Spaß haben, Selbstentfaltung und Leistungsprinzip im Trend
Spaß haben, Selbstentfaltung und Leistungsprinzip im Trend
Spaß haben, Selbstentfaltung und Leistungsprinzip im Trend
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Pressedienst<br />
Ausgabe 32, 14.9.2011<br />
Studie untersucht Selbstkonzepte 16- bis 29jähriger: <strong>Spaß</strong> <strong>haben</strong>,<br />
<strong>Selbstentfaltung</strong> <strong>und</strong> <strong>Leistungsprinzip</strong> <strong>im</strong> <strong>Trend</strong><br />
Wer die Jugend verstehen will, muss sich mit ihren Alltagsinteressen, aber auch mit ihren<br />
Selbstkonzepten beschäftigen. In den Selbstkonzepten formiert sich das Bild, das<br />
Jugendliche sich von sich selbst machen. In ihnen manifestieren sich die Eigenschaften, die<br />
zum Kern der Persönlichkeit gehören. Das Institut für Jugendkulturforschung hat <strong>im</strong> Rahmen<br />
der Jugendstudie 2011 werte- <strong>und</strong> normenbezogene Selbstkonzepte 16- bis 29jähriger<br />
Jugendlicher <strong>und</strong> jungen Erwachsener untersucht. 1<br />
Schlüsselergebnisse der Studie zeigen die Jugend der 2010er Jahre als eine Generation<br />
hedonistischer Leistungsindividualisten. Sie identifiziert sich in hohem Maße mit<br />
Leistungswerten, die vom Prinzip der individuellen Selbstdurchsetzung getragen werden.<br />
Universalistische Werte, die Akzeptanz Anderer als Gleichwertige akzentuieren, verlieren,<br />
wie der Vergleich der Daten 2011 mit den Daten des GMF-Survey 2003 deutlich macht, an<br />
Bedeutung. Und auch allzu unangepasstes Verhalten scheint kein Thema. Was zählt, sind<br />
individuelle <strong>Selbstentfaltung</strong>, <strong>Spaß</strong>, Lebensgenuss <strong>und</strong> ein durch Ehrgeiz zum Ausdruck<br />
gebrachtes Bekenntnis zum Erfolgsprinzip.<br />
Wie sich junge ÖsterreicherInnen selbst sehen<br />
In Anlehnung an den deutschen GMF-Survey wurde jungen ÖsterreicherInnen <strong>im</strong> Rahmen<br />
der Jugendstudie 2011 zunächst eine Beschreibung von verschiedenen Personen<br />
vorgelesen, daraufhin wurden sie gebeten anzugeben, wie sehr sie selbst der jeweils<br />
beschriebenen Person ähneln (vgl. Iser/Schmidt 2003: 65). 2 Wie die Ergebnisse zeigen, ist<br />
1<br />
Die Jugendstudie 2011 ist eine als Eigenstudie durchgeführten Repräsentativ-Umfrage unter 500<br />
ÖsterreicherInnen <strong>im</strong> Alter von 16 bis 29 Jahren. Die Basisdaten sind als Tabellenband über das Institut für<br />
Jugendkulturforschung erhältlich. Unser Special für all jene, die die Studienergebnisse mit unseren<br />
ExpertInnen diskutieren möchten: Inhouse-Präsentation der Ergebnisse, Datenband plus<br />
Präsentationsfolien in elektronischer Form zum Preis von Euro 990.-- (exkl. Reisekosten); Bestellformular<br />
<strong>und</strong> Studiensteckbrief <strong>im</strong> Anhang.<br />
2<br />
Die Fragestellungen wurden für den Fragebogen der Jugendstudie 2011 in der von Iser/Schmidt (2003: 66)<br />
angeführten Form aus dem GMF-Survey übernommen.<br />
Institut für Jugendkulturforschung<br />
Alserbachstraße 18 / 7.OG, 1090 Wien<br />
Tel. +43/(0)1/532 67 95<br />
Mail: jugendforschung@jugendkultur.at<br />
1
Pressedienst<br />
Ausgabe 32, 14.9.2011<br />
es für die breite Mehrheit der Jugendlichen <strong>und</strong> jungen Erwachsenen kein Widerspruch, sich<br />
mit unterschiedlichen <strong>und</strong> für Prinzipienmenschen teils unvereinbar scheinenden Werten <strong>und</strong><br />
Normen gleichzeitig zu identifizieren: 16- bis 29jährige sehen sich als Menschen, die in<br />
Alltagsdingen für sich selbst entscheiden, <strong>Spaß</strong> <strong>haben</strong> <strong>und</strong> das Leben genießen wollen. Vom<br />
Generationenkonflikt <strong>haben</strong> sie sich verabschiedet <strong>und</strong> halten es für angebracht, der älteren<br />
Generation respektvoll zu begegnen. Sie hoffen auf eine friedliche Koexistenz<br />
unterschiedlicher Gruppen in der Welt <strong>und</strong> setzen dennoch zugleich darauf, mit<br />
entsprechendem Ehrgeiz <strong>im</strong> Leben für sich selbst Erfolg zu generieren. (vgl. Grafik 1)<br />
Während Ben<strong>im</strong>mregeln in dieser Generation nicht als spießig gelten, sondern „gutes<br />
Benehmen“ in den Selbstkonzepten mehrheitlich Akzeptanz findet, spielt Tradition wie<br />
übrigens auch Macht in den Bildern, die Jugendliche <strong>und</strong> junge Erwachsene von sich selbst<br />
entwickeln, eine eher geringe Rolle.<br />
Grafik 1: Werte- <strong>und</strong> normenbezogene Identifikation bei 16- bis 29jährigen ÖsterreicherInnen<br />
Bitte sag mir, wie sehr du dieser Frau/diesem Mann ähnlich bist. (Skala 1 bis 4)<br />
Ihr/ihm ist wichtig, <strong>Spaß</strong> zu <strong>haben</strong><br />
85,1<br />
12,2<br />
wichtig, die Freuden des Lebens zu genießen<br />
möchte Aktivitäten gerne selbst planen <strong>und</strong> auswählen<br />
können<br />
85,5<br />
78,7<br />
10,5<br />
17,0<br />
wichtig, selbst zu entscheiden, was man tut<br />
glaubt, dass man seine Eltern/ältere Menschen<br />
respektieren sollte<br />
85,3<br />
73,3<br />
18,3<br />
9,3<br />
wichtig, ehrgeizig zu sein<br />
glaubt, dass die Völker der Welt in Harmonie<br />
zusammen leben sollten<br />
54,4<br />
57,3<br />
27,5<br />
24,1<br />
Sehr ähnlich<br />
wichtig, sich gut zu benehmen<br />
55,0<br />
23,9<br />
Eher ähnlich<br />
wichtig, sehr erfolgreich zu sein<br />
wichtig, etwas für den Frieden zwischen allen Gruppen<br />
in der Welt zu tun<br />
40,1<br />
32,1<br />
29,3<br />
34,8<br />
wichtig, Bräuche aufrechtzuerhalten<br />
27,8<br />
31,2<br />
Traditionen sind ihr/ihm wichtig<br />
möchte <strong>im</strong>mer die-/derjenige sein, die/der die<br />
Entscheidungen trifft<br />
12,5<br />
29,6<br />
25,2<br />
23,8<br />
möchte, dass andere tun, was sie/er sagt<br />
12,9<br />
19,3<br />
0 20 40 60 80 100<br />
Institut für Jugendkulturforschung (2011): Zukunftsängste, Frauenbild, Werte, rep. für 16- bis 29jährige, Ang. in %<br />
Institut für Jugendkulturforschung<br />
Alserbachstraße 18 / 7.OG, 1090 Wien<br />
Tel. +43/(0)1/532 67 95<br />
Mail: jugendforschung@jugendkultur.at<br />
2
Pressedienst<br />
Ausgabe 32, 14.9.2011<br />
Das heißt, vieles hat in den wertebezogenen Selbstkonzepten junger Menschen<br />
nebeneinander Platz <strong>und</strong> zugleich schließt sich scheinbar Zusammengehöriges bei so<br />
manchem <strong>und</strong> so mancher aus. Die Jugendforschung nähert sich diesem Phänomen mit<br />
Begriffen wie Werte-Sampling, Werte-Patchwork oder Werte-Synthese an.<br />
Zwischen jungen Männern <strong>und</strong> jungen Frauen zeigen sich übrigens kaum Unterschiede, was<br />
die wertebezogene Identifikation betrifft. Lediglich in einem Punkt heben sich die 16- bis<br />
29jährigen jungen Frauen von ihren männlichen Altersgenossen ab. Der Universalismus, der<br />
<strong>im</strong> Zeichen der Anerkennung anderer als gleichwertig steht, spielt bei jungen Frauen eine<br />
größere Rolle als bei jungen Männern: 80,7% der 16- bis 29jährigen jungen Frauen<br />
identifizieren sich mit universalistischen Werten. Bei den jungen Männern sind es mit 67,8%<br />
hingegen deutlich weniger. 3<br />
Tabelle 1: Universalistische Gr<strong>und</strong>haltung bei jungen Frauen stärker ausgeprägt<br />
Bin diesem Mann/dieser Frau sehr/eher ähnlich …<br />
(Top-2-Boxes auf Skala 1 bis 4)<br />
Sie/Er glaubt, dass die Völker der Welt in Harmonie zusammen<br />
leben sollten.<br />
Es ist ihr/ihm wichtig, etwas für den Frieden zwischen allen<br />
Gruppen in der Welt zu tun.<br />
Identifikation mit universalistischen Werten, die <strong>im</strong> Zeichen der<br />
Anerkennung des/der Anderen als gleichwertig stehen<br />
16 bis 29<br />
Jahre gesamt<br />
männlich<br />
weiblich<br />
81,4 72,3 90,7<br />
66,9 63,2 70,7<br />
74,2 67,8 80,7<br />
Basis 500 253 247<br />
Institut für Jugendkulturforschung (2011): Zukunftsängste, Frauenbild, Werte, rep. für 16- bis 29jährige, Ang. in %<br />
Rd. 91% der jungen Frauen geben an, sich mit Menschen zu identifizieren, die meinen,<br />
„dass die Völker der Welt in Harmonie zusammenleben sollten“; bei den jungen Männern tun<br />
dies deutlich weniger: nämlich nur rd. 72%.<br />
3 Die in den Daten der Jugendstudie 2011 ausgewiesene Geschlechterdifferenz in der Identifikation mit einer<br />
universalistischen Werteorientierung deckt sich mit den GMF-Survey-Ergebnissen zu geschlechterdifferenten<br />
Wertorientierungen in der deutschen Gesamtbevölkerung: Auch hier lässt sich <strong>im</strong> weiblichen Segment eine<br />
insgesamt stärkere Identifikation mit universalistischen Werten beobachten. Iser/Schmidt (2003: 67f)<br />
interpretieren dies als Konsequenz einer rollenspezifisch unterschiedlichen Sozialisation von Männern <strong>und</strong><br />
Frauen.<br />
Institut für Jugendkulturforschung<br />
Alserbachstraße 18 / 7.OG, 1090 Wien<br />
Tel. +43/(0)1/532 67 95<br />
Mail: jugendforschung@jugendkultur.at<br />
3
Pressedienst<br />
Ausgabe 32, 14.9.2011<br />
Bedeutungswandel von Individualität <strong>und</strong> Leistung<br />
Um das Bild, das Jugendliche von sich selbst entwickeln, richtig einordnen zu können, muss<br />
man sehen, dass sich <strong>im</strong> Zuge des gesellschaftlichen Wandels die Bedeutung zentraler<br />
Wertebegriffe verändern kann. In besonderem Maße zeigt sich dies bei den Autonomie-<br />
Werten, die sich um Begriffe wie Selbstbest<strong>im</strong>mung <strong>und</strong> Selbstverwirklichung formieren,<br />
sowie be<strong>im</strong> Leistungsbegriff.<br />
Bleiben wir zunächst bei dem für Jugendliche so wichtigen Wert der Selbstbest<strong>im</strong>mung. In<br />
den 1970ern <strong>und</strong> 1980ern, in denen postmaterialistische Werte den jungen Zeitgeist<br />
markierten, stand Selbstbest<strong>im</strong>mung für Autonomie in einem emanzipatorischen Sinn.<br />
Erwachsene, die ihre eigene Jugend in dieser Zeit erlebten, sind häufig versucht, die<br />
persönlichen Selbstbest<strong>im</strong>mungsansprüche der heutigen Jugend an der ihnen vertrauten<br />
Bedeutung zu messen <strong>und</strong> sie übersehen dabei, dass sich der Zeitgeist radikal verändert<br />
hat.<br />
Selbstbest<strong>im</strong>mung steht heute nicht mehr für ein politisch-emanzipatorisches Konzept <strong>und</strong><br />
zielt demnach nicht, wie einst vielfach der Fall, auf Selbstverwirklichung in kritischer Distanz<br />
zum System, sondern weist vielmehr in Richtung individueller <strong>Selbstentfaltung</strong>, die auch <strong>und</strong><br />
gerade in massenkulturell geprägten Teilzeitwelten wie der Freizeit, mit subjektivem<br />
Erlebniswert assoziiert, ihren Platz findet. Beispielhaft wäre hier der Funsportbereich als Teil<br />
der zeitgenössischen Freizeitindustrie zu nennen, der für die gesteigerten<br />
Autonomiebedürfnisse der Jugend eigens designte Nischen bereithält.<br />
Auch der mit Autonomiewerten eng verb<strong>und</strong>ene Begriff der Individualität hat sich über die<br />
Jahre gewandelt, auch Individualität wird von Jugendlichen heute großteils nicht mehr<br />
emanzipatorisch verstanden, sondern ist vorrangig distinktionsorientiert angelegt. Den<br />
IndividualistInnen der 2010er Jahre geht es pr<strong>im</strong>är darum, sich von der Masse abzuheben<br />
<strong>und</strong> an einem unverwechselbaren Selbst zu arbeiten: <strong>und</strong> zwar nicht etwa mittels<br />
„Querdenken“, sondern vor allem durch bewusst gewählte lifestyleorientierte Praxen.<br />
Insbesondere in der Freizeit <strong>und</strong> <strong>im</strong> Privatleben scheint Unverwechselbarkeit für Jugendliche<br />
<strong>und</strong> junge Erwachsene eine wichtige Zielgröße zu sein. Als „Kinder der Konsumgesellschaft“<br />
sind sie es gewohnt, sich durch die Überfülle an Angeboten inspirieren <strong>und</strong> an<strong>im</strong>ieren zu<br />
lassen, um dann scheinbar selbstbest<strong>im</strong>mt individuelle Wahlentscheidungen zu treffen.<br />
Worum es ihnen geht, ist, sich ständig neu zu erfinden <strong>und</strong> bedürfnisorientiert das zu tun,<br />
wozu sie gerade Lust <strong>haben</strong> bzw. was sie momentan als st<strong>im</strong>mig empfinden. Begriffe wie<br />
Institut für Jugendkulturforschung<br />
Alserbachstraße 18 / 7.OG, 1090 Wien<br />
Tel. +43/(0)1/532 67 95<br />
Mail: jugendforschung@jugendkultur.at<br />
4
Pressedienst<br />
Ausgabe 32, 14.9.2011<br />
Selbstbest<strong>im</strong>mung, Selbstverwirklichung oder auch Selbständigkeit werden, wie Reichert<br />
(2008: 40) betont, in diesem Szenario „als Versatzstücke kommerzieller Freiheitstechnologien<br />
konsumiert.“<br />
In der Arbeitswelt äußert sich der betont distinktionsorientierte Zug, der dem Begriff<br />
Individualität heute anhaftet, hingegen anders: in verstärktem Bemühen um erfolgsorientierte<br />
<strong>Selbstentfaltung</strong>. Dabei mischen sich Selbstbest<strong>im</strong>mungswerte mit dem Wert individueller<br />
Selbstdurchsetzung, der in Ehrgeiz, systemkonformem Erfolgsstreben <strong>und</strong> einem egotaktischen<br />
Bekenntnis zum Leistungsgedanken seinen Ausdruck findet.<br />
Apropos Leistung: Auch der arbeitsweltliche Leistungsbegriff hat sich verändert. Immer öfter<br />
geht es heute nicht mehr nur darum, eine fachlich solide Leistung zu erbringen, sondern es<br />
geht vielmehr darum, sich selbst als TrägerIn dieser Leistung gut zu verkaufen. Nur unter<br />
dieser Voraussetzung <strong>haben</strong> diejenigen, die Leistung erbringen, Aussicht auf Anerkennung<br />
<strong>und</strong> Erfolg. Nur dann können sie sich auf den kompetitiver werdenden Märkten, auf denen<br />
sie sich erfolgreich bewegen sollen <strong>und</strong> wollen, ökonomisch auch tatsächlich durchsetzen.<br />
All dies sind, wie die Soziologie betont, Charakteristika einer Erfolgsgesellschaft, die das<br />
Marktprinzip akzentuiert <strong>und</strong> dabei die Leitwerte der traditionellen Leistungsgesellschaft<br />
mehr <strong>und</strong> mehr verdrängt. (vgl. Neckel 2008) Für den Einzelnen/die Einzelne verlaufen die<br />
Grenzen zwischen Selbstverwirklichung <strong>und</strong> Selbstvermarktung, Autonomie <strong>und</strong><br />
Entfremdung hier häufig fließend. (vgl. Bröckling 2007) Vor allem in Kreativ- <strong>und</strong><br />
Wissensberufen wird eine (individuell zu bewältigende) Synthese von Autonomieansprüchen<br />
<strong>und</strong> (selbst-)durchsetzungsorientiertem Bekenntnis zum <strong>Leistungsprinzip</strong> mehr <strong>und</strong> mehr zur<br />
Pflicht. Die Gr<strong>und</strong>regel lautet: „Als Kreativitätspotentiale sind auch nonkonformistische<br />
Lebenskonzepte <strong>und</strong> subkulturelle Praktiken willkommen – allerdings unter der<br />
Voraussetzung, dass sie die Produktivität steigern.“ (Reichert 2008: 79)<br />
Es scheint so, als wäre die Jugend gezwungen, sich hier einem System anzupassen, das<br />
gelernt hat, die <strong>Selbstentfaltung</strong>swerte, die die Post-68er-Generation einst propagierte <strong>und</strong><br />
die vom Establishment anfangs eher kritisch gesehen wurden, ökonomisch zu nutzen. Oder,<br />
um mit Ramón Reichert zu sprechen: „Werte, die einst gegen die Paradigmen der<br />
Leistungsgesellschaft gerichtet waren, wie Autonomie, Kreativität, Authentizität, sind heute<br />
zu Kernwerten bzw. zu Persönlichkeitsmerkmalen der Leistungselite innerhalb der<br />
kapitalistischen Gesellschaft geworden.“ (Reichert 2008: 40)<br />
Institut für Jugendkulturforschung<br />
Alserbachstraße 18 / 7.OG, 1090 Wien<br />
Tel. +43/(0)1/532 67 95<br />
Mail: jugendforschung@jugendkultur.at<br />
5
Pressedienst<br />
Ausgabe 32, 14.9.2011<br />
Existenzangst fördert Identifikation mit <strong>Leistungsprinzip</strong><br />
Interessantes Detail der Jugendstudie 2011: Jugendliche, die in Bezug auf existenzielle<br />
Fragen ängstlich in die Zukunft blicken, identifizieren sich deutlich stärker mit dem<br />
Leistungsgedanken als Jugendliche, die sich von existenziellen Fragen nicht bedroht fühlen:<br />
<br />
<br />
Rd. 83% jener 16- bis 29jährigen, die Angst vor Arbeitslosigkeit als eine ihrer größten<br />
Zukunftsängste nennen, zeigen in ihren wertebezogenen Selbstkonzepten eine<br />
positive Identifikation mit dem Leistungsgedanken; in der Gruppe derer, die sich<br />
wegen etwaiger zukünftiger Arbeitslosigkeit keine Sorgen machen, sind es mit rd.<br />
71% hingegen deutlich weniger.<br />
Auch die Angst vor der Wirtschaftskrise beeinflusst scheinbar paradox die<br />
Leistungsorientierung positiv: Rd. 82% derer, die Angst vor einer Wirtschaftskrise <strong>und</strong><br />
damit verb<strong>und</strong>ener Geldabwertung <strong>haben</strong>, identifizieren sich mit dem<br />
Leistungsgedanken. In der Gruppe derer, die sich nicht vor der Wirtschaftskrise<br />
fürchten, sind es wiederum deutlich weniger: nämlich 69%. (vgl. Tabelle 2)<br />
Tabelle 2: Leistungsorientierung in den Selbstkonzepten Jugendlicher mit Existenzangst<br />
Bin diesem Mann/dieser Frau sehr/eher ähnlich …<br />
(Top-2-Boxes auf Skala 1 bis 4)<br />
16 bis 29<br />
Jahre<br />
gesamt<br />
Angst vor<br />
Arbeitslosigkeit<br />
Angst vor<br />
Wirtschaftskrise<br />
Ja Nein Ja Nein<br />
Es ist ihr/ihm wichtig, sehr erfolgreich zu sein. 69,5% 78,8% 62,9% 75,9% 62,4%<br />
Es ist ihr/ihm wichtig, ehrgeizig zu sein. 81,9% 87% 78,3% 87,2% 76%<br />
Identifikation mit Leistungsgedanken 75,7% 82,9% 70,6% 81,6% 69%<br />
Basis 500 206 294 262 238<br />
Institut für Jugendkulturforschung (2011): Zukunftsängste, Frauenbild, Werte, rep. für 16- bis 29jährige, Ang. in %<br />
Was sich hier zeigt, ist ein Phänomen, auf das in der Protestforschung bereits hingewiesen<br />
wurde: Existenzielle Sorgen <strong>und</strong> Ängste, auf die die Politik aus Sicht der BürgerInnen nicht<br />
angemessen reagiert, führen nicht <strong>im</strong>mer automatisch zu Protest; wider Erwarten bleibt der<br />
Protest häufig aus <strong>und</strong> Betroffene reagieren anstatt widerständig betont anpassungsorientiert<br />
<strong>und</strong> versuchen durch verstärkte Identifikation mit gesellschaftlichen Leitwerten ihre soziale<br />
Position als vollwertig Integrierte <strong>und</strong> Akzeptierte abzusichern. (vgl. Pettenkofer 2010: 175)<br />
Hohe Bereitschaft zu Normbindung <strong>und</strong> Selbstanpassung ist hier Thema. Und sie geht mit<br />
einem Bemühen um individuelle Selbstopt<strong>im</strong>ierung einher. Wie die Daten der Jugendstudie<br />
Institut für Jugendkulturforschung<br />
Alserbachstraße 18 / 7.OG, 1090 Wien<br />
Tel. +43/(0)1/532 67 95<br />
Mail: jugendforschung@jugendkultur.at<br />
6
Pressedienst<br />
Ausgabe 32, 14.9.2011<br />
2011 nahelegen, spielt bei derartiger Selbstopt<strong>im</strong>ierung die Akzentuierung des Ehrgeiz-<br />
Prinzips eine nicht unbedeutende Rolle: Knapp 9 von 10 jungen ÖsterreicherInnen, die Angst<br />
vor Arbeitslosigkeit oder Angst vor der Wirtschaftskrise als eine ihrer größten Zukunftsängste<br />
nennen, identifizieren sich mit jenem Sozialtypus, dem es wichtig ist, ehrgeizig zu sein. (vgl.<br />
Tabelle 2)<br />
Es mag eigenartig <strong>und</strong> wohl auch ein wenig beklemmend klingen, doch diffuse Existenzangst<br />
begünstigt offensichtlich das Bekenntnis zum <strong>Leistungsprinzip</strong>. Der GMF-Survey zeigt für die<br />
deutsche Gesamtbevölkerung ein ganz ähnliches Ergebnis wie die Jugendstudie 2011:<br />
nämlich „daß Personen, die ihre berufliche Position als bedroht erleben, dem Leistungsgedanken<br />
eine höhere Bedeutung zumessen als Personen, die sich beruflich eher<br />
abgesichert betrachten.“ (Iser/Schmidt 2003: 68) Und auch die qualitative Jugendforschung<br />
bekräftigt diesen Bef<strong>und</strong>: Jugendliche aus sozial schwachen, exklusionsgefährdeten Lagen<br />
sprechen sich – entgegen dem gängigen Klischee – häufig für das <strong>Leistungsprinzip</strong> aus 4 <strong>und</strong><br />
zugleich artikulieren sie die daran anschließende persönliche Erwartung, dass durch<br />
individuelle Leistung soziale Aufwärtsmobilität möglich sein sollte.<br />
Vom Mitmenschen zum „Mitbewerber“: Wohin geht der <strong>Trend</strong>?<br />
Wie ein Vergleich der Daten des GMF-Survey 2003 für das Segment der 16- bis 30jährigen<br />
Jugendlichen <strong>und</strong> jungen Erwachsenen mit den Ergebnissen der Jugendstudie 2011 zeigt,<br />
sind gr<strong>und</strong>legende Wertorientierungen in jungen Bevölkerungsgruppen <strong>im</strong> letzten Jahrzehnt<br />
über weite Bereiche stabil geblieben. 5 Hedonismus sowie an individueller <strong>Selbstentfaltung</strong> zu<br />
messende Autonomiewerte rangieren in den Mind-Sets der Jugendlichen <strong>und</strong> jungen<br />
Erwachsenen an absolut dominanter Position. Im Sinne der postmodernen Wertesynthese<br />
<strong>haben</strong> zugleich aber auch konformitätsorientierte Werte sowie das <strong>Leistungsprinzip</strong> in den<br />
4 Was man hier freilich sehen muss, ist, dass eine positive Identifikation mit Leistungswerten gerade in diesem<br />
Segment nicht <strong>im</strong>mer in erfolgreich erbrachte Leistung mündet. Gr<strong>und</strong> dafür sind einerseits mangelnde<br />
Qualifikationen bzw. defizitäre Ressourcenlagen <strong>und</strong> eine daraus resultierende geringere Leistungsfähigkeit<br />
(der man mit entsprechenden Förder- bzw. Bildungsmaßnahmen ev. begegnen könnte), andererseits – bei<br />
bestehender Leistungsfähigkeit – aber auch mangelnde gesellschaftliche Chancen, den persönlichen<br />
Leistungswillen konkret unter Beweis zu stellen.<br />
5 Die Prozentzahlen beziehen sich auf diejenigen Personen, die sich positiv mit dem jeweiligen Wert identifizieren<br />
(Top-2-Boxes auf Skala 1 bis 4). Die Werte wurden dabei nicht mehr auf der Ebene der einzelnen<br />
Frageformulierungen (Itemebene) analysiert, sondern es wurde für jeden Wert ein durchschnittlicher<br />
Prozentsatz berechnet (Konstruktebene). (vgl. Iser/Schmidt 2003: 75)<br />
Institut für Jugendkulturforschung<br />
Alserbachstraße 18 / 7.OG, 1090 Wien<br />
Tel. +43/(0)1/532 67 95<br />
Mail: jugendforschung@jugendkultur.at<br />
7
Pressedienst<br />
Ausgabe 32, 14.9.2011<br />
Selbstkonzepten der Jugend hohen Stellenwert. Tradition bietet vergleichweise geringere<br />
Identifikation. (vgl. Grafik 2)<br />
Grafik 2: Werteverschiebung bei Jugendlichen <strong>und</strong> jungen Erwachsenen: 2003 bis 2011<br />
Hedonismus<br />
Selbstbest<strong>im</strong>mung<br />
Konformität<br />
2011: 16 bis 29 Jahre<br />
2003: 16 bis 30 Jahre<br />
Leistung<br />
Universalismus<br />
74,2%<br />
86,0%<br />
Tradition<br />
0% 20% 40% 60% 80% 100%<br />
Institut für Jugendkulturforschung (2011): Zukunftsängste – Frauenbild – Werte, rep. für 16- bis 29-jährige; GMF-<br />
Survey 2003 zitiert in: Iser/Schmidt 2003: 67<br />
Eine Veränderung bzw. Werteverschiebung zeichnet sich lediglich in einem Bereich deutlich<br />
ab: bei den universalistischen Werten, die die Akzeptanz Anderer als Gleichwertige<br />
akzentuieren (vgl. Iser/Schmidt 2003: 64). Waren es bei den Jugendlichen <strong>und</strong> jungen<br />
Erwachsenen 2003 noch 86%, die eine positive Identifikation mit universalistischen Werten<br />
zeigten, sind es 2011 lediglich rd. 74%: ein Minus von knapp 12%. Werte, die mit einer<br />
klaren Orientierung am eigenen Fortkommen bzw. Erfolg assoziiert sind <strong>und</strong> insofern für eine<br />
ego-taktische Gr<strong>und</strong>haltung stehen, zeigen sich hingegen auf gleichbleibend hohem Niveau.<br />
Was sagt uns dieses Ergebnis?<br />
Bemerkenswert ist nicht nur der Bedeutungsverlust des Universalismus bei Jugendlichen.<br />
Interessant ist vor allem die veränderte Relation von Leistungswerten <strong>und</strong> universalistischen<br />
Institut für Jugendkulturforschung<br />
Alserbachstraße 18 / 7.OG, 1090 Wien<br />
Tel. +43/(0)1/532 67 95<br />
Mail: jugendforschung@jugendkultur.at<br />
8
Pressedienst<br />
Ausgabe 32, 14.9.2011<br />
Werten, in der sich ein gr<strong>und</strong>legender gesellschaftlicher Geisteswandel spiegeln könnte.<br />
Junge Menschen bekommen heute bereits früh vermittelt, dass persönlicher Ehrgeiz <strong>und</strong><br />
Leistungswillen tragende Säulen sind, um in einem zunehmend kompetitiven<br />
Erwerbssystem, in dem sie später einmal Fuß fassen sollen, zu bestehen. Durchsetzung<br />
gegenüber Anderen werden in diesem Szenario wichtiger, Mitmenschen mutieren dabei<br />
mehr <strong>und</strong> mehr zu „Mitbewerbern“. Vertrauen, Verbindlichkeit <strong>und</strong> Sorge um das<br />
Wohlergehen Anderer verlagern sich in die kleinen sozialen Welten des Privaten. Für<br />
universalistische Werte, in denen sich gesellschaftliche Akzeptanz anderer als Gleichwertige<br />
ausdrückt (vgl. Iser/Schmidt 2003: 64ff), bleibt <strong>im</strong> praktischen Alltagsvollzug nicht <strong>im</strong>mer<br />
ausreichend Platz. Fragen der gesellschaftlichen Solidarität drohen so aus dem Blickfeld zu<br />
geraten.<br />
Quellen:<br />
Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform,<br />
Frankfurt am Main, 2007<br />
Institut für Jugendkulturforschung: Zukunftsängste – Frauenbild – Werte (Eigenstudie), Wien,<br />
2011<br />
Iser, Julia; Schmidt, Peter: Gefährliche Werte? Was Tradition <strong>und</strong> Konformität anrichten<br />
können, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 2, Frankfurt am<br />
Main, 2003, 61-77<br />
Neckel, Sighard: Flucht nach vorn: Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft, Frankfurt am<br />
Main, 2008<br />
Reichert, Ramón: Amateure <strong>im</strong> Netz. Selbstmanagement <strong>und</strong> Wissenstechnik <strong>im</strong> Web 2.0,<br />
Bielefeld, 2008<br />
Pettenkofer, Andreas: Radikaler Protest. Zur soziologischen Theorie politischer<br />
Bewegungen, Frankfurt am Main/New York, 2010<br />
Für den Inhalt verantwortlich: Dr. Beate Großegger<br />
bgrossegger@jugendkultur.at<br />
Der Pressedienst des Instituts für Jugendkulturforschung versteht sich als Service für die<br />
Jugendarbeit <strong>und</strong> wird vom Vorstand des Instituts für Jugendkulturforschung aus Eigenmitteln<br />
finanziert. Wir freuen uns, wenn Sie unseren Pressedienst in Ihrer Arbeit verwenden, ersuchen Sie<br />
aber, die Quelle korrekt zu zitieren.<br />
Institut für Jugendkulturforschung<br />
Alserbachstraße 18 / 7.OG, 1090 Wien<br />
Tel. +43/(0)1/532 67 95<br />
Mail: jugendforschung@jugendkultur.at<br />
9