflichtet, für künstlerische<br />
und administrative Angestellte, die über siebzig Jahre alt<br />
sind und pensioniert wer<strong>de</strong>n, die Differenz zwischen <strong>de</strong>r bisherigen<br />
Gage und <strong>de</strong>m Ruhegenuß zu bezahlen. Direktor Beer hat nun<br />
Schalud, <strong>de</strong>r vor Vollendung <strong>de</strong>s siebzigsten Lebensjahres steht,<br />
gekündigt, um sich auf diese Weise von dieser Verpflichtung zu<br />
befreien.<br />
WER AN WEN?<br />
— — Aber als großer Ironiker und verkappter I<strong>de</strong>alist — Ihre<br />
Geldverachtung beweist es — stehen Sie ja über jenen Dingen, die<br />
in einer begreiflichen Stimmung ihren Auswan<strong>de</strong>rungsentschluß<br />
zur Reife brachten.<br />
Preßburger an Beer.<br />
IDEAL UND EIGENTUM<br />
— — Nun zeigt es sich: uns gehören die schönsten Erinnerungen<br />
an eine große und an eine immer noch lebendige Zeit <strong>de</strong>s Deutschen<br />
Volkstheaters. Ihm aber, <strong>de</strong>m etwas lebenskundigeren<br />
Herrn Doktor Hietel gehört es selbst, dieses Deutsche Volkstheater.<br />
L. U.<br />
Nach P. A.: Wem gehört die Almwiese: <strong>de</strong>m Hiasl, <strong>de</strong>r sie bewirtschaftet, o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>m Ullmann, <strong>de</strong>r sie empfin<strong>de</strong>t? Ich entschei<strong>de</strong> für <strong>de</strong>n Hiasl.<br />
83
VOM ELEND DER ARBEIT<br />
Großmann, <strong>de</strong>m die Bergner ein Interview gewährt:<br />
Aber was ist das für ein Leben einer reizen<strong>de</strong>n jungen Frau! Arbeit,<br />
Arbeit, Arbeit, Arbeit in <strong>de</strong>r Direktionskanzlei, die schlimmste,<br />
Arbeit auf <strong>de</strong>n Proben, die beglückendste, Arbeit am Abend,<br />
Arbeit unter <strong>de</strong>n Jupiterlampen.<br />
(Salten sagt in solchen Fällen nur: Arbeit, Arbeit, Arbeit. Auch Kerr sagt etwas<br />
nie öfter als dreimal. Großmann übernimmt sich.) Gleichwohl berührt es<br />
wie die Klage <strong>de</strong>r Mutter Baumert in <strong>de</strong>n »Webern«:<br />
Wie sehn die Mä<strong>de</strong>l aus! ? Kee' Blutt haben se bald nimehr in sich.<br />
An' Farbe haben se wie <strong>de</strong> Leintiecher. Das geht doch immer egal<br />
fort mit <strong>de</strong>m Schemeltreten, ob's aso an' Mä<strong>de</strong>l dient o<strong>de</strong>r nich.<br />
Was habn die fer a bissl Leben. 's ganze Jahr kommen se nich vom<br />
Bänkl 'runter.<br />
Der Unterschied scheint bloß in einem Hispano Suiza zu liegen.<br />
WEIGERUNG<br />
»Was ist ihr wichtigstes Ausdrucksmittel im Film?«<br />
<strong>Die</strong> Bergner winkte lächelnd ab.<br />
»Ich glaube, die Kritik kann diese Frage sachlicher beurteilen als<br />
ich selbst. Je<strong>de</strong>nfalls <strong>de</strong>nke ich nicht daran, durch Sex appeal wirken<br />
zu wollen. — — «<br />
ZUCKERKANDL UND PEITSCHE<br />
Aus einem strengen Interview, das sie mit Moissi hatte:<br />
»Moissi, jetzt genug von <strong>de</strong>r Vergangenheit! Was sind ihre Zukunftspläne?<br />
Wirklich? Sie wer<strong>de</strong>n Direktor <strong>de</strong>s großen <strong>de</strong>utschen<br />
Theaters in New—York?«<br />
Und schon erzählt er von <strong>de</strong>r Zukunft.<br />
DER EHRLICHE SALTEN<br />
Ob diese Komödie <strong>de</strong>n Amphitryon—Stoff wirklich zum achtunddreißigstenmal<br />
behan<strong>de</strong>lt, ob Jean Giraudoux richtig o<strong>de</strong>r falsch<br />
gezählt hat, ist gleichgültig. — — Nachträglich aber die Theaterschicksale<br />
<strong>de</strong>s uralten Komödienstoffes auszubreiten und aufzusagen,<br />
wäre gar zu billige Schaustellung eines meist ad hoc erworbenen<br />
Wissens. Je<strong>de</strong>rmann, <strong>de</strong>n solche für die lebendige Bühne<br />
nebensächliche Dinge interessieren, mag selber in <strong>de</strong>r Literaturgeschichte,<br />
in <strong>de</strong>r Mythologie und im Handbuch <strong>de</strong>s Dramas nachsehen.<br />
Ganz richtig, es hat einen Kollegen gegeben, <strong>de</strong>r sofort nach einer Shakespeare—Aufführung<br />
aus einem Vorwort holte, was Ulrici bekanntlich über eine<br />
Stelle bei Schlegel gemeint hat. Aber was gehen <strong>de</strong>n Herrn Salten die Kollegen<br />
an, von <strong>de</strong>nen er da ein Metiergeheimnis ausplau<strong>de</strong>rt? Es könnte sich<br />
84
doch nur um sein ad hoc erworbenes Wissen han<strong>de</strong>ln, und da wäre es noch<br />
ehrlicher, zu sagen, er pflege dies zwar sonst zu tun, aber diesmal sei er zu<br />
faul gewesen, in <strong>de</strong>r Literaturgeschichte etc. nachzuschlagen, was er somit<br />
<strong>de</strong>m Leser überlasse, <strong>de</strong>r aber schon gar nicht dazu gezwungen wer<strong>de</strong>n kann.<br />
AUS DER BRANCHE<br />
Doch Rudolf Lothar,<br />
sagt Salten,<br />
<strong>de</strong>r Lebendige, Arbeitsame, Einfallsreiche, unter allen Europäern<br />
vielleicht <strong>de</strong>r einzige, <strong>de</strong>m es wirklich gelang, wirklich ein Amerikaner<br />
zu wer<strong>de</strong>n, Rudolf Lothar — —<br />
Wirklich? Ich hab ihn noch gekannt, wie er ein Europäer war. Vielleicht <strong>de</strong>r<br />
erste Autor, <strong>de</strong>m eine Schreibmaschine diktiert hat und <strong>de</strong>n eine Aktentasche<br />
in alle Win<strong>de</strong> trug. Einfallsreich? Wie man's nimmt. Lebendig? Unberufen. Arbeitsam?<br />
Immer auf <strong>de</strong>m Laufen<strong>de</strong>n. Karriere zwischen Pleite und Kritik. Kein<br />
Sitzfleisch beim Radio, immer rennt er hinaus und wenn er zurückkommt und<br />
<strong>de</strong>n Fa<strong>de</strong>n verloren hat, glaubt er, die Handlung sei so verworren wie er, und<br />
verlangt einen Querschnitt.<br />
BENEIDENSWERT!<br />
— — So wird, mit einiger schuldiger Reverenz vor hohen Erinnerungen<br />
... auch das Wie<strong>de</strong>rsehen mit <strong>de</strong>r Tragödie selbst ein ungebührlich<br />
spärliches Repertoire—Erlebnis. Mit ihrer Unter— und<br />
Überwelt hoher und einsamer Schatten, mit ihrer zauberhaft höhnischen<br />
Melancholie, ihrem Schachspiel um Kronen und Gewissensqualen,<br />
ihrem berückend eiskalten und glasklaren Pandämonium<br />
<strong>de</strong>s Ehrgeizes. Man dankt dies vor allem Aslans Richard.<br />
Jetzt lebt diese Titanengestalt königlichster Schwäche wie<strong>de</strong>r. Gera<strong>de</strong><br />
weil Aslan seinen eigenen, oft mühsam entschlossenen Weg<br />
gegangen ist. Er huldigt <strong>de</strong>r Tradition im Kostüm, in <strong>de</strong>r Maske, in<br />
<strong>de</strong>r bitter harmonischen, wi<strong>de</strong>rwillig herablassen<strong>de</strong>n Geste. Aber<br />
er hat seinen eigenen unnachahmlich souveränen Ton. Solche Melodie<br />
erhabener Herzensenttäuschung kann auch mit seiner heute<br />
fast beispiellosen Sprech— und Flüsterkunst kaum erklärt wer<strong>de</strong>n.<br />
Sie entstammt einer großen und großartigen Demut, einer<br />
schöpferischen Grazie <strong>de</strong>s Geistes und <strong>de</strong>s Herzens, <strong>de</strong>r nichts<br />
besser liegt und gelingt, als diese schöne, von Schuld und Scham<br />
nur leichthin getrübte Seele. Als dieser Gourmand <strong>de</strong>s Unglücks.<br />
— —<br />
Er meint zwar Gourmet, und doch, wenn ich diesen l. u. lese, <strong>de</strong>m es nur so<br />
fließt, was er zum Ausdrücken braucht, erfaßt mich, Scherz beiseite, ein Neidgefühl.<br />
(Wie Hannele Matterns Vater stehe ich starr vor Staunen: »Wo hast du<br />
die scheenen Klei<strong>de</strong>r her? Wer hat dir <strong>de</strong>n gläsernen Sarg gekooft?«) Wie diese<br />
Leute schreiben können und wie es ihnen so gar nicht drauf ankommt, von<br />
allen alles zu sagen! Ich wür<strong>de</strong> ihm ja, wenn er noch unter meiner Fuchtel<br />
schriebe, alles streichen und manches Schmuckwort für mich behalten, <strong>de</strong>r's<br />
oft brauchen könnte und wirklich schwerer erlangt, als man glaubt. Der Ullmann<br />
ist nicht handlich wie A<strong>de</strong>lung, San<strong>de</strong>rs o<strong>de</strong>r Sachs—Villatte, aber er<br />
85
ietet mehr, und auf <strong>de</strong>r Jagd nach Synonymen wüßt' ich mir wahrlich keinen<br />
bessern Treiber.<br />
WELCH EIN REICHTUM!<br />
Haarscharfe Nonchalance ... reizvoll verschwommene Selbstqual<br />
und Aufgeblasenheit ... Ingrimmig verstörte Unbeholfenheit ...<br />
wehmütig fixe Metierkomödie … das halb drollig halb beschämend<br />
Anekdotische solchen Schicksals … <strong>de</strong>r gewissenlos vierschrötige<br />
Räuber seiner Liebe ... berserkerische Verliebtheit in <strong>de</strong>n Stoff ...<br />
geistdurchleuchtete Ehrlichkeit ... überströmend parodistische<br />
Liebe ... diese ganze, galgenhumoristisch verkniffene und scha<strong>de</strong>nfroh<br />
verärgerte Antichambre <strong>de</strong>s Ruhms ...<br />
UNBEABSICHTIGTE KRÄNKUNG DURCH SCHLECHTES DEUTSCH<br />
— — Neben ihm sieht man Fräulein — — als Klara, eine schweben<strong>de</strong>,<br />
ätherische Gretchenfigur aus <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Mädchenwald,<br />
wahrscheinlich aus einer nördlichen Gegend, die im stummen<br />
Spiel sehr gut wirkte, dann entfernt an Helene Thimig erinnert,<br />
<strong>de</strong>ren Gefühlsausdruck aber für unser Empfin<strong>de</strong>n frostig und<br />
trocken anmutet. — —<br />
e. kl.<br />
Er meint aber die an<strong>de</strong>re.<br />
DER DRUCKFEHLERTEUFEL<br />
hat ihre Sprache gelernt:<br />
Wir wer<strong>de</strong>n also mit unseren Lesern interessiert <strong>de</strong>n weiteren<br />
Verlauf <strong>de</strong>r Reise verfolgen, um am Schluß feststellen zu können,<br />
ob die Sicherheit <strong>de</strong>s Verkehrs heute tatsächlich schon so weit gediehen<br />
ist, daß ma sich unbedingt auf die normalen Fahrpläne und<br />
Verkehrsmittel verlassen kann.<br />
Ma kann. Deshalb brauchte sich <strong>de</strong>r Reisen<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n Renner von Bekessy übernommen<br />
hat, nicht bis China zu bemühen. Der frühere Chef selbst ist doch<br />
bloß bis Budapest vorgedrungen. Freilich war es zu seiner Zeit mit <strong>de</strong>r Sicherheit<br />
<strong>de</strong>s Verkehrs (jeglichen) weit besser bestellt.<br />
WO NUR BEKESSY BLEIBT?<br />
(Sehnsucht <strong>de</strong>r Perichole)<br />
»Ach, daß er nicht kommt! ... Ach, jetzt noch, wenn er käme ... aber er<br />
kommt nicht ... « »Können wir endlich dinieren gehen?« »Ja ... gehen wir dinieren<br />
... da er ja doch nicht kommt ... «<br />
86
DIE HEFE<br />
<strong>Die</strong> niedrigste, aber nur in Wien vorfindliche Kulturspezies, mit einem in<br />
keine an<strong>de</strong>re Sprache übersetzbaren Idiom, dürfte die sein, aus <strong>de</strong>r und zu<br />
<strong>de</strong>r die Schreier—Publizistik spricht. Es ist, in Ernst und Scherz, so ziemlich<br />
<strong>de</strong>r Rohstoff, <strong>de</strong>n die (darum gleichfalls unübersetzbare) Satire <strong>de</strong>r Fackel gestaltet.<br />
Da liest man in einer »Korrespon<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r Redaktion«:<br />
Krischpin<strong>de</strong>l: Für Sie waren ein paar Mäst—Wochen das richtige.<br />
— Erster Flirt: Sie fragen, ob es sich gehört, im Kino die Hand eines<br />
jungen Mannes zu halten. Es ist sogar sehr angezeigt, sie zu<br />
halten. — B. J. Z.: Das wissen Sie nicht? Das ist doch die Bank für<br />
inter<strong>nationale</strong> Zores. —<br />
Und die folgen<strong>de</strong> Glosse zu einem Zitat:<br />
In einem Artikel <strong>de</strong>r 'Weltbühne' heißt es: »Blumkin soll diese Gelegenheit<br />
benutzt haben, um mit Trotzki zu konspirieren. Je<strong>de</strong>nfalls<br />
ist er sang— und klanglos plötzlich erschossen wor<strong>de</strong>n.« —<br />
Wenn schon die Gewehre still knallten, — wenigstens das Wolgalied<br />
hätte doch gespielt wer<strong>de</strong>n können!<br />
Man möchte zu <strong>de</strong>n Troglodyten fliehen. Freilich von ihnen wie<strong>de</strong>r zurück zu<br />
dieser Sorte Preßju<strong>de</strong>ntum, und so hin und her. An<strong>de</strong>res bleibt einem in dieser<br />
Zone nicht übrig. Oft frage ich mich, ob es nicht an <strong>de</strong>n Individuen liegt<br />
und ob, wenn man 1898 die Einwan<strong>de</strong>rung Schreiers hätte verhin<strong>de</strong>rn können,<br />
das Nationalunglück, das seine Publizistik be<strong>de</strong>utet, verhütet wor<strong>de</strong>n<br />
wäre. Gegen Czernowitz ist natürlich nichts einzuwen<strong>de</strong>n. Dort wie in an<strong>de</strong>ren<br />
Kulturzentren <strong>de</strong>r ehemaligen Monarchie sind es die gutartigsten Menschen.<br />
Nur wenn sie nach Wien kommen, entarten sie und reißen das Hiesige,<br />
das je<strong>de</strong>m Einfluß wehrlos preisgegeben ist, mit sich.<br />
THEATER— UND KUNSTNACHRICHTEN<br />
Man schreibt uns aus Karlsbad: Im Karlsba<strong>de</strong>r Stadttheater ist<br />
Blumenthals »Weißes Rößl« ... zum erstenmal gegeben wor<strong>de</strong>n.<br />
Hans Müller hat in <strong>de</strong>r Auffrischung <strong>de</strong>s Dialogs wie <strong>de</strong>r Szenenführung<br />
neuerdings seinen Witz und seine Theaterkundigkeit bewährt<br />
— — Das Karlsba<strong>de</strong>r Theater ist heute wohl das bestgeleitete<br />
Kurtheater. — — Man höre die Namen einer einzigen Woche<br />
und vergehe in Ehrfurcht: Werbezirk, Bergner, Pallenberg, Slezak,<br />
Vera Schwarz! Dem pflichtgetreuen, nur für Brunnen und Bad<br />
leben<strong>de</strong>n Kurgast hat <strong>de</strong>r Karlsba<strong>de</strong>r Tag die Belohnung zweier<br />
angenehmer Ablenkungen zu schenken: Morgens das mondäne<br />
(auch pseudomondäne) Frühstücktheater in Neubauers Musteretablissement<br />
Geysirpark mit <strong>de</strong>m Schlager eines unvergleichlichen<br />
Kaffees und abends dann das eigentliche Kurtheater <strong>de</strong>r<br />
»Welterfolge« ...<br />
<strong>de</strong>r Ravag:<br />
DURCH DEN ÄTHER<br />
Bunter Abend. Konzertorchester Josef Holzer. Mitwirkend: Ridi<br />
Grün (humoristische Vortragskünstlerin). Ottokar Weiner (Solo<br />
87
auf <strong>de</strong>r singen<strong>de</strong>n Säge). <strong>Die</strong> zwoa steirischen Holzknechtbuam<br />
Hansi Retschitzegger und Loisl Tuppinger. Das Wiener Lie<strong>de</strong>r—<br />
Duo: Christl Weymerth und Karl Dolesch.<br />
VARIANTE<br />
In <strong>de</strong>r Neuen Leipziger Zeitung kann man lesen, was einem Angehörigen<br />
von Goethes Volk, einem »humorvollen Fabrikanten«, eingefallen ist,<br />
nach<strong>de</strong>m schon die Knoten aller Professionen ihre Wurstfinger an einem Heiligtum<br />
<strong>de</strong>r Sprache abgewischt haben:<br />
Humor aus Thüringen<br />
Pleite ...<br />
Daß sich die Wirtschaftskrise in <strong>de</strong>n abgelegenen Orten <strong>de</strong>s Thüringer<br />
Wal<strong>de</strong>s beson<strong>de</strong>rs kraß auswirkt, ist hinlänglich bekannt.<br />
Ein humorvoller Fabrikant schickte seinem Finanzamt südlich <strong>de</strong>s<br />
Thüringer Wal<strong>de</strong>s auf einem Zahlkartenabschnitt folgen<strong>de</strong> Abwandlung<br />
<strong>de</strong>s Goetheschen Gedichtes Ȇber allen Wipfeln ist<br />
Ruh'«<br />
»In allen Geschäften ist Ruh,<br />
Von Umsätzen spürest du<br />
Kaum einen Hauch.<br />
Schon ist pleite<br />
<strong>Die</strong> Kundschaft, die alte:<br />
Warte nur! Bal<strong>de</strong><br />
Bist du es auch!«<br />
Und bei dieser kulturellen Pleite soll man mit <strong>de</strong>n Opfern <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn noch<br />
Mitleid haben! Als ob nicht alles eben davon käme und als ob's nicht die<br />
Kriegsschuld selbst wäre: diese Möglichkeit humoriger Schändung <strong>de</strong>s I<strong>de</strong>als,<br />
das man an Festtagen aussteckt und zu <strong>de</strong>m man sonst nicht einmal die Beziehung<br />
<strong>de</strong>s Respekts hat. In welcher an<strong>de</strong>rn Nation wäre es möglich? Der Täter<br />
stün<strong>de</strong> am Pranger. Hier kommt er in die Zeitung und seine Tat heißt »Humor<br />
aus Thüringen«. Woselbst das Gedicht entstan<strong>de</strong>n ist. Schan<strong>de</strong> über allen Gipfeln!<br />
DIE SCHILLERAKADEMIE,<br />
nicht einzuschüchtern, schickt mir wie alljährlich so auch heuer eine <strong>Ehre</strong>nkarte<br />
zu <strong>de</strong>r Studienreise, die sie »infolge <strong>de</strong>s großen Anklangs« wie<strong>de</strong>r<br />
durchzuführen ge<strong>de</strong>nkt. <strong>Die</strong>se <strong>Ehre</strong>nkarte berechtigt mich »zur kostenlosen<br />
Teilnahme an <strong>de</strong>n während <strong>de</strong>r Fahrten für die Herren Journalisten und Parlamentarier<br />
vorgesehenen Son<strong>de</strong>rveranstaltungen«. Falls ich Interesse daran<br />
habe, erhalte ich auch eine Son<strong>de</strong>rbeschreibung. Mir genügt aber das allgemeine<br />
Programm, das unter an<strong>de</strong>ren Vergnügungen ohnehin wie<strong>de</strong>r etwas<br />
Beson<strong>de</strong>res vorgesehen hat:<br />
Sommer und Herbstreisen 1931 <strong>de</strong>r Schiller—Aka<strong>de</strong>mie. <strong>Die</strong><br />
Schiller—Aka<strong>de</strong>mie bringt im Rahmen ihrer übrigen kulturellen<br />
Veranstaltungen auch im kommen<strong>de</strong>n Sommer und Herbst eine<br />
Reihe von allgemein zugänglichen, gemeinnützigen Studien— und<br />
Ferienfahrten zur Durchführung, die unter an<strong>de</strong>rem im Juni und<br />
September nach <strong>de</strong>m Sonnenland Dalmatien, in <strong>de</strong>n Ferienmona-<br />
88
ten Juli und August nach <strong>de</strong>n Weltstädten Wien, Budapest, Paris<br />
und London sowie nach Norwegen, Schwe<strong>de</strong>n und Dänemark führen.<br />
Anläßlich <strong>de</strong>r Studienfahrt nach Paris wer<strong>de</strong>n die Schlachtfel<strong>de</strong>r<br />
und Gräber um Verdun besucht und kann ein Ausflug in die<br />
Normandie und nach <strong>de</strong>n Weltbä<strong>de</strong>rn Deauville und Trouville unternommen<br />
wer<strong>de</strong>n — —<br />
Das <strong>Ehre</strong>npräsidium besteht unter an<strong>de</strong>ren aus:<br />
Dr. Gerhart Hauptmann, Dr. Ricarda Huch, Professor Dr. Hans<br />
Pfitzner ... Dr. Richard Strauß ...<br />
PAZIFISTISCHES<br />
Andreas Latzko muß eine Tat unvergessen bleiben: seine Novellenfolge<br />
»Menschen im Kriege«, die zu einer Zeit erschien, da es<br />
noch lebensgefährlich war, gegen <strong>de</strong>n Weltirrsinn Protest anzusagen.<br />
Freilich in <strong>de</strong>r Schweiz und für die erste Auflage anonym, aber gewürdigt im<br />
Oktober 1917 in <strong>de</strong>r Fackel, als Herr Kreutz noch nicht einmal wußte, daß es<br />
je<strong>de</strong>nfalls zensurgefährlich war, in Osterreich auf das Buch — als menschliches<br />
Dokument — hinzuweisen.<br />
DER OFFIZIELLE DICHTER<br />
Gestern vormittag wur<strong>de</strong>n die Wiener Festwochen im Rathaus<br />
vom Bürgermeister Seitz in feierlicher Weise eröffnet. — — zahlreiche<br />
prominente Persönlichkeiten — —<br />
»Herr Bun<strong>de</strong>spräsi<strong>de</strong>nt, geehrte Festgäste! Paul Hartmann hat<br />
uns mit seiner herrlichen begna<strong>de</strong>ten Stimme in schönen poetischen<br />
Worten von Felix Salten <strong>de</strong>n Zweck <strong>de</strong>r Wiener Festwochen,<br />
ihren tieferen Sinn gezeigt, er hat gesagt, daß die Wiener<br />
auch in trüben Tagen das Fest <strong>de</strong>r Kunst feiern.«<br />
WAS GEMACHT WIRD<br />
Oskar Strnad macht Shakespeares »Sturm« fürs Burgtheater.<br />
— — Für das Deutsche Theater Max Reinhardts in Berlin macht<br />
Strnad Shakespeares »Antonius und Kleopatra«.<br />
Wiewohl also bei<strong>de</strong> Werke eigentlich bereits Shakespeare gemacht hat.<br />
DA ES DOCH NUR EIN TRAUM IST<br />
(nämlich <strong>de</strong>s Einstein vom Berliner Tageblatt), sei <strong>de</strong>r Versuch gemacht!<br />
Ich träume freilich von einem an<strong>de</strong>rn Reinhardtschen Versuch ...<br />
Daß er selber ein Gerüst von Einfällen auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Gegenwart<br />
aufstellt, daß er einen jungen Dichter beauftragt, es mit Versen<br />
zu beklei<strong>de</strong>n, einen jungen Musiker, z.B. E. W. Korngold, <strong>de</strong>r<br />
zum Bearbeiter zu scha<strong>de</strong> ist, es mit Musik zu behängen ... Aber<br />
das ist ein Traum, viel phantastischer als <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r schönen Helena<br />
89
Gar nicht so phantastisch. Wenn sich die Theaterspekulanten die Werke von<br />
Shakespeare und Offenbach selbst herstellen anstatt die Originale zu verschan<strong>de</strong>ln,<br />
so ist ja alles in schönster Ordnung.<br />
EIN AUFGEMACHTER STRICH<br />
Wie man aus <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong> »Um Perichole« erfahren hat, war <strong>de</strong>m Leiter <strong>de</strong>r<br />
Kroll—Oper, Herrn Curjel, eine einzige <strong>de</strong>r heimlich versuchten Streichungen<br />
geglückt, nämlich die <strong>de</strong>s Namens »Kerr« aus <strong>de</strong>m Essay <strong>de</strong>r 'Frankfurter Zeitung',<br />
<strong>de</strong>n er in <strong>de</strong>n 'Blättern <strong>de</strong>r Staatsoper und <strong>de</strong>r Städtischen Oper' nachgedruckt<br />
hat. Man erinnert sich, wie mich da — bei »Pariser Leben« — <strong>de</strong>r<br />
Schil<strong>de</strong>rer meines Schreckenskabinetts <strong>de</strong>n Blick in <strong>de</strong>ssen inneres »frei geben«<br />
ließ, aber für Berlin doch ein wenig zensuriert:<br />
Da stehen sie: Schober, Bekessy und die an<strong>de</strong>rn Nummern, nicht<br />
mehr die Fein<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn Raritäten usw.<br />
<strong>Die</strong> zugkräftigste Nummer war <strong>de</strong>m Blick, <strong>de</strong>m ich angeblich solches Inventar<br />
eröffnete, abhan<strong>de</strong>n gekommen. Ich meinte nun, das Recht auf Reklamierung<br />
stehe in diesem Falle<br />
lei<strong>de</strong>r nicht <strong>de</strong>m Inhaber <strong>de</strong>s Schreckenskabinetts zu, son<strong>de</strong>rn nur<br />
<strong>de</strong>ssen Schil<strong>de</strong>rer, <strong>de</strong>r wohl auf Vollzähligkeit Wert legen und für<br />
sich die Autorrechte geltend machen wird, die man <strong>de</strong>m Urheber<br />
<strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Textes <strong>de</strong>r Perichole verkürzen wollte.<br />
Er hat mich keineswegs enttäuscht, und im Maiheft jener offiziellen Blätter<br />
(XI., 21) ist das Folgen<strong>de</strong> erschienen:<br />
Berichtigung<br />
Wir haben in Nr. 15 <strong>de</strong>s 11. Jahrgangs unserer Blätter einen Teil<br />
<strong>de</strong>s Aufsatzes »Karl Kraus« von Walter Benjamin aus <strong>de</strong>r Frankfurter<br />
Zeitung (Nr. 183, 195, 202, 205) gebracht. <strong>Die</strong> Wie<strong>de</strong>rgabe<br />
eines Satzes ist ohne Wissen <strong>de</strong>s Autors nicht vollständig erfolgt.<br />
Dem Verlangen <strong>de</strong>s Autors entsprechend geben wir <strong>de</strong>n in Frage<br />
kommen<strong>de</strong>n Satz nunmehr richtig, wie folgt, wie<strong>de</strong>r:<br />
Da stehen sie: Schober, Bekessy, Kerr und die an<strong>de</strong>rn Nummern,<br />
nicht mehr die Fein<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn Raritäten, Erbstücke<br />
aus <strong>de</strong>r Welt Offenbachs o<strong>de</strong>r Nestroys, nein, Ältere, Seltenere,<br />
Penaten <strong>de</strong>r Troglodyten, Hausgötter <strong>de</strong>r Dummheit<br />
aus vorgeschichtlichen Zeiten.<br />
Worin die Abweichung bestand, wird nicht angegeben. Aber im Vergleich <strong>de</strong>r<br />
Fassungen bei<strong>de</strong>r Programmhefte stößt <strong>de</strong>r Leser auf <strong>de</strong>n einzigen, so geringfügigen<br />
Unterschied:<br />
Kerr.<br />
Selbst dieser Versuch einer Streichung ist also <strong>de</strong>r Staatsoper am Platz <strong>de</strong>r<br />
Republik noch knapp vor Torschluß mißglückt. Der Strich mußte aufgemacht<br />
wer<strong>de</strong>n wie alle jene, die am Vormittag <strong>de</strong>s 31. März angeordnet wur<strong>de</strong>n.<br />
»Fatale Situation für Seine Hoheit!« heißt es in <strong>de</strong>r »Seufzerbrücke«, noch<br />
weit fataler als wenn diese Streichung, die sich wirklich aus theaterpraktischer<br />
Notwendigkeit empfahl, nie unternommen wor<strong>de</strong>n wäre. Ja, auf heimlichen<br />
Strichproben ruht kein Segen. Curjeleison! (auf <strong>de</strong>utsch: Kerr, erbarme<br />
dich!) mochte <strong>de</strong>r Generalmusikdirektor Klemperer ausrufen, <strong>de</strong>r viel zu katholisch<br />
orientiert ist, als daß ihm solche Dinge nicht wi<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Strich gingen.<br />
90
LE PLUS GRAND COQUIN DU PAYS 1<br />
unterläßt es nicht, <strong>de</strong>n Franzosen seine Sympathie zu bezeigen. Dabei ist ihm<br />
das Folgen<strong>de</strong> passiert:<br />
IX.<br />
— — Keine Flausen! Keine Phrasen. Das ist ja tausendmal besser,<br />
als wenn man ungeeignete Mitglie<strong>de</strong>r, nur weil sie im Zusammenspiel<br />
gemietet sind, auch verwen<strong>de</strong>n müßte. Coûte qu'il coûte.<br />
Verzeihung, Hitler. (Anmerkung: es ist französisch.) Joseph, stieke,<br />
pscht!<br />
Nun scheint ihn Hitler darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß es doch<br />
nicht ganz französisch ist. Teils dieserhalb, teils um sich vor mir keine Blöße<br />
zu geben, gab er sich diese:<br />
»Coûte que coûte« hieß es in <strong>de</strong>r gestrigen Zuckmayer—Kritik.<br />
(Nicht, wie irrig zu lesen war, coûte qu'il coûte). Auch sind, in<br />
rühmlichem Zusammenhang, die Namen Winterstein, Ilse Fürstenberg,<br />
Wagner, Marlow zu ergänzen.<br />
K..r<br />
Welch ein Schwindler! Natürlich »hieß es« in <strong>de</strong>r Kritik: Coûte qu'il coûte,<br />
und war gar nicht »irrig zu lesen«, son<strong>de</strong>rn so wie es eben stand. So ist es<br />
ganz bestimmt auch im Manuskript nachzuweisen, und es läßt sich zwar ein<br />
Setzer Mosses zwingen, die Behauptung zu setzen, daß er ein que, sei's mutwillig<br />
sei's versehentlich, in ein qu'il verwan<strong>de</strong>lt habe, aber was <strong>de</strong>n Leser betrifft:<br />
so blöd — wie er sein mag — läßt er sich ja doch nicht machen, daß er<br />
hier an einen Druckfehler glaubte. Joseph, stieke, pscht! ... Und <strong>de</strong>r Autor<br />
möchte wohl auch noch etwas an<strong>de</strong>res nicht laut gesagt hören. Nämlich: Einer<br />
verdienstvollen Darstellung <strong>de</strong>s ganzen Falles durch Germaine Goblot,<br />
Professeur agrégé d'allemand au lycée <strong>de</strong> Strasbourg, im 'Mercure <strong>de</strong> France'<br />
(November 1930, S. 594 — 611, unter <strong>de</strong>m Titel »Gottlieb«) verdankt man es,<br />
daß eine Schufterei, die sich seit Kriegsen<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>rhand jenseits <strong>de</strong>r<br />
Grenze zu schaffen macht und auf die auch aka<strong>de</strong>mische und literarische<br />
Kreise von Paris hineinfielen, i<strong>de</strong>ntifiziert erscheint mit <strong>de</strong>r Verübung jener<br />
geistigen Greuel zwischen 1914 und 1918, die nunmehr in guter französischer<br />
Übersetzung vorliegen, gegen welche urheberrechtliche Maßnahmen nicht so<br />
leicht durchführbar sein dürften wie gegen meine satirische Drohung, <strong>de</strong>n<br />
ganzen Gottlieb herauszugeben. Der Aufsatz wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r französischen Presse<br />
viel zitiert, und eines Tages habe ich sogar aus Abessinien ein französisches<br />
Blatt zugeschickt erhalten, wo von meiner Befassung mit <strong>de</strong>m größten<br />
Schuft in einem weit entfernten ganzen Land die Re<strong>de</strong> war. Solcher Grenzübertritt<br />
seiner Schan<strong>de</strong> in eine Gegend, mit <strong>de</strong>r er doch unaufhörlich liebäugelt,<br />
kränkte ihn nun maßlos, und als in <strong>de</strong>n 'Nouvelles Litteraires' die gewissen<br />
<strong>de</strong>utschen Treuhän<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kultur, die je nach <strong>de</strong>r Janusdrehung protestieren<br />
o<strong>de</strong>r sympathisieren — die Menouvels litteraires — antraten, um ihre Stellung<br />
zur Hitlerei zu bekennen, und er selbstverständlich unter jenen<br />
Menschheitlern war, erinnerte in 'Candi<strong>de</strong>' (27. Nov. 1930) Fernand Van<strong>de</strong>rem<br />
an die Publikation <strong>de</strong>r Mlle. Goblot. Da konnte man <strong>de</strong>nn die Verse zitiert<br />
fin<strong>de</strong>n:<br />
A tous le chefs qui mènent à la curée l'Allemagne<br />
1 xxx<br />
91
Je souhaite le ver solitaire, <strong>de</strong> cors aux pieds, la gale,<br />
Pour se mourrir <strong>de</strong> la paille pourrie,<br />
Et, par—<strong>de</strong>ssus le marché, un bon rhumatisme au <strong>de</strong>rrière!<br />
Was nicht einmal so bestialisch klingt wie auf <strong>de</strong>utsch. Lei<strong>de</strong>r ist dabei, wenngleich<br />
nur historisch, wie<strong>de</strong>r das Mißverständnis berührt wor<strong>de</strong>n (das ihm<br />
schon seinerzeit bei seinem Wie<strong>de</strong>rerscheinen in Paris aus <strong>de</strong>r Patsche half),<br />
als ob ihm auch <strong>de</strong>r muntere Refrain zuzuschreiben wäre:<br />
A chaque'coup <strong>de</strong> fusil — un Russé!<br />
A chaque coup <strong>de</strong> poing — un Français!<br />
A chaque coup <strong>de</strong> pied — un Anglais!<br />
Gleich war er auf <strong>de</strong>n Beinen, um in 'Candi<strong>de</strong>' (25.Dez.) zu beteuern, daß er<br />
»jamais écrit cette imbécillité«. Daß er weit Dümmeres und Abscheulicheres<br />
geschrieben hatte, gab er natürlich nicht zu, erinnerte mit keinem Wort an<br />
<strong>de</strong>n wahren Gottlieb, und protestierte gegen je<strong>de</strong> <strong>de</strong>rartige Vermutung mit einem<br />
Jamais, jamais, jamais.<br />
Was aber Herrn Van<strong>de</strong>rem nicht abhielt, von <strong>de</strong>r richtigen Meinung ausgehend,<br />
daß die Nichtautorschaft einer <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rträchtIgkeiten ohne Belang<br />
sei, in <strong>de</strong>rselben Nummer unter <strong>de</strong>m Titel »Le trois Kerr«:<br />
l'avant—Kerr, le pendant—Kerr et l'après—Kerr<br />
zu unterschei<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>s dritten, schmeichlerisches Bekenntnis<br />
(»quoique d'une prosodie contestable«) zu ironisieren:<br />
Chaque homme a <strong>de</strong>ux patries: la sienne et puis la France.<br />
Frei nach Schobers Volk in zwei Staaten möchte er eben ein Schuft in zwei<br />
Staaten sein. Daß ihm dies voll und ganz gelingt, zeigt ein Satz aus seiner<br />
Rechtfertigung:<br />
Personne en Allemagne n'a comme moi, pendant la guerre, tonné<br />
contra la guerre, dans <strong>de</strong>s strophes, <strong>de</strong>s articles, <strong>de</strong>s livres. Voilà<br />
les choses dont je réponds aujourd'hui. Quant au reste, je m'en fiche.<br />
Das wagt in Frankreich <strong>de</strong>r Autor <strong>de</strong>r fünfhun<strong>de</strong>rt Gottlieb—Schweinereien<br />
drucken zu lassen. Daß es, »irrig zu lesen war«, wird hoffentlich dort geglaubt<br />
wer<strong>de</strong>n. Ich wer<strong>de</strong>, daß er <strong>de</strong>r größte Lügner in ganz Frankreich ist,<br />
verbreiten lassen — toujours, toujours, toujours. Und coûte que coûte!<br />
DAS GRAUSLICHSTE WORT<br />
das jetzt die talentverlassene <strong>de</strong>utsche Polemik hat, die sich selbst als Verhohnepipeln,<br />
Anpflaumen, durch <strong>de</strong>n Kakao ziehen u. dgl. bezeichnet, ist: »meckern«.<br />
Kerr, <strong>de</strong>r Führer dieser Sorte, schreibt:<br />
V.<br />
— — Potsdam und <strong>de</strong>r Alte Fritz dann zur Besänftigung beigefügt.<br />
Rho<strong>de</strong>s muß in Sanssouci schmusen, meckern — —<br />
Und weil er witzig ist und weil, weil, weil er in Ernst und Scherz alles dreimal<br />
sagen muß:<br />
Der gebil<strong>de</strong>te Seminarmann liefert hier die Schlacht bei Meckern,<br />
Meckern, Meckern.<br />
Nämlich statt Möckern. So hat auch Berlin seine Schattenseiten. Ausdrücke<br />
gibt's dort, die mich nach Wien treiben könnten. (»Prominente« freilich sind<br />
da wie dort.)<br />
92
VIEILLARD TERRIBLE<br />
Bernard Shaw hat Siegfried Trebitsch die Mitteilung zukommen<br />
lassen, daß er mit <strong>de</strong>r Fertigstellung einer neuen Komödie beschäftigt<br />
sei. — — Das Stück befaßt sich mit <strong>de</strong>r durch <strong>de</strong>n Krieg<br />
und seine Folgen zusammengebrochenen Moral <strong>de</strong>r Welt. Shaw<br />
schreibt, seine neue Arbeit sei eine »sträflich—lustige Komödie«.<br />
Eine Satire auf die durch <strong>de</strong>n Krieg und seine Folgen zusammengebrochene<br />
Moral <strong>de</strong>r Welt wäre <strong>de</strong>r purste Undank <strong>de</strong>s Herrn Shaw, <strong>de</strong>r diesem Zusammenbruch<br />
seine europäische Geltung als Dramatiker und die tägliche Überlieferung<br />
seiner ermü<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Bonmots verdankt.<br />
EINE LETTIN BITTET UM BEWÄHRUNGSFRIST<br />
Eine lettische Sprachlehrerin war wegen <strong>Die</strong>bstahles vor <strong>de</strong>m Berliner<br />
Schnellgericht angeklagt. In drei Stockwerken eines Warenhauses<br />
im Westen Berlins hatte die Lettin kleine Gegenstän<strong>de</strong> im<br />
Kunterbunt zusammengemaust. Gesamtwert: noch nicht zwanzig<br />
Mark. »Warum haben Sie gestohlen?« fragt <strong>de</strong>r Richter. <strong>Die</strong> Frage<br />
verblüfft die Angeklagte etwas. Kann man stehlen ohne in Not zu<br />
sein? — — Nun fehlte das Reisegeld für die Heimfahrt. Der Staatsanwalt<br />
hält einen Monat Gefängnis für die geeignete Strafe.<br />
»Dann muß ich noch einen Monat hierbleiben — « ist die ganze<br />
Verteidigungsre<strong>de</strong>, die die kleine Lettin mit einem schweren Atmen<br />
über die Lippen bringt. Der Schnellrichter macht es billiger,<br />
setzt aber doch noch zehn Tage Gefängnis ein. Da fragt die Angeklagte:<br />
Kann ich nicht Bewährungsfrist haben?« Der Richter erklärt,<br />
daß Auslän<strong>de</strong>r darauf keinen Anspruch haben. »Herr Richter,<br />
ich komme wie<strong>de</strong>r im Herbst. Bitte, geben Sie mir Bewährungsfrist.«<br />
Man führt die kleine Lettin ab. — — Man hätte <strong>de</strong>r anständigen,<br />
noch nicht bestraften, im Druck befindlichen Lettin …<br />
Schonung vor <strong>de</strong>m Gefängnis gegönnt.<br />
Da hat ein großer Lette, ein allerdings weit häufiger im Druck befindlicher<br />
Sprachlehrer, in Lettland besser abgeschnitten: drei Jahre Bewährungsfrist!<br />
SCHOBER IM SCHLAFWAGEN<br />
<strong>de</strong>ssen Kondukteur interviewt wird:<br />
»Einer meiner häufigsten und liebsten Gäste ist <strong>de</strong>r österreichische<br />
Bun<strong>de</strong>skanzler Dr. Schober. Le docteur Schober ist schon<br />
seit vielen Jahren mein Gast. Er gehört zu <strong>de</strong>n angenehmsten Passagieren<br />
— er läutet nämlich nicht ununterbrochen. Äußert nur<br />
ganz selten einen Wunsch. Und hat eine große Qualität: wenn<br />
man in <strong>de</strong>r Früh sein Coupé betritt, ist man je<strong>de</strong>smal verwun<strong>de</strong>rt.<br />
Alles liegt fein sauber auf seinem Platz. Man muß fast gar nicht<br />
Ordnung schaffen. Auch sucht Dr. Schober nie. Es gibt Gäste, die<br />
93
als »Sucher« gefürchtet sind, immer etwas verlegen und dann<br />
krampfhaft nachforschen. Bei Dr. Schober ist immer alles auf seinem<br />
Platz. Er rüstet erst wenige Augenblicke vor <strong>de</strong>r Einfahrt in<br />
die Halle zum Aussteigen. Denn es ist ohnedies alles auf <strong>de</strong>m richtigen<br />
Ort. — — «<br />
Wie an<strong>de</strong>rs Bethien, <strong>de</strong>r unaufhörlich raucht, während Briand wie<strong>de</strong>r diktiert.<br />
(Was Schober nicht nötig hat, da ihm nach <strong>de</strong>m Aussteigen diktiert wird.) Unruhig<br />
benimmt sich die Baker, während die Mistinguette, still und ordnungsliebend,<br />
wie<strong>de</strong>r mehr an Schober erinnert. Aber er wird nicht mehr oft Gelegenheit<br />
haben, im inter<strong>nationale</strong>n Schlafwagen zu fahren. Europa nimmt le<br />
docteur schon weit weniger ernst als <strong>de</strong>r Kondukteur. Denn alles war am richtigen<br />
Ort, bis auf die Zollunion. (Besser, er hätte sie verlegt gehabt.) Und <strong>de</strong>r<br />
Humor <strong>de</strong>r Gestalt, bei <strong>de</strong>r sogar das fein sauber zum Vorschein kommt, wovon<br />
er tagszuvor versichert hat, es sei keine Spur davon vorhan<strong>de</strong>n, hat sich<br />
wie ein Lauffeuer verbreitet.<br />
VON WANNEN KOMMT IHM DIESE WISSENSCHAFT?<br />
— — <strong>Die</strong> Humanitätsi<strong>de</strong>e in dieser Ausprägung als über<strong>nationale</strong><br />
Völkergemeinschaft, als Ziel <strong>de</strong>r geschichtlichen Entwicklung zum<br />
Zwecke <strong>de</strong>s Wachstums <strong>de</strong>r Völker und <strong>de</strong>r Steigerung ihrer Kultur,<br />
das ist es, was schon Leibniz, Her<strong>de</strong>r, Humboldt, Goethe und<br />
Ranke als die geistige Grundlage <strong>de</strong>r Deutschen in <strong>de</strong>r Welt bezeichneten.<br />
Gera<strong>de</strong> hier aber begegnen wir uns — —<br />
Es wächst aus <strong>de</strong>m Verkehrstechnischen <strong>de</strong>r Opernkreuzung gera<strong>de</strong>zu ins<br />
Kosmopolitische!<br />
»WACKER GEGEN NICHOLSON«<br />
geht eher als Wacker gegen Hen<strong>de</strong>rson. Doch da unsere Fußfaller die besten<br />
sind, so schaffen wir's eben.<br />
VERSTRICKUNG<br />
Konferenzen sind vom Übel. Wenn aber eine »Konferenz in Permanenz«<br />
ist, so wird die immer immanente Gefahr zu einer imminenten, daß sich die<br />
Prominenten einen eminenten Erfolg auf Kosten <strong>de</strong>r Völker herausfetzen wollen.<br />
DIE RETTUNG<br />
(Sprachlehre)<br />
Der junge Springinsgeld kennt keinen Genitiv, <strong>de</strong>nn er ist nicht <strong>de</strong>r<br />
Sohn <strong>de</strong>s, son<strong>de</strong>rn von Moriz Benedikt. Das wäre noch richtig, wie ja auch einer<br />
dieser gräßlichen Leitartikel <strong>de</strong>s Ernst Benedikt einer von Ernst Benedikt<br />
genannt wer<strong>de</strong>n kann, da er ja von ihm verfaßt ist. (Wer vermöchte es außer<br />
ihm!) Nun sitzt ihm aber das »von« — von <strong>de</strong>r Monarchie her — noch so im<br />
Gemüte, daß er es immer verwen<strong>de</strong>n muß. Es geht ihm »um das Schicksal von<br />
94
Deutschland, aber auch um das Schicksal von Europa«, er glaubt an »die Zukunft<br />
von Österreich«, o<strong>de</strong>r gar so:<br />
Hoffen wir, das Ausland wer<strong>de</strong> begreifen, daß die Rettung von Österreich<br />
wichtiger ist als alle Haftungen — —<br />
Natürlich meint er als Patriot die Rettung Österreichs, aber als Stillst fühlt er<br />
nicht, daß er damit <strong>de</strong>m Ausland die Aufgabe zugewiesen hat, uns, die es hier<br />
auch nach erfolgter Sanierung schwierig fin<strong>de</strong>n, von Österreich zu retten.<br />
Denn wenn auch alles Finanzielle in Ordnung wäre, so bliebe <strong>de</strong>r Zustand<br />
doch — und selbst wenn <strong>de</strong>r Thoas in puncto Treuherzigkeit nicht mit Schober<br />
wetteifern könnte — taurishaft genug und ließe nur noch <strong>de</strong>n Wunsch übrig:<br />
Und rette mich, die du vom Tod errettet,<br />
Auch von <strong>de</strong>m Leben hier, <strong>de</strong>m zweiten To<strong>de</strong>!<br />
Es geht da also, wie man sieht, um die Rettung <strong>de</strong>r lphigenie von Tauris, nicht<br />
um die Rettung von <strong>de</strong>r lphigenie auf Tauris. Und dort um die Rettung Österreichs,<br />
nicht von Österreich. Aber man kann lang Leuten zure<strong>de</strong>n, die nur taurisch<br />
verstehn.<br />
SEIN HIRN TREIBT WUNDERBARE BLASEN AUF, DIE SCHNELL,<br />
WIE SIE ENTSTANDEN SIND, ZERSPRINGEN<br />
Was in Saloniki geschehen ist, muß <strong>de</strong>n allgemeinen menschlichen<br />
Anteil hervorrufen. — — <strong>Die</strong> Vorgänge in Saloniki sind lei<strong>de</strong>r<br />
ein Beweis, daß die allgemeine Verrohung, wie sie sich in <strong>de</strong>n Szenen<br />
an <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Universitäten spiegelt, sich auch in dieser<br />
Stadt geltend gemacht hat.<br />
Unsereins hat ja immer die Nähe Wiens als eine Gefahr für <strong>de</strong>n Balkan ins<br />
Auge gefaßt. Aber jener?<br />
GUTE LAUNE BEI GERICHT<br />
Wo <strong>de</strong>nn sonst sollte <strong>de</strong>r Humor in seine Rechte treten? Ein armer Vagabund,<br />
<strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>n Korneuburger Schöffen steht, heißt »Schmerzensreich<br />
Kaszlinsky«. Versteht sich, daß <strong>de</strong>r Vorsitzen<strong>de</strong> eine Frage an ihn mit <strong>de</strong>n<br />
Worten beginnt:<br />
Also, lieber Schmerzensreich, Sie haben — —<br />
und daß das Zentralorgan für Mühselige und Bela<strong>de</strong>ne die Aufschrift gibt:<br />
Schmerzensreich, <strong>de</strong>r Weltenbummler.<br />
Aber auch in <strong>de</strong>m vorangehen<strong>de</strong>n Bericht, mit <strong>de</strong>m wie gewöhnlich aus <strong>de</strong>r<br />
erotischen Welt <strong>de</strong>r Bettgeher eben das geschöpft wird, was die großbürgerliche<br />
Presse <strong>de</strong>n Boudoirs abgewinnt, spielt sich das beliebte Geschäker mit<br />
<strong>de</strong>n Vornamen ab:<br />
Der Herr Josef ist ein Kavalier. Wie er da vor <strong>de</strong>m Richter steht, in<br />
ta<strong>de</strong>llosem Anzug, frisch rasiert und frisiert, so sicher und selbstbewußt,<br />
Hän<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Hosentaschen, ach, welches Mädchenherz<br />
könnte wi<strong>de</strong>rstehen?! Das Herz <strong>de</strong>r Rosa konnte nicht.<br />
Sie hat ein Kind von ihm gekriegt, und einen Ring, <strong>de</strong>n sie ihn »umsetzen«<br />
ließ, hat er für sich behalten. Lauter scherzhafte Dinge. Er sagte, <strong>de</strong>r Ring<br />
habe eigentlich ihm gehört. Wie formuliert es das Zentralorgan?<br />
95
Der Herr hat ihn gegeben, <strong>de</strong>r Herr hat ihn genommen.<br />
Es ist doch ein wahres Glück, daß die Furcht vor einem Umsturz, die jetzt allenthalben<br />
<strong>de</strong>n bürgerlichen Gemütern die Laune trübt, wenigstens die sozial<strong>de</strong>mokratische<br />
Journalistik noch nicht berührt hat.<br />
AUS DEM DUNKELSTEN VATERLAND<br />
Im Gerichtssaal verhaftet.<br />
Johann Paul hatte mit einem Chauffeur einen Streit, <strong>de</strong>r, als erst<br />
ein Wachmann hinzugekommen war, zu einem wüsten Exzeß ausartete.<br />
Der Wachmann hatte rasch seinen Gummiknüttel zur Hand<br />
und schlug auf Paul los.<br />
Außer<strong>de</strong>m kam er noch wegen öffentlicher Gewalttätigkeit vor ein<br />
Schöffengericht. <strong>Die</strong> Wachleute sagten aus, daß Paul auf sie losgegangen<br />
sei und sie <strong>de</strong>shalb <strong>de</strong>n Gummiknüttel anwen<strong>de</strong>n mußten,<br />
Zwei andre Leute aber, die <strong>de</strong>n Wirbel mit angesehen hatten, <strong>de</strong>r<br />
Polier Karl H. und Frau Hermine S., sagten als Zeugen, daß Paul<br />
nicht gewalttätig war. Er hatte mit erhobenen Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Wachleuten<br />
zugerufen: »Nur net schlagen, ich geh schon, nur net<br />
schlagen!«<br />
Nach dieser Aussage ließ <strong>de</strong>r Staatsanwalt die bei<strong>de</strong>n Zeugen im<br />
Gerichtssaal wegen <strong>de</strong>s Verdachtes <strong>de</strong>r falschen Zeugenaussage<br />
verhaften und in Untersuchungshaft setzen.<br />
Paul wur<strong>de</strong> vom Gerichtshof zu zwei Monaten Kerker verurteilt<br />
und das Oberlan<strong>de</strong>sgericht erhöhte dann die Strafe sogar auf acht<br />
Monate.<br />
Gestern hatten sich die bei<strong>de</strong>n Zeugen wegen <strong>de</strong>s Verbrechens<br />
<strong>de</strong>r falschen Zeugenaussage vor einem Schöffengericht <strong>de</strong>s Oberlan<strong>de</strong>sgerichtsrates<br />
Dr. Werner zu verantworten. Obwohl die bei<strong>de</strong>n<br />
Wachleute ihre Aussage wie<strong>de</strong>rholten, blieben auch sie bei ihren<br />
Angaben, und wur<strong>de</strong>n schließlich vom Gerichtshof auch freigesprochen.<br />
In <strong>de</strong>r Begründung sagte <strong>de</strong>r Vorsitzen<strong>de</strong>, daß <strong>de</strong>r Gerichtshof die<br />
Überzeugung habe, daß die bei<strong>de</strong>n Zeugen sicherlich subjektiv<br />
die Wahrheit gesprochen hatten.<br />
Wenn aber ein Gericht die Aussagen <strong>de</strong>r Zeugen als wahrheitsgemäß<br />
beurteilt hat, dann ist wohl auch das Urteil gegen Paul nichtig.<br />
Möcht mer sprechen. Aber da müßte man etwas vehementer, mit Justiz und<br />
Polizei sprechen, als es <strong>de</strong>m Zentralorgan <strong>de</strong>r mit Herrn Schober versöhnten<br />
Partei gestattet ist. (Auch kann es natürlich nicht bemerken, daß in Verhandlungen,<br />
zum Beispiel wegen Beleidigung, nicht immer gleich verhaftet wird,<br />
wenn sich <strong>de</strong>r Verdacht falscher Zeugenaussage regt, son<strong>de</strong>rn daß im Gegenteil<br />
auf Grund solcher Zeugenaussagen judiziert wird.) Wird das Zentralorgan,<br />
<strong>de</strong>ssen juristische Darlegungen stets die Fassungskraft <strong>de</strong>r proletarischen<br />
Leser überschreiten und häufig hinter <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Fachjuristen zurückbleiben,<br />
sich wenigstens weiter für das Schicksal <strong>de</strong>s Mannes interessieren, <strong>de</strong>r<br />
dafür, daß er mit erhobenen Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Gummiknüttlern zugerufen hatte:<br />
»Nur net schlagen, ich geh schon, nur net schlagen!«, acht Monate bekommen<br />
hat? Während das Tier von einem Simandtbauern in Leoben zwei Monate<br />
»bedingt« bekam, <strong>de</strong>r seiner Geliebten die Beine hielt, damit die Megären von<br />
96
Gemahlin und Schwägerin — behufs »Austreibung <strong>de</strong>s Liebesteufels« und zur<br />
Erheiterung <strong>de</strong>r Dorfbewohner — heißflüssiges Lärchenpech dazwischengössen.<br />
Alle diese Dinge hat sich wohl Herr Renner, als er auf <strong>de</strong>n Trümmern <strong>de</strong>r<br />
Monarchie. die ersten Fortinbrasanordnungen für Wappen und Hymne einer<br />
befreiten Welt traf, an<strong>de</strong>rs vorgestellt. Sie wi<strong>de</strong>rstreiten auch <strong>de</strong>m I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r<br />
Schönheitspflege, <strong>de</strong>m er sich im Drang <strong>de</strong>r Zeiten schließlich zugewandt hat.<br />
Denn was bleibt einem heutzutag übrig, als Ästhet zu wer<strong>de</strong>n?<br />
DIE SOUVERÄNITÄT<br />
Ausländische Anerkennung für Österreich.<br />
Wien, 20. Juli.<br />
Wie verlautet, sind die in Österreich in <strong>de</strong>n letzten Tagen, im Hinblick<br />
auf die auswärtigen wirtschaftlichen Ereignisse getroffenen<br />
Vorkehrungen in <strong>de</strong>n westlichen Staaten voll gewürdigt wor<strong>de</strong>n,<br />
insbeson<strong>de</strong>re ist <strong>de</strong>m Vernehmen nach <strong>de</strong>r österreichischen Regierung<br />
die Anerkennung <strong>de</strong>s englischen Kabinetts zum Ausdruck<br />
gebracht wor<strong>de</strong>n.<br />
Zu <strong>de</strong>r Tragödie Friedrich Austerlitz<br />
die mit seinem Leben zu En<strong>de</strong> ging — nach<strong>de</strong>m die ganze Ver<strong>de</strong>rbnis <strong>de</strong>s Milieus<br />
ihre Glossengestalt hier erhalten hatte —, ist vorläufig nur <strong>de</strong>r Hinweis<br />
angebracht auf <strong>de</strong>n wahren Jammer dieser tieftrauernd Hinterbliebenen, <strong>de</strong>r<br />
eindrucksvoll genug alle Schuld bezeugt. Der Schwall nekrologischer Re<strong>de</strong>nsart<br />
birgt und offenbart doch diesmal ein echtes Gefühl: das einer Generation,<br />
die mit rühren<strong>de</strong>m Freimut »die Gefahren dieses Wechsels« bekennt, im Ge<strong>de</strong>nken<br />
bebend vor <strong>de</strong>r Zurechtweisung durch eine Stimme, als hätte sie jetzt<br />
mehr Macht als in letzter Lebzeit, und bewußt <strong>de</strong>r Schuld so schmählicher<br />
Überwindung. Je<strong>de</strong>r schlägt sich mit <strong>de</strong>n Klischees <strong>de</strong>r Totenehrung, die nur<br />
vom eigenen Unwert überzeugen, an die Brust und will <strong>de</strong>rjenige sein, <strong>de</strong>r am<br />
meisten zu bereuen hat, alle darin einig, ihm das zum höchsten Ruhm anzurechnen,<br />
was er vergebens betätigt hatte und schließlich aufgeben mußte:<br />
»seinen Wi<strong>de</strong>rstand gegen die Anpassung an äußere Sitten und Lebensgewohnheiten<br />
<strong>de</strong>r bürgerlichen Umwelt, sein Ringen gegen je<strong>de</strong> Verbürgerlichung<br />
unseres Denkens«. Selbst die bürgerlichen Formen <strong>de</strong>r Trauer, fürchten<br />
sie, wür<strong>de</strong> er ihnen verwehren:<br />
Es war uns allen unfaßbar, daß er nicht plötzlich an das finstere<br />
Fenster trat, nicht plötzlich die Treppe herabkam, uns nicht mit<br />
ungestümem Staunen zur Re<strong>de</strong> stellte: »Was treibt ihr hier? Habt<br />
ihr nichts zu tun? Was soll <strong>de</strong>nn das wie<strong>de</strong>r heißen?«<br />
<strong>Die</strong> Strenge <strong>de</strong>s Klassenlehrers ersehnen sich zurück, die sich die Ohren zu<br />
o<strong>de</strong>r die Hand frei gehalten hatten, ihm eine Nase zu drehn. Zerknirschung<br />
scheut selbst antikisieren<strong>de</strong>s Versmaß nicht, um einer Unsterblichkeit gerecht<br />
zu wer<strong>de</strong>n, wo die Prosa redaktionellen Lebens nicht zugereicht hat,<br />
<strong>de</strong>ssen Abend zu verschönern. Denn nur aus <strong>de</strong>r Entfernung vermöge <strong>de</strong>r<br />
Mensch das Erhabene abzuschätzen:<br />
Solang die Unsterblichen<br />
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Unter uns weilen,<br />
Erscheinen sie uns als unseresgleichen.<br />
Als Selbstverständliches gilt uns<br />
Ihres Umgangs<br />
Unendliche Gna<strong>de</strong>,<br />
Aus kindischem Stolz<br />
Sie zu verletzen<br />
Als unser Recht.<br />
Und erst wenn sie von uns weichen, erkennen wir, zu spät, was wir besessen.<br />
Doch wir sollen an<strong>de</strong>rseits nicht klagen, daß sie uns ihren Glanz und ihre Größe<br />
nicht früher offenbart haben. Eben dies sei göttliche Gna<strong>de</strong>:<br />
Denn nicht hätte unser Auge<br />
Ihren Glanz ertragen,<br />
Und ihre Größe<br />
Hätte uns zu Bo<strong>de</strong>n gedrückt.<br />
Was keineswegs — und bis zur Verhin<strong>de</strong>rung jeglichen Wachstums — gescha<strong>de</strong>t<br />
hätte. Das Ganze heißt »Erkenntnis«, und man kann daraus ungefähr eine<br />
Vorstellung entnehmen, was sich in <strong>de</strong>n letzten Jahren in <strong>de</strong>r Redaktion abgespielt<br />
hat. In einer photographischen Darbietung von seltener Naivität wird<br />
»Der leere Platz« gezeigt. Er war im Vorstellungsleben <strong>de</strong>r jüngeren Generation<br />
schon lange vorhan<strong>de</strong>n und kommt auch in einer weggelassenen Stelle aus<br />
<strong>de</strong>m zitierten Nachruf <strong>de</strong>s Berliner Tageblatts zum Ausdruck:<br />
— — <strong>de</strong>ssen An<strong>de</strong>nken zu ehren, die Journalisten aller Sprachen<br />
und aller Richtungen Anlaß haben. [Noch nicht siebzig Jahre alt,<br />
ist Friedrich Austerlitz, seit fast vierzig Jahren Chefredakteur <strong>de</strong>r<br />
Wiener »Arbeiter—Zeitung«, mitten aus <strong>de</strong>r Arbeit weggeholt<br />
wor<strong>de</strong>n. Das Schicksal hat ihm keinen Lebensabend geschenkt; es<br />
hat ihm die Bitterkeit erspart, beiseite stehen zu müssen, zuzusehen,<br />
daß ein an<strong>de</strong>rer an <strong>de</strong>m Platz saß, an <strong>de</strong>m er mit allen Fasern<br />
hing.] Zu bedauern sind die, die ihn verloren — —<br />
<strong>Die</strong> zu Bedauern<strong>de</strong>n konnten die Stelle nicht drucken, da sie insofern <strong>de</strong>r Tatsächlichkeit<br />
wi<strong>de</strong>rspricht, als <strong>de</strong>m Verstorbenen die Bitterkeit nicht erspart<br />
geblieben ist, neben <strong>de</strong>m Platz stehen zu müssen, an <strong>de</strong>m er noch sitzen konnte.<br />
Wenn nicht aus <strong>de</strong>n Funeralien <strong>de</strong>r Arbeiter—Zeitung die unverhüllteste<br />
Wahrheit zum Vorschein käme, müßte man rein sagen, daß in ihren Spalten<br />
noch nie so gelogen wur<strong>de</strong>, und da wür<strong>de</strong> man angesichts <strong>de</strong>s großen phraseologischen<br />
Schatzes, <strong>de</strong>n sie <strong>de</strong>r bürgerlichen Journalistik abgenommen<br />
hat, viel sagen. <strong>Die</strong> Wahrheit liegt in <strong>de</strong>m Naturvorgang, wie die Erschütterung<br />
<strong>de</strong>n Vorsatz aufhebt, einen <strong>de</strong>r tragischesten Konflikte zu bemänteln,<br />
<strong>de</strong>r jemals, zwischen zwei Bindungen durchgekämpft und durchgelitten, mit<br />
<strong>de</strong>m Verzicht auf die Persönlichkeit geen<strong>de</strong>t hat. <strong>Die</strong> Lüge ist die <strong>Ehre</strong>rbietung<br />
<strong>de</strong>r Schuldtragen<strong>de</strong>n für ein »mahnen<strong>de</strong>s sozialistisches Gewissen«, das<br />
sie längst erstickt hatten. Das mahnen<strong>de</strong> Gewissen, das gegen die Anpassung<br />
an Sitten und Lebensgewohnheiten <strong>de</strong>r bürgerlichen Umwelt aufstand, wirkte<br />
außerhalb <strong>de</strong>r Sphäre. Aber die Anpassung hatte Gewalt, ein Gefühl und eine<br />
Erkenntnis, die jenem zustrebten, sich selbst anzupassen und die Entscheidung<br />
zugunsten <strong>de</strong>r schlechten Vertreter zu wen<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>r Glaube an die<br />
gute Sache in die Religion mitnahm und die einer, »wur<strong>de</strong> man von dritter<br />
Seite angegriffen, mit <strong>de</strong>r ganzen Wucht seiner Persönlichkeit verteidigte«.<br />
<strong>Die</strong> es betraf, können nun ihm nachsagen, was er solange als Tat und Wert<br />
<strong>de</strong>r »dritten Seite« erkannt hatte, »Unredlichkeit und Nie<strong>de</strong>rtracht <strong>de</strong>s von<br />
Phrasen maskierten und in einem Nebensatz sich <strong>de</strong>maskieren<strong>de</strong>n Inhalts«<br />
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nachzuweisen, »am Wort das Wesen und am Satzbau <strong>de</strong>n ganzen Menschen«<br />
zu erkennen. Aber damit, daß er ihnen mit <strong>de</strong>m Wustmann imponiert hat, weisen<br />
sie ihm, <strong>de</strong>m nur lügeloses Bekennen zu gutem Ausdruck verhalf, keinen<br />
allzu hoben Rang als »Sprachgestalter« zu, und das üble Deutsch <strong>de</strong>rer, die<br />
überhaupt kein echtes Gefühl außer <strong>de</strong>r Reue auszudrücken haben, bezeugt<br />
keine gute Schulung. Es sind die Hinaufgelangten einer Partei, »die schon viel<br />
Macht übt, viel <strong>Ehre</strong>n und Wür<strong>de</strong>n zu verleihen hat«, darum auch viel zu<br />
fürchten, und also besser täte, <strong>de</strong>m Verstorbenen nicht gera<strong>de</strong>, wenngleich<br />
schüchtern genug, <strong>de</strong>n »Kampf für die Beseitigung <strong>de</strong>r Korruption eines Bekessy«<br />
anzurechnen. Und welch ein Hohn, daß <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>ssen tragischer Konflikt<br />
eben in <strong>de</strong>r Vergeblichkeit bestand, nachgesagt wird, er habe mit <strong>de</strong>r<br />
ganzen Reinheit und Festigkeit und Wucht seines Willens dafür gesorgt, unsere<br />
Zeitung rein zu erhalten von alle <strong>de</strong>m, was bürgerliches Zeitungswesen<br />
korrumpiert und zu bloßem Geschäft erniedrigt«. Wenn er, »alles Unsoli<strong>de</strong><br />
und Zwei<strong>de</strong>utige <strong>de</strong>r Zeitungsmacherei verdammend und verbannend«, Wirkungen<br />
erzielen wollte, »ohne Sensation zu suchen«, wenn er »gegen eine unwürdige<br />
Nachahmung bürgerlicher Preßunsitten toben konnte« — und wenn<br />
es gleichwohl möglich war, daß nach <strong>de</strong>m Sexualtratsch <strong>de</strong>r Gerichtssaalrubrik<br />
ein inserieren<strong>de</strong>r Ausbeuter die sozialistische Parole für sein Geschäft<br />
verwandte, so sind Tatzeugen, die ihm <strong>de</strong>n sittlichen Wi<strong>de</strong>rstand gegen solches<br />
Greuel nachrühmen, ohne von <strong>de</strong>m Mißlingen ein Aufheben zu machen,<br />
abgefeimte Heuchler. Er hat alles das erdul<strong>de</strong>t und schließlich gedul<strong>de</strong>t, und<br />
noch viel mehr als das. Zwischen <strong>de</strong>m Drang, in Tagen tiefster Demütigung<br />
<strong>de</strong>r Partei durch einen Erpresser loszubrechen — viel früher als es erlaubt<br />
wur<strong>de</strong> und die Heroisierer ahnen — o<strong>de</strong>r auszubrechen, und <strong>de</strong>m Entschluß<br />
<strong>de</strong>r Beigebung vor einer Generation, die seinem Respekt vor <strong>de</strong>r Wahrheit mit<br />
Grinsen begegnete, liegt eine Tragödie. (Und ein Parteigeheimnis, das einer<br />
kennt, <strong>de</strong>r so fragwürdiger Disziplin nicht gehorsamt, und vielleicht nur noch<br />
mit einem Bürgermeister teilt, <strong>de</strong>r ihm schon lange nicht gefällt.) Es hat <strong>de</strong>s<br />
größten Aufwands an Barmherzigkeit bedurft, diese Selbstentmachtung nicht<br />
in <strong>de</strong>n Kreis <strong>de</strong>r zu verdammen<strong>de</strong>n Übel, <strong>de</strong>m das Opfer in <strong>de</strong>m Glauben an<br />
eine Sache verbun<strong>de</strong>n blieb, einzubeziehen. Sie erbarmt sich noch <strong>de</strong>r Bedränger,<br />
nicht ohne die Mahnung, das Schuldgefühl, eine Macht verletzt und<br />
schließlich gebrochen zu haben, als Hinterlassenschaft in reinerem Wirken zu<br />
pflegen. <strong>Die</strong> Trauer, die da fühlt, daß sie sich mit <strong>de</strong>n Splittern eines Herzens<br />
nicht bereichern kann, for<strong>de</strong>rt Respekt. So stark <strong>de</strong>r Hohn ist, <strong>de</strong>r ihn sprengen<br />
könnte, so stark ist auch das Mitleid mit <strong>de</strong>n Hinterbliebenen, die einem<br />
Toten Dank wissen, daß er sie, selbst sie, in seinen Glauben aufgenommen<br />
hat.<br />
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