Geschichte des Teufels - centrostudirpinia.it
Geschichte des Teufels - centrostudirpinia.it
Geschichte des Teufels - centrostudirpinia.it
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> <strong>Teufels</strong>.<br />
Erster Band.
<strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> <strong>Teufels</strong>.<br />
Von<br />
Gustav Roskoff.<br />
Erster Band.<br />
Leipzig<br />
F. A. Brockha u s.<br />
1869.
Das Recht der Uebersetzung in fremde Sprachen wird vorbehalten.
X,y<br />
Vorwort.<br />
Alle Dinge, die in ihrer Gesammthe<strong>it</strong> das All ausmachen,<br />
bedingen sich gegense<strong>it</strong>ig, wirken in ihrem Nebeneinandersein<br />
aufeinander und bringen eine Vielhe<strong>it</strong> und Manniclifaltigke<strong>it</strong> <strong>des</strong><br />
Inhalts und der Form hervor. Der denkenden Betrachtung, die<br />
nach dem Zusammenhange der Erscheinungen forscht,<br />
„was die<br />
Welt im Innersten zusammenhält", ist die in der Vielhe<strong>it</strong> sich<br />
äussernde Einhe<strong>it</strong> nicht entgangen. Sie fasst die zerstreuten<br />
Naturdinge und Naturkräfte zu einem einhe<strong>it</strong>lichen Ganzen zusammen<br />
und sieht in ihm einen lebensvollen Organismus, innerhalb<br />
<strong>des</strong>sen eine Menge besonderer Systeme sich thätig erweisen,<br />
die, obschon selbständig, in steter Wechselwirkung aufeinander<br />
bezogen und durch allgemeine Gesetze im Zusammenhang erhalten,<br />
in Ein Grundgesetz, das der Harmonie, zusammenlaufen.<br />
In dieser Erkenntniss feiert die Naturwissenschaft ihren Sieg,<br />
nachdem sie den eroberten Schatz von Wahrnehmungen der<br />
Herrschaft <strong>des</strong> Denkens unterworfen hat. Es ist ein auf<br />
Erfahrung gegründeter Satz , den ein Gewährsmann ausspricht:<br />
„Je tiefer man eindringt in das Wesen der Naturkräfte,<br />
<strong>des</strong>to mehr erkennt man den Zusammenhang der<br />
Phänomene, die, lange vereinzelt und oberflächlich betrachtet,<br />
jeglicher Anreihung zu widerstreben scheinen." 1 Die Betrachtung<br />
der eigenen Beschränkthe<strong>it</strong> erfüllt zwar das Einzelwesen<br />
m<strong>it</strong> Wehmuth; diese verliert aber an Herbhe<strong>it</strong> im<br />
Hinblick auf die unendliche Reihe der unablässig forschenden<br />
und stets mehr erforschenden Menschhe<strong>it</strong>. Denn „Wissen<br />
und Erkennen sind die Freude und Berechtigung der<br />
Menschhe<strong>it</strong>".<br />
In dieser berechtigten Freude am Erkennen mag das Auge<br />
<strong>des</strong> Beobachters geschichtlicher Erscheinungen wol auch, auf<br />
Culturzustände hingelenkt, deren Zusammenhang m<strong>it</strong> jenen aufzufinden<br />
versuchen. Denn nicht nur in der physischen Welt<br />
gibt es nichts Unnatürliches, sondern alles ist Ordnung, Gesetz<br />
1<br />
A. v. Humboldt, Kosmos, I, 30.
VI<br />
Vorwort.<br />
auch die geschichtlichen Erscheinungen und ebenso die Gebilde<br />
<strong>des</strong> geistigen Lebens sind durch gewisse Factoren bedingt.<br />
Wenn im Verlaute der <strong>Geschichte</strong> bestimmte Vorstellungen so<br />
mächtig heranwachsen, dass sie die Oberherrschaft in den Gemüthern<br />
erlangen, muss sieh wol jedem, der nach dem Grunde<br />
der Erscheinungen zu suchen gewohnt ist, die Frage aufdrängen:<br />
warum diese Vorstellungen gerade um diese Ze<strong>it</strong> eine so gewaltige<br />
Macht gewinnen, die sie ein andermal wieder verlieren?<br />
Warum sie in dieser bestimmten Form zur Herrschaft kommen,<br />
zu einer andern Ze<strong>it</strong> eine andere Gestalt annehmen V Die Lösung<br />
solcher Fragen vom culturgeschichtlichen Gesichtspunkte darf<br />
wol versucht werden, und die Neigung, herrschende Vorstellungen<br />
nach ihrem Zusammenhange zu begreifen, wird sich nicht abschwächen,<br />
wenn diese auch als Wahngebilde bezeichnet werden.<br />
Denn auch eine <strong>Geschichte</strong> der Wahngebilde eines Volks oder<br />
der Völker kann nicht ohne Bedeutung sein, da jene, wenngleich<br />
als Kehrse<strong>it</strong>e der Bildung oder als Vorbildungen betrachtet,<br />
m<strong>it</strong> der Individual<strong>it</strong>ät eines Volks aufs innigste verwachsen<br />
sind und aus <strong>des</strong>sen Bildungsprocesse hervorgehen. Mögen<br />
derlei Erscheinungen immerhin m<strong>it</strong> einem kr<strong>it</strong>ischen Ausschlage<br />
verglichen werden: sie erregen m<strong>it</strong> dem pathologischen Interesse<br />
zugleich das eulturhistorische, weil sie, wie die Bildung selbst, durch<br />
eine Menge Factoren bedingt sind,<br />
weil auch an ihnen das Gesetz<br />
menschlicher Entwickelung zu Tage tr<strong>it</strong>t, weil sie m<strong>it</strong> dieser<br />
Hand in Hand gehen, die Eigenthümlichke<strong>it</strong> eines Volks abspiegeln,<br />
die Wandlungen <strong>des</strong> menschlichen Bewusstseins m<strong>it</strong>machen.<br />
Einer aufmerksamen Beobachtung wird es nicht entgehen,<br />
dass gewisse Factoren die Anregung zur Erzeugung und Gestaltung<br />
bestimmter Vorstellungen geben, und dass im allgemeinen<br />
zwei Hauptfactoren in die Entwickelung der Menschhe<strong>it</strong><br />
eingreifen: Natur und <strong>Geschichte</strong>. Diese bedingen den Bildungsprocess<br />
überhaupt und bieten die massgebende Anregung<br />
zur Gestaltung bestimmter Anschauungsweisen. Bei Naturvölkern,<br />
die der allgemeinen geschichtlichen Bewegung abse<strong>it</strong>s,<br />
gleichsam ausserhalb der Strömung am festen Ufer stehen, ist<br />
das vornehmliche Anregungsm<strong>it</strong>tel die sie umgebende Natur;<br />
bei den Culturvölkern <strong>des</strong> Alterthums, die laut ihrer culturhistorischen<br />
Mission ihren Arbe<strong>it</strong>santheil an die Weltgeschichte<br />
abgegeben haben, hat ausser der Natur auch die <strong>Geschichte</strong><br />
ihren Einfluss geltend gemacht; die später auftretenden Völker
Vorwort.<br />
VII<br />
haben die Anregung vornehmlich aus den geschichtlichen Verhältnissen<br />
empfangen, obschon das Naturmoment auch bei diesen<br />
nicht ausser Kraft ist. „Der Mensch ist ein geschichtliches<br />
Wesen", bemerkt Lazarus, „alles in uns, an uns ist Erfolg der<br />
<strong>Geschichte</strong>, wir sprechen kein Wort, wir denken keine Idee,<br />
ja uns belebt kein Gefühl und keine Empfindung, ohne dass sie<br />
von unendlich mannichfaltig abgele<strong>it</strong>eten historischen Bedingungen<br />
abhängig ist." 1 Gleiches gilt wol auch von ganzen Völkern.<br />
Kein Volk schafft eine Cultur ganz aus sich selbst, jede ist<br />
die Summe der se<strong>it</strong>herigen Ergebnisse der Weltentwickelung,<br />
die es aufnimmt und, m<strong>it</strong> dem eigenen Geiste verarbe<strong>it</strong>et, der<br />
Nachwelt als Erbe hinterlässt. Das ist die Trad<strong>it</strong>ion der Cultur.<br />
Bei einer Studie über die Vorstellung vom christlichen<br />
Teufel, der im M<strong>it</strong>telalter den kirchlichen Glaubenskreis ausfüllt,<br />
wird der unbefangene Forscher zunächst in die ersten<br />
christlichen Jahrhunderte zurückblicken müssen und, indem er<br />
dem Ursprünge dieser Vorstellung nachspürt, führt ihn der Weg<br />
durch das Neue Testament zu den Hebräern und denjenigen<br />
Völkern, m<strong>it</strong> welchen jene in Berührung gekommen sind. Der<br />
Dualismus von guten. und bösen Wesen, der bei den Parsen,<br />
deren Verwandten, bei den Aegyptern in die Augen fällt, die<br />
dualistische Anschauung, die in den Mythologien aller Culturvölker<br />
mehr oder weniger entschieden auftr<strong>it</strong>t, muss die Aufmerksamke<strong>it</strong><br />
auf sich ziehen und zum we<strong>it</strong>ern Rückschre<strong>it</strong>en<br />
auf der Stufenle<strong>it</strong>er der verschiedenen Religionen nöthigen. Bei<br />
den Naturvölkern angelangt, wird sich die Thatsache herausstellen,<br />
dass auch in allen Naturreligionen der Dualismus zum<br />
Ausdruck kommt, und an diese Wahrnehmung knüpft sich die<br />
Aufforderung, den Grund dieser Erscheinung auf dem Gebiete<br />
der Anthropologie zu suchen, das menschliche Bewusstsein, das<br />
zur Bildung einer solchen Vorstellung angeregt wird, zu betrachten.<br />
„In allen Ze<strong>it</strong>en", sagt der Naturforscher, „hat der denkende<br />
Mensch versucht, sich Rechenschaft zu geben über den<br />
Ursprung der Dinge, um sich Aufschluss zu verschaffen über<br />
den Grund ihrer Eigentümlichke<strong>it</strong>en." 2 Sollte denn dieses<br />
Streben nur auf die Dinge ausserhalb<br />
bleiben,<br />
<strong>des</strong> Menschen beschränkt<br />
hat nicht der zum Denken erwachte Mensch seine eigene<br />
1<br />
Ze<strong>it</strong>schrift für Völkerpsychologie, II, 437.<br />
2<br />
Liebig, Chemische Briefe, S. 79.
VIII<br />
Vorwort.<br />
geistige Thätigke<strong>it</strong> und deren Producte zum Gegenstände seiner<br />
Denkoperation gemacht? Ein Versuch, die Vorstellung von<br />
einem bösen Wesen, vom Teufel, im Zusammenhang m<strong>it</strong> der<br />
Natur, den geschichtlichen Erscheinungen und deren Conjuncturen<br />
darzustellen, ist vorliegende Schrift, Sie will versuchen,<br />
die <strong>Geschichte</strong> dv> <strong>Teufels</strong> nach seinem Ursprünge und seiner<br />
we<strong>it</strong>ern Entwicklung unter culturgeschichtlichem Gesichtspunkte<br />
darzustellen, will auf die Momente hinweisen, die überhaupt<br />
zur Vorstellung von einem bösen Wesen anregen, will den religiösen<br />
Dualismus bei den Naturvölkern und den Culturvölkcrn<br />
<strong>des</strong> Alterthums nachweisen, sie will zeigen, wie innerhalb der<br />
christlichen Welt die Vorstellung vom Teufel Raum gewonnen<br />
und im Verlaufe der <strong>Geschichte</strong> eine alle Gemüther beherrschende<br />
Macht erlangt hat. Die <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> <strong>Teufels</strong> will<br />
gewisse Hauptfragen zu lösen versuchen, als: wie gelangt der<br />
Mensch überhaupt zur Vorstellung von der Existenz eines übermenschlichen<br />
bösen Wesens, oder wie bildet sich der religiöse<br />
Dualismus? wobei der Ausgangspunkt vom menschlichen Bewusstsein<br />
angegeben ist. Bei der christlich-kirchlichen Vorstellung<br />
vom Teufel handelt es sich um Factoren, welche die<br />
allgemeine Verbre<strong>it</strong>ung dieser Vorstellung gefördert haben.<br />
Daran knüpft sich die Frage: warum diese Vorstellung gerade<br />
zu einer bestimmten Ze<strong>it</strong> so mächtig geworden, welche Wandlungen<br />
sie erlebt, warum sie wieder abnimmt, welches die Ursachen<br />
der Abnahme sein mögen? u. dgl. m. Manche, und<br />
vielleicht wichtige Momente, die in die <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> <strong>Teufels</strong><br />
eingreifen, mögen dem Verfasser entgangen sein, daher seine<br />
Schrift auch nur auf die Bedeutung eines Versuchs Anspruch<br />
machen darf. Denn es ist gewiss: „im geschichtlichen Zusammenhange<br />
der Dinge schlägt ein Tr<strong>it</strong>t tausend Fäden, und<br />
wir können nur einen gleichze<strong>it</strong>ig verfolgen. Ja mv können<br />
selbst dies nicht immer, weil der gröbere sichtbare Faden sich<br />
in zahllose Fädchen verzweigt, die sich stellenweise unserm<br />
Blicke<br />
entziehen." x<br />
Wien, im März 1869.<br />
Dr. Gr. Roskoff,<br />
ordentl. Professor au der k. k. ovangel. theolog. Facultät in Wien.<br />
Fr. All». Lange, <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> Materialismus (186G), S. 282.
zw:<br />
Inhalt <strong>des</strong> ersten Ban<strong>des</strong>.<br />
Erster<br />
Abschn<strong>it</strong>t.<br />
Der religiöse<br />
Dualismus.<br />
Se<strong>it</strong>e<br />
1. Mensch und Religion gegenüber der Natur 1<br />
2. Die Gegensätzlichke<strong>it</strong> in der religiösen Anschauung der Naturvölker<br />
15<br />
3. Dualismus in den Religionen der Culturvölker 24<br />
. G2<br />
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums<br />
Aegypten 65<br />
Die Araber 82<br />
Babylonier. Chaldäer ..... 90<br />
Syrische Stämme. Phönizier 97<br />
Kleinasien 101<br />
Assyrien 103<br />
Arier : Inder-Perser 105<br />
Die Arier am Indus und Ganges 108<br />
Der Buddhismus 114<br />
Die Arier in Iran. Baktrer. Perser 116<br />
Griechen 124<br />
Römer 141<br />
Germanen 148<br />
Slawen 166<br />
Hebräer 175<br />
5. Der Satan im Alten Testament 186<br />
6. Der Teufel im Neuen Testament 199<br />
7. Der Teufel bei den Kirchenlehrern der drei ersten christlichen<br />
Jahrhunderte 212<br />
S. Der Teufel im Talmud und in der Kabbala 244<br />
9. Der Teufel vom 4. bis 6. Jahrhundert 257
X<br />
Inhalt.<br />
in. Vom 7. bis zum 13. Jahrhundert. Völlige Ausbildung lies<br />
Se<strong>it</strong>e<br />
<strong>Teufels</strong> 289<br />
11. Vom 13. Jahrhundert bis zur Bulle „Summis <strong>des</strong>iderantes" von<br />
Innocenz VIII 317<br />
Eigentliche <strong>Teufels</strong>periode 317<br />
Der Satansprocess 349<br />
12. Der Teufel auf der Bühne 359<br />
Der dumme Teufel 394<br />
Der Teufel als Lustigmacher 399<br />
,
Erster<br />
Abschn<strong>it</strong>t.<br />
Der religiöse Dualismus.<br />
1. Mensch und Religion gegenüber der Natur.<br />
Theil<br />
l'er Merfsch wird in die Natur hineingeboren, bildet einen<br />
<strong>des</strong> Weltganzen, ist verm<strong>it</strong>tels der Sinne den Eindrücken<br />
der ilm umgebenden Aussenwelt unterzogen. Er selbst als ein<br />
organisches Ganzes, das als Leben auf einer immerwährenden<br />
Selbsttätigke<strong>it</strong> beruht, ist der Natur gegenübergestellt, die<br />
ihm einen zu überwindenden Gegensatz Rietet. M<strong>it</strong> der Geburt,<br />
für das Kind m<strong>it</strong> Leiden verbunden, beginnt der Kampf<br />
m<strong>it</strong> der Aussenwelt, und hat man in diesem Sinne auch die<br />
Worte Shakspeare's deuten wollen, die er den König Lear<br />
sagen lässt: „Wenn wir geboren werden, weinen wir."<br />
Den nächsten Gegensatz unm<strong>it</strong>telbar nach der Geburt<br />
stellt die atmosphärische Luft. Dem Embryo im Mutterleibe<br />
genügte zu seiner pflanzenartigen Existenz das durch das<br />
Athmen der Mutter roth gewordene Blut; das Neugeborene<br />
hingegen muss nun die Luft schon unm<strong>it</strong>telbar einathmen, es<br />
ist m<strong>it</strong> dem Luftkreise in unm<strong>it</strong>telbaren Verkehr gesetzt und<br />
vollzieht m<strong>it</strong> dem Athmen den ersten Act der Selbsttätigke<strong>it</strong>.<br />
Durch das unm<strong>it</strong>telbare Einathmen der Luft verschafft es dem<br />
Blute eine seinem selbständigen Leben angemessene Entwickelung<br />
und wird zugleich angeregt, seine Empfindung frei zu<br />
äussern. Auf das Niesen, das sich infolge <strong>des</strong> Luftreizes in<br />
der Nasenhöhle gewöhnlich einstellt, möchten wir dem kleinen<br />
Erdenbcwohner ein ermuthigen<strong>des</strong> „Pros<strong>it</strong>" zurufen, zur glücklichen<br />
Ueberwindung all der Gegensätze, durch die er zur<br />
freien Selbständigke<strong>it</strong> gelangen soll, die ja seine Bestimmung<br />
ist.<br />
Roskoff, <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> <strong>Teufels</strong>. I.<br />
X
2 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Den nächsten Gegensatz, den das Kind zu überwinden<br />
hat, findet es in der Nahrung. Solange es diese an der<br />
Muttermilch hat, übernimmt die Mutterliebe das Geschäft der<br />
Verm<strong>it</strong>telung, deren der Säugling bedarf; m<strong>it</strong> dem Hervorbrechen<br />
der Zähne gibt aber die Natur den Wink, dass der<br />
kleine, werdende Mensch zur Selbständigke<strong>it</strong> sich zu entwickeln<br />
bestimmt ist. Nach der Entwöhnung gewöhnt sich das<br />
Kind, selbstthätig seine Nahrung unm<strong>it</strong>telbar zu sich zu nehmen<br />
und in sein Fleisch und Blut zu verwandeln, d. b. den<br />
Gegensatz zu überwinden, um das Leben selbstthätig zu<br />
erhalten.<br />
Wie das Kind im Kauen den Stoff überwindet, so<br />
kommt es dahin, im Gehen den Raum zu beherrschen und<br />
später im Sprechen die Vorstellung aus sich herauszubringen,<br />
wodurch es seine Innerlichke<strong>it</strong> freimacht, wie es im Kauen<br />
und Gehen von der Aussenwe<strong>it</strong> sich befre<strong>it</strong>, indem es dieselbe<br />
beherrscht. „Alles Leben kämpft gegen die Schranken von<br />
Raum und Ze<strong>it</strong>." 1 So greift der Mensch in die Natur ein,<br />
indem er sich seine Nahrung daraus holt; indem er sie<br />
vernichtend seiner .Leiblichke<strong>it</strong> assimilirt, übt aber auch die<br />
Natur eine Wh'kung auf ihn aus. Im we<strong>it</strong>ern Verlaufe greift<br />
er in die Natur ein durch die Arbe<strong>it</strong>, indem er den Boden<br />
cultivirt, das in der Natur Vorgefundene umbildet, wodurch<br />
er selbst wieder gebildet wird.<br />
Es ist eine ununterbrochene Reihe von Wechselwirkungen<br />
im grossen und kleinen und beider aufeinander.<br />
Desgleichen findet auch im leiblichen Organismus <strong>des</strong><br />
Menschen statt. Das Blut, welches man „die Mutter <strong>des</strong><br />
ganzen Lebens" genannt hat, ist Ursache, dass der Magensaft<br />
sich bildet, und dieser ist die Ursache der Blutbildung,<br />
und wie je<strong>des</strong> Organ Blut enthält, so ist dieses die Substanz<br />
aller Organe. Das Blut dient zur Erhaltung und Belebung<br />
der Organe, und diese erfüllen ihren Zweck in der Erhaltung<br />
<strong>des</strong> Bluts in seiner lebendigen Form. Ohne die Thätigke<strong>it</strong><br />
der Lunge kann das Gehirn nicht thätig sein und ohne <strong>des</strong>sen<br />
Einfluss wäre die Bewegung der Lunge unmöglich.<br />
Indem der Mensch lebt, überwindet er den Gegensatz,<br />
1<br />
Burdach, Der Mensch nach den verschiedeneu Se<strong>it</strong>en seiner Natur,<br />
neue Aufl. von 1854, S. 631.
1. Mensch und Religion gegenüber der Natur. 3<br />
den er an sich trägt, denn wo Leben ist, da ist Gegensätzlichke<strong>it</strong>,<br />
die ausgeglichen werden muss. Das Leben bethätigt<br />
sich in der Ausgleichung <strong>des</strong> Gegensatzes. Der Lebensprocess<br />
kann daher füglich m<strong>it</strong> dem Ausgleichungsprocesse zweier<br />
chemisch gegeneinander gespannter Substanzen verglichen<br />
werden *, denn vom ersten Augenblick <strong>des</strong> Lebens sucht das<br />
Individuum die Zweihe<strong>it</strong> seines Wesens , die Innerlichke<strong>it</strong> , die<br />
Psyche, m<strong>it</strong> der Aeusserlichke<strong>it</strong> oder Leiblichke<strong>it</strong> auszugleichen.<br />
In der Ausgleichung dieses Unterschieds von Leib und Seele<br />
bethätigt sich das individuelle Leben. Es ist Naturgesetz , dass<br />
alles, was den Leib afficirt, in die Seele hineinversetzt wird und<br />
umgekehrt, dass die innerlichen Zustände verleiblicht, d. h.<br />
äusserlich zur Erscheinung gebracht werden. Das menschliche<br />
Individuum lebt sonach im steten wechselwirkenden Verkehr<br />
zwischen Innerm und Aeusserm und umgekehrt, und sein<br />
Leben ist nur so lange ein gesun<strong>des</strong>, als sich diese Gegensätzlichke<strong>it</strong><br />
zur Einhe<strong>it</strong> zusammenfasst.<br />
Durch die Sinne, verm<strong>it</strong>telt durch die organische Thätigke<strong>it</strong><br />
<strong>des</strong> Nervensystems, tr<strong>it</strong>t der Mensch in Verkehr m<strong>it</strong> der<br />
Aussenwelt. Von den verschiedenen Sinnesorganen, in welchen<br />
die Nerven ihre peripherischen Enden haben , le<strong>it</strong>en diese die<br />
Eindrücke, die sie an jenen empfangen haben, im Centralorgan<br />
zusammen und gelangen zu gegense<strong>it</strong>iger Durchdrino'unff.<br />
Die Mannigfaltigke<strong>it</strong> der Lebensthätio-ke<strong>it</strong>en zur Gemeinsamke<strong>it</strong><br />
zusammensummirt regt sich als Innerlichke<strong>it</strong> und<br />
Einhe<strong>it</strong>, als Gemeingefühl, worin das Leben sich selbst<br />
inne wird, sich selbst findet. Dieses dunkle Gefühl <strong>des</strong> Daseins<br />
wird zur Empfindung, wo der eigentliche Leibeszustand<br />
pereipirt wird. Die Entwickelung zur Klarhe<strong>it</strong> wird<br />
angeregt durch den Gegensatz, wodurch das Leben sich irgendwie<br />
gehemmt oder gefördert fühlt, sodass der besondere<br />
Lebenszustand durch äussere Verhältnisse bestimmt empfunden<br />
wird. Ist der Gegensatz derart, dass die organische Thätigke<strong>it</strong><br />
<strong>des</strong> Lebens zur Kraftäusserung aufgefordert und jener<br />
dadurch überwunden wird, so ist die Empfindung eine angenehme,<br />
welche bei wachsender Regung zur Lust sich<br />
steigert; oder das Gemeingefühl bleibt wegen Mangels an<br />
Reiz oder durch übermässige Reizung, welche die Thätigke<strong>it</strong><br />
Erdmann, Psychologische Briefe, S. 198.
4 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
der Organe zu stören droht, unbefriedigt, und die Empfindung-<br />
ist unangenehm, die bei grösserer Stärke zum<br />
Schmerz wird.<br />
Nach dem Naturgesetze bringt jede Einwirkuno: eine<br />
Gegenwirkung hervor, weil jede angeregte Kraft sich zu äussern<br />
strebt. Die Empfindung, durch einen äussern Reiz angeregt,<br />
erweckt den Trieb, der sich der willkürlichen Muskeln<br />
bedient, um das Leben zu äussern. Die innere Thätigke<strong>it</strong><br />
im Gehirnleben tr<strong>it</strong>t durch den Trieb m<strong>it</strong> den Muskeln in<br />
Berührung, die innere Bewegung wird zur äussern, die Gegensätzlichke<strong>it</strong><br />
<strong>des</strong> Aeussern und Innern wird ausgeglichen. Die<br />
willkürlichen<br />
Muskelbewegungen entsprechen den Sinnesempfindungen<br />
, indem ein Gehirnreiz , auf die peripherischen<br />
Theile <strong>des</strong> Nervensystems fortgele<strong>it</strong>et, durch die Muskelthätigke<strong>it</strong><br />
eine Veränderung am Leibe hervorbringt. In den unwillkürlichen<br />
Bewegungen kommen Modifikationen <strong>des</strong> Gemeingefühls<br />
zum Ausdruck.<br />
Das Innewerden der Aussenwelt durch die Sinne ist bedingt<br />
durch das Innewerden der eigenen Leiblichke<strong>it</strong>, denn<br />
ohne Gemeingefühl <strong>des</strong> eigenen Daseins ist die Empfindung<br />
<strong>des</strong> fremden Daseins nicht denkbar. Die äussern Gegenstände<br />
wirken auf die Sinnesorgane und durch die Nerven auf das<br />
Gehirn, welches dadurch in entsprechender Weise bestimmt<br />
wird.<br />
In der anorganischen Natur zeigt sich die Wechselbeziehung<br />
zu einem fremden Körper zunächst in der Ausgleichung<br />
der Wärmeverhältnisse; im Pflanzenleben bethätigt sich der<br />
Ausgleichungsprocess in Modifikationen der Zellenernährung;<br />
im animalischen Leben wird der Gegensatz zur Aussenwelt<br />
durch das Nervensystem verm<strong>it</strong>telt und das Leben durch die<br />
willkürliche Bewei> - un
1. Mensch und Religion gegenüber der Natur. 5<br />
zeichnende Unterschied zwischen Mensch und Thier ist also<br />
das Bewusstsein und Selbstbe wusstsein, wom<strong>it</strong> die<br />
Grenz- und Scheidelinie gezogen ist, von der aus die speeifisch<br />
unterschiedene Bedeutung beginnt.<br />
Auch das Thier wird zwar<br />
die Eindrücke der Aussenwelt durch die Sinnesorgane inne,<br />
es hat Empfindung und äussert sein Empfundenes durch die<br />
Muskelbewegung, es nährt sich vom Stoffe, den ihm die<br />
Natur bietet, und assimilirt denselben seiner Leiblichke<strong>it</strong>; aber<br />
während das Thier im Frasse und überhaupt in der Aeusserlichke<strong>it</strong><br />
aufgeht, kommt der Mensch dahin, sich bewusst zu<br />
werden: dass die Aussenwelt, von der er seine Nahrung und<br />
Sinneseindrücke erhält, ein von ihm Verschiedenes ist; er<br />
kommt zum Bewusstsein: dass sein eigenes Dasein und<br />
seine Umgebung als eine ihm fremde Aussenwelt im Gegensatz<br />
stehen. Ja er Avird seiner eigenen physischen Thätigke<strong>it</strong>en<br />
inne, unterscheidet sie vom leiblichen Dasein <strong>des</strong><br />
Organismus und stellt im Bewusstsein seine eigene Empfindung<br />
sich selbst gegenüber, d. h. er kommt zum Selbstbewusstsein.<br />
Dadurch wird er erst eigentlich Mensch, dass<br />
er zum selbstbewussten Ich gelangt, hierm<strong>it</strong> beginnt er ein<br />
vom materiellen Leben unterschiedenes geistiges Leben;<br />
insofern aber das Material, das der menschliche Geist umbildet,<br />
Leiblichke<strong>it</strong> ist und das geistige Leben wol selbstthätio-,<br />
aber nicht eigenmächtig ist: so muss die Einhe<strong>it</strong> von<br />
Sinnlichem und Geistigem die eigentliche Sphäre <strong>des</strong><br />
Menschen ausmachen.<br />
In der Periode, die dem Selbstbewusstsein vorhergeht,<br />
spricht das Kind von sich in der dr<strong>it</strong>ten Person , es lebt noch<br />
im Dämmerlichte, bis ihm die Sonne <strong>des</strong> Bewusst- und Selbstbewusstseins<br />
aufgeht, von wo an es sich m<strong>it</strong> Ich bezeichnet.<br />
Wenn Fichte den Tag, wo er sein Kind das erste Ich sagen<br />
hörte, feierlich begangen haben soll, so beweist dies eben<br />
die Bedeutsamke<strong>it</strong> <strong>des</strong> Moments, den der grosse Philosoph<br />
zu würdigen wusste.<br />
Das Thier, welehes keine höhere Aufgabe hat als zu leben,<br />
sein inneres Empfindungsleben durch Bewegung zu äussern,<br />
seine Gattung durch Fortpflanzung zu erhalten, erfüllt seine<br />
Bestimmung m<strong>it</strong> dem natürlichen Ende, dem Tode. Der<br />
Mensch fängt sein speeifisch -menschliches Leben erst an, wo<br />
er sich seiner selbst bewusst wird. Aber schon als Säugling,
(3<br />
Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
<strong>des</strong>sen nächste Aufgabe zwar auch im Lebendigsein gelost<br />
wird, steht er m<strong>it</strong> dem Thiere doch nicht auf gleicher Linie,<br />
weil er die Anlage zur We<strong>it</strong>erentwickelung in sich trägt, die<br />
dem Thiere versagt ist. Den schlagenden Beweis hiervon<br />
liefert das Kind, wenn es zu sprechen anfängt, wom<strong>it</strong> der<br />
selbstbewusst werdende Geist sich zum Ausdruck bringt und<br />
der Gegensatz von Innerlichke<strong>it</strong> und Aeusserlichke<strong>it</strong> die ausgleichende<br />
M<strong>it</strong>te findet.<br />
Das Höchste, wozu es das animalische Leben zu bringen<br />
vermag, ist der Gattungsprocess ; der Mensch hingegen bringt<br />
es zum Bewusst- und Selbstbewusstsein und infolge dieses<br />
zur Sprache, Arbe<strong>it</strong>, <strong>Geschichte</strong>, Religion, zum begrifflichen<br />
Denken, zur Wissenschaft.<br />
Es ist eine unzulängliche Defin<strong>it</strong>ion , welche den Menschen<br />
nur als entwickeltes Thier hinstellt, da er vom Thiere specifisch<br />
verschieden, daher auch eine andere Bestimmung hat.<br />
Der Keim, aus dem der Mensch hervorgeht, ist wesentlich<br />
verschieden von dem eines Naturproducts. Vergleichungspunkte<br />
sind nur dadurch gegeben, dass im Systeme <strong>des</strong> organischen<br />
Menschenlebens alle andern Systeme enthalten und<br />
ineinandenjesetzt zur Erreichung der menschlichen Bestimmung<br />
dienen und der Physiolog daher ein vegetabiles und animales<br />
Leben im Menschen vertreten findet, wie im menschlichen<br />
Organismus auch Substanzen der anorganischen Natur nothwendig<br />
vorhanden sein müssen.<br />
Durch die Aufmerksamke<strong>it</strong>, in welcher die Seelenthätigke<strong>it</strong><br />
nach den durch die Aussenwelt hervorgebrachten<br />
Eindrücken sich richtet, macht der Mensch Wahrnehmungen,<br />
deren Einzelhe<strong>it</strong>en er zu einem Ganzen vereinend zur<br />
Vorstellung bildet, indem er verm<strong>it</strong>tels <strong>des</strong> Sinnen- und<br />
Hirnlebens das von aussen gewonnene Material in eine geistige<br />
Thatsache umsetzt, das Aeussere im Innern abdrückt.<br />
Alles, was er inne geworden, wird durch das Gedächtniss<br />
innerlich fortwirkend aufbewahrt, und so fasst er eine Reihe<br />
von Wahrnehmungen, die er an verschiedenen Orten und zu<br />
verschiedenen Ze<strong>it</strong>en gewonnen hat, einhe<strong>it</strong>lich zusammen in<br />
der Erfahrung.<br />
Dasselbe Gesetz, wonach das animalische, unbewusste<br />
Leben, die Empfindung in der Muskelbewegung zum Ausdruck<br />
kommt, drängt den bewussten Geist, sich zu äussern durch
1. Mensch und Religion gegenüber der Natur. 7<br />
die Sprache. Nach den Beobachtungen der Physiologen<br />
wird infolge innerer Bewegungen der Kehlkopf leicht afficirt,<br />
wom<strong>it</strong> eine specielle Beziehung zwischen beiden, gleich der<br />
zwischen dem Vagus und den Herzbewegungen, der Sphäre<br />
<strong>des</strong> kleinen Gehirns und den Bewegungsmuskeln der obern<br />
Extrem<strong>it</strong>äten, angedeutet wäre. Dies kann aber erst die lautliche<br />
Aeusserung der aufgenommenen Eindrücke erklären, allerdings<br />
als Vorbere<strong>it</strong>ung zum ausgesprochenen Wort. Das<br />
Thier hat eine Stimme, durch die es sein empfinden<strong>des</strong> Leben<br />
offenbart; es bleibt -aber nur beim Laute, wodurch es das unbewusste<br />
Leben äussert, und bringt es nimmermehr zum<br />
Worte, dem Ausdruck selbstbewussten Geistes, weil ihm<br />
eben das Selbstbewusstsein nicht aufgeht. Es ist daher treffend,<br />
wenn Lotze irgendwo den Gesang der Vögel ein „willenloses<br />
und absichtsloses Springen m<strong>it</strong> den Stimmbändern"<br />
nennt, denn es ist eben nur eine Muskelbewegung, durch die<br />
der Laut hervorgebracht wird. Die Sprache ist Ausdruck<br />
<strong>des</strong> selbstbewussten Geistes, der Mensch spricht im Worte<br />
nicht nur seine Empfindung, sein Gefühl aus, sondern auch<br />
seine Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gedanken. Eben<br />
weil er Wahrnehmungen macht, Vorstellungen bildet und Gedanken<br />
erzeugt, spricht der Mensch. Er erfindet die Sprache<br />
nicht, so wenig als er sein Dasein erfunden hat, sie ist ein<br />
Erzeugniss seines Geistes, <strong>des</strong>sen Wesen in der Sprache laut<br />
wird, wobei die Sprach Werkzeuge entgegenkommend in Bewegung<br />
gesetzt werden. Ohne Zunge, Zähne, Gaumen,<br />
Stimmr<strong>it</strong>ze könnte der Mensch allerdings keine Vorstellung<br />
und keinen Gedanken sprachlich darstellen; er spricht aber<br />
nicht, weil er diese hat, sonst würde der Hund und das<br />
Schwein auch eine Sprache haben. Das Grunzen, Bellen,<br />
Miauen u. dgl. ist nur der elementare , unartikulirte Ausdruck<br />
von Empfindungen, aber von keinem Gedanken, zu welchem<br />
nur der Mensch die Empfindung zu verarbe<strong>it</strong>en vermag. „Die<br />
Sprache befre<strong>it</strong> den Menschen von der Unbestimmthe<strong>it</strong> <strong>des</strong><br />
Eühlens und Anschauens und macht ihm den Inhalt seiner<br />
Intelligenz zum Eigenthum." x In der Sprache zeigt sich der<br />
bildende Trieb und eine Art Herrschaft über den Gegenstand,<br />
der, von aussen nach innen angeregt, zur Vorstellung<br />
1<br />
Rosenkranz, Psychologie, 2. Aufl., S. 389.
:i<br />
Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismu<br />
6"<br />
verarbe<strong>it</strong>et, als Wort wieder ausgesprochen wird. „Durch<br />
Benennung wird das Aeussere wie eine Insel erobert und<br />
vorher dazu gemacht, wie durch Namengeben Thiere bezähmt<br />
werden" l ,<br />
und man erinnert sich hierbei der trefflichen Darstellung<br />
in der Genesis, wonach die Herrschaft <strong>des</strong> Menschen<br />
über die Thiere, ausser deren Genüsse, dam<strong>it</strong> bezeichnet<br />
wird, dass er sie benennen soll. Beim Kinde zeigt sich die<br />
Herrschaft <strong>des</strong> Geistes in den „kühnen" und „doch richtigen"<br />
Wortbildungen , deren Jean Paul 2 mehrere anführt , die er von<br />
drei- und vierjährigen Kindern gehört hat, als:<br />
„der Bierfässer,<br />
Sa<strong>it</strong>er, Fläscher" (der Verfertiger von Fässern, Sa<strong>it</strong>en, Flaschen),<br />
„die Luftmaus" für Fledermaus, „die Musik geigt, das<br />
Lieht ausscheren (von der Lichtsehere) , dreschflegeln, drescheln;<br />
ich bin der Durchsehmann (hinter dem Fernrohr<br />
stehend), ich wollte, ich wäre als Pfeffernüsschenesser angestellt,<br />
oder als Pfeffernüssler; am Ende werde ich gar zu<br />
klüger; er hat mich vom Stuhle heruntergespasst; sieh<br />
wie Eins (auf der Uhr) es schon ist " u. s. f. Aehnlich nennen<br />
die uordamerikanischen Indianer ihnen fremde Gegenstände<br />
m<strong>it</strong> selbstgebildeten Namen, wie „Lochmacher" statt Bohrer<br />
u. dgl. 3<br />
Wie das Bewusst- und Selbstbewusstsein von minderer<br />
Klarhe<strong>it</strong> zur festern Bestimmthe<strong>it</strong> fortschre<strong>it</strong>et, so lässt sich<br />
bei Kindern auch die allmähliche Entwickelung der Sprache<br />
beobachten. Aus den unbestimmten Vocallauten entstehen erst<br />
reine Vocale, zu denen wieder zunächst stumpfe Consonanten<br />
hinzutreten und undeutliche Silben bilden, bis endlich die<br />
Vocale zur Klarhe<strong>it</strong> kommen, die M<strong>it</strong>lauter ihre Schärfe erhalten<br />
und die Silben das deutliche Gepräge bekommen. Ein<br />
ähnliches Fortschre<strong>it</strong>en zeigt sich auch im Gebrauche der<br />
Wortformen, indem das Kind aus dem Infin<strong>it</strong>iv und der dr<strong>it</strong>ten<br />
Person allmählich zur ersten Person, zur Conjugation und<br />
Declination übergeht und endlich die Syntax in die Sprache<br />
aufnimmt.<br />
Von rdeichorossem Interesse ist in dieser Beziehung die<br />
Verfährungs weise der Naturvölker, die in der Kindhe<strong>it</strong> der<br />
1<br />
Jean Paul, Levana, Ausgabe von 1814, S. 420.<br />
- a. a. 0., S. 423.<br />
Bastian, Der Mensch in der <strong>Geschichte</strong>, I, 431.
1. Mensch und Religion gegenüber der Natur. 9<br />
menschlichen Entwickelungsgeschichte stehen geblieben sind.<br />
Wie die Kinder sprechen die brasilianischen Indianer immer<br />
im Infin<strong>it</strong>iv, meist ohne Fürwort oder Substantiv. Der Unzulänglichke<strong>it</strong><br />
solcher Sprache müssen dann gewisse Zeichen<br />
m<strong>it</strong> der Hand, dem Munde oder andere Geberden zum verständlichen<br />
Ausdruck verhelfen. „Will der Indianer z. B.<br />
sagen: ich will in den Wald gehen, so spricht er «Waldgehen<br />
» und zeigt dabei m<strong>it</strong> rüsselartig vorgeschobenem Munde<br />
auf die Gegend, die er vermeint." x „Die Grönländer, besonders<br />
die Weiber," begle<strong>it</strong>en manche Worte nicht nur m<strong>it</strong><br />
einem besondern Accent, sondern auch m<strong>it</strong> Mienen und Augenwinken,<br />
sodass, wer dieselben nicht gut wahrnimmt, <strong>des</strong> Sinnes<br />
leicht verfehlt. Wenn sie z. B. etwas m<strong>it</strong> Wohlgefallen bejahen,<br />
schlürfen sie die Luft durch die Kehle hinunter m<strong>it</strong> einem gewissen<br />
Laut. Wenn sie etwas m<strong>it</strong> Verachtung und Abscheu verneinen,<br />
rümpfen sie die Nase und geben einen feinen Laut<br />
durch dieselbe von sich, wie sie es auch durch Geberden errathen<br />
lassen, wenn sie nicht aufgeräumt sind." 2<br />
Wie die selbstbewusste Thätigke<strong>it</strong>, das Denken im we<strong>it</strong>ern<br />
Sinne, den ersten Ausgangspunkt von sinnlichen Eindrücken<br />
erhält, so wählt auch die Sprache zunächst solche<br />
Laute, die auf das Ohr einen entsprechenden Eindruck hervorbringen.<br />
3 Es sind dies die sogenannten Onomatopoetica,<br />
wie sie jede Sprache hat, so etwa in unserm „starr" der Eindruck<br />
<strong>des</strong> Widerstandskräftigen, in „Wind" das Bewegende,<br />
in „Wirr" das Durcheinandergehende kaum unbemerkt bleiben<br />
kann, u. dgl. m.<br />
Solange das Denken nur in sinnlichen Vorstellungen geschieht<br />
und die Ideen Gestalten annehmen, kann auch nur<br />
das Sinnlichwahrnehmbare seinen Ausdruck finden, wogegen<br />
das Begriffliche durch Umschreibung aufgenommen und ausgedrückt<br />
wird. Dadurch erhalten diese Sprechweisen einen<br />
überfliess*enden Pomp und malerischen Glanz , wovon Bastian 4<br />
aus der Sprache der Indianer treffende Beispiele anführt.<br />
In dem aller abstracten Begriffe entbehrenden Materia-<br />
1<br />
Spix und Martius bei Bastian, I, 427.<br />
4<br />
Ebcndas., S. 430.<br />
3<br />
Vgl. W. v. Humboldt, Ueber die Kawisp räche, S. 94 fg.<br />
4<br />
1 , 42G.
1() Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
lismus der amerikanischen Indianer wird „Glück" bezeichnet<br />
durch „Sonnenglanz", „Friede" durch „Waldbaumpflege"<br />
oder „eine Stre<strong>it</strong>axt begraben", „Leidtragende trösten"<br />
durch „das Grab der Verstorbenen bedecken". Selbst fremde<br />
A\ örter kann er nur durch Umschreibungen aufnehmen : Kerze<br />
wird übersetzt als Wassa kon-a-cm jegun von wassan (heller<br />
Gegenstand), kon-a (Brand), jegun (Werkzeug); Lichtputze<br />
durch Kisehke-kud-jegun von kischk (abschneiden), ked oder<br />
sknt (Feuer) und jegun (Werkzeug).<br />
Wie in der Sprache die höhere Lebenspotenz <strong>des</strong> Selbstbewusstseins<br />
offenbar wird, jene aber wieder auf die Entwicklung<br />
<strong>des</strong> Menschen zurückwirkt, so zeigt sich die Herrschaft<br />
<strong>des</strong> selbstbewussten Wesens besonders merklich in der<br />
Arbe<strong>it</strong>. Die Bedeutsamke<strong>it</strong> der Arbe<strong>it</strong> liegt in der umbildenden<br />
Einwirkung auf den Gegenstund, zunächst auf die<br />
Natur, ferner in der bildenden Rückwirkung auf den Arbe<strong>it</strong>enden.<br />
Der Mensch arbe<strong>it</strong>et, indem er wirkt und selbst dadurch<br />
eine Rückwirkung empfängt, indem er geistig umbildet<br />
und dadurch selbst geistig gebildet wird. Arbe<strong>it</strong>en kann daher<br />
nur der Mensch als geistiges, selbstbewusstes Wesen. Wenn<br />
er den Gegensatz, in welchem er der Natur gegenüber sich<br />
befindet, dadurch überwunden und ausgeglichen hat. dass er<br />
ihre Producte vernichtend verzehrt und seiner Leiblichke<strong>it</strong><br />
assimilirt, bietet er hierm<strong>it</strong> ein Analogon zum Thiere, welches<br />
auch sein Futter in Fleisch und Blut verwandelt; indem aber<br />
der Mensch das Feld bearbe<strong>it</strong>et, die Thierhaut zur Kleidung<br />
verarbe<strong>it</strong>et, bildet er die Natur um, und die Folge ist eine<br />
rückwirkende, sodass m<strong>it</strong> der Bearbe<strong>it</strong>ung der Natur die Bildung<br />
<strong>des</strong> Menschen Hand in Hand geht. Das Thier arbe<strong>it</strong>et<br />
in diesem Sinne nie, weil es nie zum Selbstbewusstsein kommt,<br />
und wenn der Vogel sein Nest baut, die Biene Honig und<br />
Wachs sammelt, so ist dies eine emsige Geschäftigke<strong>it</strong>, in<br />
welcher das rückwirkende Moment der Bildung,<br />
das die Arbe<strong>it</strong><br />
kennzeichnet, mangelt. 1 Ist es doch zum Axiom erhoben,<br />
1<br />
„Die Thiere bauen sich bisweilen recht künstliche Wohnungen",<br />
sagt treffend Lange (<strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> Materialismus, S. 416), „aber wir<br />
haben noch nicht gesehen, dass sie sich zur Herstellung derselben künstlicher<br />
Werkzeuge bedienen" — „eben die Ausdauer, welche auf die Fertigung<br />
eines Instruments verwandt wird, das sich nur massig über die
1. Mensch und Religion gegenüber der Natur. 11<br />
dass m<strong>it</strong> dem Ackerbau, also m<strong>it</strong> der Bearbe<strong>it</strong>ung der Natur,<br />
die Cultur der Menschhe<strong>it</strong> ihren Anfang nimmt. „Nicht das<br />
mythische Paradies oder goldene Ze<strong>it</strong>alter, sondern die Arbe<strong>it</strong><br />
ist der Anfang der Culturgeschichte." * In der Arbe<strong>it</strong><br />
selbst liegt daher ein Fortschre<strong>it</strong>en, denn wenn der rohe Mensch<br />
arbe<strong>it</strong>et, weil ihn die Noth zwingt, weil er muss, so arbe<strong>it</strong>et<br />
der Gebildete aus eigener freier Bestimmung, weil er will.<br />
Durch die Arbe<strong>it</strong> drückt der Mensch dem Gegenstande, den er<br />
bearbe<strong>it</strong>et, das Gepräge seines eigenen geistigen Wesens auf, er<br />
stempelt ihn m<strong>it</strong> seinem Willen und erklärt ihn hierm<strong>it</strong> für<br />
sein Eigenthum. Jäger- und Nomadenstämme bilden sich<br />
nicht, weil sie nicht zur Umbildung der Natur, zur Arbe<strong>it</strong><br />
kommen, und obschon sie nicht gänzlich im reinen Naturzustande<br />
leben gleich dem Thiere, da es überhaupt gar keinen<br />
Menschenstamm gibt, bei dem nicht z. B. der Gebrauch <strong>des</strong><br />
Feuers sich vorfände 2 , oder der Brauch sich zu schmücken,<br />
wenn auch in roher Weise, angetroffen würde, so bringen sie<br />
es doch nicht zur ständigen Arbe<strong>it</strong>, zu keinen festen S<strong>it</strong>zen<br />
und daher auch nicht zur Total<strong>it</strong>ät eines Volks und Staats.<br />
Da m<strong>it</strong> der Arbe<strong>it</strong> die Ges<strong>it</strong>tung und Bildung ihren Anfang<br />
nimmt, ist jene die Bedingung der <strong>Geschichte</strong>. Sprache<br />
und Arbe<strong>it</strong> als Aeusserungen <strong>des</strong> selbstbewussten Geistes<br />
sind nothwendige Voraussetzungen der <strong>Geschichte</strong>. Es gibt<br />
keinen wilden Stamm, der keine Sprache hätte, der seine innern<br />
Zustände blos durch unartikulirte Laute oder durch blosse<br />
Muskelbewegung als Geberden zu erkennen gäbe ; aber ebenso<br />
hat kein Volksstamm eine <strong>Geschichte</strong>, in <strong>des</strong>sen Leben die<br />
Arbe<strong>it</strong> m<strong>it</strong> der erforderlichen Sesshaftigke<strong>it</strong> fehlte. Der Beduinenaraber<br />
steht <strong>des</strong>halb auf derselben Stufe, die er zu<br />
Abraham's Ze<strong>it</strong> eingenommen, er hat keine <strong>Geschichte</strong>, weil<br />
sein Leben der bildenden Arbe<strong>it</strong> ermangelt, Man kann sagen:<br />
die Arbe<strong>it</strong> ist das Bildungsm<strong>it</strong>tel <strong>des</strong> Menschen und die Sprache<br />
Leistungen eines natürlichen Steins oder Steinspl<strong>it</strong>ters erhebt, zeigt eine<br />
Fähigke<strong>it</strong>, von den unm<strong>it</strong>telbaren Bedürfnissen und Genüssen <strong>des</strong> Lebens<br />
zu abstrahiren und die Aufmerksamke<strong>it</strong> um <strong>des</strong> Zweckes willen ganz auf<br />
das M<strong>it</strong>tel zu wenden, welche wir bei Thieren nicht leicht finden werden."<br />
1<br />
Wachsmuth, Allgemeine Culturgeschichte, I, 7.<br />
2<br />
Wie Linck, Urwelt, I, 311, die widersprechenden Angaben vollständig<br />
widerlegt hat.
] 2 Erster Abschn<strong>it</strong>t : Der<br />
religiöse Dualismus.<br />
das Fortpflanzungsm<strong>it</strong>tel der Bildung. Beide, Factoren sind<br />
unentbehrlich in der <strong>Geschichte</strong> der Menschhe<strong>it</strong>, und diese ist<br />
undenkbar ohne jene. Was die mündliche Trad<strong>it</strong>ion in der<br />
Vorhalle der <strong>Geschichte</strong> durch die Fortpflanzung der Mythenund<br />
Sagenkreise bewerkstelligt, das vollzieht m<strong>it</strong> dem Beginn<br />
der wirklichen <strong>Geschichte</strong> die durch die Schrift oder andere<br />
Denkmäler fixirte Sprache. Der einzelne bringt durch das<br />
Wort sein inneres Leben zum Ausdruck und zur M<strong>it</strong>theilung<br />
für den andern, und die Schätze der Bildung eines Volks<br />
kommen dem andern m<strong>it</strong>tels der Sprache zugute ; die Cultur<br />
längstvergangener Reiche, durch die Sprache aufgespeichert,<br />
wird von der Gegenwart aufgenommen und die Sprache dient<br />
der Zukunft als Hebel, der sie auf die Schultern der Vergangenhe<strong>it</strong><br />
und Gegenwart heben wird. Die Sprache ist<br />
das Gebinde, worin die m<strong>it</strong>tels Arbe<strong>it</strong> erzielten Früchte der<br />
Cultur von einem Geschlechte dem andern, von einem Volke<br />
dem andern, von einer geschichtlichen Periode der andern<br />
überreicht werden. Sprache und Arbe<strong>it</strong> haben aber ihren<br />
Grund im Menschen als bewusstem und selbstbewusstem<br />
Wesen, d. h. im menschlichen Geiste, und hierin ist also auch<br />
der Grund, dass das Menschengeschlecht eine <strong>Geschichte</strong><br />
hat. Die Natur und ihre Producte haben diese nicht in dem<br />
Sinne, dass ein und dasselbe Geschöpf, wie der Mensch,<br />
durch Entwicklung seiner Anlage sich ändert. Der Flieder-<br />
Strauch treibt dieselben Blüten und bringt dieselben schwarzen<br />
Beeren wie vor 3000 Jahren, und die Ameise ist heute noch<br />
ebenso geschäftig wie ehedem, der Orang-Utang sieht dein<br />
Menschen zwar ähnlich, ist ihm aber noch immer nicht gleich<br />
geworden, weil er seiner ursprünglichen Anlage nach verschieden<br />
ist; aber der sprechende und arbe<strong>it</strong>ende Mensch von<br />
heute fühlt und weiss sich anders, hat andere Bedürfnisse<br />
und andere Anschauungen als der vor 3000 Jahren, und obschon<br />
das Gesetz, nach dem er sich entwickelt, ein unwandelbares<br />
ist, so sind ihm die Culturen längstvergangener Ze<strong>it</strong>en<br />
zugefallen, die er kraft dieses unwandelbaren Gesetzes sich<br />
eigen gemacht und in sich verarbe<strong>it</strong>et hat.<br />
Im Selbstbewusstsein <strong>des</strong> Menschen liegt<br />
aber der Grund<br />
nicht nur, dass der Mensch eine Sprache hat, dass er durch<br />
Arbe<strong>it</strong> seiner Bestimmung sich nähert, was schon in der<br />
biblischen Schöpfungsgeschichte tiefsinnig angedeutet wird,
1. Mensch und Religion gegenüber der Natur. 13<br />
dass er ferner eine <strong>Geschichte</strong> hat, in der er sein Wesen<br />
als ein sich entwickeln<strong>des</strong> darlegt; im selbstbewnssten Geiste<br />
liegt auch der Grund, dass der Mensch Religion hat. Der<br />
Consensus populorum hat zwar als Beweis für das Dasein<br />
Gottes nicht m<strong>it</strong> Unrecht seine Kraft verloren und ist bei den<br />
meisten Theologen und Philosophen ausser Geltung gesetzt;<br />
er birgt aber dennoch in gewisser Beziehung ein Körnchen<br />
Wahrhe<strong>it</strong> in sich: dass es keinen noch so rohen Völkerstamm<br />
gibt, bei dem nicht. Spuren von religiösen Vorstellungen anzutreffen<br />
wären. „An Götter im Sinne civilisirter Völker, an<br />
höhere Wesen, die, m<strong>it</strong> übermenschlicher Macht und Einsicht<br />
begabt, die Dinge dieser Welt nach ihrem Willen lenken,<br />
glauben allerdings durchaus nicht alle Völker; versteht man<br />
aber unter religiösem Glauben nur die Ueberzeugung von<br />
dem Dasein meist unsichtbarer geheimnissvoller Mächte, deren<br />
Wille überall und auf die mannichfachste Weise in den Lauf<br />
der Natur einzugreifen vermag, sodass der Mensch und sein<br />
Schicksal von ihrer Gunst äusserst abhängig ist, so dürfen<br />
wir behaupten, dass je<strong>des</strong> Volk eine gewisse Religion bes<strong>it</strong>ze.<br />
Es ist nicht zu leugnen, dass bei den Völkern der niedrigsten<br />
Bildungsstufe diese Religion im Grunde nichts ist als ein<br />
meist sehr ausgedehnter Gespensterglaube, aber man wird sich<br />
hüten müssen, das religiöse Element, welches unzweifelhaft<br />
darin enthalten ist, zu verkennen." 1 „Der Mensch sieht in<br />
den natürlichen sinnlichen Dingen durchgängig mehr und etwas<br />
anderes als blos sinnliche Eigenschaften und materielle Kräfte<br />
er sieht in ihnen übernatürliche Mächte und einen übernatürlichen<br />
Zusammenhang, er vergeistert die Natur."' 2 Diese Erscheinung<br />
findet ihre Erklärung darin, dass der Mensch selbst<br />
auf der niedersten Culturstufe zum Bewusst- und Selbstbewusstsein<br />
gelangt, dass er es zu Vorstellungen bringt, dass<br />
er Schlüsse zieht, dass er überhaupt als geistiges Wesen eine<br />
ideale Se<strong>it</strong>e, religiösen Sinn und Trieb hat, die im religiösen<br />
Glauben zum Ausdruck kommen. Man mag Religion<br />
als schlechthiniges Abhängigke<strong>it</strong>sgefühl von einem höchsten<br />
Wesen bezeichnen, als Beziehung <strong>des</strong> Endlichen zum<br />
Unendlichen, als Glaube <strong>des</strong> Menschen an Gott ansprechen,<br />
1<br />
Wa<strong>it</strong>z, Anthropologie, I, 324.<br />
2<br />
Ders., a. a. 0., S. 328.
|4 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
oder nach der anthropologischen Anschauung den Satz der<br />
Theologen: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde",<br />
umkehren und sagen: „Der Mensch schuf Gott nach seinem<br />
Bilde"; das Wesentliche an der Sache bleibt, dass Religion<br />
auf einem Zim-e im Menschen nach einem höhern vollkommnern<br />
Wesen und in<br />
der Anerkennung einer höhern Macht, als<br />
die <strong>des</strong> Menschen ist, beruht.<br />
Der Anthropologe hat hierin recht, dass jede Vorstellung<br />
von Gott Spuren <strong>des</strong> menschlichen Bewusstseins an sich trägt,<br />
wie schon Luther bemerkt, wenn er sagt: „Wie das Herz, so<br />
der Gott", was wol so viel sagen will als: nach der mehr<br />
oder minder entwickelten Bildungsstufe wird auch die menschliche<br />
Vorstellung vom höchsten Wesen eine mehr oder weniger<br />
sinnliche oder geläuterte sein. Die schlagendsten Beweise<br />
bieten die religiösen Vorstellungen der Naturvölker, welche<br />
eigentlich in der Personificirung derjenigen Dinge in der Natur<br />
bestehen, von denen der Mensch seine Existenz und sein<br />
Schicksal abhängig glaubt, und <strong>des</strong>sen günstige oder ungünstige<br />
Wendung der Wirkung selbständiger Geister zugeschrieben<br />
wird. Auf diesem Standpunkte fällt die Naturansicht m<strong>it</strong> der<br />
religiösen Ansicht der Dinge zusammen, und diese Geister<br />
sind ganz nach der Analogie der menschlichen Individual<strong>it</strong>ät<br />
gedacht.<br />
Aber auch die Vertreter <strong>des</strong> absoluten Abhängigke<strong>it</strong>sgefühls<br />
von Gott haben die Wahrhe<strong>it</strong> für sich, dass das Gefühl<br />
ein Wesensbestandtheil <strong>des</strong> religiösen Glaubens ist, ohne welches<br />
Religion weder unter dem Gesichtspunkte <strong>des</strong> Glaubens<br />
noch <strong>des</strong> Handelns lebendig oder wirksam sein kann. Ausserhalb<br />
<strong>des</strong> Zusammenhangs der geschichtlichen sowol als der<br />
begrifflichen Entwickelung steht<br />
eine<br />
nur diejenige Ansieht, welche<br />
Religion ungeahnt und historisch unvorbere<strong>it</strong>et urplötzlich<br />
einem Meteorsteine gleich über die Menschen herabfallen lässt.<br />
Dem Denker ist die Entstehung dieser Ansicht wol erklärlich,<br />
obschon diejenigen selbst, die sie hegen, dieselbe für unbegreiflich<br />
halten.<br />
Bei erwe<strong>it</strong>erter Fassuno: <strong>des</strong> Beoriffs Religion wird deren<br />
Element überall erkannt werden, wo ein Streben nach Idealem<br />
sich kundgibt, ob dieses in einer Naturkraft besteht oder im<br />
Schönhe<strong>it</strong>sideal, ob im Patriotismus oder in der Wissenschaft,<br />
es bleibt immer eine Beziehung zu etwas, das über dem End-
2. Die Gegensätzlichke<strong>it</strong> in der religiösen Anschauung der Naturvölker. 15<br />
liehen und Alltäglichen liegt und <strong>des</strong>halb stets in irgendeiner<br />
Hinsieht etwas Erheben<strong>des</strong> in sich trägt. Weil jeder Religionsform<br />
der Zug nach Idealem zu Grunde liegt, hat auch<br />
jede ein bilden<strong>des</strong> Moment in sich, und weil es keinen Menschenstamm<br />
gibt, bei dem nicht Spuren von Religion vorhanden<br />
wären, lebt auch keiner ein reines Thierleben, sowie<br />
kein Stamm der Sprache entbehrt,<br />
weil jeder zum vorstellenden<br />
Bewusstsein sich<br />
erhebt.<br />
2. Die Gegensätzlichke<strong>it</strong> in der religiösen Anschauung<br />
der<br />
Naturvölker.<br />
Das alte Sprichwort: „Noth lehrt beten" enthalt zwar,<br />
wie alle Sprichwörter, nicht die ganze Wahrhe<strong>it</strong>, ist<br />
aber auch<br />
nicht aller Wahrhe<strong>it</strong> bar. Ob der Satz dahin erklärt wird:<br />
die Noth sei als Mutter der Religios<strong>it</strong>ät zu betrachten 1 oder<br />
ob man dabei an die Worte <strong>des</strong> Goethe'schen Harfners<br />
erinnert: „Wer nie sein Brot in Thränen ass, der kennt euch<br />
nicht, ihr himmlischen Mächte"; soviel ist gewiss, das religiös-gläubige<br />
Gemüth fühlt in Augenblicken der Bedrängniss<br />
am meisten das Bedürfniss, seinem Gott sich zu nahen und<br />
ihm sich zuzuwenden. In der Noth überkommt den Menschen<br />
das Gefühl seiner Schwäche, hervorgerufen durch einen<br />
Gegensatz, der unüberwindlich zu sein droht und daher m<strong>it</strong><br />
Furcht erfüllt.<br />
Allerdings wird die Religios<strong>it</strong>ät, durch Noth und Bedrängniss<br />
veranlasst, eine unfreie sein und die daraus entspringenden<br />
Handlungen auch das Merkmal der Unfreihe<strong>it</strong> an<br />
sich tragen, indem sie als Opfer zur Sülmung oder zur freundlichen<br />
Stimmung <strong>des</strong> göttlich verehrten Wesens dargebracht<br />
werden; ungeachtet <strong>des</strong>sen muss doch das religiöse Moment<br />
dabei anerkannt werden und die unfreie Religionsform wird<br />
dem geistig entwicke<strong>it</strong>ern Religionsbegrifie gegenüber eben als<br />
niedrigere Stufe erscheinen.<br />
1<br />
Kraft, Die Religionsgeschichte in philosophischer Darstellung, S. 19.
{(] Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Im dunkeln Gefühle, ein einhe<strong>it</strong>liches Ganze zu sein, betrachtet<br />
der Mensch zunächst alles, was er in der Aussenwelt<br />
wahrnimmt, in Beziehung auf sich, inwiefern es seinem Wohle<br />
zuträglich ist oder entgegensteht, und unterscheidet das Angenehme,<br />
als m<strong>it</strong> seinem Gemeingefühl übereinstimmende, von<br />
dem Widersprechenden, dem Unangenehmen. Weil Harmonie<br />
das Grundgesetz sowol <strong>des</strong> grossen Ganzen, <strong>des</strong> Makrokosmos,<br />
als auch der menschlichen Natur, <strong>des</strong> Mikrokosmos, ist,<br />
sucht der Mensch unbewusst nach angenehmen Empfindungen<br />
und alles m<strong>it</strong> sich in Uebereinstimmung zu bringen. Der<br />
Naturmensch nimmt seine mikrokosmische Auffassungsweise<br />
auch zum Masstabe seiner Handlungsweise und erhebt das<br />
eigene Wohl, das ihm Angenehme zum Hauptgrundsatz der<br />
Moral und erachtet nur das für recht und gut, was seiner<br />
Selbsterhaltung dienlich, seinem Zustande angenehm ist. Ein<br />
treffen<strong>des</strong> Beispiel gibt jener Buschmann, der, über den Unterschied<br />
von gut und böse befragt, für böse erklärt, wenn<br />
ihm ein anderer seine Frauen raube, für gut hingegen, wenn<br />
er die Frauen eines andern raube. * Der Naturmensch wird<br />
alles, was in sein einhe<strong>it</strong>liches Sein störend eingreift, für böse<br />
und übelthätig ansehen, während er das m<strong>it</strong> ihm Uebereingestimmte<br />
wohlthätig und gut nennt. M<strong>it</strong> dem Naturleben im<br />
innigsten Zusammenhange, in die Sinnlichke<strong>it</strong> versenkt, ist auch<br />
seine geistige Thätigke<strong>it</strong> von dieser abhängig. Der Sinneseindruck<br />
bringt eine gewisse Stimmung hervor, und diese vertr<strong>it</strong>t<br />
beim Naturmenschen die Stelle <strong>des</strong> Urtheils. Solange dem<br />
Menschen der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung,<br />
Grund und Folge ein unaufgelöstes Räthsel ist, erfüllt ihn die<br />
staunende Furcht vor jeder Erscheinung, die ihm fremd entgegenkommt.<br />
Der Naturmensch und das Kind sind daher am<br />
meisten von der Furcht heimgesucht, daher auch für „grosse"<br />
Furcht das Ep<strong>it</strong>heton „kindisch" als synonym gebraucht zu<br />
werden pflegt. Das- Kin<strong>des</strong>alter weist auf den Urzustand <strong>des</strong><br />
Menschen hin und „noch immer ist die Menschhe<strong>it</strong> im<br />
kleinen das fortlebende Bild der Menschhe<strong>it</strong> im grossen" —<br />
„ein jeder von uns war also einmal auch Naturmensch, hat<br />
da angefangen, wo der erste Mensch seine Entstehung anfing" 2<br />
1<br />
Bastian, Der Mensch in der <strong>Geschichte</strong>, II, 83.<br />
2<br />
Fr. Aug. Carus, Ideen zur <strong>Geschichte</strong> der Menschhe<strong>it</strong>, S. 195.
2. Die Gegensätzlichke<strong>it</strong> in der religiösen Anschauung der Naturvölker. 17<br />
Der Satz :<br />
„ Die Kindhe<strong>it</strong> der Natur bleibt immer das Symbol<br />
aller ersten Entwickelung", dürfte freilich nur auf die erste<br />
Ze<strong>it</strong> <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>alters zu beschränken sein, denn ein Kind,<br />
das in einem civilisirten Lande, in einem gebildeten Familienkreise<br />
sechs Jahre alt geworden, wird m<strong>it</strong> einem sechsjährigen<br />
Indianerkinde im Urwalde kaum mehr auf gleicher Linie<br />
stehen. Die Eindrücke, die auf das Kind civilisirter Aeltern<br />
von Geburt an eingewirkt haben, sind ganz verschieden von<br />
denen, welche der kleine Urwaldbewohner in sich aufgenommen<br />
hat, demnach wird auch das Geistesleben beider verschieden<br />
sein, ja schon die Dämmerung <strong>des</strong> werdenden Bewusstseins<br />
in dem einen wird nicht ganz gleich sein dem<br />
Traumleben <strong>des</strong> andern. Vor dem Erwachen <strong>des</strong> Bewusstseins<br />
verschwimmen beide Kinder m<strong>it</strong> der Aussenwelt, die sie<br />
umgibt; aber eben diese ist bei beiden eine verschiedene und<br />
bringt eine verschiedene Wirkung hervor. Beide Kinder entwickeln<br />
sich allerdings nach demselben Gesetze <strong>des</strong> menschlichen<br />
Geistes, und in dieser Beziehung ist die Beobachtung<br />
<strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>lebens sowie <strong>des</strong> Lebens <strong>des</strong> Naturmenschen von<br />
wesentlichem Werthe für den Psychologen; betrachtet man<br />
aber die Summe , d. h. das zum Bewusstsein entwickelte Kind,<br />
so wird niemand in Abrede stellen können, dass es im Bewusstsein<br />
<strong>des</strong> kleinen Europäers anders aussieht als in dem<br />
<strong>des</strong> kleinen Waldindianers. Da in der Natur nichts sprungweise<br />
vor sich geht, jede Erscheinung viel mehr das Resultat von unabsehbaren<br />
nothwendigen Vorbere<strong>it</strong>ungsstufen ist, da dasselbe<br />
Gesetz auch bezüglich der menschlichen Natur in Kraft steht,<br />
wonach jede Form <strong>des</strong> geistigen Lebens eine ganze Reihenfolge<br />
von Factoren voraussetzt, deren Product sie ist: so<br />
muss die Verschiedenhe<strong>it</strong> der Factoren auch ein verschiedenes<br />
Fac<strong>it</strong> hervorbringen.<br />
Dem Menschen, der in<br />
den Jahren der Kindhe<strong>it</strong> oder im<br />
Kin<strong>des</strong>alter der <strong>Geschichte</strong> steht, erscheint die Natur zunächst<br />
furchtbar. Denn das Fremde an sich erregt Schrecken,<br />
und alles Unbekannte, Unerklärte jagt Furcht ein. Man erzählt<br />
von Thomas Platter, der, bei Beginn seiner Laufbahn<br />
als fahrender Schüler am Berge Grimsel zuerst ihn aneifernde<br />
Gänse erblickend, dieselben für den Teufel haltend die Flucht<br />
ergriff. Weil jede unbekannte Erscheinung feindlich zu wirken<br />
droht, betrachten die Wilden jeden Fremden als Feind.<br />
Eoskoff, <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> <strong>Teufels</strong>. I.<br />
2
1g Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Bevor der Mensch zum allgemeinen Denken emporwächst,<br />
fasst er nur die Einzelhe<strong>it</strong>en, und sein Verständniss reicht so<br />
we<strong>it</strong>, als eben seine Sinne reichen. Der Algonkiner in Amerika,<br />
der auf dieser Stufe steht, hat keinen Ausdruck für den<br />
allgemeinen Begriff Eiche, weil er nicht verallgemeinern kann,<br />
und benennt daher jede der verschiedenen Eichen, die in<br />
seinen Wäldern wachsen, m<strong>it</strong> besondern Namen *. Es ist<br />
ein Gesetz der menschlichen Natur, das Empfundene gegenständlich<br />
zu machen, das Innerliche nach aussen zu werfen.<br />
Da nun dem Naturmenschen so vieles unbekannt, fremd,<br />
unerklärlich ist, demnach so vieles furchtbar erscheint, bildet<br />
seine Phantasie, durch mächtige Erscheinungen oder gewaltige<br />
Ereignisse angeregt, furchtbare Gestalten, die er<br />
hinter jenen als Urheber erblickt. Die sinnliche Anschauung<br />
hat keinen Blick für den Zusammenhang zwischen Ursache und<br />
Wirkung, der sich dem denkenden Geiste erschliesst; jene<br />
ahnt nur eine besondere Ursache und kleidet sie, ihrer Eigenartio-ke<strong>it</strong><br />
gemäss, in eine besondere sinnliche Form. Eigentlich<br />
spiegelt sich die ganze Summe der Empfindungen, die Total<strong>it</strong>ät<br />
<strong>des</strong> Lebens in den Vorstellungen <strong>des</strong> Menschen. Ein<br />
treffen<strong>des</strong> Beispiel liefert die Ansicht <strong>des</strong> Grönländers von<br />
dem seligen Zustande nach dem Tode. „Weil die Grönländer<br />
ihre meiste Nahrung aus der Tiefe <strong>des</strong> Meeres bekommen,<br />
so suchen sie den glückseligen Ort unter dem Meere<br />
oder unter dem Erdboden und denken, dass die tiefen Löcher<br />
in den Felsen die Eingänge dafür seien. Daselbst wohnen<br />
Torngansuk und seine Mutter, da ist beständiger Sommer,<br />
schöner Sonnenschein und keine Nacht, da ist gutes Wasser<br />
und ein Ueberfiuss an Fischen, Vögeln, Seehunden und Rennthieren,<br />
die man ohne Mühe fangen kann oder gar in einem<br />
grossen Kessel lebendig kochend findet" 2 . Klemm macht<br />
hierzu die Bemerkung , dass der Grönländer ebenso wenig über<br />
seinen Horizont hinausgehe wie jene beiden Schweinehirten, die<br />
einander frugen, was sie thun würden, wenn sie Napoleon<br />
geworden wären? Der eine meinte: er würde von da an braune<br />
Butter aus Bierkrügen trinken; der andere versicherte, er<br />
möchte dann seine Schweine zu Pferde hüten. Wir sehen, dass<br />
« Bastian, II, 35.<br />
5<br />
Klemm, Allgemeine Culturgeschichte, II, 310.
2. Die Gegensätzlichke<strong>it</strong> in der religiösen Anschauung der Naturvölker. 19<br />
beide, im Schweinehirtenthum befangen, auch als Napoleone<br />
dasselbe nicht losgeworden wären.<br />
Das Gefühl der Furcht wird gegenständlich, indem es m<strong>it</strong>tels<br />
der Phantasie die Gestalt <strong>des</strong> Furchtbaren erhält. Der Indianer<br />
schreibt darum jede ihm unerklärliche Naturerscheinung einem<br />
Man<strong>it</strong>ou zu und versetzt in die Prärien den grossen Geist <strong>des</strong><br />
Feuers, der m<strong>it</strong> glühenden Bogen dahinrast; der Australier<br />
findet den schwarzen Wandvag in den Gummiwäldern hausen;<br />
der Kamtschadale sieht überall die tollen Streiche Kuka's; auf<br />
Tonga treiben die Holuah Pou's ihren Schabernack ; im brasilianischen<br />
Walde übt Gurupira seine Neckereien; bei Wassergefahr<br />
sieht der Dajak den Nesi-panjang m<strong>it</strong> seinen Beinen, über dem<br />
Flusse stehen; am Ufer <strong>des</strong> Maranon steht der Unhold Ypupiara<br />
und erdrosselt den Wanderer; in Senegambien brüllt<br />
Horey nach Opfern im Walde; auf Ceylon erfüllen die bösen<br />
Fafardets die Luft, und die Kalmücken hören den Drachen<br />
Dun Chan durch dieselbe fahren; in den canadischen Wäldern<br />
haust der Gigri; auf den Philippinen leben die Tibalangas auf<br />
den Baumgipfeln. „In Patna s<strong>it</strong>zt die Cholera m<strong>it</strong> Schädelknochen<br />
behangen an den Ufern der Sone" *). An der Sklavenküste<br />
unterlässt es der Dahomeer, <strong>des</strong> Nachts zu reisen, aus<br />
Furcht vor dem bösen Leiba , der in Schlangengestalt die Luft<br />
durchfliegt 2 ).<br />
Furcht ist wesentlich das Gefühl , wom<strong>it</strong> der Naturmensch<br />
erfüllt wird. Der indianische Führer <strong>des</strong> Reisenden Marthas<br />
glaubte sich dem Gurupira verfallen, als im Walde zufällig<br />
eine Eidechse herabgefallen, und nachdem er sich hierauf in<br />
einem Sumpfe verirrte, verzweifelte er vollends, je wieder aus<br />
<strong>des</strong>sen Macht zu kommen. „Noch scheuer war ein Indianer<br />
vom Stamme Catanaxis. Jeder krumme Ast oder abgestorbene<br />
Baumstumpf, jede seltsame Verschlingung von Sipos erschreckte<br />
ihn. Die Wanika fürchten sich vor ihrem eigenen<br />
Schatten" 3 ).<br />
In der Furcht liegt das Gefühl der eigenen Machtlosigke<strong>it</strong><br />
gegenüber einer Macht, die über den Menschen waltet,<br />
1<br />
Bastian, II, 38.<br />
2<br />
Ebendas., II, 145.<br />
3<br />
Bastian, II, 45.<br />
2*
20 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
und m<strong>it</strong> der Abhängigke<strong>it</strong> geht Hand in Hand die anerkennende<br />
Verehrung <strong>des</strong> mächtigen furchtbaren Wesens.<br />
Furcht ist nicht nur die Mutter der Weishe<strong>it</strong>, sondern<br />
auch der Religion, insofern sie den grossen Anstoss gibt zur<br />
Elementarregung <strong>des</strong> religiösen Sinnes und verm<strong>it</strong>tels der<br />
Phantasie religiöse Vorstellungen erzeugt. Es gibt dieser Anfang<br />
allerdings nur erst ein religiöses Dämmerlicht, das im<br />
Bewusstsein aufsteigt, daher auch die Gestalten dunkel gefärbt<br />
sind und das Gemüth in Bangigke<strong>it</strong> gefesselt liegt. Es<br />
fehlt dieser Religionsform das Moment der Freihe<strong>it</strong>, ist aber<br />
doch schon eine religiöse Ahnung von dem Walten übermenschlicher<br />
Mächte, vor denen der Naturmensch als vor<br />
einer Gotthe<strong>it</strong> sich beugt. Wir müssen daher auch dieser<br />
niedern Form den T<strong>it</strong>el „Religion" zuerkennen, wie der Botaniker<br />
nicht nur in der Palme, sondern auch in den Algen<br />
vegetabilische Gebilde erkennt.<br />
Es ist erklärlich, dass Erscheinungen, welche Unheil und<br />
Verderben drohen und das Dasein <strong>des</strong> Naturmenschen zu gefährden<br />
scheinen, zu allernächst <strong>des</strong>sen Aufmerksamke<strong>it</strong> auf<br />
sich ziehen, weil sie durch den merklichen Gegensatz auch<br />
merklich reizen, während die wohlthätigen Wirkungen der<br />
Natur, durch die der Mensch sein Dasein fristet, als selbstverständlich<br />
hingenommen werden. Man mag diesen Umstand<br />
„Undankbarke<strong>it</strong>" nennen *, es genügt uns, darin den Grund<br />
zu sehen, warum wir bei den Bojesmanen (Buschmännern) in<br />
Südafrika, den Indios da matto in den südamerikanischen<br />
Wäldern, bei den Pescheräh, den Bewohnern <strong>des</strong> Feuerlan<strong>des</strong><br />
und den Ureinwohnern Australiens, Californiens, sowe<strong>it</strong> sie von<br />
europäischen Einflüssen unberührt geblieben, mehr das Böse als<br />
das Gute als Gegenstand der Verehrung antreffen. Schon<br />
Herodot 2 erwähnt ein rohes Volk in der Wüste Sahara, die<br />
Ataranten, die sogar in der Sonne eine böse Macht sehen und<br />
dieselbe beim Aufgange unter heftigen Lästerungen verwünschen,<br />
weil sie dieselbe zu Grunde richte. Es wird von manchen<br />
Stämmen, wie z. B. von den Indianern von Caracas,<br />
behauptet, dass sie nur an ein böses Urwesen glauben 3 oder<br />
1<br />
Wa<strong>it</strong>z, Anthropologie, I, 362.<br />
* IV, 181.<br />
3<br />
Depons, im Magazin für merkwürdige Reisebeschreibungen, XXIX, 143.
2. Die Gegensätzlichke<strong>it</strong> in der religiösen Anschauung der Naturvölker. 21<br />
dass die bösen Wesen ein so grosses Uebergewicht haben,<br />
dass die guten fast ganz unbemerkt bleiben und keine we<strong>it</strong>ere<br />
Berücksichtigung finden, da sie, als dem Menschen freundlich<br />
gesinnt, ihm keinen Anlass bieten, ihnen zu dienen. Wie<br />
diese Stämme erst in den Windeln <strong>des</strong> menschlichen Daseins<br />
lieo-en,<br />
in den Anfängen der menschlichen Gesellschaft begriffen<br />
sind, so besteht auch ihre Religion auf der untersten Stufe<br />
<strong>des</strong> Schamanenthums in einem dumpfen Gefühle der Furcht<br />
vor ungewöhnlichen Ereignissen, die das menschliche Dasein<br />
bedrohen, deren Ursachen aber nicht gesehen werden können.<br />
Diese Ursachen, die der sinnlichen Wahrnehmung <strong>des</strong> Naturmenschen<br />
entzogen sind, die aber sein Schlussvermögen voraussetzen<br />
muss, commentirt seine Phantasie, indem sie ihnen eine<br />
sinnliche Form verleiht, d. h. sie personificirt. Allenthalben,<br />
wo der Naturmensch Bewegung und Thätigke<strong>it</strong> bemerkt, vermuthet<br />
er als Ursache ein Wesen seiner Art, die ihm unerklärlichen<br />
Veränderungen in der Natur, die ihm verderblich<br />
erscheinen, erhalten daher persönliche Wesen zu Urhebern,<br />
die er fürchtet, von denen er sich abhängig fühlt, die er <strong>des</strong>halb<br />
für sich zu gewinnen sucht durch Opfer u. dgl. Da es<br />
zumeist nur unangenehme, störende, also feindliche Einwirkungen<br />
sind, die den Menschen im Naturzustande auf seine<br />
Ö *<br />
Umo-ebuns: aufmerksam machen, so wird seine Phantasie die<br />
Ursachen auch in schreckliche Formen fassen. Solche sind die<br />
Fetische der Neger, die Ana der Brasilianer, die Balichu der<br />
Chacostämine, die Dämonen bei allen Völkern.<br />
Nach diesem „ der Phantasie eigenen Pragmatismus ",<br />
wie<br />
Gervinus sich irgendwo ausdrückt, wonach der Mensch die<br />
Ursachen der Erscheinungen zu erklären meint, wenn er sie<br />
personificirt, kann es nicht befremden, wenn in Cassange der<br />
Mann nach der Entbindung seines Weibes sich in das Bett<br />
dam<strong>it</strong> der Krankhe<strong>it</strong>sdämon getäuscht werde; oder wenn<br />
legt,<br />
der Bowakke nach der Geburt seines Kin<strong>des</strong> alles vermeidet,<br />
z. B. Thiere zu tödten, Bäume zu fällen u. dgl., wodurch er<br />
vielleicht unbewussterweise irgendein dämonisches Wesen beleidigen<br />
könnte, das sich dann an dem Säugling rächen<br />
würde. Darum zündet auf den Philippinen der Hausherr,<br />
sobald die Hausfrau Geburtswehen bekommt , vor seiner Hütte<br />
ein grosses Feuer an, hinter welchem er, m<strong>it</strong> einer Waffe<br />
in der Luft fechtend, sich aufstellt, um den Pontianac,
1<br />
22 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
das böse Wesen, das dem Gebären hinderlicb ist, zu verscheuchen.<br />
*<br />
So dumpf der Zustand <strong>des</strong> Naturmenschen auch sein mag,<br />
und so blind seine Furcht, wenn der Donner kracht, der<br />
Vulkan seine feurigen Rauchwolken emportreibt oder die Erde<br />
erbebt, so unterscheidet sich diese Furcht doch immer von<br />
dem Schrecken, von welchem das Thier bei ähnlichen Gelegenhe<strong>it</strong>en<br />
ergriffen wird. 2 Denn wenn der Naturmensch<br />
kraft seiner Phantasie an die Stelle der wirklichen Ursache<br />
auch blos ein Surrogat setzt, nämlich ein personificirtes Wesen,<br />
so beweist er dam<strong>it</strong> doch, dass er eine Ursache ahnt, und in<br />
dieser dunkeln Ahnung liegt ein unm<strong>it</strong>telbar gegebenes Urtheil,<br />
obschon noch unentwickelt, gleichsam im Schlafe begriffen.<br />
In religiöser Beziehung ahnt die Seele <strong>des</strong> Naturmenschen<br />
ein Unbeschränktes, Unendliches, in welchem ihr<br />
eigenes Sein wurzelt.<br />
Nach der Wirkung der umgebenden Natur, welche der<br />
Naturmensch als angenehm oder unangenehm unterscheidet,<br />
indem er sich dadurch wohl oder unwohl befindet, bewegt<br />
sich auch sein religiöses Gefühl im Kreise der Gegensätzlichke<strong>it</strong><br />
von Furcht und Scheu und dankbarer Anerkennung.<br />
Nach demselben Gesetze, wonach die sinnliche Anschauung<br />
hinter den Erscheinungen, welche dem Naturmenschen Furcht<br />
einflössen, persönliche Wesen vermuthet, werden auch wohlthätige<br />
Naturmächte personificirt, sodass das religiöse Bewusstsein<br />
inm<strong>it</strong>ten <strong>des</strong> Gegensatzes guter, wohlthätiger und<br />
böser oder übelthätiger göttlicher Wesen sich bewegt. Obgleich,<br />
wie schon bemerkt, bei den auf der untersten Culturstufe<br />
stehenden Jäger- und Fischerstämmen die Verehrung<br />
indem das Widerwärtige<br />
übelthätiger Wesen mehr betont ist,<br />
und Feindliche mehr gefürchtet, als der Dank für das Wohlthuende<br />
gefühlt wird, weil Dankgefühl, wo es vorherrscht,<br />
schon einen höhern Grad der Civilisation voraussetzt, daher<br />
meist erst bei ackerbautreibenden Stämmen zu finden ist, so<br />
lässt sich doch behaupten: Der Dualismus ist in allen<br />
Religionen der Naturvölker vorhanden.<br />
Bastian, I, 128.<br />
2<br />
Dagegen vgl. Renaud, (Jurisüanisinc et paganisine, Ö. 12.
2. Die Gegensätzlichke<strong>it</strong> in der religiösen Anschauung der Naturvölker. 23<br />
Diese Ansieht findet schon an Plutarch ihren Vertreter 1 :<br />
„Deswegen ist auch von Theologen und Gesetzgebern auf<br />
Dichter und Philosophen diese uralte Ansicht übergegangen,<br />
deren Urheber sich zwar nicht angeben lässt, die aber doch<br />
durchaus zuverlässig und wahr ist, da sie nicht blos in Erzählungen<br />
und Sagen, sondern auch in den Mysterien und<br />
bei den Opfern allerwärts bei Griechen und Barbaren sich<br />
findet, ich meine die Ansicht, dass das Weltall keineswegs<br />
Vernunft- und verstandlos ohne Le<strong>it</strong>ung dem Ungefähr überlassen<br />
herumschwebe, noch von einem einzigen vernünftigen<br />
Wesen beherrscht und gelenkt werde, gleichsam wie m<strong>it</strong><br />
einem Steuer oder Zügel, sondern von vielen Wesen, und<br />
zwar von solchen, die aus Bösem und Gutem gemischt sind;<br />
oder, um es gerade herauszusagen, dass die Natur nichts Lauteres<br />
enthält, daher auch nicht ein einzelner Verwalter wie<br />
ein Schenkwirth aus zwei Fässern die Elemente gleich Getränken<br />
uns mischen und austheilen kann, sondern dass aus<br />
zwei entgegengesetzten Principien und zwei einander feindseligen<br />
Kräften, von welchen die eine rechts in gerader<br />
Richtung führt, die andere nach der entgegengesetzten Se<strong>it</strong>e<br />
sich wendet und umbeugt, das Leben und die Welt, wenn<br />
auch nicht die ganze, so doch diese irdische und lunarische,<br />
gemischt und dadurch ungleich, mannichfaltig und allen Veränderungen<br />
unterworfen ist. Denn da nichts ohne Ursache<br />
entstehen kann, so muss das Böse wie das Gute einen besondern<br />
Ursprung und eine<br />
besondere Entstehung haben.<br />
Dies ist die Ansicht der meisten und besten Philosophen.<br />
Einige von ihnen nehmen zwei einander gleichsam entgegenwirkende<br />
göttliche Wesen an, wovon das eine das Gute, das<br />
andere das Böse schaffe, andere nennen das Gute Gott, das<br />
andere Dämon."<br />
Obschon Plutarch in demselben Buche ven einer „Harmonie<br />
dieser Welt" spricht, sche<strong>it</strong>ert er doch an der Schwierigke<strong>it</strong>,<br />
das Gute und das Ueble in der Natur zu erklären.<br />
Diese Frage, die se<strong>it</strong> jeher den Menschengeist beschäftigt hat,<br />
bleibt auch ungelöst, solange der Mensch Licht und Finsterniss,<br />
Frost und H<strong>it</strong>ze und ähnliche Erscheinungen nicht auf<br />
1<br />
De Iside et Osiride, c. 45.
24 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
den letzten Grund zurückführt, aus dem Gesetze herzule<strong>it</strong>en<br />
nicht vermag, so lange er bei der Erklärung der Erscheinungen<br />
ihre Beziehung auf sein eigenes Dasein hincinmengt<br />
und die Relativ<strong>it</strong>ät <strong>des</strong> Uebels nicht zu klarem Bewusstsein<br />
erhebt.<br />
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker.<br />
Zur Erhärtung der früher angeführten, auch von Plutarch<br />
vertretenen Behauptung eines durchgängigen Dualismus im<br />
religiösen Bewusstsein der Naturvölker dienen die Beobachtungen<br />
reisender Forscher und deren Berichte über die religiösen<br />
Anschauungen der Menschenstämme unter allen Himmelsstrichen<br />
der Erde.<br />
In den Urwäldern von Südamerika, von Borneo, von<br />
Timor, deren Boden nie von der Sonne berührt wird, wo<br />
sich an den riesenhaften Baumstämmen kolossale Schlingpflanzen,<br />
die selbst von der Dicke eines Baumes werden,<br />
hinaufranken und die Farrnkräuter, Nesseln baumartig sich<br />
erheben, Gebüsche und Gräser m<strong>it</strong> riesenhaften Dimensionen<br />
ineinanderwachsen,<br />
sodass das vegetabile Leben hier gleichsam<br />
seinen Triumph feiert, m<strong>it</strong> welchem die Farbenpracht der<br />
Thierwelt einen Wettstre<strong>it</strong> eingegangen zu sein scheint, in<br />
diesen Urwäldern streift der Naturmensch herum und findet<br />
bei dem milden feuchtwarmen Klima alles, was er zu seinem<br />
Lebensunterhalt braucht. Bei dem Jägerleben, das er führt, das<br />
Schweigen und Geduld erheischt, zeigt er anderwärts eine Un~<br />
behülflichke<strong>it</strong> und Unempfindlichke<strong>it</strong>, aus der er bei der Abgeschiedenhe<strong>it</strong><br />
der einzelnen Familien nicht herausgerückt werden<br />
kann. Sein ganzes Dasein erfüllt sich durch Sättigung und<br />
Ruhe und ist, abgesehen von dem, was auf das Jägerleben<br />
Bezug hat, in dem sich seine ganze Thätigke<strong>it</strong> concentrirt,<br />
im übrigen ein unerzogenes Kind. In seinem Gemüth wechseln<br />
stumpfe Gleichgültigke<strong>it</strong> m<strong>it</strong> den rohesten Ausbrüchen<br />
ungezügelten Affects. Er lebt nur für den Augenblick, für<br />
ihn gibt es kein Nacheinander der Ze<strong>it</strong>, sowie auch die ihn<br />
umgebende Natur in ihrem Klima immer gleichbleibt, Tag<br />
und Nacht fast immer von derselben Länge und auch
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 25<br />
die atmosphärischen Ersehein ungen regelmässig sind. So<br />
dunkel wie der Urwald, in dem er haust, ist auch der religiöse<br />
Gemüthszustand <strong>des</strong> Waldbewohners; er ist erfüllt von<br />
grauenhafter Furcht, die man m<strong>it</strong> der unserer Kinder an einsamen,<br />
düstern Orten verglichen hat. 1 Die Furcht wird<br />
hervorgerufen durch gewaltige Erscheinungen, die er nicht<br />
wie die feindlichen Thiere erjagen kann, als: heftige Stürme,<br />
Gew<strong>it</strong>ter, vulkanische Erscheinungen, deren Entstehen zu erklären<br />
er nicht vermag und daher auf ein höheres Wesen<br />
zurückle<strong>it</strong>et. Dieses Wesen ist Tupan (Tapan), dem besonders<br />
der Donner zugeschrieben wird. Ausser diesem hausen<br />
im Innern der Urwälder noch andere zu fürchtende Wesen,<br />
m<strong>it</strong> welchen die Paje verkehren, eine Art Zauberer, die<br />
in ausserordentlichen, wichtigen Fällen zu liathe gezogen werden.<br />
2 In den Wäldern von Peru fand Pöppig 3 bei den Indianern<br />
den Glauben, dass im dichten Dunkel <strong>des</strong> Wal<strong>des</strong> das übelthätige<br />
Wesen Uchuclluchacpii sich aufhalte, das den Jäger in die<br />
Wai<strong>des</strong>einöde immer tiefer hineinlocke, um ihn zu verderben.<br />
Auch im alten Peru findet sich der Dämonencultus und Fetischismus,<br />
der neben dem Sonnendienst, der Staatsreligion<br />
<strong>des</strong> Inkareichs, einherging, und so hatte sich aus der vorinkaschen<br />
Periode die Vorstellung von einem bösen Dämon<br />
auch in späterer Ze<strong>it</strong> erhalten, den die Peruaner Cupay (Supay)<br />
nannten, als Herrn <strong>des</strong> blassen To<strong>des</strong> fürchteten und<br />
ihm überhaupt viel Einfluss auf die menschlichen Angelegenhe<strong>it</strong>en<br />
zuschrieben. 4 Wie es um den angeblichen Monotheismus<br />
der Inkas stand, den Garcilasso, ihr Lobredner, ihnen<br />
und den Inkaperuanern zueignen möchte, hat Wa<strong>it</strong>z 5 genügend<br />
gezeigt, indem er den Polytheismus auch in der altern Ze<strong>it</strong><br />
nachweist. Derselbe bestätigt auch, dass sich der Glaube an<br />
den bösen Supay oder Sopay bis in die neuere Ze<strong>it</strong> erhalten<br />
habe und diesem in manchen Gegenden kleine Kinder geopfert<br />
worden seien.<br />
1<br />
Klemm, I, 278.<br />
2<br />
Spix und Martius, Reise nach Brasilien, I, 379.<br />
3<br />
Reise in Chile, Peru etc., II, 358.<br />
4<br />
Prescott, <strong>Geschichte</strong> der Eroberung von Peru, I, G6; Garcilaaso,<br />
<strong>Geschichte</strong> der Inkas, II, 2.<br />
5<br />
Anthropologie der Naturvölker, IV, 447 fg.
2G Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Es ist bestätigt, class die Spanier in Peru und Mexico<br />
den Glauben an gute und böse Wesen vorfanden. l In<br />
der untergegangenen Cultur von Anahuac, dem alten<br />
Mexico,<br />
zeigt sich in den religiösen Vorstellungen der Azteken ein<br />
seltsames Gemisch von der Wildhe<strong>it</strong> ihres Charakters und<br />
toltekischer Milde. Es findet sich die Vergötterung <strong>des</strong> Culturheros<br />
Quetzalkoatl neben der Verehrung blutdürstiger<br />
Dämonen. Man hat in der Verehrung <strong>des</strong> aztekischen Sonnengottes<br />
Teotl einen ausgesprochenen Monotheismus erkennen<br />
wollen 2 ;<br />
näher betrachtet, zeigt sich die Religion <strong>des</strong> alten<br />
Mexico als Gestirndienst, als Verehrung elementarer Mächte<br />
und Dämonencult , obschon auch uralter Thierdienst bemerklich<br />
ist, <strong>des</strong>sen Hauptgegenstand in früherer Ze<strong>it</strong> die Schlange<br />
war, und da alles seine Gotthe<strong>it</strong> erhielt, so kann es nicht<br />
befremden, dass die Azteken über 300 Gotthe<strong>it</strong>en zählten.<br />
Da aber in jedem Naturdienst die Naturmächte personificirt<br />
werden, so glaubten auch die Azteken an gute und böse<br />
Wesen. Zu den ältesten Gotthe<strong>it</strong>en, die schon von den Urbe<br />
wohnern verehrt wurden, gehörte der schon erwähnte<br />
Teotl, „durch den wir leben, welcher alles in sich selbst ist".<br />
Ihm gegenüber steht der böse Geist, der Feind der Menschen,<br />
Tlakatekolotl, der ihnen oft erscheint und sie erschreckt,<br />
in dem Klemm 3 ein Ueberbleibsel aus dem Wald- und Gebirasleben<br />
der alten Jäo-erstämme erkennen will. Es wird<br />
zwar bestr<strong>it</strong>ten, dass Tlakatekolotl als Widerpart <strong>des</strong> Teotl,<br />
also als Teufel der mexicanischen Religion zu betrachten<br />
sei, da die s<strong>it</strong>tliche Bedeutung fehle 4 ;<br />
allein gesetzt auch, dass<br />
dem so wäre, so ist der Dualismus doch vorhanden, und zwar<br />
nicht nur auf Grund dieser beiden Gotthe<strong>it</strong>en, sondern aul<br />
Grund der mexicanischen Religion überhaupt, in welcher die<br />
aztekische Schicksalsidee scharf ausgeprägt auftr<strong>it</strong>t,<br />
daher auch<br />
Sterndeuterei und Traumzeichen eine grosse Rolle spielen.<br />
Wenn Wa<strong>it</strong>z meint, der Gegensatz zwischen dem guten und<br />
bösen Princip scheine in der mexicanischen Religion keine<br />
hervorragende Stelle eingenommen zu haben, so wollen wir<br />
1<br />
Home, Versuch über die <strong>Geschichte</strong> der Menschen, II, 232 fg.<br />
2<br />
Prescott, <strong>Geschichte</strong> der Eroberung ven Mexico, I, 46.<br />
3<br />
V, 114.<br />
4<br />
Müller, <strong>Geschichte</strong> der amerikanischen Urrcligionen, 573.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 27<br />
dies auf sich beruhen lassen, da es sieh nur um das Vorhandensein<br />
eines bösen Wesen handelt, von dem Wa<strong>it</strong>z den besondern<br />
Namen anführt und überdies die naive Bemerkung<br />
von B. Diaz, einem der Conquistadoren: „die Mexicaner,<br />
welche die Spanier als Teuces (Götter) bezeichneten, hätten<br />
unter diesen vorzugsweise böse Geister verstanden". x<br />
Die dualistische Anschauung der Mexicaner tr<strong>it</strong>t auch in<br />
der Verehrung der zwei Gotthe<strong>it</strong>en Tetzkatlipoka und seines<br />
Bruders Hu<strong>it</strong>zilopotchli hervor. Der erstere (auch<br />
Tetzkatlpopoka oder Tetzkalipulla genannt) heisst der „glänzende<br />
Spiegel", „Seele der Welt", ist Schöpfer <strong>des</strong> Himmels<br />
und der Erde, überhaupt Urheber und Erhalter der<br />
Welt. Der andere, im europäischen Volksmunde zu V<strong>it</strong>zliputzli<br />
corrumpirt,<br />
ist die negative Se<strong>it</strong>e <strong>des</strong> aztekischen Gottesbegrifis<br />
und steht ersterm gegenüber, wie dem indischen Varuna<br />
oder dem Vislmu, dem Beieber und Erhalter der Welt,<br />
der Agni oder Siva als Zerstörer entgegengesetzt wird, der<br />
aber ungeachtet seiner schrecklichen Eigenschaften in der Vorstelluno;<br />
der Sivadiener ein seinen Gläubip-en wohlthuender<br />
Gott ist.<br />
So war auch Hu<strong>it</strong>zilopotchli von den Azteken we<strong>it</strong><br />
über seinen Bruder gestellt und verehrt. Als der „Schreckliche"<br />
war er der Kriegsgott, furchtbar im Bilde und in der<br />
Bedeutung; aber als Schutzgott sein Volk segnend, war sein<br />
Tempel im M<strong>it</strong>telpunkt der Stadt zugleich der M<strong>it</strong>telpunkt<br />
<strong>des</strong> mexicanisehen Reichs und die Stätte grauenhafter Menschenopfer.<br />
Sein Cult war sehr alt, denn die einwandernden<br />
Stämme brachten ihn schon m<strong>it</strong>. Als verneinen<strong>des</strong> Princip<br />
repräsentirt er die Gottesmacht, die sich dem andern Dasein<br />
gegenüber als Macht erweist, indem sie es verneint, sonach<br />
m<strong>it</strong> dem Baal (dem Verzehrenden) der Sem<strong>it</strong>en zu vergleichen<br />
2 ,<br />
insofern er auch das Moment der Besonderhe<strong>it</strong> und<br />
Ausschliesslichke<strong>it</strong> darstellt. Als Kriegse-ott eines erobernden<br />
Volks und <strong>des</strong>sen Schutzo-ott wurde er zum eigentlichen Nationalgott<br />
der Azteken, er war ihr göttlicher Führer auf der<br />
langen Wanderung nach Mexico.<br />
Die Mexicaner hatten noch<br />
eine Menge geringerer Gotthe<strong>it</strong>en: <strong>des</strong> Wassers, Feuers, der<br />
1<br />
Wa<strong>it</strong>z, Anthropologie, IV, 147.<br />
a<br />
Wuttke, <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> Ileidenthums, I, 256.
28 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Berge, der Freude u. a. in., ausser diesen aber auch eine<br />
Menge böser Dämonen. l<br />
Die brasilianischen Indianer nennen den bösen Geist<br />
Agurjan. Der brasilianische Bauer, namentlich in den nördlichen<br />
und m<strong>it</strong>tlem Provinzen <strong>des</strong> Reichs, der, stolz und faul,<br />
keinen Wohlstand kennt, ist ganz beherrscht vom Glauben<br />
an gute und böse Waldgeister und andere Gespenster und<br />
hegt religiöse Vorstellungen, die ebenso abgeschmackt als die<br />
der Botokuden befunden worden sind. 2<br />
Die Einwohner von Terrafirma betrachten die Sonne<br />
als die wohlthätige Gotthe<strong>it</strong>, fürchten aber auch ein böses<br />
Wesen als Urheber aller Uebel, dem sie, um es günstig zu<br />
stimmen, Blumen, Flüchte u. dgl. zum Opfer darbringen.<br />
Die Guarani, die zwar Opfer und Cultus, aber keine<br />
Idole besessen haben sollen 3 ,<br />
pflegten zur Versöhnung der<br />
bösen Geister, an die sie glaubten, Gaben darzubringen. Zum<br />
Schutze vor dem bösen Agnan (Agnian, Aenjang) oder Kaasherre<br />
unterhielten sie <strong>des</strong> Nachts einen Feuerbrand.<br />
Die Araucaner opfern ihren bösen Geistern bisweilen<br />
einen Kriegsgefangenen, dem sie das Herz herausreissen. Sie<br />
rauchen den bösen Wesen zu, nennen deren Oberhaupt Pillan 4 ,<br />
auch Guenupiglian, wom<strong>it</strong> sie auch Vulkane bezeichnen. Die<br />
Berichte über den Namen ihres<br />
guten und bösen Wesens treffen<br />
nicht ganz zusammen; das Wesentlichste ist jedoch, dass<br />
die<br />
Vorstellung von einem guten und bösen Wesen herrscht. s<br />
Die Pehuenche nennen ihren höchsten Gott Pillam<br />
und den Urheber alles Uebels Gueculbu. 6<br />
Die A ntis aner, deren ursprünglicher religiöser Glaube<br />
Monddienst sein soll , fürchten besonders den bösen Geist<br />
Choquigua, der als Hauptgegenstand ihrer Verehrung gilt. 7<br />
Die Bewohner von Louisiana anerkennen ein Wesen<br />
4<br />
Clavigero, <strong>Geschichte</strong> von Mexico, VI, c. 5, 33, 34, 35, 39.<br />
2<br />
Prinz Max, Reise nach Brasilien 1820, II, 39.<br />
3<br />
Wa<strong>it</strong>z, III, 418.<br />
* Ovaglie, Hist. de relat. del regno di Cile, 2G3.<br />
5<br />
Bardel, 775.<br />
6<br />
De la Cruz, Viage etc., S. 30.<br />
7<br />
Casio, Kurze Beschreibung der Provinz Mojos, in Lüdde's Ze<strong>it</strong>schrift<br />
für Erdkunde, III, 50.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 29<br />
als Urheber <strong>des</strong> Guten und eins als Stifter <strong>des</strong> Uebels, welches<br />
letztere seine Herrschaft über die ganze Welt ausübt.<br />
Die von Florida verehren Sonne, Mond und Sterne, haben<br />
aber auch ein böses Wesen, Namens Toia, <strong>des</strong>sen Gunst sie<br />
durch Feste, ihm zu Ehren veranstaltet, zu gewinnen suchen.<br />
Die Canadier und die in der Nähe der Hudsonsbai wohnenden<br />
Indianer, welche Sonne, Mond und Bl<strong>it</strong>z verehren,<br />
fürchten besonders ein böses Wesen, das im Hervorbringen<br />
<strong>des</strong> Bösen allmächtig vorgestellt wird. Die Indianer an der<br />
Davisstrasse nehmen ebenfalls gewisse wohlthätige und übelthätio-e<br />
Wesen an. Die Warrau-Indianer in Guiana verehren<br />
ein erhabenes Wesen als Schöpfer der Welt, das sich<br />
aber um deren Regierung wenig kümmern soll; wogegen böse<br />
Wesen die Uebel in der Welt geschaffen haben. l<br />
Bei den Karaiben finden sich zwei Arten von Wesen,<br />
wohlthätige, die ihren S<strong>it</strong>z im Himmel haben, wovon jeder<br />
Mensch das seinige als Führer auf Erden hat; boshafte, die<br />
durch die Luft ziehen und ihre Lust daran finden, den Menschen<br />
Schaden zuzufügen. Wie die Indianer Nordamerikas<br />
glaubten sie an einen höchsten guten Gott und Schöpfer, den<br />
sie ihren „grossen Vater" nannten 2 ; neben diesem aber an eine<br />
Menge guter Icheiri und böser Mapoya. 3 Bei den jetzigen Karaiben<br />
gilt (wie bei den Macusi, Akawai und Aarawak) „der, welcher<br />
in der Nacht arbe<strong>it</strong>et", als der Schöpfer der Welt, auf den<br />
sie alles Gute zurückführen. Er setzte sich auf einen Baum,<br />
hieb Zweige ab und verwandelte sie in Thiere, zuletzt schuf<br />
er den Mann, der in einen tiefen Schlaf verfiel und beim<br />
Erwachen ein Weib an seiner Se<strong>it</strong>e fand. Als später Epel,<br />
das böse Wesen, die Oberhand auf der Erde erhielt, schickte<br />
jener grosse Fluten, denen nur ein Mann in einem Kahne<br />
entrann. Die Ratte brachte ihm m<strong>it</strong> einem Maiskolben die<br />
Botschaft, dass sich die Wasser verlaufen hätten, und er<br />
selbst bevölkerte die Erde aufs neue, indem er Steine hinter<br />
sich warf. 4<br />
1<br />
Froriep, Fortschr<strong>it</strong>te in den Naturwissenschaften, 1847, Nr. 35.<br />
2<br />
Gumilla, Hist. nat. civ. et geograph. de l'Orcnoque, 2(J.<br />
3<br />
Du Tertre, Hist. gener. <strong>des</strong> Antilles, II, 365.<br />
4<br />
Schomhurgk in dem Monatsbericht der Gesellschaft für Erdkunde,<br />
Neue Folge, II, 122 fg., 319.
30 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Auch bei den Laparos, Yaos-Chaymas, herrscht der<br />
dualistische<br />
Glaube an gute und böse Wesen, die durch die<br />
Macht der Zauberer dem Menschen dienstbar gemacht werden.<br />
Die Mandans oder Mönn<strong>it</strong>aris haben den Ohmahauk-Chika, den<br />
Bösen der Erde, dem sie viel Gewalt über die Menschen zuschreiben,<br />
gegenüber dem Rokanka-Tauihanka, der die Menschen<br />
auf der Erde beschützt.<br />
Die wesentliche Grundlage <strong>des</strong> nordamerikanischen Cultus<br />
wie der Naturreligion der Indianer ist der Feuercultus, der<br />
sich bis zum Rauchen <strong>des</strong> Tabacks als Cultushandlung und<br />
dem Herumgeben der Pfeife in feierlichen Versammlungen<br />
nachweisen lässt. - Der bekannteste Zug in der Religion der<br />
Indianer ist allerdings der Glaube an den „grossen Geist",<br />
den „Herrn <strong>des</strong> Lebens" oder „Geber <strong>des</strong> Lebens"; es ist<br />
aber zu we<strong>it</strong> getrieben, diesen überall in den M<strong>it</strong>telpunkt<br />
zu stellen, wie es von manchen geschehen ist. Der grosse<br />
Geist, der an der Sp<strong>it</strong>ze der Religion <strong>des</strong> Indianers steht, wird<br />
dargestellt als Riesenvogel, der, m<strong>it</strong> seinen Flügeln das Meer<br />
berührend, die Erde hervorbrachte, seine Augen waren Feuer,<br />
seine Blicke Bl<strong>it</strong>ze, sein Flügelschlag Donner. Diese Auffassung<br />
findet sich bei den Chippeway, am Mackenzie, den<br />
Sioux 3 , den Irokesen, den Pari u. a. Die Sage weiss<br />
von einem Kampfe dieses Vogels m<strong>it</strong> der Schlange, dem<br />
bösen Princip, welche die Eier <strong>des</strong> Vogels fressen will. Der<br />
grosse Geist ist dem Indianer vor allem der Donnerer, daher<br />
jener beim Gew<strong>it</strong>ter von To<strong>des</strong>furcht ergriffen wird. 4 Zuweilen<br />
wird dem grossen Geiste auch Menschengestalt beigelegt.<br />
Da nach der Vorstellung <strong>des</strong> Indianers das Böse<br />
nicht vom Guten, noch dieses von jenem kommen kann,<br />
so herrscht neben dem gütigen Himmelsgott, dem belebenden<br />
Princip der Natur, der wohlthätigen Macht der Sonne und<br />
<strong>des</strong> Feuers, in der Welt noch der böse Geist, der im Gegensatz<br />
zum überirdischen Gott als unterirdisches Wesen, als<br />
Wassergott, im Gegensatz zum fliegenden Vogel als kriechende<br />
1<br />
Bancroft, Naturgeschichte von Guiana, 191 fg.<br />
* Vgl. Erman's Archiv, VIII, 213.<br />
3<br />
Prescott bei Schoolcraft, 111, 233.<br />
4<br />
Loskiel, <strong>Geschichte</strong> der Mission der evangelischen Brüder unter<br />
den Nordamerik , 49.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 31<br />
Schlange dargestellt wird. x Dies ist die gewöhnliche Form,<br />
unter welcher Hobbamock, auch Abamocho, Chepian 2 erscheint,<br />
obschon er auch andere Thiergestalten annimmt und<br />
an unheimlichen Orten gegenwärtig gedacht wird. Weil der<br />
Mensch von Uebel und Unglück in mannichfaltiger Weise und<br />
empfindlicher getroffen wird, die m<strong>it</strong> seinem Wesen harmonische<br />
Erscheinung hingegen viel gleichgültiger hinnimmt, so<br />
erklärt es sich, dass man sich dem Dienste <strong>des</strong> bösen Wesens<br />
eifriger als dem <strong>des</strong> grossen Geistes hingibt, da von diesem<br />
nichts zu fürchten ist, jenes aber die Existenz bedroht, daher<br />
versöhnt und günstig gestimmt werden muss. Der allgemeinste<br />
und bestimmt ausgeprägte Zug in den religiösen Vorstellungen<br />
der Indianer ist jener Dualismus, die Annahme guter und böser<br />
Wesen, der allerdings m<strong>it</strong> Modificationen der Schärfe auftr<strong>it</strong>t,<br />
aber gewiss nicht erst durch die christlichen Missionäre eingeführt<br />
worden ist. Der gute und böse Geist, Hawneyn<br />
und Hanegoasegeh 3 , treten bei den Irokesen als Zwillingsbrüder<br />
auf und zwar m<strong>it</strong> gleichem Antheile an der Schöpfung.<br />
Wenn von den nördlichen Algonkineru berichtet wird, dass<br />
sie das gute und böse Princip Sonne und Mond nennen 4 , so<br />
sind nach der gewöhnlichen Ausdrucksweise der Indianer dam<strong>it</strong><br />
zwei Erscheinungen bezeichnet, die einander begle<strong>it</strong>en oder<br />
folgen. Wem daher die böse Gotthe<strong>it</strong> im Traume erscheint,<br />
erzählt ein Sauk, der ziehe Weiberkleider an und diene als<br />
Weib. 5 Nach der Ueberlieferung der Huronen hatte der<br />
Weltschöpfer Yoscaha eine Grossmutter, Ataensig, welche das<br />
böse Princip vertr<strong>it</strong>t, jeuer aber das gute. 6 Am verbre<strong>it</strong>etsten<br />
ist bei ihnen der Glaube an die Oki, wom<strong>it</strong> auch die Algonkiner<br />
die höhern Wesen bezeichnen. 7 In früherer Ze<strong>it</strong> wurde<br />
auch in Virginien der böse Geist Okee oder ükeus genannt.<br />
Auch die Potowatomi glauben an böse Wesen als Urheber<br />
innerer Krankhe<strong>it</strong>en, die als Besessenhe<strong>it</strong> gelten. Die<br />
1<br />
Copway, The trad<strong>it</strong>. last, of the Ojibway nation, 184.<br />
2<br />
Hutchinson, Hist. of Massachusetts, 421.<br />
8<br />
Schoolcraft V, 155.<br />
4<br />
De la Potherie, Hist. de l'Amerique septent., I, 121.<br />
5<br />
Keating, Karr, of an exped. to the source of St. Peter's River,<br />
I, 216.<br />
6<br />
Sagard, Grand voy. du pays <strong>des</strong> Hurons, 288.<br />
7<br />
Champlain, Voy. de la nouvelle France occid., I, 296.
39 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Geisterbeschwörer führen in ihrem Zauberbeutel die M<strong>it</strong>tel,<br />
welche den Einfluss der bösen Geister abwehren. Sie verfahren<br />
bei der Heilung aber auch auf andere Weise, sie<br />
saugen an der kranken Stelle, um dann den bösen Dämon<br />
auszuspeien, oder machen ein kleines Thierbild, das sie erschiessen<br />
oder erstechen, wenn das böse Wesen sich in<br />
Thiergestalt in den Kranken eingeschlichen hat, u. dgl. m. x<br />
Die Dahkotahs, die in vieler Beziehung als typisch angenommen<br />
werden können, haben, neben dem grossen Geiste,<br />
den Glauben an Havkah, ein riesenhaftes Wesen von übermenschlichen<br />
Kräften, das so mächtig ist, um den Donner<br />
in seine Hand zu nehmen und auf die Erde werfen zu können,<br />
ist zweifarbig an Gesicht und Augen, führt stets Bogen<br />
und Pfeile m<strong>it</strong> sich, obwol es ihrer nicht bedarf, da es m<strong>it</strong><br />
dem Blicke Thiere tödten kann. Es heisst der widernatürliche<br />
Gott, weil es im Sommer friert und im Winter von der<br />
Kälte leidet, heisses Wasser kalt findet und umgekehrt<br />
u. dgl. m. Sie ziehen bei ungewöhnlichen Himmelserseheinungen<br />
aus, um durch Schreien, Pfeifen und Lärmen die<br />
bösen Wesen, in deren Gewalt sich der Himmel befindet, zu<br />
verscheuchen. Sie glauben an einen Gott <strong>des</strong> Winters, den<br />
Mann <strong>des</strong> Nordens , <strong>des</strong>sen Sohn von dem Manne <strong>des</strong> Südens,<br />
dem Gotte <strong>des</strong> Sommers, getödtet wurde. 2 Die Bewohner der<br />
Insel Nutka an der nordwestlichen Küste Amerikas glauben an<br />
das Dasein eines guten und eines bösen Wesens, Quautz und<br />
Matlox, die einander bekämpfen. 3 Die Chinook, an derselben<br />
Küste, stellen den grossen Geist meist als grossen Vogel<br />
vor, der in der Sonne wohnt. Eine andere Gotthe<strong>it</strong>, die nur<br />
Böses hervorbringt, lebt im Feuer. 4 Die Selisch im Innern<br />
<strong>des</strong> Oregongebietes reden zwar vom grossen Geiste, sollen<br />
ihm aber keine Verehrung erweisen; dagegen ist aber auch<br />
hier der Dualismus von guten und bösen Wesen verbre<strong>it</strong>et. 5<br />
Die religiösen Vorstellungen der Ureinwohner Californiens,<br />
1<br />
Wa<strong>it</strong>z, III, 213.<br />
2<br />
Wa<strong>it</strong>z, Die Indianer Nordamerikas. Eine Studie, S. 133.<br />
3<br />
Humboldt, Neu-Spanien II, 257.<br />
4<br />
W. Irving, Astoria, 259 fg.<br />
5<br />
Cox, The Columbia river, I, 230; Parker, Journal of an explor. tour<br />
beyond the Rocky mountains, 240.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 33<br />
in deren Sprache, nach dem Berichte Bägert's *, die Worte<br />
„Gott" und „Seele" gar nicht vorkommen, werden allerdings<br />
dumpf gewesen sein; indem aber derselbe Berichterstatter<br />
Schamanenthum findet, obschon in sehr roher Form, und von<br />
Männern und Weibern spricht 2 , die m<strong>it</strong> den Geistern verkehren<br />
als den Urhebern von Hungersnoth, Krankhe<strong>it</strong>en und andern<br />
Uebeln: so wird hierm<strong>it</strong> eine dualistische Anschauung von<br />
guten und bösen Wesen vorausgesetzt. Denn das Schamanenthum<br />
beruht in der Anerkennung einer Macht, die der Mensch<br />
unm<strong>it</strong>telbar zu bewältigen nicht im Stande ist,<br />
daher zu verschiedenen<br />
Beschwichtigungsm<strong>it</strong>teln seine Zuflucht nimmt.<br />
Wenn Reiseberichte über Mangel an Zusammenhang; in den<br />
religiösen Vorstellungen der Jäger- und Fischerstämme klagen,<br />
so ist zu bemerken, dass auf dieser Stufe der Cultur überhaupt<br />
kein Zusammenhang erwartet werden sollte. „Der<br />
Mensch verhält sich der Natur gegenüber als Raubthier, er<br />
offenbart seine Herrschaft über sie durch ihre Verneinung:,<br />
er bezwingt ihr Leben, indem er es tödtet." 3 Er treibt<br />
noch keine Arbe<strong>it</strong> , durch die er die Natur umbildete<br />
und dadurch sich selbst bildete, er lebt in kleinen Familien<br />
zerspl<strong>it</strong>tert, bringt es kaum zu einem Volksstamm, geschweige<br />
dass er sich zu einem Volke erwe<strong>it</strong>erte, hat keinen<br />
festen S<strong>it</strong>z, daher auch kein Bes<strong>it</strong>zthum, darum auch keine<br />
<strong>Geschichte</strong>. Bei den Re<strong>it</strong>er- und Jägerstämmen, welche die<br />
grossen Ebenen von Süd- und Nordamerika bewohnen, findet<br />
sich schon der Anfang von Feldbau, Viehzucht und, dam<strong>it</strong><br />
Hand in Hand gehend, manche Fertigke<strong>it</strong> in Bere<strong>it</strong>ung der<br />
Nahrung, Kleidung, <strong>des</strong> Schmucks; die Wohnungen sind<br />
fester, die Familien schliessen sich zu ganzen Stämmen aneinander.<br />
Demgemäss sind auch die religiösen Vorstellungen<br />
mehr zusammenhängend und gipfeln in einem höchsten Wesen<br />
als Urheber alles Lebens. So ist der nordamerikanische Rothhäuter<br />
dem Indianer Südamerikas an entwicke<strong>it</strong>ern Lebensformen<br />
we<strong>it</strong> alberlegen. Der merkliche Wechsel der Jahresze<strong>it</strong>en<br />
bringt ihm das Nacheinander der Ze<strong>it</strong> mehr zum Be-<br />
1<br />
Nachrichten von der amerikanischen Halbinsel Californien. Von<br />
einem Priester der Gesellschaft Jesu, 1772.<br />
2<br />
S. 165.<br />
3<br />
Wuttke, I, 47.<br />
Roskoff, <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> <strong>Teufels</strong>. 1. o
34 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
wusstsein, der Winter heisst ihn im Sommer Vorräthe sammeln,<br />
sich m<strong>it</strong> Bekleidung zu versehen, die scharfen Winde,<br />
Schnee, Nebel in den Prairien Nordamerikas erheischen festere<br />
Wohnungen, die aneinandergereiht zu Dörfern werden, in<br />
denen die Familien zu Stämmen sich zusammenfassen. Im<br />
südlichen Amerika, wo der Wechsel der Jahresze<strong>it</strong> keine<br />
wesentliche oder langdauernde Veränderung zeigt, bedarf es<br />
nur eines leichten Schirmdachs, und dieselbe Bekleidung genügt<br />
das ganze Jahr hindurch. Die Dauer <strong>des</strong> Aufenthalts<br />
ist von der Menge <strong>des</strong> Wil<strong>des</strong> abhängig, die der Wald bietet,<br />
oder von der Reife der Frucht eines flüchtig bebauten Bodenstücks,<br />
wonach die elende, von Baumzweigen zusammengebundene<br />
Hütte verlassen wird und der Zug we<strong>it</strong>er geht.<br />
Während der amerikanische Südländer von wenig Abwechselung<br />
"umgeben, auch wenig angeregt wird, führt der<br />
Nordländer ein stets wechseln<strong>des</strong> Leben zwischen träger Beschaulichke<strong>it</strong><br />
und angestrengter Thätigke<strong>it</strong>. Unter allen Stämmen<br />
der nordamerikanischen Rothhäute findet sich die Verehrung<br />
<strong>des</strong> grossen Geistes 1 von verschiedenen Stämmen<br />
,<br />
verschieden genannt 2 ; aber schon der Umstand, dass der<br />
grosse Geist doch fast bei jedem Stamme einen andern Namen<br />
hat, dadurch von andern Geistern ausdrücklich unterschieden<br />
wird, weist darauf hin, dass von einem Monotheismus<br />
keine Rede sein könne, und Wuttke 3 dürfte im<br />
Rechte sein, wenn er in jenem nur „den mächtigern<br />
Dämon", den „Häuptlingsgeist" eines je einzelnen Stammes<br />
erkennt. Die Bewohner <strong>des</strong> Feuerlan<strong>des</strong> an der<br />
Südsp<strong>it</strong>ze von Amerika, denen das rauhe, felsige, an Producten<br />
arme Land wenig bietet, entnehmen ihre Nahrung<br />
meistens der See und führen als Fischer kein sesshaftes Leben,<br />
sondern streifen umher und schlagen ihre Hütten da auf, wo<br />
sie für die nächste Zukunft Unterhalt finden, ziehen wieder<br />
we<strong>it</strong>er, wenn dieser erschöpft ist. Von den spärlichen Nachrichten<br />
über ihre religiösen Vorstellungen ist hervorzuheben<br />
der<br />
Glaube an übelthätige Wesen, welche sie dadurch zu verscheuchen<br />
suchen, dass sie gen Himmel blickend in die<br />
1<br />
Müller, <strong>Geschichte</strong> der amerikanischen Urreligion, 99 fg.<br />
2<br />
Vgl. Scherr, <strong>Geschichte</strong> der Religion, I, 21.<br />
3<br />
I, 92.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 35<br />
Luft blasen. 1 Um die Aehnlichke<strong>it</strong> der religiösen Vorstellungen<br />
der Eingeborenen von Südamerika m<strong>it</strong> denen der nordamerikanischen<br />
Stämme im allgemeinen zu zeigen, führt Wa<strong>it</strong>z®<br />
die Hauptzüge der Schilderung Falkner's von den Patagoniern<br />
an: sie glauben an eine Vielhe<strong>it</strong> von Göttern,<br />
deren einige gut, andere böse sind. An der Sp<strong>it</strong>ze der erstem<br />
steht Guayarakunny oder der Herr der Todten; der oberste<br />
böse Geist heisst Attskannakanath oder Valichu, welcher Name<br />
allen bösen Geistern zukommt , auf die sich die Verehrung zu<br />
beschränken pflegt.<br />
Die dunkle Ahnung von Wesen, die höher und mächtiger<br />
sind als der Mensch, findet sich auch bei den Australiern.<br />
Wie sie sprachliche Ausdrücke für gut und böse haben, so<br />
auch die Vorstellung von einem guten Wesen Koyan Gujot,<br />
gegenüber dem bösen Koppa, der in dunkler Nacht in düsterer<br />
Höhle haust, im Win<strong>des</strong>rauschen sich vernehmen lässt. Der<br />
böse Warwi, der die Kinder raubt, lebt im Wasser; anderwärts<br />
herrscht die Furcht vor Man, Kupir, Bucki, Manjus.<br />
Ebenso sind die ungeheuerlichen Gestalten, unter welchen das<br />
böse Wesen vorgestellt wird, verschieden. Nach der Vorstellung<br />
der Neuholländer hausen ihre bösen Wesen in der<br />
Finsterniss und erscheinen in der Gestalt von wilden Thieren<br />
oder von Menschen als Gespenster, um den Tod zu bringen<br />
3 . Alle Krankhe<strong>it</strong>en werden in Australien durch die<br />
übelthätigen Bayl-yas verursacht, die sich unsichtbar durch<br />
die Luft transportiren und ihre Opfer befallen, aus deren<br />
x Körper sie die Priesterärzte in der Form von Quarzstückchen<br />
auszuziehen verstehen. 4 Auch die Bewohner der Insel<br />
Rook in Neuguinea glauben, dass Krankhe<strong>it</strong>en von bösen<br />
Geistern, Marcabes, herrühren, die in Wäldern wohnen,<br />
wilde Schweine essen, <strong>des</strong> Nachts in die Wohnungen schleichen,<br />
aus denen sie die Seele <strong>des</strong> Lebendigen entführen. Es<br />
wird auf derselben Insel vornehmlich ein böses Wesen, Marsaba,<br />
anerkannt, das aber keine Opfer, sondern Schläge erhalten<br />
soll. Nach irgendeinem Unglücksfalle laufen die Leute,<br />
1<br />
Meriais bei Bastian, II, 113.<br />
2<br />
Die Indianer Nordamerikas, S. 136.<br />
3<br />
Wuttke, I, 90.<br />
* Bastian, II, 125.<br />
3*
36 Erster Abschn<strong>it</strong>t : Der<br />
religiöse Dualismus.<br />
schreien, sehimpfen, heulen, schlagen die Luft m<strong>it</strong> Stöcken,<br />
um Marsaba zu vertreiben. Von der Stelle ausgehend, wo<br />
Marsaba den Schaden angerichtet hat, jagen sie ihn in das<br />
Meer, am Strande angelangt, verdoppeln sie den Lärm, um<br />
den Bösen von der Insel zu verscheuchen, der sich dann gewöhnlich<br />
ins Meer oder nach der Insel Lottin zurückziehen<br />
soll. > Unter den Buschmännern, die das innere Afrika nördlich<br />
vom Cap durchstreifen, wo die Unfruchtbarke<strong>it</strong> <strong>des</strong> Bodens<br />
keine Anhaltspunkte zu einem sesshaften Leben bietet, findet<br />
sich nur eine unklare Vorstellung vom Einflüsse übermenschlicher<br />
Wesen. Nach den M<strong>it</strong>theilungen Campbeils 2 sollen sie eine<br />
männliche Gotthe<strong>it</strong> über, und eine weibliche unter der Erde annehmen.<br />
Nach Abousset et D. (S. 501) 3 glauben sie an einen unsichtbaren<br />
Mann im Himmel. Die im Damaralande bieten dem<br />
,<br />
Wassergotte Trosip, einem grossen rothen Mann m<strong>it</strong> weissem<br />
Kopfe, einen Pfeil, Stücke Haut oder Fleisch dar, wenn sie<br />
nach Wasser graben wollen, auch b<strong>it</strong>ten sie ihn um Nahrung<br />
und glückliche Jagd. Die rohen Anfänge der Religion, die<br />
als unzusammenhängender Aberglaube erscheinen, gestalten<br />
sich nothwendig als dualistisch, indem Donner, Sturm, Erdbeben,<br />
Krankhe<strong>it</strong>en und ähnliche das Dasein <strong>des</strong> Menschen<br />
bedrohende. Vorfälle<br />
werden.<br />
bösen Wesen als Urhebern zugeschrieben<br />
In den Polarl ändern, wo der an sich sterile Boden die<br />
grössere Hälfte <strong>des</strong> Jahres m<strong>it</strong> Schnee und Eis bedeckt ist,<br />
muss der Mensch durch mühevolle Arbe<strong>it</strong> sein Leben fristen,<br />
wodurch aber sein Geist auch frisch erhalten wird, wie die<br />
Luft, welche seine Zone bedeckt, die er einathmet und<br />
ihn nicht jenem dumpfen Hinbrüten verfallen lässt, in welchem<br />
der Südländer sein höchstes Glück findet. Der reiche<br />
Schatz von Sagen unter den Polarmenschen deutet auch auf<br />
ein geweckteres geistiges Leben, welches in der Jagd und den<br />
dam<strong>it</strong> verbundenen gefahrvollen Fahrten auf leichten Kähnen<br />
zwischen kolossalen Eismassen unterhalten wird. Die Spärlichke<strong>it</strong><br />
der Natur nöthigt den Polarbewohner zu sinnreicher<br />
1<br />
Bastian, II, 93.<br />
2<br />
Zwe<strong>it</strong>e Reise, Ö. 1G9.<br />
3<br />
Bei Wa<strong>it</strong>z, II, 346.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 37<br />
Benutzung der wenigen dargebotenen M<strong>it</strong>tel und schärft seinen<br />
W<strong>it</strong>z, den er vor dem Tropenbewohner voraus hat. Der<br />
amerikanische Waldindianer, vom Hunger zur Jagd getrieben,<br />
hat, wenn er gesättigt ist, kein höheres Verlangen als nach<br />
träger Ruhe; der Kamtschadale strengt zwar seine Kraft auch<br />
nur so we<strong>it</strong> an, als seine und der Seinigen Ernährung erheischt,<br />
sein Streben geht aber bei genügendem Vorrath<br />
danach, durch Gastereien, Besuche, Tänze, Gesang, Erzählungen<br />
in Gesellschaft sich zu belustigen. 1 Im allgemeinen<br />
finden die Reisenden bei den Polarbewohnern Lebhaftigke<strong>it</strong>,<br />
Munterke<strong>it</strong>, Gastfreundschaft, daneben aber betrügerisches<br />
Wesen, Hinterlist, Furchtsamke<strong>it</strong> neben Kühnhe<strong>it</strong>,<br />
Gutmüthigke<strong>it</strong> neben rücksichtsloser Grausamke<strong>it</strong>, grosse<br />
Vorsicht neben kindischer Leichtgläubigke<strong>it</strong>, Verständigke<strong>it</strong><br />
neben dickem Aberglauben." 2 Diese gegensätzlichen Elemente,<br />
die mehr oder weniger im Polarmenschen liegen, erklären<br />
sich avoI auf Grund der klimatischen Verhältnisse aus der<br />
grössern Reizbarke<strong>it</strong> der Nerven, die selbstredend bei dein<br />
weiblichen Geschlechte einen noch höhern Grad erreicht. 3<br />
Aus der Abgeschlossenhe<strong>it</strong> der Familiengruppen oder<br />
kleinen Stämme erklärt sich auch die grosse Mannichfaltigke<strong>it</strong><br />
im religiösen Glaubenswesen der Polarbewohner. Im Allge-<br />
...<br />
meinen herrscht aber durchaus der Dualismus von mächtigen<br />
wohlthätigen und übelthätigen Wesen, hervorgerufen durch<br />
die Unregelmässigke<strong>it</strong>en im Verlaufe der Jahresze<strong>it</strong>en, der<br />
W<strong>it</strong>terung, wovon der Fischer und Jäger sich und auch die<br />
Erwerbung seiner Nahrung und Kleidung abhängig sieht. Die<br />
dualistische Anschauung beruht auf der precären Existenz <strong>des</strong><br />
Menschen, seine Abgeschiedenhe<strong>it</strong> und die lange Winternacht<br />
geben seinem Geiste Muse, den Dualismus zu fixiren.<br />
Bei den Grönländern besorgen zwei oberste Gotthe<strong>it</strong>en,<br />
eine gute und eine böse, die Erschaffung der Welt, deren<br />
Erhaltung und die Le<strong>it</strong>ung der Menschen. Das gütige Wesen,<br />
Torngarsuk, ist männlich, das misgünstige weibliche ist ohne<br />
Namen. Von ersterm heisst es bald, dass es ohne Gestalt<br />
sei, während andere es als grossen Bären oder grossen Mann<br />
1<br />
Steller, 286.<br />
2<br />
Ellis, 132; Steller, 285.<br />
3<br />
Georgi, Beschreibung der Nationen <strong>des</strong> russischen Reichs, S. 278.
38 Erster Abschn<strong>it</strong>t : Der religiöse Dualismus.<br />
m<strong>it</strong> einem Arm, bald als Däumling vorgestellt wissen wollen.<br />
Obwol unsterblich, könne: es doch getödtet werden, wenn<br />
jemand in einem Hause, wo gezaubert wird, einen Wind<br />
liesse. ' Wa<strong>it</strong>z hält 2 zwar Torngarsuk für das höchste Wesen<br />
der Grönländer und den Vater der Angekok oder Zauberer,<br />
in<strong>des</strong>sen zweifelt er, ob jener als gute Gotthe<strong>it</strong> zu bezeichnen<br />
sei, und stellt entschieden in Abrede, dass er finden<br />
Weltschöpfer gehalten werde. Den Gegensatz zu Torngarsuk's<br />
Grossmutter, dem bösen Weibe, das im Innern der<br />
Erde wohnt, hält in<strong>des</strong>sen auch Wa<strong>it</strong>z fest, und daran ist<br />
uns im gegenwärtigen Falle nur gelegen.<br />
Die Grönländer sowie andere Polarländer fürchten noch<br />
manche andere verderbliche Wesen. So sagen die Grönländer:<br />
in der Luft wohne ein Innua, d. h. Bes<strong>it</strong>zer, den sie Innerterrirsok,<br />
d. h. Verbieter, nennen, weil er durch die Angekoks<br />
(die Zauberer) den Leuten sagen läset, was sie nicht thun<br />
sollen. Der Elversortok wohnt auch in der Luft und passt<br />
den aufwärtsfahrenden Seelen auf, um ihnen das Eingeweide<br />
herauszunehmen und zu verzehren. Er ist mager, finster und<br />
grausam. Kongeusetok<strong>it</strong> sind Meergeister , welche die Füchse<br />
wegschnappen und fressen, wenn sie am Seestrande fischen<br />
wollen. Die Feuergeister Ingnerso<strong>it</strong> hausen in Klippen an<br />
der Meeresküste und raffen den Menschen hinweg. Auch die<br />
hundsköpfigen Erkigl<strong>it</strong> sind als Kriegsgeister grausame Menschenfeinde,<br />
die aber nur auf der Ostse<strong>it</strong>e <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> Avohnen.<br />
Die Vermuthung, dass in diesem Zuge die Erinnerung an die<br />
alten Norweger aufbewahrt sei, hat viele Wahrscheinlichke<strong>it</strong>. 3<br />
Die Kodjaken, obschon dem Namen nach Christen,<br />
halten doch ihren alten dualistischen Glauben an gute und<br />
böse Wesen fest, und letztern soll vorzüglich Verehrung erwiesen<br />
werden. 4<br />
Die Kamtschadalen sagen bei der Frage nach dem<br />
Weltschöpfer: Kutka habe Himmel und Erde gemacht, aber<br />
eben kein Meisterstück geliefert, da er, wenn er klug gewesen,<br />
die Welt viel besser, nicht m<strong>it</strong> so vielen Bergen und<br />
1<br />
Klemm,<br />
2<br />
II, 316.<br />
III, 810.<br />
3<br />
Crantz, I, 2GG fg.<br />
4<br />
Langend orff, II, 5G; Lisiansky, 196.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 39<br />
Klippen ausgestattet hätte, nicht reissende oder seichte Gewässer,<br />
keine Stürme noch Regen eingesetzt haben würde.<br />
Jede Beschwerde wird auf Kutka zurückgeführt und dieser<br />
darob getadelt. Alles Unverständige wird ihm zugeschrieben,<br />
und nur seiner klügern Frau sei es zu danken, wenn er nicht<br />
mehr Thorhe<strong>it</strong>en begehe. Er zeugte m<strong>it</strong> ihr Kinder, von<br />
denen auch die Kamtschadalen abstammen. Neben Kutka<br />
glauben sie an viele übelthätige Wesen, vor denen sie sich<br />
fürchten. Uschachtschu , der wie ein Mensch aussehen soll,<br />
und sein Weib, m<strong>it</strong> einem auf dem Rücken angewachsenen,<br />
beständig weinenden Kinde, machen die Leute toll und verführen<br />
sie. Billukai oder Billutschet, der m<strong>it</strong> seinen Kamuli<br />
in den Wolken wohnt, bl<strong>it</strong>zt und donnert und lässt bei Sturmwinden<br />
durch seine Kamuli die Kinder der Menschen rauben,<br />
um sie zu Lampenhältern in seiner Jurte zu verwenden. 1 Die<br />
Kamtschadalen sollen einen förmlichen Teufel annehmen, Namens<br />
Kanna, der als sehr schlau und betrügerisch gedacht<br />
wird und in einem sehr alten und grossen Erlenbaum bei<br />
Nischna wohnen soll, daher jährlich viele Pfeile, von denen<br />
dieser ganz gespickt sein soll, abgeschossen werden. Der<br />
Urheber <strong>des</strong> Erdbebens ist Tuil, der m<strong>it</strong> seinem Hunde auf<br />
dem Schl<strong>it</strong>ten unter der Erde fährt, und wenn dieser die<br />
Flöhe oder den Schnee abschüttelt, die Erde dadurch in Bewegung<br />
setzt.<br />
Die Hirtenvölker. Obgleich die Anfänge <strong>des</strong> Hirtenlebens<br />
dürftiger erscheinen als die höhern Stufen <strong>des</strong> Jägerund<br />
Fischerlebens, ist das Nomadenleben doch entwicklungsfähiger,<br />
daher es Nomaden gibt, die einen we<strong>it</strong> höhern Culturgrad<br />
erreichen, als Jäger- und Fischerstämme je im Stande<br />
sind. Ein wesentliches Moment beim Nomaden ist „die<br />
Freude am Bes<strong>it</strong>z". l Während der Jäger und Fischer<br />
nur den unm<strong>it</strong>telbaren Genuss am Thiere sucht, wirkt auf<br />
den Nomaden civilisatorisch der Umstand, dass er nicht<br />
bloss vernichtend in die Natur eingreift, um zu gemessen,<br />
dieselbe vielmehr schont und zu erhalten sucht, sie pflegt,<br />
um sie bes<strong>it</strong>zen zu können. Daran knüpft sich, dass das<br />
Hirtenleben auf den Frieden gegründet ist, und der Krieg<br />
1<br />
Steller, Kamtschatka, 265.<br />
2<br />
Klemm, 111, 5.
40 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
nur als Ausnahme, als Nothwehr gilt. Der Ilirte führt ein<br />
regelmässigeres Leben, seine Arbe<strong>it</strong>en,<br />
die sieh täglich wiederholen,<br />
erheischen keinen übermässigen Kraftaufwand, <strong>des</strong>sen<br />
der Jäger oft bedarf, um satt zu werden. Das Hirtenleben<br />
steht in der M<strong>it</strong>te zwischen dem ungeordneten, wilden Jägerleben<br />
und dem regelmässigen Culturleben <strong>des</strong> Ackerbauers.<br />
Wir finden daher in der Wirklichke<strong>it</strong>, dass das Jägerthum<br />
in das Nomadenthum hineinragt, und zwar ist dies vornehmlich<br />
der Fall bei den Polarnomaden, welche ausser der<br />
Milch der Hausthiere und deren Fleisch auch von Jägerei und<br />
in der Nähe <strong>des</strong> Wassers von Fischerei sich nähren. Ein<br />
Zeichen der höhern Cultur ist darin zu bemerken, dass fast<br />
bei allen nur durch Feuer zubere<strong>it</strong>etes Fleisch genossen wird.<br />
Die Lappländer leben in geringer Gemeinschaft, woher<br />
in Bezug auf ihren religiösen Glauben eine grosse Mannichfaltigke<strong>it</strong><br />
herrscht. Die Nachrichten über ihre religiösen Vorstellungen,<br />
obschon we<strong>it</strong> dürftiger als die über Kamtschadalen<br />
und Grönländer, stimmen darin überein, dass oberste Gotthe<strong>it</strong>en<br />
im Himmel, unter dem Himmel, also in der Luft und<br />
unterirdische anerkannt werden. Da es unter den Grönländern<br />
Zauberer gibt, so setzt dies ein vorhandenes Zauberwesen in<br />
ihrer religiösen Anschauung voraus, wofür auch die Zaubertrommeln<br />
sprechen , durch w r elche der Wille der Götter erforscht<br />
und erkannt wird, welchem derselben ein Opfer darzubringen<br />
ist. Man hat die Religion der schwedischen Lappen<br />
und der norwegischen im wesentlichen übereinstimmend gefunden,<br />
bis auf die Namen der Gotthe<strong>it</strong>en, die verschieden<br />
sind. 1 Die norwegischen Lappen nennen den obersten aller<br />
Götter Radien 7 Atzie, <strong>des</strong>sen einziger Sohn Radien- Kidde<br />
ist. Bei den schwedischen Lappen heisst der erste der drei<br />
grossen Götter Tjermes der Donnergott, auch Aijeke, Grossvater,<br />
von dem der Menschen Leben, Gesundhe<strong>it</strong>, Krankhe<strong>it</strong>,<br />
Tod abhängt; er führt auch die Herrschaft über die schädlichen<br />
Geister, die in Höhlen, Gebäuden, Seen hausen, und<br />
die er zuweilen straft und m<strong>it</strong> seinen Bl<strong>it</strong>zen tödtet. Dazu<br />
dient ihm ein Bogen, wom<strong>it</strong> er die Geister schiesst, und der<br />
wird im Regenbogen erkannt. Er hat ferner, wie der ger-<br />
Seheffer. Lappland, S. 10G iy.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 41<br />
manische Thor, einen Hammer, m<strong>it</strong> dem er die Geister zermalmt.<br />
Storjunkare gilt als Statthalter <strong>des</strong> Aijeke, gewährt<br />
den Menschen viel Gutes und gestattet <strong>des</strong>halb auch, dass die<br />
Thiere, über die er die Herrschaft führt, von jenen gefangen<br />
werden. Baiwe oder Sonne wird als Urheberin aller Erzeuo--<br />
nisse und Geburten betrachtet. Die Lappen glauben aber<br />
noch an mehrere kleinere Geister, namentlich der Verstorbenen,<br />
und das Juulheer schweift, gleich dem deutschen<br />
wilden Jäger, in Wäldern und Bergen einher. Nach der<br />
dualistischen Anschauung, die auch in der religiösen Anschauung<br />
der Lappen vertreten ist, haust inm<strong>it</strong>ten der Erde<br />
Peskal als oberster der bösen Geister, und Rota waltet über<br />
Sünder und Gottlose. Unter der Erde wohnt die Mutter <strong>des</strong><br />
To<strong>des</strong>, Jabme Akko, die Grabesgöttin, bei der die Seelen<br />
der Abgeschiedenen bleiben, bis ihr Schicksal entschieden ist.<br />
Bei Klemm 2 findet sich eine Abbildung einer der vollständigsten<br />
Zaubertrommeln der Lappländer, die er aus der Abhandlung<br />
<strong>des</strong> Erich Joh. Jessens 3 im verkleinerten Massstabe<br />
m<strong>it</strong>theilt. Da sind, ausser verschiedenen Gotthe<strong>it</strong>en, auch der<br />
böse Geist „Rutu" und „Rumpi", der Wolf oder Hund<br />
<strong>des</strong>selben , dann die zum Schaden stets bere<strong>it</strong>en Geister<br />
„Mubben-Ohnak". Bei allen finnischen Völkern ist die Welt<br />
voll Geister in verschiedenen Gestalten. Durch das gebirgige<br />
Land getrennt und vereinzelt haben sie weder ein gemeinsames<br />
Oberhaupt noch einen Volksgottesdienst oder Priesterschaft.<br />
Die vielen Seen, Flüsse und Wasserfälle, die als<br />
„heilig" bezeichnet werden, geben sich als Stätten einstiger<br />
religiöser Culte zu erkennen. 4 Bekanntlich bedeutete im<br />
M<strong>it</strong>telalter „Finne" so viel als „Zauberei", was von der allgemein<br />
bekannten Zauberei der Finnen herrührt,<br />
deren Vorhandensein<br />
wieder auf die Anerkennung böser Wesen, also <strong>des</strong><br />
Dualismus zurückle<strong>it</strong>et. Ein besonders gefürchteter böser<br />
Gott war Hüsi oder Hyse, stark und wild, als Bezähmer der<br />
wilden Thiere und Bären verehrt, an einem furchtbaren Orte<br />
1<br />
Mone, <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> Heidenthums, I, 57.<br />
2<br />
III, 93.<br />
3<br />
„De Finnorum Lapporumque norwegiorum religione pagana" in<br />
Kund Leem's Comment. de Lapponibus Finnmarchiae (Kopenhagen 1767).<br />
4<br />
Rühs, Finnland und seine Bewohner, S. 22.
42 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
hausend, woher der Ausdruck: „Mene Hüten", geh zu Hüsi,<br />
als grösste Verwünschung gilt. Für m<strong>it</strong> diesem verwandt<br />
wird gehalten x der Höllengott Perkel, Peiko, den Georgi für<br />
den finnischen Teufel hält. Die Geisterlehre war sehr ausgebildet,<br />
und Mone 2 unterscheidet Erd-, Wasser- und Luftgeister,<br />
welche, gleich den Hauptgeistern, sich in wohlthätige<br />
und übelthätige theilten. Die Luftgeister, allgemein Capeel<br />
(Kobolde) genannt, neckten die Menschen, griffen den Mond<br />
an, wodurch er verfinstert wurde, u. dgl. Sie konnten durch<br />
Zauberei bezwungen werden. Der Alp Peinajainen (der<br />
Drücker) drückt die Schlafenden, verursacht das Schielen<br />
und schädigt die Kinder. Nach der Behauptung <strong>des</strong> Schweden<br />
Rühs sollen die meisten höhern Wesen böser Natur, daher<br />
Gegenstand der Furcht und nicht der Verehrung sein.<br />
Die Eskimo haben einen gütigen Gott Ukuma, daneben<br />
einen übelthätigen Uikan, der als Urheber aller Uebel auch<br />
die Stürme erregt, die Fahrzeuge umwirft, die Arbe<strong>it</strong> vergeblich<br />
macht. Hinter allem, was dem Menschen widerfährt,<br />
ahnen sie ein gutes oder böses Wesen.<br />
Die Religion der Tungusen hat im wesentlichen dieselben<br />
Grundzüge wie die der Lappen. 3 Dem grossen unsichtbaren<br />
Gott Boa unterstehen alle übrigen Gotthe<strong>it</strong>en. Die Untergotthe<strong>it</strong>en<br />
sind theils guter, theils schlimmer Art. Die vornehmste<br />
Untergotthe<strong>it</strong> ist Delatsche oder Tirgani, die Sonne;<br />
Bega, der Mond, hat zur Begle<strong>it</strong>erin Doloin, die Nacht, Os<strong>it</strong>ka,<br />
die Sterne, deren jeder Mensch einen als Schutzgeist hat.<br />
Ungja, die W r olken, Niolka, Regen, Bonaran, Hagel, Tamnascha,<br />
Nebel, Okschaden, Sturm und Wind, sind neben dem Gew<strong>it</strong>ter<br />
und Regenbogen Gotthe<strong>it</strong>en, deren Wirkungen sowol dankbar<br />
anerkannt als auch gefürchtet Averden. Ebenso wird das<br />
Wasser der Fische wegen verehrt, übrigens aber als schrecklich<br />
gefürchtet, denn in ihm, wie im Bauche der Erde wohnen<br />
die bösen Geister, deren Zahl ungeheuer gross ist. Die bösen<br />
Geister Buni, welche den Auftrag haben, das Böse zu bestrafen,<br />
empfinden Wollust am Strafen und gehen daher gerne<br />
in diesem zu we<strong>it</strong>, daher man sie besänftigen oder sich an<br />
1<br />
Mone, <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> Heidenthums, I, 56 fg.<br />
2<br />
A. a. 0.<br />
3<br />
Georgi, Bemerkungen auf einer Reise im rassischen Reiche, I, 275 fg.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 43<br />
gute Geister wenden muss. Der vornehmste Wasser-Buni,<br />
der dasselbe aufregt, Kähne umstösst, die Fische vertreibt, ist<br />
Garan; der erste Buni der Erde ist Kongdarokdi, Darokdi;<br />
Menschen und Thieren wird Atschint<strong>it</strong>ei durch die Mücken<br />
und sonstiges Ungeziefer beschwerlich.<br />
Die Buräten, deren alte heidnische Religion m<strong>it</strong> jener<br />
der Tungusen und Lappen zusammenfällt, haben manches von<br />
ihren Lamaischen Nachbarn angenommen, wie jene ihre ursprüngliche<br />
religiöse Anschauung durch christliche Vorstellungen<br />
vermehrt haben. Neben ihrem obersten Gott Oktorgon-<br />
Burchan oder Tigiri-Burchan werden Sonne, Mond und Erde<br />
als nächste Gotthe<strong>it</strong>en verehrt. An der Sp<strong>it</strong>ze der übelthätigen<br />
Gotthe<strong>it</strong>en, die sehr gefürchtet und bei allen Ceremonien<br />
feierlich verflucht werden, steht Okodil, <strong>des</strong>sen Macht sowie<br />
die seiner untergebenen Wesen in Beziehung auf die Menschenseelen<br />
durch Oktorgon-Burchan beschränkt wird.<br />
Auch bei den Ostiaken, die das höchste Wesen Tornim<br />
nennen, überdies aber noch viele andere Gotthe<strong>it</strong>en haben,<br />
finden wir den Dualismus, sowie bei den Wogulen und allen<br />
übrigen Polarnomaden. Sie nennen die übelthätige Gotthe<strong>it</strong><br />
Kul, die Samojeden ihr böses Wesen Sjoudibe; die Motonen:<br />
Huala; die Karpassen: Sedkir u. a. in. Die Tschuwaschen<br />
von Katschinzi, die ihre Gebete an eine wohlthätige<br />
Gotthe<strong>it</strong> richten, wobei sie sich gegen Osten wenden, fürchten<br />
noch mehr ihre bösartige Gotthe<strong>it</strong> Tous, zu der sie beten,<br />
um Schaden abzuwenden.<br />
Die dualistischen religiösen Vorstellungen der Polarnomaden<br />
fassen sich darin zusammen: dass ein grosser, guter<br />
Schöpfer aller Dinge angenommen wird, der bei der Le<strong>it</strong>ung<br />
der irdischen Dinge sich eines Statthalters bedient. Die<br />
Sonne wird fast durchaus als göttliches Wesen betrachtet<br />
nebst einer Anzahl guter Geister. Diesen gegenüber stehen<br />
ihre Widersacher m<strong>it</strong> einer Menge untergeordneter übelthätiger<br />
Geister, die im Innern der Erde, in Gewässern, Bergen, Klüften,<br />
Wäldern, Insekten hausen und die Urheber <strong>des</strong> menschlichen<br />
Elends sind.<br />
Der Dualismus herrscht auch bei den Nomaden der gemässigtcn<br />
Zone, welche das m<strong>it</strong>tlere Asien vom Schwarzen<br />
und Kaspischen Meere bis zur östlichen Seeküste zwischen<br />
den sibirischen Grenzen <strong>des</strong> russischen Reichs und Chinas be-
44 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
wohnen. Gegenwärtig ist die Religion der mongolischen<br />
Stämme der ans Asien stammende Buddhismus; die älteste,<br />
ans dem Volke hervorgegangene war jedoch Schamanenthinn,<br />
wobei zahllosen guten und bösen Geistern gedient wurde verm<strong>it</strong>tels<br />
der Zauberer. Die bösen Geister, die sich in dem<br />
Kreise der Gotthe<strong>it</strong>en sämmtlicher mongolischen und finnischen<br />
Geisterverehrer befinden, hausen in heissen Quellen,<br />
feuerspeienden Bergen, Höhlen, Wüsten u. dgl. Sie haben<br />
scheussliche Gestalten und erscheinen als Schlangen, alte Weiber,<br />
Spinnen, und machen überhaupt dem Menschen das Leben<br />
sauer. 1 Die Dämonenverehrung, die im ganzen m<strong>it</strong>tlem und<br />
nördlichen Asien herrscht, hat man nicht unrichtig die eigentliche<br />
Steppen religio n genannt. 2 In den Stürmen von<br />
Gobi hausen nach der Sage die bösen Geister, die den Reisenden<br />
durch Nachahmung von Menschenstimmen, Waffengeklirre<br />
und seltsames Blendwerk irrele<strong>it</strong>en und ins Verderben<br />
stürzen. 3 Wie anderwärts wurden auch bei den Mongolen<br />
die bösen Geister durch Opfer besänftigt oder durch<br />
Zauberer abgewehrt. "* Bei den Jakuten werden alle Mis-<br />
'Ö v<br />
geburten als von Natur böse Geister betrachtet und daher so-<br />
&<br />
fort aufgehängt. 5<br />
Die Beduinen, welche die Wüsten Syriens, Arabiens<br />
und Nordafrikas bewohnen und, obschon in zahllose kleine<br />
Stämme zerspl<strong>it</strong>tert, doch in S<strong>it</strong>te, Lebensart, Sprache und<br />
Körperbildung auf die einhe<strong>it</strong>liche Abstammung zurückweisen,<br />
bekennen sich zwar gegenwärtig zum Islam, <strong>des</strong>sen Vorschriften<br />
aber nicht strenge eingehalten werden. Die ursprünglichen<br />
Formen <strong>des</strong> religiösen Glaubens der Beduinen sind<br />
zwar durch Sabäismus, Judentimm, Christcnthum und Islam<br />
verdrängt oder alterirt worden, es wird aber angenommen,<br />
dass schon früh Gestirncultus geherrscht habe, wo die Gestirne<br />
nicht blos als Ze<strong>it</strong>messer, sondern als die S<strong>it</strong>ze höherer<br />
1<br />
Georgi, Reise, S. 275. 396; <strong>des</strong>sen Beschreibung, 380 fg.; Pallas,<br />
Reisen, I, 340; derselbe, Mongolische Völkerschaften , I, 165; Steiler,<br />
Kamtschatka, S. 47; Crantz, Grönland, 250.<br />
2<br />
Schmidt, Ssan. Ssetzen, 352; Stuhr, Religionssysteme, 244.<br />
3<br />
Marco Polo, I, 35; R<strong>it</strong>ter, III, 379.<br />
4<br />
D'Osson, I, 17.<br />
8<br />
J. G. Gmelin, Reise durch Sibirien, II, 456.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 45<br />
Wesen betrachtet worden seien, daher die Personification der<br />
Gestirne. l Bei dem Naturdienst wurden Quellen und Brunnen,<br />
besondersgestaltete Felsen gefeiert, und die Verehrung<br />
ausgezeichneter Helden erzeugte den Cultus der Vorfahren.<br />
"Wie aber der Religion erster Anfang vom Gefühle der Abhängigke<strong>it</strong><br />
<strong>des</strong> Menschen von der Natur ausgeht, so wurden<br />
sicher auch die alten Beduinen zur Verehrung wohl- und<br />
übelthätiger Naturmächte geführt, welche als überirdische gefürchtet,<br />
daher abzuwehren oder zu versöhnen waren. Dafür<br />
spricht die noch heute gehandhabte abwehrende Zauberei,<br />
durch Anwendung von Anmieten, allerlei Anhängseln und<br />
verschiedenen Praktiken, die schon in frühesten Ze<strong>it</strong>en üblich<br />
war, und es lässt<br />
sich denken, wie jeder Stamm seinen eigenen<br />
Stammesgott, so auch seinen eigenen Stammesfetisch gehabt<br />
habe.<br />
Nomaden der heissen Zone. Der Glaube an einen<br />
Gott als Schöpfer und Regierer der Welt wird den Kaffern<br />
von einigen ursprünglich abgesprochen' 2 ,<br />
von andern zuerkannt. 3<br />
Es kann also darüber gestr<strong>it</strong>ten werden, ob sie m<strong>it</strong> dem höchsten<br />
Wesen den Begriff <strong>des</strong> Schöpfers verbinden; dass sie aber<br />
eine höhere Macht anerkennen, ebenso dass sie die dualistische<br />
Anschauung aller übrigen Stämme theilen, geht schon daraus<br />
hervor, dass nach den übereinstimmenden Berichten der Reisenden<br />
die Zauberei eine hervorragende Rolle spielt. Im Begriffe<br />
der Zauberei liegt immer das Wirken, und zwar zunächst<br />
das abwehrende, auf eine Macht verm<strong>it</strong>tels einer andern,<br />
es liegt also stets die Annahme einer doppelten, sich entgegengesetzten<br />
Macht zu Grunde. Bei den Kaffern sind die Zauberer,<br />
Inyanga, von grosser Wichtigke<strong>it</strong> und werden dieselben<br />
nach mehrern Graden abgestuft. Sie verstehen mancherlei<br />
Uebel durch ihre Kunst abzuwehren, machen z. B. die Krieger<br />
durch ein<br />
schwarzes Kreuz auf der Stirn und schwarze Striche<br />
auf den Backen im Kampfe unverwundbar oder gar unsichtbar<br />
für den Feind, diesen aber blind oder von Furcht und<br />
Schrecken ergriffen u. dgl. 4 Im Vordergründe <strong>des</strong> religiösen<br />
1<br />
Hartmann, Aufklärung über Asien, II, 274.<br />
2<br />
Alberti, 93; Le Vaillant, Reise, 305.<br />
3<br />
Dähne, Kaffernland, 55; Collenso, 57.<br />
4<br />
Dähne, 303.
40 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Bewusstseins steht bei dem Kaffer die bange Scheu vor der<br />
Macht, welcher gewisse unglückliche Zufälle zugeschrieben<br />
werden, und die man daher zu besänftigen trachten muss.<br />
So wird bisweilen eine Krankhe<strong>it</strong> für die Folge der einem<br />
Flusse zugefügten Beleidigung gehalten, aus dem die Horde<br />
das Wasser holt, und man glaubt den Fluss dadurch zu versöhnen,<br />
dass man die Eingeweide von einem geschlachteten<br />
Vieh oder eine Menge Hirse in denselben wirft. Einst starb<br />
ein Kaffer kurz darauf, nachdem derselbe von dem Anker<br />
eines gestrandeten Schiffes ein Stück abgeschlagen hatte. Dies<br />
ward für eine Beleidigung gehalten, und se<strong>it</strong> der Ze<strong>it</strong> ging<br />
kein Kaffer an dem beleidigten Anker vorbei, ohne denselben<br />
zu grüssen, um dadurch den Zorn abzuwenden. Ist ein Elefant<br />
m<strong>it</strong> vieler Mühe erlegt, so entschuldigt man sich bei<br />
demselben und versichert ihm, dass die Tödtung nicht m<strong>it</strong><br />
Absicht, sondern nur zufällig geschehen sei. Der Rüssel <strong>des</strong><br />
getödteten Elefanten wird sorgfältig begraben, denn der Elefant<br />
ist ein grosser Herr und der Rüssel seine Hand, wom<strong>it</strong><br />
er schaden kann. So erblickt der Kaffer in dem Flusse, dem<br />
Anker und dem Elefanten ein Wesen, das gleich ihm einen<br />
Willen und eine Macht hat, das auch gleich ihm gereizt und<br />
versöhnt werden kann. 1<br />
In unendlich vielen Variationen tr<strong>it</strong>t die Vorstellung von<br />
einem höchsten Wesen bei der schwarzen Menschenrasse<br />
hervor 2 ,<br />
welches aber von der bangen Furcht vor einem<br />
höchsten bösen Wesen beinahe gänzlich in den Hintergrund<br />
gedrängt wird. Denn Furcht ist das vorwiegende Moment im<br />
religiösen Bewusstsein <strong>des</strong> afrikanischen Negers, der gleich<br />
dem Kinde das Schlimme mehr fürchtet als für das Gute<br />
dankbar ist. Inm<strong>it</strong>ten einer Natur, welche ihm die äussersten<br />
Gegensätze von Schönem, Wohlthätigem und Schrecklichem,<br />
Gefährlichem in der ausschre<strong>it</strong>endsten Weise aufdrängt, wo<br />
kein Uebergang stattfindet von der Regenze<strong>it</strong>, welche einen<br />
riesenhaften Pfianzenwuchs hervortreibt, zur öden Dürre und<br />
schrecklichen Wüste m<strong>it</strong> dem Glutwind und tobenden Orkanen,<br />
wo paradiesische Gegenden an den Strömen zur Ze<strong>it</strong><br />
der Dürre plötzlich verschwinden, wo die überfliessende Natur-<br />
1<br />
Klemm, III, 354.<br />
2<br />
Vgl. Wilson, Western Africa, 269 fg.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 47<br />
kraft<br />
der Erschlaffung in der Thier- und Menschenwelt schroff<br />
o-eo-enübersteht: da wird auch das Gemüth <strong>des</strong> Negers zwischen<br />
diesen schrillen Contrasten ohne Verm<strong>it</strong>telung hin- und hergeworfen,<br />
und es wechseln in ihm ebenso schnell, wie die Gew<strong>it</strong>ter<br />
seines Himmels, kindische Lust m<strong>it</strong> dumpfer Verzweiflung,<br />
unbändige Wuth und Grausamke<strong>it</strong> m<strong>it</strong> schlaffer Passiv<strong>it</strong>ät,<br />
sich selbst verzehrende Lebensglut m<strong>it</strong> Lebensüberdruss.<br />
Ebenso schroff verhalten sich die unbeschränkteste Despotie<br />
gegenüber der entseibsteten Sklaverei in der socialen Welt<br />
<strong>des</strong> Negers, und die Berührung m<strong>it</strong> der weissen Rasse hat<br />
infolge <strong>des</strong> Sklavenhandels das vorwiegende Moment seines<br />
religiösen Gefühls, die bange Furcht, nicht gemildert, sondern<br />
seinem Bewusstsein von dem Verhältniss der schwarzen Rasse<br />
der Gotthe<strong>it</strong> gegenüber nur eine eigenthümliche Anschauung<br />
verliehen. Der schwarze Mensch klagt nämlich in seinen<br />
Mythen über stiefväterliche Behandlung von Se<strong>it</strong>en der Gotthe<strong>it</strong>.<br />
Diese habe zwar die Welt erschaffen, da sie aber um<br />
ihre Schöpfung sich nicht we<strong>it</strong>er bekümmere, erkläre sich,<br />
dass die Welt ein Tummelplatz böser Wesen geworden, denen<br />
die guten zwar gegenüberstehen, aber m<strong>it</strong> ihrer Macht nicht<br />
ausreichen.<br />
Die bösen Wesen stehen allenthalben unter einem<br />
obersten Bösen, der in verschiedenen Gegenden unter verschiedenem<br />
Namen auftr<strong>it</strong>t.<br />
In Loango heisst er Zambianchi,<br />
das oberste gute Wesen Zambi. Auf Madagaskar * nennt<br />
man den guten Gott Zamhor und seinen Gegner Niang. Wie<br />
letzterer auf Madagaskar ausdrücklich im religiösen Cultus hervorgehoben<br />
wird, zeigt sich in den religiösen Liedern, wie im<br />
folgenden<br />
Zamhor und Niang erschufen die Welt;<br />
Zamhor, wir richten an dich kein Gebet!<br />
Der gütige Gott, der braucht kein Gebet.<br />
Aber zu Niang müssen wir beten,<br />
Müssen Niang besänftigen.<br />
Niang, böser und mächtiger Geist,<br />
Lass nicht die Donner ferner uns dröhn,<br />
Sage dem Meer in der Tiefe zu bleiben,<br />
Schone, Niang, die werdenden Früchte,<br />
Trockne nicht aus den Reis in der Blüte,<br />
Lass nicht die Frauen gebären an Tagen,<br />
Die Verderben und Unglück bere<strong>it</strong>en.<br />
1<br />
Baseler Missionsmagazin von 1816, S. 365.
48 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Zwinge die Mutter nicht mehr, die Hoffnung<br />
Ihres Alters im Flusse zu tödten. 1<br />
0, verschone die Gaben <strong>des</strong> Zamhor,<br />
Lass nicht alle, alle vernichten.<br />
Siehe, du herrschest schon über die Bösen,<br />
Gross ist, Niang, die Anzahl der Bösen,<br />
Darum quäle nicht mehr die Guten. 2<br />
Manche Reisende wollen bei mehrern Stämmen, wie z. B.<br />
bei den Negern von Wassulo, gar keine Religion gefunden<br />
haben, berichten aber über das Vorhandensein von Zauberei,<br />
Anmieten u. dgl. 3 , als ob nicht daran die religiöse Vorstellung,<br />
wenn auch als niedere Form, deutlich zu erkennen wäre! Die<br />
Versicherung: es sei kein Dorf, kein Geschlecht anzutreffen,<br />
das nicht in einem Stücke der religiösen Anschauuno; unterschieden<br />
wäre 4 , sowie dass se<strong>it</strong> Jahrhunderten der Islam und<br />
das Christenthum auf verschiedene Art wesentlichen Einfluss<br />
auf die religiösen Vorstellungen der Neger geübt haben, berührt<br />
wol zunächst die Thatsache der Unzahl und Vermengung<br />
religiöser Anschauungen, die durch eine Reihe von<br />
Beobachtern bestätigt wird. 5 Dieser Thatsache der grossen<br />
Menge und Ineinandersetzung religiöser Vorstellungen liegt<br />
aber eine andere als Bedingung zu Grunde: dass ursprünglich<br />
irgendeine religiöse Vorstellung vorhanden gewesen sein muss,<br />
die im Verlaufe der Ze<strong>it</strong> verschiedenartig gestaltet und m<strong>it</strong><br />
fremden Elementen versetzt werden konnte. Dass die Vorstellung<br />
Eines grossen Gottes von den Besuchern der Küste<br />
den Guineanegern zugeführt worden sei, wie versichert wird 6 ,<br />
kann immerhin gelten, thatsächlich ist aber der bei denselben<br />
schon früher vorhandene Glaube: dass die Welt von guten<br />
und bösen "Wesen voll sei.<br />
In Aquapirn, wo m<strong>it</strong> dem Namen Jankkupong der höchste<br />
Gott und die W<strong>it</strong>terung bezeichnet wird, steht im Gegensatz<br />
zu ersterm das böse Princip Abunsom. 7<br />
1<br />
Nämlich als Kinderopfer für Kiang.<br />
2<br />
Talvj, Versuch einer geschichtl. Charakteristik der Volkslieder, 78.<br />
3<br />
Caillie, II, 82.<br />
4<br />
Bosmann, S. 176.<br />
3<br />
Des Marchais, Voy. en Guinee, I, 336 ; Isert Guin., 323 ; Douville, I,<br />
283; Römer, S. 40, u. a.<br />
6<br />
Bosmann, 177; Isert, 223.<br />
7<br />
Halleur, Monatsber. der Gesellschaft für Erdkunde, neue Folge, IV, 87.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 49<br />
Die Odscliis (Aschanti) anerkennen zwar ein höchstes<br />
Wesen, halten aber dafür, dass nur die untergeordneten Geister<br />
die Welt regieren, von denen wieder nur die übelthätigen<br />
Verehrung erhalten sollen. 2<br />
Ebenso findet sich der Glaube an ein böses Wesen neben<br />
dem guten bei den Banjuns an der Casamanza, in Benin am<br />
Zaire und bei andern Ne^erstämmen. 2<br />
Der Neger, der die Beseelung der Aussenwelt auf's<br />
äusserstc treibt, dabei aber nicht im Stande ist, das Allgemeine<br />
wahrzunehmen und zu fassen, verliert sich, von seiner<br />
Phantasie gele<strong>it</strong>et, ins einzelne und vermuthet daher hinter<br />
jeder besondern Erscheinung einen Geist, den er wol zuweilen<br />
von dem sinnlichen Dinge trennt, nicht selten beide einander<br />
gegenüberstellt, gewöhnlich aber als Eins zusammenfasst, wo<br />
wir es dann Fetisch nennen. Daher erklärt sich, dass er die<br />
ganze ihn umgebende Welt von Geistern bewohnt weiss,<br />
dass<br />
jeder Neger seinen Pomull oder Grissi hat, von dem er sich<br />
beschützt glaubt, dass hohe Berggipfel, Felsen, Bäume, Haine<br />
der S<strong>it</strong>z mächtiger Geister sind, dass die Thiere eine eigenthümliche<br />
Stellung in der Verehrung der Neger einnehmen,<br />
wovon Wa<strong>it</strong>z 3 eine Reihe von Beispielen aufführt, dass die<br />
Neger das Feuergewehr, bevor sie dam<strong>it</strong> vertraut sind, beim<br />
Abschiessen wegwerfen aus Furcht vor dem bösen Geiste,<br />
darin steckt. Die Negerphantasie gibt den bösen Geistern<br />
verschiedene Gestalten, sie erscheinen ihr als schwarze Hunde,<br />
als geschwänzte, m<strong>it</strong> Hörnern versehene, weisse Gestalten m<strong>it</strong><br />
europäischen Nasen. 4 Die Neger von Ante stellen sich den<br />
Bösen als einen Riesen vor, <strong>des</strong>sen eine Se<strong>it</strong>e frisch und<br />
kräftig ist , die andere aber verfaultes Fleisch enthält. 5 Die<br />
Neger der Goldküste lassen den guten Geist schwarz, den<br />
bösen hingegen weiss sein, <strong>des</strong>sen Gunst sie vornehmlich zu<br />
erwerben suchen. Wie in der Sage der Abiponischen, so<br />
spricht sich auch in der bei den Guinea-Negern das Verhält-<br />
der<br />
1<br />
Rüs, Baseler Missionsmagazin 1847, IV, 244. 248.<br />
2<br />
Hecquard, 78; Palisot-Beauvais bei Labarthe, 137; Landolphe,<br />
II, 70; Tuckey, 214.<br />
3<br />
II, 177 fg.<br />
4<br />
Römer, Guinea, 43; Bosmann, 193; I>es Marcbais, I, 300.<br />
6<br />
Bosmann, S. 194.<br />
Eoskoff ,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> <strong>Teufels</strong>. I. 1
;"")( Erster Abschn<strong>it</strong>t : Der religiöse Dualismus.<br />
niss der schwarzen Rasse zur weissen darin aus, dass der böse<br />
Sissa, der m<strong>it</strong> seinen Geistern das Böse hervorbringt, weiss<br />
ist, welche Färbung wol erst von der Bekanntschaft m<strong>it</strong> den<br />
Europäern herrührt, sowie die früher erwähnten europäischen<br />
Nasen. Hierher gehört auch was Horst * von Burck«<br />
hardt, während seiner Reise in Nubien, am Nil und we<strong>it</strong>er<br />
hinauf (in den Jahren 1813 u. 1814) erzählen lässt, dass dieser<br />
um seiner weissen Farbe willen überall als Auswurf der Natur<br />
betrachtet wurde. An Markttagen setzte er die Leute<br />
oft in Schrecken, wenn er plötzlich zu ihnen trat, avo ihr<br />
Ausruf gewöhnlich war: Ach, der Teufel!<br />
Gott bewahre uns<br />
vor dem Teufel! u. s. w.<br />
Der Dualismus der religiösen Anschauuno; o-eht alle Negerstamme<br />
hindurch. So haben auch die Mandingo- Neger gute<br />
und böse Wesen. 2 So sollen die Neger am Casamanza zwar<br />
an einen Gott glauben, doch aber für nöthig halten in allen<br />
wichtigen Fällen den Bösen an den Xianas , den heiligen<br />
Plätzen, zu beschwören.<br />
Zu den Nomaden der heissen Zone gehören auch die<br />
Hottentotten, von denen häufig behauptet wurde, dass sie<br />
aller religiösen Vorstellung bar seien, was aber bere<strong>it</strong>s als<br />
unrichtig anerkannt ist. Auch hier begegnen wir dem Dualismus,<br />
und von einem der ältesten herrnhuter Missionäre,<br />
G. Schmidt (1737), erfahren wir schon die Namen Tuiqua<br />
und Ganna, wom<strong>it</strong> sie „den Oberherrn über alles" und den<br />
Bösen bezeichnen. 3 Sie sollen erstem auch den „Kap<strong>it</strong>än<br />
von oben" und letztern den „Kap<strong>it</strong>än von unten" oder<br />
Tukoa, der klein, verkrümmt, von böser Gemüthsart und den<br />
Hottentotten feindlich gedacht wird, nennen, von dem Krankhe<strong>it</strong>,<br />
Tod, Unglück abgele<strong>it</strong>et werden, denen man durch Anmiete,<br />
Austreibung, Beschwörung zu begegnen hat.<br />
Auch bei andern afrikanischen Stämmen herrscht Dualismus;<br />
wie allenthalben der Glaube an Zauberei vorkommt.<br />
Die Wakamba theilen m<strong>it</strong> den Kaffern den Glauben an die<br />
Zauberei und halten besonders die Weissen für Regenmacher.<br />
Die Wauika bringen aus Furcht vor Zauberei die<br />
1<br />
Zauber-Bibliothek, IV, 371.<br />
2<br />
Home, Versuch über die <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> Menschen, II, 233.<br />
3<br />
De Jong, I, 278.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 51<br />
umgestalteten Kinder um, als der Zauberkünste verdächtig. 1<br />
Bei den Va-Ngindo im Süden <strong>des</strong> Luvuma ist Mulungu der<br />
Schöpfer aller Dinge, der in allem lebt, was auf Erden gut<br />
und schön ist, im Himmel unter den guten Geistern wohnt;<br />
wogegen Mahoka das Schädliche und Böse schafft. 2<br />
Die Eingeborenen von Madagaskar haben neben dem<br />
guten Wesen, das sie Jadhar oder den grossen Gott, oder,<br />
wie alles Gute, Wunderbare und Unbegreifliche überhaupt,<br />
Zannaar, Zannahar nennen, auch ein böses Princip: Angath,<br />
Angatch, dem sie die Attribute der Schlange geben, m<strong>it</strong> jenem<br />
gleich mächtig halten, dem aber allein m<strong>it</strong> Opfern gedient<br />
werden soll. 3<br />
Die religiöse Anschauung der Abyssinier zeigt im Vergleiche<br />
m<strong>it</strong> einigen negerartigen Stämmen manches Uebereingestimmte,<br />
als: dass sie, wie jene, das böse Wesen weiss<br />
darstellen, bei ungewöhnlichen Ereignissen, wie z. B. bei einer<br />
Mondfinsterniss, von grossem Schrecken ergriffen werden, Krankhe<strong>it</strong><br />
für Bezauberung oder Besessenhe<strong>it</strong> halten, die sie m<strong>it</strong><br />
Opfern oder durch Anmiete abzuwenden oder durch Lärm<br />
auszutreiben suchen. Namentlich wird den Eisenarbe<strong>it</strong>ern zugemuthet,<br />
dass sie sich <strong>des</strong> Nachts in reissende Thiere verwandeln<br />
können. 4<br />
Auch bei den Stämmen von Goa sowie den Galla herrschen<br />
gute und böse Geister, und die Schlange spielt ihre<br />
bekannte Rolle.<br />
Bei den Bewohnern der Südseeinseln, wo der Gegensatz<br />
schon in den Eries und den Papuas sich darstellt, wahrscheinlich<br />
eine Spur urältester Einwanderung von Menschen<br />
weisser Rasse, findet sich die Gegensätzlichke<strong>it</strong> auch in den<br />
religiösen Anschauungen, die gemäss der Zerstreuthe<strong>it</strong> der<br />
Inseln auch zerrissen und zusammenhanglos auftreten. In<br />
der dualistischen religiösen Vorstellung aber treffen sie zusammen,<br />
indem sie neben den wohlwollenden Wesen, die sie<br />
verehren, böswillige fürchten. In der Vorstellung der Sandwichs-Insulaner<br />
ist der schrecklichste dieser Dämonen das<br />
1<br />
Wa<strong>it</strong>z, II, 424.<br />
2<br />
Wa<strong>it</strong>z, a. a. 0.<br />
3<br />
Leguevel, I, 96 ; Rochen, 19.<br />
4<br />
Salt, 426; Harris, II, 295; Pearce, I, 287.
52 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
weibliche Sehreekensgespenst Pele, das jenen, obwol sie zum<br />
Christenthum bekehrt sind, doch viel bange macht und im<br />
Lavastrom <strong>des</strong> Kilau-Ea auf Hawaji wohnend gedacht wird. 1<br />
Auch die religiösen Vorstellungen der Tonga-Insulaner<br />
bestehen in Dämonenverehrung und dam<strong>it</strong> unzertrennlich verbundener<br />
Zauberei. Ausser den guten Göttern gibt es eine<br />
Menge böser Geister, Hothua-Pow, deren sich mehrere häufiger<br />
auf Tonga als dem Götters<strong>it</strong>z Belotuh aufhalten, um die<br />
Menschen recht zu peinigen. Alles Ungemach und alle kleinen<br />
Plagen sind boshafte Streiche der Hothua-Pows, aus<br />
Schadenfreude begangen. ' 2<br />
Turbane zu tragen soll den gemeinen<br />
Leuten auf Tonga, ausser bei der Arbe<strong>it</strong>, verboten<br />
gewesen sein, auch wenn kein Häuptling (Matabul) gegenwärtig<br />
war, weil doch irgendein göttliches Wesen in der<br />
Nähe sein könnte. 3<br />
Die religiöse Anschauung der Bewohner von Nukahiwa<br />
nennt Klemm 4 „die roheste Art von Religion". Es ist hier<br />
zwar von keinem personificirten Wesen die Rede, wol aber<br />
wird eine übelthätige Macht anerkannt, welche gesühnt werden<br />
soll. Die Seele eines Priesters, Königs und deren Verwandten<br />
wird für ein höheres Wesen gehalten (Etua), das<br />
übrige Volk erfreut sich keiner göttlichen Abkunft. Der<br />
Glaube an Zauberei ist allgemein, und die Priester sind im<br />
Bes<strong>it</strong>z der Zauberm<strong>it</strong>tel. „Die Zauberei (Kaha) besteht darin,<br />
dass man jemand, auf den man einen Groll hat, auf langsame<br />
Art tödten kann. Man sucht den Speichel, Urin oder<br />
Exkremente seines Fein<strong>des</strong> auf irgendeine Art zu erlangen,<br />
legt diese vermischt m<strong>it</strong> einem Pulver in einen besonders geflochtenen<br />
Beutel und vergräbt diesen; worauf der Feind erkrankt<br />
und in 20 Tagen sicher todt ist. Sucht er die Rache<br />
seines Fein<strong>des</strong> m<strong>it</strong> irgendeinem wichtigen Geschenke abzukaufen,<br />
so kann er noch am 19. Tage gerettet werden." 5<br />
Bei den Neuseeländern ist die oberste Gotthe<strong>it</strong> Mow-<br />
1<br />
Ileen Bille, Bericht über die Reise der Corvette Galathea um die<br />
Welt, in den Jahren 1845—47, II, 313.<br />
2<br />
Klemm, IV, 358.<br />
8<br />
Bastian, II, 113.<br />
4<br />
IV, 351.<br />
5<br />
Klemm, IV, 352, nach Krusenstern, Reise, I, 190.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 53<br />
heerangaranga, sie fürchten aber besonders einen Gott <strong>des</strong><br />
Zorns nebst vielen andern bösen Wesen, welche die Menschen<br />
im Leben quälen, Krankhe<strong>it</strong>en verursachen, als Eidechsen<br />
erscheinen und so den Schlafenden in den Mund schlüpfen<br />
u. dgl. Dem Gott <strong>des</strong> Zorns, Teepockho, der auch das Leben<br />
nimmt, wird angelegentlichst gedient. 1 Die Todten kommen<br />
nach Rcinga, einem Ort der Marter, <strong>des</strong>sen Eingang eine<br />
steile Klippe und we<strong>it</strong>e Höhle am Nordcap ist. Hier wohnt<br />
der böse Geist und Zerstörer der Menschen. Bei Krankhe<strong>it</strong>en<br />
werden Beschwörungen angewendet, den Göttern wird m<strong>it</strong><br />
Todtschlagen und Auffressen gedroht. 2<br />
Von den Gesellschaftsinseln hat jede ihr besonderes höchstes<br />
Wesen nebst andern Gotthe<strong>it</strong>en, unter denen auch Unheilstifter,<br />
welche gerne ' die Menschen im Schlafe tödten. 3<br />
Es herrscht die Meinung, dass die menschenleere Insel Mannua<br />
von Geistern bewohnt werde, welche, von grosser, starker<br />
Mannesgestalt m<strong>it</strong> schrecklich funkelnden Augen, jeden verschlingen,<br />
der sich ihrer Küste naht. 4<br />
Die dualistische Anschauuno; findet sich auch anderwärts<br />
überall, wo die Spuren der ursprünglichen Religion im Volke<br />
noch bemerklich sind. Die Cingalesen auf Ceylon sind zwar<br />
Bekenner <strong>des</strong> Buddhismus, unter welchem sie aber immer<br />
noch Ueberreste ihres frühern Geisterdienstes forthegen. Man<br />
kann vermuthen, dass die Vorstellung von einem höchsten<br />
Wesen, dem Schöpfer <strong>des</strong> Himmels und der Erde, Ossa polla<br />
maupt Dio, aus einer Vorze<strong>it</strong>, wo weder Buddhismus noch<br />
Brahmaismus auf Ceylon eingedrungen war, herrühre 5 und<br />
es ist wahrscheinlich, dass die Verehrung der Sonne und <strong>des</strong><br />
Mon<strong>des</strong>, der vier Pattinies,<br />
der furchtbaren Schutzgeister der<br />
Welt, schon frühe stattgefunden habe. Von besonderm Interesse<br />
für uns ist der Dienst der Geister der Todten, Dayautas<br />
genannt, welcher als Rest vorbuddhistischer Ze<strong>it</strong> von den Gebildetem<br />
misbilligt und innerhalb <strong>des</strong> Buddhadienstes sogar<br />
verboten, vom Volke aber noch auf eigene Faust gepflegt<br />
1<br />
Nicholas, Voyage, I, 55 fg.<br />
2<br />
Yate, Account of Ncw-Zealand, S. 141 fg.<br />
3 Forster, Reise, II, 119 fg.<br />
1<br />
Forster, a. a. 0., S. 121.<br />
5<br />
Stuhr, Religionssysteme, I, "275.
54 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
wird. Dieser Cultus gründet sich auf die Furcht vor der<br />
schädlichen Macht, welche diesen Geistern zuerkannt, aus der<br />
Krankhe<strong>it</strong>en abgele<strong>it</strong>et und die daher abgewendet werden soll.<br />
Der Synkretismus, der im Fortgange der geschichtlichen Entwickelung<br />
<strong>des</strong> geistigen Lebens der ostasiatischen Völker platzgegriffen,<br />
hat sich auch auf Ceylon geltend gemacht. Sonach<br />
ist dieser Dienst, auf Heilung von Krankhe<strong>it</strong>en, die von bösen<br />
Geistern herrühren, bezogen, m<strong>it</strong> dem brahmanischen Heilgotte<br />
Kumaras in Verbindung gesetzt worden. Dem alten<br />
Berggotte, der auf dem Gipfel <strong>des</strong> Felsen Mahameru Parkwete<br />
thront, ist der Name Kumaras beigelegt und zu Kattragam<br />
ein berühmter Tempel erbaut worden. Dieser Gott von Kattragam,<br />
unter vielerlei Namen, besonders aber als Kumaras<br />
verehrt, unter mancherlei furchtbaren Gestalten dargestellt,<br />
ist der am allgemeinsten gefürchtete, obschon es noch viele<br />
in schrecklichen Gestalten vorgestellte, gefürchtete Geister<br />
gibt, deren jeder einem Uebel vorsteht. 1<br />
Im Birmanischen Reiche waren die Stämme, bevor sie<br />
dem Buddhismus unterworfen wurden, dem Geisterdienste ergeben,<br />
und noch heutigen Tags findet sich bei den unbekehrten,<br />
in Wäldern lebenden Stämmen die Verehrung von Waldund<br />
Berggeistern, deren manche als übelthätige in Furcht<br />
durch Opfer verehrt werden , wom<strong>it</strong> dann selbstverständlich<br />
Zauberei verbunden ist. 2<br />
Bei den Siamesen herrscht auch, nebst der Anerkennung<br />
wohlthätiger Gotthe<strong>it</strong>en, der Glaube an die Wirksamke<strong>it</strong> böser<br />
Wesen, als Urheber von Uebeln, die sie von jenen nicht herle<strong>it</strong>en<br />
wollen. Sie opfern diesen, um das Böse abzuwehren,<br />
und wenden sich besonders zur Ze<strong>it</strong> der Trübsal zu ihnen.<br />
Wie überall, wo der Buddhismus eingedrungen ist, wird daneben<br />
auch brahmanischen Gotthe<strong>it</strong>en gedient.<br />
Auch die Küstenstämme von Pegu zeigen noch Spuren<br />
<strong>des</strong> religiösen Volksglaubens, bevor sie durch den Buddhis-<br />
1<br />
Bei Stuhr, a.a.O.; Knox, Hist. relat. of the island of Ceylon, S. 123 fg.<br />
Upham, Hist. of Buddhism, S. 41. 50. 120; Derselbe, The sacred and<br />
hist. Looks of Ceylon, 1,84; Davy, An aecount of the interior<br />
S. 127.<br />
of Ceylon,<br />
- De la Bissachere, Gegenwärtiger Zustand von Tunkin und Cochinehina<br />
;<br />
aus dem Französischen, S. 258 fg.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 55<br />
muß in die Cultur hineingezogen worden, und neben dem<br />
Urheber <strong>des</strong> Guten suchen sie vornehmlich den Stifter <strong>des</strong><br />
Uebels zu besänftigen. Letztern erklärten die Christen natürlich<br />
für den Teufel. l<br />
Die ursprüngliche Bevölkerung auf den Inseln <strong>des</strong><br />
Ostmeeres (Inseln der indisch-chinesischen Meere) war eine<br />
schwarze, deren Ueberreste in Wäldern und Gebirgen der<br />
Inseln leben und als Verwandte der Stämme von Neuguinea<br />
und Neuholland erkannt werden. Wie jene Inseln zerstreut<br />
sind, ist auch das Geistesleben der Bewohner gesondert und<br />
kommen sie im allgemeinen in der Verehrung der Naturmächte<br />
und in der Furcht vor den Gräbern der Todten und Erscheinungen<br />
übelthätiger<br />
Battas<br />
Geister überein.<br />
Gleich den Cingalesen auf Ceylon glauben auch die<br />
auf Sumatra an die Macht der vier gefürchteten Geister,<br />
die auf den Gipfeln vier verschiedener Berge hausen und von<br />
da aus alle Art von Unglück über die Menschen schicken. 2<br />
Nach andern Berichten sollen die Battas den Gott der Gerechtigke<strong>it</strong><br />
Batara Guru, den der Gnade Sori Pada nennen,<br />
denen gegenüber Mangalan Bulan als der Stifter aller Uebel<br />
bezeichnet und in menschlichen Angelegenhe<strong>it</strong>en als besonders<br />
wichtig gehalten wird, weil er die guten Absichten seiner<br />
Brüder zu durchkreuzen die Macht haben soll, darum<br />
den Battas an seiner Gunst am meisten gelegen sein muss. 3<br />
Daher der Anschein, als hätten die Battas auf Sumatra nur<br />
böswillige Wesen, denen sie dienen, indem ihnen Krankhe<strong>it</strong>en<br />
und Verbrechen zugeschrieben und sie unter schrecklichen<br />
Gestalten vorgestellt werden. 4 Denn nach dem Glauben der<br />
Battas ist jede Krankhe<strong>it</strong> durch einen Begu (böses Wesen)<br />
veranlasst: der Krampf durch den Begu Lumpun, die Bräune<br />
durch den Begu Antis, das Fieber durch den Begu Namarung,<br />
die Kolik durch den Begu Barang Munji, u. s. w. Einer der<br />
furchtbarsten ist der Begu Nalalain, der Geist der Zwietracht,<br />
<strong>des</strong> Mor<strong>des</strong>, der das Land entvölkert und die Dörfer verwüstet.<br />
Während die andern Begus ohne festen S<strong>it</strong>z, unstet<br />
1<br />
Bei Bekker, Bezauberte Welt, I, 22.<br />
2<br />
Marsden, Hist. of Sumatra, S. 385.<br />
3<br />
Transact. of the roy. Asiatic Society vol., I, 499.<br />
4<br />
Junghuhn, Battaländer, II, 24.8.
5(i Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
in der Luft umherschweifen, nur ze<strong>it</strong>weise in die Menschen<br />
sich einsenken, um zu schaden, schleicht der Begu Nalalain<br />
m<strong>it</strong> feurigen Augen, langer rother Zunge und scharfen Krallen<br />
an den Händen im Dämmerlichte zwischen den Dörfern<br />
lauschend umher. Epidemische Krankhe<strong>it</strong>en werden dem Erscheinen<br />
neuer Begus zugeschrieben. 1<br />
Wie die Maldivier, so bringen auch die Biajas auf Borneo<br />
dem Gotte <strong>des</strong> Uebels ihr Opfer jährlich dar, wobei sie eine<br />
kleine Barke m<strong>it</strong> den Sünden und Unglücksfällen der Bewohner<br />
vom Stapel lassen, welche dann auf das Schiffsvolk,<br />
das dieser Opferbarke begegnet, fallen sollen. In einer Beziehung<br />
erinnert diese Ceremonie an den Vorgang m<strong>it</strong> dem<br />
hebräischen Azazel.<br />
Auch auf Java, wie auf Bali und andern östlichen Inseln,<br />
war vor dem Eindringen indischer Cultur Natur- und Geisterdienst<br />
herrschend, und Luft, Wälder, Gewässer hielten die<br />
alten Javaner m<strong>it</strong> Geistern erfüllt, welche als wohlthätige geliebt<br />
oder als übelthätige gefürchtet, erstere in Menschengestalt,<br />
diese in Büffelgestalt, als Riesenweiber u. dgl. vorgestellt<br />
wurden. Jäger, Fischer hatten ihre Schutzgeister; es<br />
fand aber auch, wie auf Celebes und in andern östlichen<br />
Gegenden, der Cultus der Geister der Vorfahren statt. 2 Als<br />
Localgotthe<strong>it</strong>en von Java werden genannt die Banaspatie oder<br />
die bösen Geister der Bäume, die Daminsil, die guten Genien<br />
in menschlicher Form, die Bankashan, die bösen Geister der<br />
Luft, die Brayagan, die weiblichen Genien der Flüsse, die<br />
Kabo Hamale, die bösen Geister der Buffaloes, welche Frauen<br />
in Gestalt ihrer Männer täuschen, die Wewe, boshafte Geister<br />
in Form weiblicher Riesen, Dadonjavru, die Beschützer der<br />
Jäger, u. dgl. m. 3<br />
An der Küste von Koromandel herrschen auch gute und<br />
böse Geister, jene Dewata, diese Raatsjasja genannt, welche<br />
letztere theils böse Menschen gewesen, die dazu verdammt<br />
sind, in der Welt herumzuschwärmen, theils von Natur boshafte<br />
Wesen sind, die den Menschen Uebles zufügen, abscheu-<br />
1<br />
Bastian, II, 125.<br />
2<br />
Crawfurt, Ilist. of the Indian Archipelago, II, 230 fg.<br />
3<br />
Bastian, II, 109.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 57<br />
liehe grosse Leiber haben, Gestank verbre<strong>it</strong>en und Kinder<br />
erzeugen. l<br />
Die Vorstellung der Niko baren von dem, was nicht<br />
unm<strong>it</strong>telbar<br />
im Bereiche derselben liegt, soll sieh nach der M<strong>it</strong>theilung<br />
eines Missionars 2 nur auf die Furcht vor Wesen<br />
beschränken, deren Einflüssen sie solche unglückliche Ereignisse<br />
zuschreiben, die aus gewöhnlichen Ursachen nicht<br />
zu erklären sind, als: gewisse Krankhe<strong>it</strong>en, Mislingen der<br />
Früchte u. s. w. Diese Wesen, „Ivi", die beschworen, vertrieben<br />
werden können, halten sich im Dickicht der Wälder<br />
auf.<br />
Die Bewohner der Molukken und die Wilden auf den<br />
Philippinen anerkennen auch den Dualismus, richten ihre Opfer<br />
aber vornehmlich an das böse Wesen, dam<strong>it</strong> es ihnen kein<br />
Uebel zufüge. Die Heiden auf den Philippinen haben gewisse<br />
Wahrsagerinnen, Holawi genannt, welche täglich m<strong>it</strong><br />
den Dämonen verkehren. 3<br />
Auf der Insel Formosa heisst der gute Gott Isby, das<br />
böse Wesen, dem mehr als jenem geopfert wird, führt den<br />
Namen Shuy.<br />
Die Eingebornen auf Teneriffa verehrten einen höchsten<br />
Erhalter der Dinge, Achguaya-xerax (Achuhuanax), dem<br />
sie bei Dürre oder andern Unglücksfällen Opfer darbrachten;<br />
dem gegenüber aber auch einen übelthätigen Geist, den<br />
sie<br />
Guayotta nannten.<br />
Diese,<br />
aus allen Himmelsstrichen und von allen Menschenrassen<br />
angeführten Thatsachen, die leicht noch bedeutend<br />
vermehrt werden könnten, sollen nur bestätigen: dass in<br />
den religiösen Anschauungen der Naturvölker der<br />
Dualismus waltet, wonach den guten übermenschlichen<br />
Wesen übelthätige gegenübergestellt werden und der Grundton<br />
in der religiösen Beziehung zu diesen die religiöse Furcht<br />
ist. Den Anknüpfungspunkt zu dieser dualistischen An-<br />
;<br />
Bei Bekker, I, 56.<br />
2<br />
Bei Bastian, II, 113.<br />
3<br />
Bei Bekker, I, 66.
58 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
schaumig bietet zunächst der Gegensatz in der Natur, m<strong>it</strong><br />
welcher der Mensch auf jener Bildungsstufe mehr im Zusammenhange<br />
lebt. H<strong>it</strong>ze und Kälte, Licht und Finsterniss,<br />
Nässe und Dürre berühren seine Existenz, indem ihm dadurch<br />
oder Mangel, überhaupt Wohl oder Weh erwächst.<br />
Ueberfluss<br />
Er betrachtet eben alles, was ihn umgibt, in Beziehung auf sich,<br />
inwiefern es zu seinem Wohle be<strong>it</strong>rägt oder demselben entgegensteht.<br />
Jeder Reiz auf den Organismus ruft nicht nur<br />
eine natürliche Reaction hervor, bei leiblichen Empfindungen<br />
die Bewegung der entsprechenden Muskeln , sondern regt<br />
auch die geistige Thätigke<strong>it</strong> an. Denn der Mensch ist nicht<br />
blos empfinden<strong>des</strong>, sondern auch denken<strong>des</strong>, seiner selbst<br />
bewusstes Wesen, und seine geistige Natur wird nicht befriedigt<br />
durch die Erfüllung rein äusserlicher Bedürfnisse. So<br />
wahr es ist, dass Naturerscheinungen, überhaupt die Aussenwelt<br />
die geistige Entwickelung anfachen, ebenso wahr ist es,<br />
dass<br />
ohne Selbstthätigke<strong>it</strong> <strong>des</strong> Geistes keine Entwickelung<br />
möglich wäre. „Ueberall reagirt die geistige Anlage gegen<br />
die blos natürliche Befriedigung." * Jede Erfahrung <strong>des</strong><br />
Menschen ist nicht blos eine äussere, sondern zugleich eine<br />
innere seiner<br />
eigenen Lust oder Unlust, von der er sich durchdrungen<br />
fühlt. Das Gefühl, obschon dem Gemeingefühle verwandt<br />
und gleich diesem im Kreise <strong>des</strong> Angenehmen und<br />
Unangenehmen sich bewegend, wird nicht nur durch blose<br />
organische Zustände, sondern auch durch Vorstellungen von<br />
Verhältnissen bestimmt. An sich dunkel, erhält das Gefühl<br />
Klarhe<strong>it</strong> durch den Zutr<strong>it</strong>t <strong>des</strong> Verstan<strong>des</strong>, der sicn nie abwehren<br />
lässt oder abse<strong>it</strong>s unthätig bleibt, sondern alsobald<br />
heranrückt m<strong>it</strong> der Frage: woher rührt das Angenehme oder<br />
Unangenehme? Das Gemüth, als Complex von Gefühl und<br />
Verstand, wird zunächst durch dunkle Vorstellungen erfüllt,<br />
in welchen aber ein unm<strong>it</strong>telbar gegebenes, unentwickeltes<br />
Urtheil liegt. Dieses Urtheil, noch vom Gefühle durchdrungen<br />
und m<strong>it</strong> ihm verwachsen, regt sich als Ahnung. Der<br />
Mensch ahnt zunächst die Macht, durch die ihm verm<strong>it</strong>tels<br />
seiner Umgebung Wohl oder Weh zutheil wird und findet<br />
sich befriedigt in der Vorstellung dieser Macht. Diese<br />
1<br />
Schaller, Leib und Seele, S. llt>.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. 59<br />
Vorstellung ist aber nur die Projection seines eigenen Gemüths.<br />
„Was sich im geistigen Gefühle als der Seele selbst<br />
angehörig darstellt, das offenbart sich im Glauben als Gegenstand."<br />
l Der Naturmensch ahnt in den Erscheinungen der<br />
ihn umgebenden Aussenwelt eine übermenschliche Macht und<br />
stellt sich diese vor, angethan m<strong>it</strong> den Attributen seiner eigenen<br />
Persönlichke<strong>it</strong>. Die Anthropomorphismen und Anthropopathismen<br />
in den religiösen Vorstellungen der Völker und Menschen<br />
sind daher der Spiegel ihrer Culturstufen, und es läuft<br />
darauf hinaus, was schon der Reformator sagt: Die Heiden<br />
glaubten an solche Götter, wie sie selbst waren. — Wie der<br />
Mensch, so sein Gott.<br />
Die religiöse Anschauung ist aber <strong>des</strong>halb ebenso wenig<br />
Product der Natur wie der menschliche Geist, so wenig als<br />
s<strong>it</strong>tliche Ideen aus der Beobachtung der Natur entnommen<br />
werden; die Natur bietet jedoch die Anregung, dass sich der<br />
Geist „so oder anders gestaltet" 2 und unterstützt som<strong>it</strong> die<br />
Entwickelung religiöser und s<strong>it</strong>tlicher Vorstellungen.<br />
Je näher ein Volk dem Naturzustande steht, um so<br />
grösser ist der Einfluss, den die Natur auf seine Entwickelung<br />
nimmt, und dieser schwächt sich ab, im Verhältniss als die<br />
Bewältigung der Natur durch menschliche Kunst und Wissenschaft<br />
zunimmt, und der Verkehr m<strong>it</strong> Schnelligke<strong>it</strong> über we<strong>it</strong>e<br />
Räume sich ausbre<strong>it</strong>et. Im heissen Klima, wo leibliche und<br />
geistige Bewegung erschwert ist, wird Faulhe<strong>it</strong> zum Genuss,<br />
die reichlichen Gaben , welche die Natur spendet, machen die<br />
Arbe<strong>it</strong> überflüssig, und. der Geist verharrt in Stumpfhe<strong>it</strong>.<br />
Diese erfolgt aber auch im kalten Klima, wo die Gewinnung<br />
der leiblichen Bedürfnisse den ganzen Verbrauch aller Kräfte<br />
erheischt. „Oft hört man in den spanischen Colonien die<br />
Behauptung, dass sich die Bewohner der Tierra-Caliente so<br />
lange nicht aus dem Zustande der Apathie, in welchem sie<br />
se<strong>it</strong> Jahrhunderten versunken sind, erheben können, als kein<br />
königlicher Befehl die Zerstörung der Bananenpflanzungen<br />
verordnete." 3<br />
Die anhaltende Einwirkung der H<strong>it</strong>ze schwächt<br />
1<br />
Burdach, S. 334.<br />
2<br />
Ze<strong>it</strong>schrift für Völkerpsychologie, I, 39.<br />
3<br />
Humboldt und Bonpland, II, 12; Humboldt, Neuspanien, III, 12.<br />
23. 142.
(30 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
die gegense<strong>it</strong>ige Bindung der Stoffe und Kräfte, das animalische<br />
Leben und die Selbsttätigke<strong>it</strong>, wogegen die Sinnlichke<strong>it</strong>,<br />
Träghe<strong>it</strong> das Uebergewicht erlangt. Die fortdauernde<br />
strenge Kälte macht das peripherische Leben sinken, stumpft<br />
die Sinne und beschränkt die bildende Thätigke<strong>it</strong>. Selbstverständlich<br />
übt auch die Atmosphäre und deren Beschaffenhe<strong>it</strong><br />
ihren Einfluss auf den Menschen, sowie das Sonnenlicht,<br />
das Wasser u. s. w. Die Einwirkung der umgebenden Natur<br />
ist allerdings am auffallendsten bei den Pflanzen, die, nachdem<br />
sie in eine ursprünglich fremdartige Naturumgebung versetzt<br />
sind, von dieser mehr oder weniger umgeändert werden,<br />
wie z.B. behaarte Gewächse, die, auf sonnigem, trockenem Boden<br />
gewachsen, an schattigen, feuchten Standorten glatt werden,<br />
oder durch die Beschaffenhe<strong>it</strong> <strong>des</strong> Bodens und <strong>des</strong> Wassers<br />
die Zahl der Blumenblätter, die Farbe der Blüten, der Geschmack<br />
der Früchte verändert werden kann. Weniger ist<br />
die Alterirung beim Thiere durchschlagend, obgleich auch<br />
hier merkwürdige Beispiele erwähnt werden. So sollen die<br />
grossen Z<strong>it</strong>zen der europäischen Kühe und Ziegen m<strong>it</strong> jeder<br />
Generation in Amerika abnehmen, die dicken Schwänze der<br />
kirgisischen Schafe durch die trockenen und b<strong>it</strong>tern Kräuter<br />
der sibirischen Steppen verschwinden. x Allerdings bringen<br />
die materiellen Einwirkungen , die Verschiedenhe<strong>it</strong> der Nahrungsm<strong>it</strong>tel<br />
und <strong>des</strong> Klimas noch weniger Veränderung beim<br />
Menschen hervor als beim Thiere, er ist danach angethan,<br />
über die Verhältnisse und Umstände zu siegen, aber ganz<br />
unempfindlich ist er doch in dieser Beziehung nicht. Noch<br />
mehr wirkt die Aussenwelt auf die Stimmung seines Gemüths,<br />
auf die Belebung seiner Phantasie und die Erregung von<br />
Vorstellungen, sodass der psychische Charakter inm<strong>it</strong>ten einer<br />
grossartigen Natur sich anders gestaltet als in einer einfachen,<br />
kleinlichen Umgebung. Die Civilisation aber, die das Denken<br />
<strong>des</strong> Menschen erzeugt und erhält, ist die Summe von ineinandergreifenden<br />
Thätigke<strong>it</strong>en von einer Menge zusammenlebender<br />
Individuen, sich gegense<strong>it</strong>ig tragend und hebend, gefördert<br />
durch die Umgebung und fortgezogen durch die geschichtlichen<br />
Ereignisse, in welche sie ihrerse<strong>it</strong>s wieder eingreifen.<br />
1<br />
Prichard bei Bastian, I, 328.
3. Dualismus in den Religionen der Naturvölker. ßl<br />
Wo die Bedingungen der Civilisation fehlen, wo nicht<br />
durch Ackerbau und geregelte Arbe<strong>it</strong> der Bildungsprocess<br />
begonnen, durch Verkehr m<strong>it</strong> andern fortgesetzt, wo der<br />
Mensch auf die plumpsten Bedürfnisse beschränkt ist, da bleibt<br />
die Intelligenz<br />
auch unentwickelt und ihr gemäss werden seine<br />
religiösen Vorstellungen eine rohe Form an sich tragen. In<br />
der naturwüchsigen Gestalt <strong>des</strong> Polytheismus sieht sich der<br />
Mensch von Gefahren umgeben, die Natur wird ihm zur Gespensterwelt,<br />
Himmelserscheinungen, Elemente, Thiere und<br />
Pflanzen, selbst ihm unbegreifliche Kunstproducte wie Uhren,<br />
Feuergewelire u. dgl. sind ihm von Geistern' besessen. Infolge<br />
einer unwillkürlichen Uebertragung sinnlicher Vorstellungen<br />
auf das geistige Gebiet, versetzt er seine Götter vornehmlich<br />
in die Höhe oder Ferne, lässt sie auf hohen Bergen, im<br />
Luftkreis, in den Wolken, der Sonne u. s. w. wohnen, wo<br />
das Unerreichbare das<br />
über ihn Erhabene vertr<strong>it</strong>t.<br />
Je weniger der Mensch die ihn umgebende Natur erkennt,<br />
<strong>des</strong>to mehr lebt er im Gefühle der Abhängigke<strong>it</strong> von<br />
derselben, und seine an der Sinnlichke<strong>it</strong> haftende Anschauung,<br />
innerhalb der Gegensätzlichke<strong>it</strong> von Angenehmem und Unangenehmem<br />
sich'bewegend, wird sich auch im Dualismus der<br />
religiösen Vorstellungen zu erkennen geben. Der sinnliche<br />
Eindruck bringt beim Naturmenschen wie beim Kinde eine<br />
gewisse Stimmung hervor, bedingt durch das Gefühl <strong>des</strong> Angenehmen<br />
oder Unangenehmen, und in der Abhängigke<strong>it</strong> davon<br />
vertr<strong>it</strong>t sie die Stelle <strong>des</strong> Urtheils. Hiernach wird die unerkannte<br />
Ursache eines angenehmen Eindrucks verm<strong>it</strong>tels der<br />
Phantasie zum guten Wesen gestaltet und umgekehrt zum<br />
Gegentheil. Diese Wesen, die er liebt oder fürchtet, tragen<br />
natürlich die Merkmale seiner eigenen Zuständlichke<strong>it</strong> an sich,<br />
nur dass er sie an Macht sich überlegen vorstellt und <strong>des</strong>halb<br />
als höhere Wesen staunend oder fürchtend verehrt. Hinter<br />
jeder Thätigke<strong>it</strong>, die er ausser sich wahrnimmt, vermuthet<br />
er ein Wesen seiner Art und schaut in der Natur das Product<br />
seines eigenen Geistes an, und so umgibt er sich äusserlich<br />
m<strong>it</strong> seiner eigenen Geisterwelt.
(32 Erster Abschn<strong>it</strong>t : Der religiöse Dualismus.<br />
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong><br />
Alterthums.<br />
In der Vorhalle zur eigentlichen <strong>Geschichte</strong> bewegt sich<br />
das Leben der Culturvölker innerhalb der Mythen- und Sagenkreise.<br />
Es ist eine immer wiederkehrende Erscheinung, dass<br />
das Alterthum m<strong>it</strong> Göttern anhebt und m<strong>it</strong> historischen Personen<br />
schliesst, wobei von erstem durch die Brücke der Genealogie<br />
ein Uebergang zu letztern o-eschlagen wird. Wie Wodan<br />
in allen altgefmanischen Königshäusern das Stammglied in<br />
der genealogischen Kette bildet, so Bei bei den Sem<strong>it</strong>en, den<br />
Assyrern, Babyloniern, Phöniziern, Karthagern, Lydiern. An<br />
irgendeinem Punkte der Reihe aufwärts werden Wesen der<br />
<strong>Geschichte</strong> m<strong>it</strong> Wesen der Religion verwechselt, es ist aber<br />
kaum zu bestimmen, wo diese Verwechslung eingetreten ist.<br />
Alles, was in das Leben eines Volks eingreift und auf<br />
<strong>des</strong>sen Schicksale Einfluss hat, fällt bei seinem vorgeschichtlichen<br />
Dasein innerhalb der Mythen und Sagenkreise, die keinen<br />
Inhalt ausschliessen, obschon Religion der vorzüglichste<br />
ist. Die durchlebte Ze<strong>it</strong>, in welcher das Volk" um seine Selbstständigke<strong>it</strong><br />
kämpfte, wird in den Mythen und Sagen verherrlicht,<br />
sie schildern <strong>des</strong>sen Anfang und die Ursprünge seiner<br />
Einrichtungen, erzählen die Erlebnisse der Urahnen und<br />
deren Verdienste um die folgenden Geschlechter, berichten<br />
die Verwandtschaft der Stammväter und som<strong>it</strong> der von ihnen<br />
abstammenden Völker; kurz, alles <strong>des</strong>sen, was übeihaupt die<br />
Thätigke<strong>it</strong> eines Volks anregen kann, bemächtigt sich der<br />
Mythus und die Sage, welche als Geburt <strong>des</strong> Volksgeistes<br />
<strong>des</strong>sen Eigenartigke<strong>it</strong> an sich tragen und von den Bestrebungen<br />
und Neigungen <strong>des</strong> Volks ein. Zeugniss ablegen. Denn<br />
was ein Volk denkt und fühlt, worin es sein Heil oder Vnheil<br />
erblickt, das lagert sich in seinen Mythen und Sagen ab<br />
und bildet deren Inhalt. Insofern enthalten die Mythologien<br />
der Völker Wahrhe<strong>it</strong>, aber poetische, sie enthalten historische<br />
Facta, aber im Kleide der Poesie, m<strong>it</strong> dem sie infolge der<br />
mündlichen Trad<strong>it</strong>ion, durch die sie sich von Geschlecht zu<br />
Geschlecht fortpflanzen, angethan werden. Je<strong>des</strong> historische<br />
Volk, <strong>des</strong>sen Ursprung ins Alterthum zurückgreift, hat seinen<br />
Sagen- und Mythenkreis, wie der <strong>Geschichte</strong> die Vorgeschichte
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 03<br />
vorangeht, obschon strenggenommen ancli die vorgeschichtlichen<br />
Zustände und Schicksale eines Volks in dem Sinne<br />
historisch zu nennen sind, als sie auf Dasein und Bildung<br />
<strong>des</strong> Volks eingewirkt haben. Der Ausdruck „vorhistorisch"<br />
hat daher eine relative Bedeutung, inwiefern wir den Mythen<br />
und Sagen zu Grunde liegende Thatsachen in poetischer Hülle<br />
vor uns haben, die historische Wahrhe<strong>it</strong> aber von der Dichtung<br />
zu sondern nicht immer im Stande sind.<br />
Die natürliche Umgebung, die äussere Natur und deren<br />
Beschaffenhe<strong>it</strong> ist von wesentlichem Einfluss auf ein Volk,<br />
aber kein Geist, also auch nicht der Volksgeist, ist ein<br />
Erzengniss der Natur, obschon die geographische Lage <strong>des</strong><br />
Lan<strong>des</strong> die Veranlassung geben kann, dass sich nicht nur gewisse<br />
Fertigke<strong>it</strong>en <strong>des</strong> Volkes, sondern auch gewisse Vorstellungen<br />
und Anschauungen ausbilden. Es ist irrig, die<br />
ganze Volksentwickelung von der Naturbestimmthe<strong>it</strong> <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong><br />
able<strong>it</strong>en zu w ollen, die Natur gibt aber die allernächste<br />
Handhabe durch die in ihr auftretenden Gegensätze von Tag<br />
und Nacht, H<strong>it</strong>ze und Kälte, Nässe und Trockenhe<strong>it</strong>, überhaupt<br />
durch Erscheinungen, welche, auf das menschliche Dasein<br />
bezogen, wohlthätig oder verderblich erscheinen, und verm<strong>it</strong>tels<br />
<strong>des</strong> religiösen Sinnes und Triebes die religiöse Anschauung<br />
eines Volks dualistisch gestalten. Noch wichtiger<br />
aber für die Bildung der religiösen Vorstellungen sind die<br />
vorgeschichtlichen Schicksale eines Volks, die in den meisten<br />
Fällen auf der Berührung m<strong>it</strong> andern Völkern beruhen und<br />
gegensätzlich erscheinen. Nicht nur die Erscheinungen der<br />
Natur,<br />
welche Staunen oder Furcht einflössen, auch Ereignisse,<br />
die das Leben <strong>des</strong> Volks betreffen und meistens durch den<br />
Conflict m<strong>it</strong> andern Völkern hervorgebracht werden, indem<br />
sie das ursprüngliche Dasein <strong>des</strong> Volks zu gefährden drohen,<br />
werden durch Mythen und Sagen personificirt, zu persönlichen<br />
bösen Wesen erhoben, die übermenschlich erscheinen, weil sie<br />
eben übermächtig eingreifen. So nehmen die Ursprünge der<br />
Völker gewöhnlich ihren Ausgangspunkt von göttlichen Wesen,<br />
indem sich Mythen und Sagen an die freundlichen oder<br />
feindlichen Gegensätze hängen und durch die Phantasie zu<br />
persönlichen Wesen gestalten. Der gefährliche Feind wird<br />
entweder selbst zum mythischen bösen Wesen und als solches<br />
im Mythus durch die mündliche Ueberlieferung von Genera-
64 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
tion zu Generation fortgepflanzt und in der Erinnerung aufbewahrt,<br />
oder die Gotthe<strong>it</strong>, die dem feindlichen Volke als<br />
Schutzgotthe<strong>it</strong> gilt und von ihm verehrt wird, erscheint dem<br />
bedrohten Volke als feindliche, übelthätige, gegenüber der<br />
eigenen Stammgotthe<strong>it</strong>, unter deren Schirm es sein bisheriges<br />
Dasein gefristet hat. Die Schutzgotthe<strong>it</strong> <strong>des</strong> Fein<strong>des</strong> wird<br />
als übelthätige der eigenen Stammgotthe<strong>it</strong> antagonistisch ento-eo-engestellt.<br />
So bildet sich ein Dualismus der religiösen Anschauung<br />
auf Grund der theils von der Natur, theils durch die <strong>Geschichte</strong><br />
gebotenen Gegensätze, und wie die Natur die Anregung<br />
gibt zu religiösen Vorstellungen der Völker, so sind<br />
auch deren Schicksale in jene verwoben und, da die <strong>Geschichte</strong><br />
eines Volks auch m<strong>it</strong> der Naturbeschaffenhe<strong>it</strong> seines<br />
Lan<strong>des</strong> vornehmlich in den Anfängen in Beziehung steht, so<br />
findet ein Ineinandergreifen und eine Gegense<strong>it</strong>igke<strong>it</strong> statt,<br />
wie in jedem Organismus. Natur und <strong>Geschichte</strong> üben ihren<br />
Einfluss auf die Gestaltung <strong>des</strong> religiösen Bewusstseins eines<br />
Volks, und das religiöse Bewusstsein, von dem das Volk durchdrungen<br />
ist, wirkt auf jene zurück. Denn in der religiösen<br />
Anschauung haften die Springfedern der Handlungen und<br />
Thaten, m<strong>it</strong> denen das Volk seine <strong>Geschichte</strong> erfüllt, und die<br />
Gemeinsamke<strong>it</strong> der religiösen Anschauung bildet im Alterthum<br />
ein Moment der Zusammengehörigke<strong>it</strong>, wie die Gleichhe<strong>it</strong><br />
der Abstammung, der Sprache, der Beschäftigung, der<br />
Freuden, die es geniesst, der Gefahren, die es durch Kampf<br />
abwehrt oder aus Unmacht ertragen muss.<br />
Die Schöpfungen <strong>des</strong> Volksgeistes, durch Natur und <strong>Geschichte</strong><br />
angeregt und durch Selbsttätigke<strong>it</strong> <strong>des</strong> Volks in<br />
seiner Ursprache und Urreligion niedergelegt,<br />
sind von solcher<br />
Zähigke<strong>it</strong>, dass sie durch eine lange Reihe von Geschlechtern<br />
fortgepflanzt und lebendig erhalten werden. Sie begle<strong>it</strong>en<br />
das Volk auf seiner Auswanderung aus dem Urs<strong>it</strong>z, und wenn<br />
sie im Verlaufe der Ze<strong>it</strong> auch Wandlungen erleiden, so schillern<br />
sie doch aus den neuen Formen hervor, wie auf einem<br />
Palimpsest die ursprünglichen Züge zum Vorschein zu kom-<br />
verschlungen m<strong>it</strong> den Jüngern Zügen.<br />
men pflegen,<br />
Die Behauptung Plutarch's, dass der Dualismus der religiösen<br />
Anschauung allgemein verbre<strong>it</strong>et sei, bestätigt sich auch
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 05<br />
in der Ausdehnung über alle historischen Culturvölker <strong>des</strong><br />
Alterthums.<br />
Es wird sich zeigen, dass die Annahme von guten und<br />
bösen göttlichen Wesen als Urheber wohlthätiger oder schädlicher<br />
Erscheinungen bei allen Völkern <strong>des</strong> Alterthums Raum<br />
gefunden, obschon die dualistische Ansicht nicht bei jedem<br />
Volke in gleicher Schroffhe<strong>it</strong> auftr<strong>it</strong>t, nicht gerade zu einem<br />
sich bekämpfenden Gegensatz gespannt ist.<br />
Es wird sich zeigen, dass der Dualismus die Hauptbasis<br />
der religiösen Anschauung der Aegypter und Perser ist,<br />
zweier Völker, denen ein grosser Einfluss auf die religiösen<br />
Vorstellungen anderer Völker, besonders der Hebräer, zuerkannt<br />
werden muss. Der Dualismus wird bei den Babyloniern,<br />
Phönikern, Assyrern und Syrern entgegentreten, er findet sich<br />
in gewissem Masse bei den arischen Stämmen, bei den Germanen<br />
und Skandinavern, den alten Slaven mehr oder weniger<br />
durchgeführt; er ist bei Griechen und Römern nachzuweisen<br />
und hat selbst im Christenthum, besonders im M<strong>it</strong>telalter, ein<br />
sehr scharfes Gepräge erhalten.<br />
Aegypten.<br />
In das untere Nilthal setzt man die Wiege der ersten<br />
Cultur der Erde und lässt hier auch die älteste Speculation<br />
ihren Ursprung nehmen. In den religiösen Vorstellungen der<br />
Aegypter hat der Dualismus ein sehr scharfes Gepräge erhalten.<br />
In Creuzer's „Symbolik", Schelling's „Einle<strong>it</strong>ung in die<br />
Philosophie", Grimm's „Deutsche Mythologie", den neuern Arbe<strong>it</strong>en<br />
von Welcker, Max Müller, Bunsen, E. Renan wird zwar<br />
für die Hauptzweige <strong>des</strong> Heidenthums die Gotteseinhe<strong>it</strong>slehre<br />
in Anspruch genommen; dagegen hat aber Diestel 1 ganz richtig<br />
bemerkt: „Monotheismus ist nicht überall da, wo man ein<br />
höchstes Wesen annimmt oder sich vorstellt"; „die Einhe<strong>it</strong><br />
kann die Einzigke<strong>it</strong> einschliessen , aber auch als das zusammenhaltende<br />
Band für eine Vielhe<strong>it</strong> gesetzt werden — eine<br />
Vielhe<strong>it</strong> untergeordneter, aber dem Menschen gegenüber mäch-<br />
1<br />
Der Monotheismus <strong>des</strong> ältesten Heidenthums, in den Jahrbüchern<br />
für deutsche Theologie, 1860, V, 743.<br />
Eoskoff, <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> <strong>Teufels</strong>. I.<br />
5
ßß Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
fciger Wesen." Auch die Behauptung Uhlemann's 1 ,<br />
dass die<br />
Religion der Aegypter ursprünglich Monotheismus gewesen<br />
sei, beruht auf der Ansicht: der ursprüngliche Monotheismus<br />
habe sich erst im Verlaufe der Ze<strong>it</strong> in Polytheismus zerspl<strong>it</strong>tert,<br />
wobei jedoch die Verwechslung der Speculation m<strong>it</strong> Religion<br />
nicht, zu verkennen ist, da alle altern Speculationen<br />
m<strong>it</strong> der Lehre von der Entstehung <strong>des</strong> Weltganzen beginnen<br />
und gewöhnlich auf Ein Grundwesen zurückkommen. Die<br />
Speculation ist Resultat <strong>des</strong> Lebens und der <strong>Geschichte</strong>, und<br />
obschon sie während <strong>des</strong> Verlaufs der letztern nicht ruht,<br />
also nicht nach dem Ableben eines Volks ihre Thätigke<strong>it</strong> erst<br />
beginnt; so lässt sich ebenso wenig behaupten, dass die speculativen<br />
Begriffe ihrer abstracten Form nach im Bewusstsein<br />
<strong>des</strong> Volks vorhanden seien, da sie vielmehr Producte der<br />
Denkoperation <strong>des</strong> Philosophen sind. Allerdings ruht jede<br />
Religion auf der Ahnung einer einhe<strong>it</strong>lichen (monotheistischen)<br />
Grundlage, woraus sich das Streben, alles irdische Dasein m<strong>it</strong><br />
einer höhern Macht in Verbindung zu setzen, erklärt; allein<br />
die Zerstreuthe<strong>it</strong> der sinnlichen Anschauung lässt den monotheistischen<br />
Gedanken nicht in jedem Volke zur Einzigke<strong>it</strong><br />
sich zusp<strong>it</strong>zen, sondern stellt ihn gleich einem gothischen<br />
Bauwerke in einer Menge von Giebeln, Zacken und Sp<strong>it</strong>zen<br />
dar, ohne es aber zu einem Hauptthurme zu bringen. Der<br />
Götterglaube und die Götterverehrung waren früher vorhanden<br />
als die religiöse Speculation, wie die begriffliche Einhe<strong>it</strong><br />
in der Vielhe<strong>it</strong> und Mannichfaltigke<strong>it</strong> erst durch Abstraction<br />
gewonnen wird.<br />
Wie jede Religion aller Völker <strong>des</strong> Alterthums ursprünglich<br />
Naturreligion ist, so geht auch die religiöse Anschauung<br />
der Aegypter von dem Gegensatze der wohlthätigen und<br />
verderblichen Naturkräfte aus, die sie in ihren Göttern verehrt.<br />
Wir kennen zwar nicht die ägyptische Religion in<br />
ihrer ursprünglichen Form, allein aus dem Charakter der einzelnen<br />
Momente, die sich m<strong>it</strong> den Göttervorstellungen verschmolzen<br />
haben, lässt sich m<strong>it</strong> Gewisshe<strong>it</strong> schliessen, dass<br />
die älteste Form der ägyptischen Religion dem ältesten Naturcultus<br />
der Sem<strong>it</strong>en oder der vedischen Arier entsprechend ge-<br />
1<br />
Thot, S. 17—31). Dessen Handbuch der ägyptischen Alterthumskunde,<br />
II, 154.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 07<br />
wesen sei.<br />
Das wohlthätige Licht und Feuer der Sonne, den<br />
hellen, blauen Himmel personificirten die Aegypter zu heilbringenden<br />
Gotthe<strong>it</strong>en und verehrten sie als Leben schaffende<br />
und erhaltende Wesen. Da die Natur dem Menschen nicht<br />
immer wohlthätige Kräfte und Erscheinungen zeigt, wenngleich<br />
diese immer wieder das Uebergewicht erlangen, wie<br />
auf die Nacht stets der Tag folgt und aus dem Winter immer<br />
neues Leben aufersteht; so personificirte die ägyptische Phantasie<br />
diesen Wechsel der wohlthätigen und schädlichen Erscheinungen<br />
als Kampf heilbringender und übelthätiger Gotthe<strong>it</strong>en<br />
m<strong>it</strong>einander um neues Leben und die alte Ordnung.<br />
Die regelmässige Wiederkehr im Thierleben blieb der ägyptischen<br />
Beobachtung nicht fremd, und diese feste, gleichbleibende<br />
Ständigke<strong>it</strong> rang dem ägyptischen Geiste, der selbst<br />
durch die Eindrücke der steten Regelmässigke<strong>it</strong> und gleichbleibenden<br />
Wiederkehr der Naturerscheinungen seines Lan<strong>des</strong><br />
zu einem stetigen Charakter herangebildet ward, Ehrfurcht ab.<br />
Hierin findet der merkwürdige ägyptische Thierdienst seine<br />
Erklärung, <strong>des</strong>sen Ursprung schon die Alten beschäftigte und<br />
bis auf die Gegenwart verschieden gedeutet wurde. x<br />
Obschon die Aegypter ihren Gotthe<strong>it</strong>en menschliche Gestalt<br />
verleihen, stellen sie dieselben doch häufig m<strong>it</strong> Thierköpfen<br />
oder in der Form geheiligter Thiere dar, in denen sie<br />
ein jenen entsprechen<strong>des</strong> Wesen zu erkennen glaubten.<br />
Im untern Flussthale zu Memphis verehrte man als höchsten<br />
Gott den Ptah, <strong>des</strong>sen Symbol das Feuer. Die Griechen<br />
erkannten in ihm den Hephästos. Er ist der Sonnengott <strong>des</strong><br />
Lichts und der Helle, und die Verehrung bezog sich mehr<br />
auf das Sonnenlicht, den Glanz, als auf das Gestirn. 2 Er<br />
ist wol als der älteste Gott zu betrachten, wird von den<br />
Griechen als „Vater <strong>des</strong> Sonnengottes" bezeichnet, heisst auf<br />
den Inschriften „der Vater der Väter der Götter", „Herrscher<br />
1<br />
Vgl. Diodor, I, 21; Herodot, II, 46. 63. 65; Plut. Is., 43. 72;<br />
Lukian , °Ueber Astrologie, 6—7; Jean Paul, Levana, II, 297; Creuzer,<br />
Symbolik, I, 30; Hegel, Philosophie der Religion, I, 235 fg.; 0. Müller,<br />
Arch. der Kunst, 2. Ausg., S. 17; Roth, <strong>Geschichte</strong> der abendländischen<br />
Philosophie, I, Kap. 3; Duncker, <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> Alterthums, 3. Aufl., I,<br />
53; Scherz, <strong>Geschichte</strong> der Religion, II, 36 fg.<br />
2<br />
Diestel, Set-Typhon u. s. w., Ze<strong>it</strong>schrift für historische Theologie,<br />
1860, S. 160.<br />
5*
08 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
<strong>des</strong> Himmels", „König der beiden Welten, der die Sonne gebar".<br />
Er ist auch „Herr der Wahrhe<strong>it</strong>", „Gott <strong>des</strong> Anfangs",<br />
und als Schöpfer der Welt heisst er „der Bildner".<br />
In dem benachbarten Anu (On, griech. Heliopolis) findet<br />
sich Ra als Gott der Sonnenscheibe, daher sein Symbol die<br />
rothe Sonnenscheibe m<strong>it</strong> zwei Flügeln. Er ist der „Vater<br />
der Götter", Vater der Welt und <strong>des</strong> Lebens, Vater, Ur- und<br />
Vorbild der Könige, die über Aegypten herrschen, wie Ra<br />
über die Welt herrscht. Man 1 wird hierbei an die mythologischen<br />
Anklänge bei manchen Naturvölkern erinnert, die<br />
ihren Ursprung auf ein höheres Wesen zurückführen.<br />
Nach der Vorstellung der Aegypter ist der Sonnengott,<br />
der zugleich der Gott <strong>des</strong> Lebens und der Reinhe<strong>it</strong> ist, im<br />
Kampfe m<strong>it</strong> der Dunkelhe<strong>it</strong>, der Nacht, der Unreinhe<strong>it</strong>,<br />
welche durch die böse Schlange Apep repräsentirt wird, indem<br />
diese die Sonne verschlingen will. 2<br />
Dem Ptah wie dem Ra ist der Stier geheiligt als Sinnbild<br />
<strong>des</strong> Lebens, da Licht und Sonne Leben und Frucht<br />
schafft. Neben beiden werden auch weibliche Gotthe<strong>it</strong>en als<br />
Personificationen<br />
<strong>des</strong> empfangenden, gebärenden, mütterlichen<br />
Princips verehrt. Zu Sais die Göttin Ne<strong>it</strong>h, zu Bubastis<br />
die Geburtsgöttin Pacht m<strong>it</strong> dem Katzenkopf, dem Thiere<br />
der starken Fortpflanzung, das gehenkelte Kreuz als Zeichen<br />
<strong>des</strong> Lebens in der Hand.<br />
In Oberägypten war Arnim der Gott von Theben, den<br />
die Inschriften als „Herrn <strong>des</strong> Himmels" bezeichnen. Nachdem<br />
Theben die Hauptstadt <strong>des</strong> neuen Reichs geworden war<br />
und die siegreichen Pharaonen <strong>des</strong> 15. und 14. Jahrhunderts<br />
in dem Gott von Theben ihren besondern Schutzgott erkannt<br />
hatten, verschmolz Arnim m<strong>it</strong> dem Sonnengott Ra und erscheint<br />
auf den Denkmälern als Amun-Ra. In Oberägypten<br />
wurde auch der widderköpfige Kneph (Chnubis) verehrt, dem<br />
der Widder als Symbol kräftiger Zeugung geheiligt war.<br />
Die Inschriften bezeichnen ihn als „Herr der Wasserspenden",<br />
„der Ueberschwemmungen" 3 , wodurch er zum Land befruchtenden<br />
Gott wird. Auch Kneph wird m<strong>it</strong> Arnim verbunden,<br />
1<br />
Lepsius, Ueber den ersten Götterkreis, S. 34 fg.<br />
2<br />
Champollion, Lettres, S. 230 fg.<br />
3<br />
Bunsen, Aegyptens Stelle u. s. \\\, I, 4.42.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 69<br />
daher dieser ebenfalls widderköpfig oder m<strong>it</strong> Widderhörnern<br />
auftreten kann. Die Sonnengotthe<strong>it</strong> theilt sich in Oberägypten<br />
in Mentu, die aufgehende, und Atrau, die untergehende<br />
Sonne, die Sonne <strong>des</strong> Tags und die der Nacht, die oberweltliche<br />
und unterweltliche. Ueber ihnen steht Arnim, der herrschende<br />
Gott in der Höhe, als „der Verborgene", als „non<br />
apertus, xsxpu|jt.{j.svo
70 Erster Abschn<strong>it</strong>t-: Der religiöse Dualismus.<br />
Hesiri (Osiris), die Hesi (Isis), den Set (Typhon) und<br />
die Nebti (Nephtys). Hesiri, dem sein Vater die Herrschaft<br />
über das Nilthal übergeben hatte, waltete m<strong>it</strong> seiner Schwester<br />
und Gemahlin Hesi segensreich, lehrte die Aegypter Aekerund<br />
Weinbau, gab ihnen Gesetze und Gottesdienst. Er durchzog<br />
die übrigen Länder, überall Segen verbre<strong>it</strong>end, wurde aber<br />
nach seiner Rückkehr von Set, <strong>des</strong>sen 72 Genossen (und der<br />
äthiopischen Königin) in einen Sargkasten geschlossen und<br />
durch die tan<strong>it</strong>ische Mündung ins Meer entsandt. Dies geschah<br />
am 17.<br />
<strong>des</strong> Monats Athyr, wo die Sonne den Skorpion<br />
durchläuft, von welchem Tage die Aegypter den Beginn der<br />
grossen H<strong>it</strong>ze rechneten. Hesi, in der Stadt Koptos davon<br />
benachrichtigt, hüllt sich in ein Trauergewand und irrt wehklagend,<br />
den Hesiri suchend, umher. Nach langem Suchen<br />
findet sie ihn zu Byblus an der phönikischen Küste, wo die<br />
Wellen den Leichenkasten ans Land gespült hatten und eine<br />
schöne Tamariske über ihm entsprosste. Hesi brachte den<br />
Leichnam nach Aegypten zurück, wo sie ihn bestattete. Inzwischen<br />
war Har (Horos), der Sohn <strong>des</strong> Hesiri und der<br />
Hesi, herangewachsen, und um seinen Vater zu rächen, kämpfte<br />
er viele Tage m<strong>it</strong> Set, bis er ihn ganz besiegte; Hesiri aber,<br />
der nicht gestorben war, lebte in der Unterwelt als deren<br />
Beherrscher. x<br />
In diesem Mythus ist nebst der untersten allgemeinen<br />
Grundlage <strong>des</strong> ägyptischen Glaubens, der ursprünglich Licht<br />
und Sonnendienst ist, auch der Entwickelungsgang sammt den<br />
verschiedenen Momenten darin angedeutet. M<strong>it</strong> der solarischen<br />
Bedeutung <strong>des</strong> Hesiri verschmolz die physische, welche<br />
die landschaftliche Eigenartigke<strong>it</strong> Aegyptens darbot, wozu<br />
überdies das pol<strong>it</strong>ische Moment und das ethische hinzukam.<br />
Bevor in Aegypten der Nil das Thal überschwemmt, nachdem<br />
die fruchtbare Ze<strong>it</strong> vorbei ist, herrscht Dürre und Unfruchtbarke<strong>it</strong>,<br />
die von den Aegyptern auf 72 Tage angeschlagen<br />
wurde. Diese Periode wird im Mythus durch den<br />
Sies; <strong>des</strong> Set und seiner 72 Genossen über Hesiri, den sie<br />
erschlagen, angedeutet. Während der Ze<strong>it</strong>, wo die Naturkraft<br />
in Aegypten unthätig zu sein scheint, ist Hesiri in dem<br />
1<br />
Diodor, I, 10. 13 fg.; Flut, Is., e. 12—20.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 71<br />
Leichenkastcn eingesargt. Hesi, welche die Erde bedeutet,<br />
sucht trauernd den Hesiri, in dieser Beziehung den Nil repräsentirend<br />
?, der die Fruchtbarke<strong>it</strong> Aegyptens bedingt 2 , der<br />
im Mythus ins Meer getrieben wird. Die ägyptische Erde<br />
ist während dieser Periode ihrer Fruchtbarke<strong>it</strong> beraubt und<br />
ihre Kraft nach Norden gezogen, daher findet Hesi den Leichnam<br />
an der Meeresküste. Die Erwähnung der phönikischen<br />
Küste im Mythus kann m<strong>it</strong> Recht als nichtägyptischer Zug,<br />
als griechische Combrnation betrachtet werden 3 , da in Phönikien<br />
Astarte verehrt und gleich der Isis m<strong>it</strong> Rinderhörnern<br />
dargestellt wurde, Byblus wegen seiner Adonisklage bekannt<br />
war. Nach den 72 Tagen drückender Dürre, nachdem m<strong>it</strong><br />
der Sonnenwende die Nilschwellung das Land unter Wasser<br />
gesetzt hat, beginnt nach der Ueberschwemmung der neue<br />
Segen <strong>des</strong> Jahrs. Dieser Vorgang wird im Mythus durch<br />
Ilar, das Kind der Hesi und <strong>des</strong> Hesiri, angedeutet, das<br />
herangewachsen zum rächenden Sohn <strong>des</strong> Vaters wird. Hesiri,<br />
der aber nur scheintodt gewesen, lebt m<strong>it</strong> seinem Sohne<br />
in der Unterwelt fort. In den Hieroglyphen wird Har „Rächer<br />
seines Vaters Hesiri" genannt 4 und häufig die Schlange Apep,<br />
Apophis 5 m<strong>it</strong> einem Speere durchbohrend dargestellt. Aegyptische<br />
Denkmäler bezeichnen ihn durch den ihm geheiligten<br />
Sperber m<strong>it</strong> der Geisel. 6<br />
In Hesiri, ursprünglich die Sonne m<strong>it</strong> ihren heilsamen<br />
Wirkungen 7 , dachten die Aegypter alle wohlthätigen Eigenschaften<br />
der Natur vereinigt, er wurde zum Gott <strong>des</strong> Lebens,<br />
das unzerstörbar aus dem Tode wieder aufersteht. Er heisst<br />
„König <strong>des</strong> Lebens", „Herr von unzähligen Tagen", „König<br />
der Götter". Die immergrüne Tamariske, der Reiher sind<br />
ihm geheiligt. Auf den Denkmälern erscheint er m<strong>it</strong> dem<br />
Scepter, der Krone Oberägyptens und dem Nilmesser, dem<br />
Zeichen <strong>des</strong> Lebens. Er führt die Herrschaft in der Unter-<br />
1<br />
Herodot, II, 59; Plut. Is., e. 38.<br />
2<br />
Daher "Ooipi? aya^OTioios (Plut. Is., c. 42).<br />
3<br />
Duncker, I, 46.<br />
1<br />
Vgl. Plutarch, Is., e. 12.<br />
5<br />
So viel als Set, vgl. Plutarch, e. 36.<br />
e<br />
Wilkinson, Manners and cusloms, VI, 37.<br />
7<br />
Diodor, I, e. 10; Macrobius, Saturn., I, o. 21 ;<br />
Porpliyrius und Manetho<br />
bei Euseb. praepar. evangel., I, e. 10; III, c. 2.
1<br />
'-'<br />
72 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
we<strong>it</strong>, lebt aber auch in seinem Sohne Har fort, der über<br />
Aegypten waltet.<br />
Den Gegensatz zu Hesiri bildet Set, von den Griechen<br />
Typhon genannt, der, ursprünglich das zerstörende Sonnenfeuer<br />
bedeutend, zum Repräsentanten aller schädlichen Wirkungen<br />
der Natur überhaupt wird. Im Gegensatz zum Licht<br />
ist er die Dunkelhe<strong>it</strong>, dargestellt als Schlange Apep, welche<br />
die Sonne zu verschlingen droht. Er ist die versengende<br />
Sonnenh<strong>it</strong>ze, die Dürre, und da diese durch die Glutwinde<br />
vermehrt wird, der Glutwind und Sandsturm. Gegenüber<br />
dem befruchtenden Nil ist Set das salzige, öde Meer \ in<br />
welchem der Nil bei seinem Ausflusse verschwindet. Ihm<br />
eignen das gefrässige Krokodil, das wüste Nilpferd, der stützige<br />
Esel. Set selbst wird auf Denkmälern m<strong>it</strong> Eselsohren abgebildet<br />
2 , wie ihm überhaupt aUe Thiere, Pflanzen schädlicher<br />
Art und die schlimmen Ereignisse zugeschrieben werden. 3<br />
Sein Geburtstag galt für einen Unglückstag, an dem man<br />
keine Geschäfte unternahm. 4 Alles Unregelmässige, Ordnungslose,<br />
Unbeständige le<strong>it</strong>eten die Aegypter von ihm ab, und er<br />
gilt in ethischer Hinsicht als Urheber <strong>des</strong> Bösen, der Lüge<br />
und Verleumdung. 5 Ein Papyrus bezeichnet ihn als „den<br />
allmächtigen Zerstörer und Veröder" 6 ;<br />
er zerstört die heilige<br />
Lehre der Hesi und wirkt der Cultur Aegyptens feindlich<br />
entgegen. 7 Seiner Farbe nach ist er 7CU(5po£ vfi xpo?? was<br />
Plutarch durch zapox.?°*5 a ^ so farblos, gelblich, erläutert.<br />
Diestel 9 bemerkt, man habe dies „sehr falsch m<strong>it</strong> roth oder<br />
gar rothbraun übersetzt", und es wäre „sonderbar", gerade<br />
die rothe Farbe dem Typhon beizulegen, da, wie die Denkmäler<br />
ausweisen, roth und rothbraun recht eigentlich die<br />
Hautfarbe der Aegypter ist. „Vielmehr sind m<strong>it</strong> den farblosen,<br />
gelblichen Menschen auf den Monumenten immer die<br />
1<br />
Plutarch, Is., c. 33.<br />
-<br />
Salvolini, Campagne de Ramses le Grand, pl. I, 3*.<br />
s Plut., Is., c. 50.<br />
Plut., ibid., c. 12.<br />
5<br />
Plut,, Is., c. 19. 54.<br />
l<br />
Lepsiu*, Götterkreis, '<br />
S. 53.<br />
7<br />
Plut., Is., c. 2.<br />
8<br />
C. 33.<br />
Sct-Typhon, in der Ze<strong>it</strong>schrift für histor. Theologie, 1860, S. 170.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Altertkums. 7o<br />
nördlichen Ausländer gemeint, die sich durch Tracht, Haltung<br />
und Physiognomie als solche zu erkennen geben." Diese<br />
doch das pol<strong>it</strong>ische<br />
gewiss schätzenswerthe Bemerkung scheint<br />
Moment zu einse<strong>it</strong>ig zu betonen, da kaum erweislich sein<br />
dürfte, dass bei der Farbe <strong>des</strong> Set nicht auch die physische<br />
Bedeutung m<strong>it</strong>spiele. Immerhin mögen unter den typhonischen<br />
(setischen) Menschen zwar kv§§q( \ obschon nicht rothhaarige,<br />
sondern „gelbhäutige", also Nichtägypter, Ausländer<br />
zu verstehen sein, so schliesst dies nicht aus, dass bei der<br />
Farbe <strong>des</strong> Set auch der Gegensatz <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> Aegypten zur<br />
Wüste m<strong>it</strong> inbegriffen werde, da die Aegypter selbst ihr Land<br />
als „khemi", schwarz, dunkel bezeichnen gegenüber dem unfruchtbaren<br />
gelblichen Sande der Wüste, die unter der brennenden<br />
Sonne im röthlichen Lichte erscheint. Da Ilesiri als<br />
Schutzgott Aegyptens <strong>des</strong>sen dunkle Farbe trägt, da Set<br />
als Ttu^po'c bezeichnet in derselben Färbung erscheint wie<br />
die unter dem Sonnenbrande liegende Wüste m<strong>it</strong> ihren vom<br />
Sturme aufgewirbelten Sandwolken, so ist die Annahme berechtigt,<br />
auch von dieser Se<strong>it</strong>e die physische Bedeutung <strong>des</strong><br />
Set festzuhalten, ohne sie in<strong>des</strong>s einse<strong>it</strong>ig allein betonen zu<br />
wollen, und denselben als das in der Wüste hausende Wesen<br />
zu betrachten,<br />
gegenüber dem im fruchtbaren Aegypten waltenden<br />
Hesiri.<br />
In Set, dem schlechthinnigen Gegensatz zu Hesiri, vereinigen<br />
sich physische und pol<strong>it</strong>ische Beziehungen, und in<br />
letzter weist er auf das Nichtägyptische, Ausländische hin.<br />
Bemerkenswerth ist <strong>des</strong>halb, dass die dem Set geheiligten<br />
Städte und Gebiete an den Grenzen <strong>des</strong> eigentlichen Nillan<strong>des</strong><br />
gelegen waren, wie Nubt (Ombos), wovon Set den<br />
Beinamen Nubi führt 2 ; so auch der sirbonische See, in welchem<br />
laut der gräcisirten Sage Set gefesselt liegt 3 ; Ha-uar,<br />
das in der <strong>Geschichte</strong> der Hyksos bekannte Aüapi? 4 , in der<br />
heiligen Sprache auch Sethroe genannt, der setro<strong>it</strong>ische Nomos,<br />
Thor <strong>des</strong> Set 5 ,<br />
nach Brugsch 6 die Stadt Set <strong>des</strong> Wächters.<br />
1<br />
Diodor, I, 8«.<br />
2 Lepsius, Denkmäler, III, 34. 35.<br />
3<br />
Herodot, III, 5.<br />
4<br />
Vgl. Joseph, c. Ap., I, 14.<br />
5<br />
Lepsius, Chronologie, I, 344.<br />
6<br />
Ze<strong>it</strong>schrift der Deutschen lnorgcnläudischen Gesellschaft, IX, 209.
1<br />
Wilkinson,<br />
74 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Set galt auch als Gott der Nachbarvölker, <strong>des</strong> südlichen und<br />
nördlichen Auslan<strong>des</strong>. Daher gibt es einen Set-nehes, einen<br />
Set der Neger, der durch einen schwarzen Raben m<strong>it</strong> abgestutzten<br />
Setohren dargestellt wird, darum ist die äthiopische<br />
Königin im Hesiri-Mythus dem Set verbündet.<br />
Alles Nichtägyptische, Fremdartige ist eine Offenbarung<br />
<strong>des</strong> Set, ebenso alles Schädliche, Rohe, alles verwüstende<br />
Wesen. In der Bedeutung <strong>des</strong> Set vereinigt sich m<strong>it</strong> der<br />
Beziehung auf das Ausländische die tobende Gewaltthätigke<strong>it</strong>,<br />
das Vernichtende, Rohe im Kriege, das die Griechen dem<br />
Ares zueignen. Er ist Kriegsgott und als solcher begünstigt<br />
er das Kriegsglück, repräsentirt aber vornehmlich die wilde<br />
Se<strong>it</strong>e, das Ungestüme, Vernichtende <strong>des</strong> Krieges. Als Kriegsgott<br />
findet sich Set auch in Hieroglyphenbildern und stand<br />
in dieser Bedeutung dem Kriegerstamme der Aegypter vor.<br />
Auf einer Tempelwand zu Karnak unterrichtet er neben Hör<br />
den König Thutmosis im Bogenschiessen. * Als Kriegsgott<br />
hatte Omble-Set seinen Tempel. 2<br />
M<strong>it</strong> der Bedeutung <strong>des</strong> Set als Kriegsgott und Repräsentant<br />
<strong>des</strong> Auslan<strong>des</strong>, über welches er die Macht führt und<br />
insofern von ihm abhängt, ob Aegypten vom Auslande unterjocht<br />
wird oder über dieses die Oberhand gewinnt, steht in<br />
Verbindung: dass Set vornehmlich in jenen Gebieten cultivirt<br />
wird, wo vielfache Berührungen m<strong>it</strong> dem Auslande stattfinden,<br />
dass sich die feindliche Se<strong>it</strong>e <strong>des</strong> Set besonders gesteigert<br />
in jenen Ze<strong>it</strong>en herauskehrt, wo Aegypten von den<br />
Ausländern bedrückt wird. Dies zeigt die Ze<strong>it</strong> der Hyksos<br />
in Aegypten.<br />
Manetho erzählt 3 :<br />
„ Es regierte ein König Amyntimäos 4<br />
über Aegypten, unter welchem die Gotthe<strong>it</strong> ungünstig war.<br />
Unerwartet zogen aus den östlichen Gegenden von Geschlecht<br />
unangesehene Menschen voll Selbstvertrauen gegen das Land<br />
und nahmen es m<strong>it</strong> Gewalt ohne grosse Mühe ein, und nachdem<br />
sie die Herrschenden im Lande sich unterworfen, verbrannten<br />
sie grausam die Städte und zerstörten die Tempel<br />
VI, pl. 39.<br />
- Ilerod., II, 83.<br />
3<br />
Jos. c. Ap., I, 14.<br />
4<br />
Ameuemhat; Lepsin?, König&buch, S. 24.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 75<br />
der Götter: segeii die Einheimischen aber handelten sie auf<br />
das feindseligste, indem sie die einen niedermachten und die<br />
Weiber und Kinder der andern in Knechtschaft brachte».<br />
Am Ende machten sie auch einen ans ihrer M<strong>it</strong>te zum König,<br />
<strong>des</strong>sen Name Salatis war. Dieser residirte in Memphis, erhob<br />
Tribut aus dem obern und untern Lande und hielt Besatzungen<br />
in den gelegensten Orten, besonders den östlichen<br />
Gegenden. Im sethro<strong>it</strong>ischen Bezirke fand er eine sehr geeignete,<br />
am Nilarme von Bubastis gelegene Stadt, welche in<br />
alter Ze<strong>it</strong> den Namen Abaris erhalten hatte; diese bevölkerte<br />
er, umgab sie m<strong>it</strong> festen Mauern und legte 240000 Mann<br />
seiner Bewaffneten als Besatzung hinein. Diesem folgten andere<br />
Könige, die stets Krieg führten und die Wurzel Aegyptens<br />
immer mehr auszurotten suchten. Ihr Geschlecht wurde<br />
Hyksos genannt. Denn «Hyk» bedeutet in der heiligen Sprache<br />
einen König, «Sos» aber Hirte im gemeinen Dialekte, und so<br />
zusammengesetzt entsteht Hyksos."<br />
Manetho bezeichnet die Fremden an verschiedenen Stellen<br />
seines Werks als Phöniker oder als deren Verwandte \ und<br />
wenn sie nach <strong>des</strong>sen Angabe von einigen Araber genannt<br />
werden, so ist bekannt, dass der Lan<strong>des</strong>theil, der an die nordöstliche<br />
Grenze Aegyptens stiess, woher die Eindringlinge<br />
gekommen waren, von den Alten bald zu Phönikien, bald<br />
zum peträischen Arabien gerechnet wird. Afrikanos nennt<br />
sie Phöniker. 2<br />
Dass m<strong>it</strong> dem Einbrüche der Phöniker nicht ganz Aegypten<br />
unterjocht worden sei, sondern die einheimische Königsdynastie<br />
sich nur nach Oberägypten zurückgezogen habe, geht<br />
aus der Bemerkung hervor, die Josephus der Manethonischen<br />
Stelle hinzufügt, wonach, nach 511 jähriger Herrschaft der<br />
Könige der Hirten, in dem Gebiete von Theben und dem<br />
übrigen Aegypten Könige aufgestanden seien, woraus sich<br />
ein langer Kampf entwickelt habe, infolge <strong>des</strong>sen die Hirten<br />
geschlafen und auf Avaris zurückgedrängt wurden. 3<br />
1<br />
Georg. Syncell., S. 61; Eusebiu*, Cliron., S. 99.<br />
2<br />
Afric. ap. Syncell., S. Gl.<br />
3<br />
Fragmenta Manethon., üb. II, in Idleri Hermap. Appeud., Ö. 37;<br />
Jos. c. Apion., I, 14. 15, in Idleri Hermap. Append., S. 53.
76 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Nach dem Berichte Manetho's versuchte Tuthmosis Abaris<br />
m<strong>it</strong> Gewalt einzunehmen, da ihm dies aber nicht gelungen,<br />
habe er sich m<strong>it</strong> den Hirten abgefunden, dass sie Aegypten<br />
verlassen konnten, worauf sie in die Wüste gezogen seien.<br />
So viel lässt sich dem Berichte entnehmen, dass die Herrschaft<br />
der Fremden in Niederägypten neben den einheimischen<br />
Königen in Oberägypten eine geraume Ze<strong>it</strong> hindurch<br />
bestanden habe, dass diesen nur nach langem Kampfe gelungen<br />
sei, das Uebergewicht zu erlangen und die Phöniker<br />
auf das Nildelta hinabzudrängen und endlich aus Aegypten<br />
zu vertreiben.<br />
Von der Ze<strong>it</strong> wo König Raskenen in Theben regierte,<br />
nachdem se<strong>it</strong> der ersten Erhebuno; der einheimischen Fürsten<br />
gegen die Fremden über hundert Jahre vergangen waren,<br />
berichtet ein Papyrus <strong>des</strong> Br<strong>it</strong>ischen Museum: „Es ereignete<br />
sich, dass das Land Aegypten Eigenthum war der Bösen<br />
und nicht war damals ein Herr m<strong>it</strong> Leben, Heil und Kraft<br />
König. Und siehe, es war Raskenen m<strong>it</strong> Leben, Heil und<br />
Kraft nur Vorsteher <strong>des</strong> südlichen Lan<strong>des</strong>. Die Bösen waren<br />
in der Burg der Sonne (Heliopolis) , und ihr Haupt Apepi<br />
(Apophis) war in Hauar (Avaris), und das ganze Land leistete<br />
Dienste die Fülle und Tribut, alles Gute was Unterägypten<br />
hervorbringt. Und Apepi wählte den Gott Sutech (Set) 1 zum<br />
Herrn und baute ihm einen Altar in guter,<br />
langdauernder Arbe<strong>it</strong><br />
und diente keinem andern Gotte, welcher in Aegypten<br />
war." 2<br />
Die Verdrängung der ägyptischen Götter durch Set in jener<br />
Ze<strong>it</strong> findet sich auch in Priestersagen bei griechischen<br />
Schriftstellern aufbewahrt und bestätigt, wonach es heisst:<br />
dass die ägyptischen Götter ihre Kronen abgelegt, als sie die<br />
Herrschaft <strong>des</strong> Typhon (Set) sahen 3 ;<br />
oder: dass die Götter<br />
(die ägyptischen), als Typhon, der Feind der Götter, nach<br />
Aegypten gekommen, aus Furcht vor ihm sich in Thiere verwandelt<br />
hätten 4 , und zwar, wie Diodorus erklärt, um sich<br />
1<br />
Lepsius, Lieber den ersten Götterkrieg, S. 18 fg.<br />
2<br />
Brugscb , Aegyptische Studien , in der Ze<strong>it</strong>schrift der Deutschen<br />
niorgenländischen Gesellschaft, IX, 200 fg.<br />
3<br />
Hellanic. ap. Athen., XV, G80.<br />
1<br />
llygin., II, 28.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 77<br />
der Gottlosigke<strong>it</strong> und Grausamke<strong>it</strong> der erdgeborenen Menschen<br />
(nämlich der Hyksos) zu entziehen.<br />
Es darf immerhin angenommen werden, dass das Verhalten<br />
der Fremden, die Manetho bei ihrem Einbrüche als<br />
wilde Eroberer auftreten lässt, im Verlaufe der Ze<strong>it</strong> milder<br />
geworden sei 1 ;<br />
allein ebenso ergibt sich aus dem Papyrusberichte:<br />
dass der Setcult in Niederägypten vornehmlich gepflegt<br />
worden, dass Set im Volksglauben zum Träger <strong>des</strong><br />
Bösen und Uebeln sich herausgebildet habe.<br />
Als die phönikischen Eindringlinge im Lande der Aegypter<br />
sich festgesetzt hatten, erkannten sie im ägyptischen Set,<br />
Sutech, dem Gott <strong>des</strong> zerstörenden Kriegs, dem Localgott<br />
von Ombos, Ombte-Set, Nub, Nubi-Set, ihren eigenen Feuergott,<br />
der zugleich ihr Kriegs- und National- oder Stammgott<br />
war, daher sie dem Set ihre Verehrung zollten, ihn zur Hauptgotthe<strong>it</strong><br />
erhoben und demselben ihr festes Lager heiligten.<br />
Der ägyptische Hass gegen die phönikischen Eindringlinge<br />
und Unterdrücker Hess dieselben in den Augen der Aegypter<br />
als Repräsentanten schwerer Vergewaltigung erscheinen, und<br />
dieser Hass wurde in der Erinnerung aufbewahrt. Auf Set,<br />
den die verhassten Fremdlinge als ihre Hauptgotthe<strong>it</strong> verehrt<br />
hatten, übertrug sich das Gewaltthätige; alles dem Lande<br />
Aegypten und seinen wohlthätigen Göttern Feindselige und<br />
alles, was dem Aegypter schädlich erschien, wie der Druck<br />
der Phöniker, häufte er auf Set, den diese verehrt hatten.<br />
Obschon das Princip aller Rohhe<strong>it</strong>, „das die Harmonie im<br />
Weltall wie im Menschen stört,<br />
der stark griechisch gefärbten<br />
Religionsphilosophie" angehören mag 2 , ist doch nicht zu verkennen,<br />
dass durch das Auftreten der Hyksos in Aegypten<br />
die Vorstellung von Set als einer furchtbaren übelthätigen<br />
Gotthe<strong>it</strong> im ägyptischen Volksglauben ihre we<strong>it</strong>ere Ausbildung<br />
erlangte. Diese Annahme wird kaum abgeschwächt durch<br />
die Hinweisung auf „die<br />
grosse Verschiedenhe<strong>it</strong> der religiösen<br />
Observanz in den zahlreichen Localculten ", noch dadurch,<br />
dass Set als eine der Besänftigung fähige Gottesmacht noch<br />
in späten Ze<strong>it</strong>en nachzuweisen ist. Es liegt in der Natur der<br />
1<br />
Duncker, I, 97.<br />
2 Diestel, Set-Typhon u. s. w., Ze<strong>it</strong>schrift für historische Theologie, 1860,<br />
187.
78 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Sache, dass der Setcult nicht in allen Gebieten auf gleicher<br />
Linie im Vordergrund gestanden, dass man nach Umständen<br />
entweder, um den wohlthätigen Göttern Aegyptens zu gefallen,<br />
die als von Set angefeindet galten, diesem in seinen<br />
ihm geeigneten Thieren den Abscheu an den Tag legte, wie<br />
die Einwohner von Koptos einen Esel vom Felsen herabstürzten<br />
1 ; oder den Set, der als gefährlich zu fürchten war, wenn<br />
er eine Landplage, z. B. den Glutwind, angerichtet hatte,<br />
di#ch Opfer zu besänftigen<br />
suchte.<br />
Die Gegensätzlichke<strong>it</strong> von guten und bösen Wesen innerhalb<br />
<strong>des</strong> ägyptischen Götterglaubens steht fest, und das<br />
Vorhandensein eines übelthätigen höhern Wesens ist ausser<br />
Zweifel.<br />
Der gegensätzliche Dualismus in der ägyptischen Religionsanschauung<br />
findet einen fernem Beleg in der religiösen<br />
Speculation der Aegypter. Es bleibt wahr, „der Götterglaube<br />
und die Götterverehrung waren früher vorhanden als die religiöse<br />
Speculation 2 -, aber ebenso richtig ist, dass speculative<br />
Constructionen, Kosmogonien und Theogonien, dogmatische<br />
Systeme auf die Art und den Charakter eines Volks und seines<br />
religiösen Seins hindeuten, weil sie der untersten Grundlage<br />
nach doch im Volke wurzeln , obschon sie in der Form<br />
der Speculation nicht im Volksbewusstsein vorhanden und<br />
der Masse nicht zugänglich sind. Es soll daher die ägyptisch<br />
religiöse Speculation eben nur als Unterstützung für unsere<br />
Annahme beigebracht werden, insofern auch in ihr jene Zweihe<strong>it</strong><br />
zum Ausdruck kommt.<br />
Nach den Erörterungen Röth's 3 stand an der Sp<strong>it</strong>ze der<br />
ägyptischen Speculation eine Urgotthe<strong>it</strong>, das ,,ungetheilte<br />
Eine" 4 ,<br />
zusammengesetzt aus Stoff, woraus alle Theile in<br />
der Welt gebildet sind, Geist, der das Ganze durchweht und<br />
belebt in seiner unendlichen Ausdehnung, und Ze<strong>it</strong>, das regelmässige<br />
Nacheinander von Tagen und Nächten, Jahresze<strong>it</strong>en<br />
und Jahren. Diese vier Grundbestandteile der Welt waren<br />
von Ewigke<strong>it</strong> zu einer Einhe<strong>it</strong> verbunden gedacht in der Ur-<br />
1<br />
Plutarch, Is., c. 30.<br />
* Roth, I, 50.<br />
3<br />
I, 132 fg.<br />
4<br />
Jambl., de myster. Aegyptior., VIII, 2.
4. Dualismus in den Religionen der Culfcurvölker <strong>des</strong> A<strong>it</strong>ertliums. 70<br />
gotthe<strong>it</strong>, die man an die Sp<strong>it</strong>ze alles Vorhandenen stellte, in<br />
der in Einhe<strong>it</strong> verbunden war, was in der Welt getrennt und<br />
in die einzelnen Gotthe<strong>it</strong>en gesondert auseinandertreten sollte.<br />
Diese Urgotthe<strong>it</strong> nennen die Aegypter Arnim, „unentstanden,<br />
verborgen", d. h. durch die Sinne nicht unm<strong>it</strong>telbar wahrnehmbar,<br />
von den Aegyptern so heilig gehalten, dass sie den<br />
Namen auszusprechen sich scheuten. l<br />
Da die vier Urwesen, aus welchen die Gotthe<strong>it</strong> bestand,<br />
verschiedenen Geschlechts gedacht wurden, so entstanden zwei<br />
Paare: der männliche Kneph als Urgeist m<strong>it</strong> der weiblichen<br />
Ne<strong>it</strong>h als Urstoff bildet das eine Paar; der männliche Sevech<br />
als Urze<strong>it</strong> m<strong>it</strong> der weiblichen Pascht, Urraum, das andere.<br />
Kneph, d. h. Geist, der in der Hieroglyphenschrift auch<br />
Neb, Noub, Noum heisst, nach der griechischen Schreibart<br />
xvs'9, xvoucpi^, xvoüßic, xvoü<br />
(u(.
gQ Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
sondern auch alles zerstört, m<strong>it</strong>hin Urgrund der Zerstörung<br />
und Vernichtung ist. Sonach ist Sevech der Urheber alles<br />
Uebcls und alles Bösen.<br />
Das vierte Urwesen, Pascht, die Herrin <strong>des</strong> Raumes, „die<br />
ausgegossene, ausgebre<strong>it</strong>ete", vereint in sich die Vorstellung<br />
der Finsterniss, wurde aber trotz ihrer Verbindung m<strong>it</strong><br />
Sevech als gute Gotthe<strong>it</strong> gedacht, und weil sie die Urmaterie<br />
Ne<strong>it</strong>h in sich aufnahm, heisst sie auch die „Geburtshelferin".<br />
Aus der Urgotthe<strong>it</strong>, in der sich Materie, Geist oder Kraft,<br />
Raum und Ze<strong>it</strong> vereinigt befand, ging die Welt durch innere<br />
Entwickelung hervor, indem die Materie unter Einwirkung<br />
<strong>des</strong> bewegenden Hauches sich kugelartig gestaltete, daher<br />
Kncph, auch Schöpfer und König <strong>des</strong> Weltalls genannt, auf<br />
Hieroglyphenbildern als eine die Weltkugel umfassende Schlange<br />
dargestellt wird. Als Himmelslenker und Weltbeherrscher ist<br />
Kneph der gute Geist.<br />
Aus der im Schose der Urgotthe<strong>it</strong> entstandenen Weltkugel<br />
gingen auch die acht grossen Götter hervor, die person<strong>it</strong>icirten<br />
kosmischen Götterbegriffe, da sie als Theile der<br />
Urgotthe<strong>it</strong> in die Welt übergingen und diese unter ihrem<br />
Einflüsse die jetzige Gestalt erhielt.<br />
Nachdem der „innenweltliche Schöpfergeist" auf die Erde<br />
niedergestiegen war', schmückte er sie m<strong>it</strong> ihrer jetzigen Gestalt,<br />
d. h. er bildete Aegypten, denn, wie für je<strong>des</strong> ältere<br />
Volk, war dem Aegypter sein Land der Haupttheil der Erde,<br />
und die vier Urgotthe<strong>it</strong>en wurden zu irdischen Gotthe<strong>it</strong>en.<br />
Da vom Nil die Existenz und Cultur Aegyptens abhängt,<br />
nach seiner Ueberschwemmung die drei Hauptze<strong>it</strong>en: die Ze<strong>it</strong><br />
der Ueberschwemmung, die darauffolgende Saatze<strong>it</strong> und die<br />
Ze<strong>it</strong> der Dürre, sowie die ganze Lebensordnung, die häuslichen<br />
und bürgerlichen Einrichtungen geregelt werden; so<br />
knüpft sich auch die ägyptische Kosmogonie und Theogonie<br />
an diesen Fluss. Kneph, der gute Urgeist, wird zum Nil-<br />
Okeamos (Okeamos soll der ägyptische Name <strong>des</strong> Nil sein),<br />
und heisst daher der gute Gott m<strong>it</strong> all den wohlthätigen<br />
Eigenschaften <strong>des</strong> Flusses; die Gemahlin <strong>des</strong> Kneph, das<br />
himmlische Urgewässer Ne<strong>it</strong>h, die Netpe <strong>des</strong> Himmels, kommt<br />
auf die Erde und wird zur Flussgöttin Okeame, die als Ernährerin<br />
der Welt, d. h. Aegyptens, gilt; Sevech findet<br />
im Wechsel der von den Nilüberschwemmungen abhängigen
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthuras. 31<br />
Jahresze<strong>it</strong>en seine Verkörperung und wird als Seb zur irdischen<br />
Ze<strong>it</strong>: Pascht findet auf Erden ihr Amt als Hüterin<br />
der bestehenden Weltordnung und wird zur Reto.<br />
Nachdem die vier Urgotthe<strong>it</strong>en verkörpert waren, trat<br />
Erzeugung und Geburt auf Erden ein, auch die göttlichen<br />
Wesen pflanzten sich fort, und es entstand ein Göttergeschlecht<br />
ungeheuer an Kraft und Grösse, die Giganten Apophi.<br />
Reich an Nachkommenschaft waren die vier grossen irdisch<br />
gewordenen Götter, und besonders war Netpe als Gebärerin<br />
thätig, sie hatte Kinder von verschiedenen Vätern:<br />
Hesiri und Arueris von Re, dem Sonnengott; Hesi von Thoot;<br />
Set und Nephthys von Seb. Die Erde ward m<strong>it</strong> zahllosen<br />
Gotthe<strong>it</strong>en und Dämonen gefüllt, die vier Gotthe<strong>it</strong>en herrschten<br />
auf der Erde, auf welcher es aber noch keine Menschen<br />
gab.<br />
Die Ze<strong>it</strong> der unm<strong>it</strong>telbaren Herrschaft <strong>des</strong><br />
Okeamos, <strong>des</strong><br />
guten Geistes über Aegypten, bildet das goldene Ze<strong>it</strong>alter,<br />
wo es kein Uebel und nichts Böses gab. Aber Seb, der irdisch<br />
gewordene Sevek, entfaltete seine zerstörerische Eigenschaft<br />
und machte der goldenen Ze<strong>it</strong> ein Ende. M<strong>it</strong> dem zunehmenden<br />
Alter der Welt machte sich die übelthätige Natur<br />
der Ze<strong>it</strong> geltend, sie riss die Herrschaft an sich, und die Zerstörung<br />
trat ein. Seb empört sich, unterstützt von den Giganten<br />
Apophi gegen Okeamos, den guten Geist, den Nilgott,<br />
dem die guten Götter und Geister treu blieben. Dieser Krieg<br />
endete dam<strong>it</strong> , dass die Seb-Partei in den Nil gestürzt und in<br />
die Unterwelt verbannt, und dadurch der Einfluss <strong>des</strong> Bösen<br />
wenigstens beschränkt wurde. Um die Erde von der<br />
Verunreiniormo; der Herrschaft <strong>des</strong> Seb zu sühnen, ward die<br />
grosse Flut herbeigeführt, durch welche die Erde in ihre<br />
jetzige Gestalt gebracht, den Menschen zum Aufenthalt dienen<br />
sollte. Die durch Seb zum Abfall verle<strong>it</strong>eten Geister<br />
sollten, zur Sühne in irdische Leiber eingeschlossen, durch<br />
ihren Aufenthalt auf der Erde sich reinigen. So entstand<br />
das Menschengeschlecht, welches den zwölf Göttern und ihren<br />
Nachkommen zur Obhut und Erziehung übergeben wurde.<br />
Die Gegensätzlichke<strong>it</strong>, die in dem Götterkampfe zwischen<br />
Okeamos und Seb stattfindet und im Stre<strong>it</strong>e Set's m<strong>it</strong> Hesiri<br />
unter Modificationen sich wieder abspiegelt, liefert den schlagenden<br />
Beweis für die dualistische Anschauung der ägyptischen<br />
Eoskoff, <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> <strong>Teufels</strong>. I. G
s-_> Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Religion. Die Vermuthung, tlass die Mythen auch geschichtliche<br />
Elemente enthalten, hierm<strong>it</strong> also ein Stück wirklicher <strong>Geschichte</strong><br />
Aegypteus geliefert werde *, hat ihre Berechtigung;<br />
obschon dies nicht ausschliefst, dass „die umbildenden Einflüsse"<br />
wieder von der Naturbeschaffenhe<strong>it</strong> Aegyptens, namentlich<br />
dem massgebenden Nil, herzule<strong>it</strong>en seien, um den<br />
das Wohl und Weh Aegypteus drehte und der das Haupt-<br />
sich<br />
interesse seiner Bewohner ausmachte. Die Annahme Roth 's 2 ,<br />
„dass diese sterblichen, aus der Sagengeschichte hervorgegangenen<br />
Gotthe<strong>it</strong>en (Osiris, Isis u. s. w.), wesentlich keine physikalischen<br />
Begriffe, keine Theile und Kräfte <strong>des</strong> Weltganzen,<br />
wie die grossen kosmischen Gotthe<strong>it</strong>en, sondern persönliche, menschenähnliche<br />
Götter sind", Hesse sich wol dahin modificiren :<br />
dass<br />
die Sage von Hesiri (Osiris) und Hesi (Isis) in die Ursprünge der<br />
ägyptischen <strong>Geschichte</strong> hineinragt und darin ihren Anknüpfungspunkt<br />
findet, an den geschichtlichen Kern aber sich mythische<br />
Bestandteile angesetzt haben, die aus dem Leben der Aegypter<br />
sowie von der Natur <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>, insbesondere dem Nil,<br />
dieser Puls und Herzensader <strong>des</strong><br />
ägyptischen Lebens, auf die<br />
geschichtlichen Momente übertragen und m<strong>it</strong> diesen verschmolzen<br />
im Osiris-Mythus aufbewahrt sind. So steht Set in<br />
Beziehung zur natürlichen Beschaffenhe<strong>it</strong> <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>, zugleich<br />
aber auch zu <strong>des</strong>sen <strong>Geschichte</strong>, und einen Schr<strong>it</strong>t we<strong>it</strong>er erhält<br />
Set-Typhon eine Bedeutung rein geschichtlicher Art, aus<br />
den Schicksalen <strong>des</strong> ägyptischen Volks abgele<strong>it</strong>et. So wurde<br />
der ursprüngliche Begriff, den das religiöse Bewusstsein der<br />
Aegypter an Set geknüpft hatte, durch die Berührung m<strong>it</strong><br />
einem phönikischen Stamme und nach dem Verhältnisse der<br />
Aegypter zu jenem umgewandelt und vielbedeutend, er wurde<br />
Ze<strong>it</strong>-, Kriegsgott, Repräsentant und Urheber alles Widrigen,<br />
Schädlichen,<br />
Verabscheuungswürdigen.<br />
Die Araber.<br />
Die Araber, welche im M<strong>it</strong>telalter eine neue sem<strong>it</strong>ische<br />
Cultur und Herrschaft gründeten, nachdem die grossen Reiche<br />
ihrer Stammverwandten längst vom Schauplatze der <strong>Geschichte</strong><br />
1<br />
Rötb, I, 159.<br />
2 I, 1G4.
4. Dualismus m den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 83<br />
abgetreten waren, werden schon im höchsten Alterthnm bemerklich.<br />
Die Trad<strong>it</strong>ion der Hebräer lässt sie von Abraham's<br />
ältestem Sohne abstammen, und die Araber lehnen sich im<br />
wesentlichen an jene Ueberlieferung.<br />
Die Wanderstämme der<br />
Araber im Norden und Innern <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> verehrten die<br />
Naturmächte, sie erkannten die Macht der Gotthe<strong>it</strong> <strong>des</strong> Himmels<br />
im Sturme, in der Wetterwolke, im Donner und Bl<strong>it</strong>z,<br />
im heissen Sonnenstrahl, namentlich auch in schönen Bäumen<br />
und besonders gestalteten Steinen. l Die fruchtbare Kraft der<br />
Erde verehrten sie in einer weiblichen Gotthe<strong>it</strong>, ebenso waren<br />
die Sterne, welche dem Araber auf seinen Wanderungen den<br />
Weg zeigten, Gegenstand seiner Verehrung, wovon ihm einige<br />
Freude und Wohlsein verkündeten, andere dagegen Leid und<br />
Unglück. Herodot a berichtet über zwei Gotthe<strong>it</strong>en und erkennt<br />
in der einen den Dionysos, den die Araber Urotal<br />
nennen, in der andern die Urania (Aphrod<strong>it</strong>e), Alilat oder<br />
Al<strong>it</strong>ta geheissen. Von dieser letztern bemerkt Herodot, dass<br />
sie von der Myl<strong>it</strong>ta nur dem Namen nach verschieden sei.<br />
Der ihr gegenüberstehende Urotal (Urotalt) wird für den<br />
Sonnengott, auch Feuergott, erklärt 3 , wie auch Sab<strong>it</strong> zu<br />
Sabatha für eine Modification <strong>des</strong> Sonnengottes gilt. 4<br />
So viel geht aus den spärlichen Nachrichten hervor, dass<br />
sich bei den alten Arabern eine Zweihe<strong>it</strong> <strong>des</strong> göttlichen Wesens<br />
vorfindet. Die verschiedenen Schutzgotthe<strong>it</strong>en der verschiedenen<br />
Stämme, und der eigene Stern, den jeder Stamm<br />
verehrte, sind nur als verschiedene Modificationen ein und<br />
derselben religiösen Grundanschauung zu betrachten, die auf<br />
Sabäismus zurückgeführt werden muss. 5<br />
Besonders hat sich die Verehrung der Wandelsterne entwickelt.<br />
Der Stern der Venus soll als Beschützer der Liebe<br />
verehrt worden sein, m<strong>it</strong> Beilegung einer mehr sinnlichen<br />
Wirkung. 6 Die Planeten Saturn und Mars wurden als übelthätig<br />
gefürchtet. Letzterm opferte man m<strong>it</strong> blutbesprengten<br />
Kleidern einen Krieger, während dem Planeten Jup<strong>it</strong>er die<br />
1<br />
Genes., 2
1<br />
s<br />
1<br />
Erster Abschn<strong>it</strong>t: Dei' religiöse Dualismus.<br />
Verehrung durch die Opferung eines Säuglings dargebracht<br />
ward. '<br />
Obschon von der Religion<br />
der alten Araber zu wenig bekannt<br />
ist, um eine genaue Gesammtvorstellung zu bieten, so<br />
ist die Annahme <strong>des</strong> Dualismus guter und böser Wesen in<br />
derselben sichergestellt durch den alten Glauben an die<br />
Dschinnen, d. h. Dämonen, den Mohammed bei seinem Volke<br />
vorfand, in den Islam aufnahm und durch den Koran bekräftigte.<br />
Wenn die Lehre der Moslems von den Dschinnen und<br />
dem Satan hier schon erwähnt wird, bevor das Judenthum<br />
erörtert, geschweige denn die christliche Periode erreicht worden<br />
ist, so möge diese Vorwegnähme darin ihre Entschuldigung<br />
finden, dass eine spätere Einschiebung der islam<strong>it</strong>ischen<br />
Vorstellungen während <strong>des</strong> chronologischen Verlaufs<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> christlichen <strong>Teufels</strong> we<strong>it</strong> störender sein dürfte.<br />
Mohammed soll als junger Mann und in seiner frühern<br />
Jugend nach Syrien gekommen sein und bei diesen Gelegenhe<strong>it</strong>en<br />
Rabbinen und christliche Mönche kennen gelernt haben,<br />
was aber geschichtlich unverbürgt ist. Sicher ist dagegen,<br />
dass schon vor Mohammed das Christenthum von mehrern<br />
Se<strong>it</strong>en in Arabien eingedrungen war und arabische Klöster<br />
und Bisthümer gestiftet hatte. Auch Juden hatten, nach der<br />
Zerstörung ihres Staats durch die Römer, sich nach dem<br />
nördlichen Arabien geflüchtet und daselbst angesiedelt. Den<br />
Arabern fehlte es also nicht an Gelegenhe<strong>it</strong>, m<strong>it</strong> monotheistischen<br />
Glaubenslehren bekannt zu werden, und von einzelnen,<br />
unter denen selbst Mekkaner gewesen sein sollen, berichtet<br />
die Uebcrlieferung der Moslems die Lossagung vom alten<br />
arabischen Götzendienste. Wir wissen zwar nicht, wie viel<br />
Mohammed vor dem Antr<strong>it</strong>te seiner Prophetenlaufbahn vom<br />
Judenthum oder Christenthum bekannt war; so viel ist aber<br />
gewiss, dass seine Annahme <strong>des</strong> monotheistischen Glaubens<br />
aus dem Bedürfniss hervorgegangen ist, dem die alte Religionsform<br />
nicht mehr entsprochen hat. Allerdings finden sich sowol<br />
christliche als auch jüdische Elemente in der Religion<br />
Mohaumied's, er war aber „nicht der Mann der kühlen und<br />
der<br />
(iosenius, a. a. ()., 337. 344 fg.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 85<br />
scharfen Ueberlegung", wie Nöldecke sehr richtig* bemerkt l ;<br />
seine Religion ist ihrem Ursprünge nach das Werk tiefer Begeisterimg<br />
und gewaltiger religiöser Bewegung, die sich in<br />
den Satz zusammenfasste : „es ist nur Ein Gott", wom<strong>it</strong> der<br />
bisherige Götzendienst gestürzt war, und das Gefühl, dass<br />
Mohammed berufen, diese Wahrhe<strong>it</strong> zu verkünden, kam im<br />
zwe<strong>it</strong>en Hauptsatze <strong>des</strong> Islam zum Ausdruck.<br />
Es ist nicht unsere Aufgabe, den ganzen Glaubensinhalt<br />
der Lehre Mohämmed's darzustellen, vielmehr ist hier nur<br />
auf das dualistische Moment darin hinzuweisen. Dieses liegt<br />
in den schon erwähnten Dschinnen angedeutet. Dass der<br />
Glaube an sie und die Verehrung ihrer schon vor Mohammed<br />
unter den Arabern geherrscht, bestätigt der Koran, wo es<br />
Sure XXXIV, 49 hcisst: „Sie (die Araber) beteten die<br />
Dschinnen an, die meisten derselben glaubten an sie." 2 Vor<br />
Mohammed galten die Dschinnen für Söhne und Töchter<br />
Gottes. Sure VI, 101 :<br />
„ Sie (die Götzendiener) setzten Gott<br />
(dem Herrn) die Dschinnen als seinesgleichen, die er erschaffen;<br />
sie schrieben ihm aus Unwissenhe<strong>it</strong> Söhne und Töchter<br />
zu, er sei gepriesen u. s. w." Als Mohammed wenige<br />
Monate nach dem Tode seiner ersten Gemahlin Chadidscha<br />
und seines Oheims Abu Thalif sich nach Thaif begab, um den<br />
Islam zu verkündigen, von den Einwohnern aber m<strong>it</strong> Spott<br />
und Steinwürfen behandelt wurde, ging er in das zwischen<br />
Mekka und Thaif gelegene Thal, „Palmenbauch" oder auch<br />
„Dattelbauch" genannt, und übernachtete in einer Höhle, den<br />
Koran lesend. Da zogen, nach dem Berichte der Ueberlieferung,<br />
sieben Dschinnen vorüber, die, als sie die Lesung<br />
<strong>des</strong> Koran hörten, stillstanden und darauf sich zum Islam<br />
bekehrten. Diese Bekehrung von Dschinnen bestätigt der<br />
Prophet im Koran durch Sure LXXII, die den T<strong>it</strong>el „Dschinnen"<br />
führt, und weil sie die Lehre von ihnen enthält, merkwürdig<br />
ist. Sie lautet im Anfange: „1) Mir ist geoffenbaret<br />
worden, dass mir Dschinnen zugehört und dass sie gesagt:<br />
Wir haben gehört den wundervollen Koran. 2) Er le<strong>it</strong>et<br />
1<br />
Herzog, Realencyklopädie, Art. Mukammed am Ende <strong>des</strong> 18. Ban<strong>des</strong>.<br />
"<br />
Wir folgen der Uebersetzung <strong>des</strong> Freiherrn Hammer-Purgstall in<br />
seiner Gcistcrlehre der Moslems. Denkschrift der philosophisehdiistorischcn<br />
Klasse der Wiener Akademie der Wissenschaften, 1852, III.
-'<br />
Sure<br />
,% Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
zum Rechten, und wir glauben daran, und wir setzen unserm<br />
Herrn keinen andern zur Se<strong>it</strong>e. 3) Erhöht sei unser Herr!<br />
Er nahm keinen Genossen und keinen Erzeugten an. 4) Thoren<br />
von uns sagen: der Herr habe dergleichen Unmässigke<strong>it</strong><br />
gethan; 5) wir meinten, weder Mensch noch Dschinne werde<br />
eine Lüge sagen von Gott fortan, (i) Es gab Männer der<br />
Menschen, die sich zu den Männern der Dschinnen flüchteten,<br />
aber diese bestärkten jene in ihrem thörichten Wahn. 7) Sie<br />
wähnten, wie ihr gewähnt, Gott werde keinen (Propheten)<br />
senden fortan. 8) Wir wollten (sprachen die Dschinnen) zum<br />
Himmel uns schwingen, aber wir trafen nur Wachen und<br />
Flammen dort an. 9) Wir sassen dort auf S<strong>it</strong>zen, um zu<br />
horchen, nun horcht aber keiner, ohne dass ihn wachhabende<br />
Flammen umfachen. 10) Wir wissen nicht, ob dieses der<br />
Herr zum Bösen derer, die auf Erden, oder zu ihrem Besten<br />
gethan. 11) Wir sind von den Guten unter uns und andere<br />
sind anders daran, denn es gibt mehr als Eine Bahn. 12) Wir<br />
wähnten, dass wir Gott nicht entgehen auf irdischer und nicht<br />
auf himmlischer Bahn. 13) Wir haben die Le<strong>it</strong>ung gehört<br />
und geglaubt an den Koran, und wer an den Herrn glaubt,<br />
fürchtet nicht, dass ihm Verminderung seines Gutes und Unrecht<br />
werde gethan. 14) Einige von uns sind Moslems, und<br />
andere weichen von der wahren Bahn, die Moslems suchen<br />
das Recht fortan. 15) Die Abweichenden sind dem Feuer<br />
(der Hölle) als Zunder zugethan."<br />
Die Senduno; Mohammed's betraf also nicht nur die Mensehen,<br />
sondern auch die Dschinnen, deren einige, wie jene,<br />
gläubige, andere ungläubige, also gut und böse sein können,<br />
daher auch der Koran Menschen und Dschinnen häufig m<strong>it</strong>einander<br />
zu erwähnen pflegt. l M<strong>it</strong> den Teufeln werden sie 2<br />
als Feinde der Propheten aufgeführt. Die guten Dschinnen<br />
sind nach dem Islam die gläubigen, die den Koran anhören 3 ,<br />
die bösen sind die ungläubigen, welche die Menschen verführen.<br />
4 Gleich den Menschen werden auch die Dschinnen<br />
selig oder verdammt. Die boshaftesten und listigsten aller<br />
1<br />
Vgl. Sure VII, 3'J. 89; XXVII, IS: LV, 33. 56. 130 u. a. in.<br />
3<br />
VI, 12.<br />
Vgl. Sure, XL VI, 2
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 87<br />
Dsehinnen sind die Ifris (Afaris, Afer, Aferij, Afarijes). l<br />
Eine Art Dsehinnen sind die Gull, zwar nicht aus dem<br />
Koran, wol aber aus der Ueberlieferung bekannt als die<br />
eigentlichen Wüstendämonen, männliche und weibliche, deren<br />
letztere insgemein Soilat genannt werden, wom<strong>it</strong> aber der<br />
Beo-riff einer Zauberin oder Hexe verbunden ist. Weibliche<br />
Gull oder Wüstenteufel sind auch die Ssaidanes u. a. m. 2<br />
Ganz scharf und klar tr<strong>it</strong>t der Dualismus in der Lehre<br />
von Engeln und Teufeln auf, die Mohammed in den Islam<br />
aufgenommen hat. Der Glaube an die Engel macht einen<br />
wesentlichen Bestandtheil <strong>des</strong> islamischen Bekenntnisses aus,<br />
daher er im Koran wiederholt auftr<strong>it</strong>t. 3 Ist ja bekanntlich<br />
dem Propheten selbst das Wort Gottes durch Gabriel, den<br />
Boten der Offenbarung, den obersten aller Engel, übersendet<br />
worden, den der Koran auch wiederholt m<strong>it</strong> Namen anführt. 4<br />
Seine Füsse stehen auf der Erde, während sein Kopf im<br />
Himmel, seine Flügel dehnen sich vom Aufgang bis zum<br />
Untergang der Sonne, seine Zähne schimmern wie der Morgen,<br />
seine Haare sind korallenfarbig, seine Füsse morgenroth,<br />
seine Flügel grün, als er seine Stimme ertönen Hess, erstarrten<br />
die Beni Themud vor Schrecken als Todte. 5 Den zwe<strong>it</strong>en<br />
Erzengel Michael, <strong>des</strong>sen Flügel nur Gott kennt, der<br />
die Nahrung der Menschen auf Erden besorgt und nach dem<br />
Tode die Gerichtswage überwacht, auf welcher die Werke<br />
der Menschen gewogen werden, erwähnt der Koran nicht,<br />
sowenig als den dr<strong>it</strong>ten Israfil m<strong>it</strong> vier Flügeln, wovon der<br />
eine nach Osten, der andere nach Westen, der dr<strong>it</strong>te gegen<br />
die Erde gerichtet ist und der vierte ihm das Gesicht bedeckt,<br />
dam<strong>it</strong> ihn der Anblick der Majestät Gottes nicht blende.<br />
Von<br />
diesen weiss nur die Ueberlieferung sowie von Israil, der<br />
von der Tafel <strong>des</strong> Schicksals die Namen der Menschen liest,<br />
deren Seelen er in Empfang zu nehmen hat. Ausser diesen<br />
haben die Moslems noch vier Träger <strong>des</strong> Himmels, deren<br />
1<br />
Sure XXVII, 40.<br />
3<br />
Vgl. Hammer, Von den Dsehinnen der Ueberlieferung-, S. 301 fg.<br />
u. 216.<br />
8<br />
Z. B. gleich Sure 11, 286.<br />
J<br />
Sure II, 97; LXV, 4.<br />
5<br />
Hammer, Adschaibol-nachlukat, 1. u. 7. llauptslüek. S. 193.
1<br />
1<br />
•<br />
Sure<br />
$5 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Gestalt aus der eines Stiers, Löwen, Vogels und Menschen<br />
besteht; vier Schutzengel, deren zwei <strong>des</strong> Tags und zwei <strong>des</strong><br />
Nachts die bösen und guten Handlungen der Menschen aufzeichnen,<br />
wobei ihm der eine zur Rechten, der andere zur<br />
Linken steht. Der Koran nennt sie die beiden Schreiber,<br />
die beiden Hüter. 1 Die Moslems kennen auch die Namen<br />
der beiden Folterengel, Nekir und Monkir, welche den<br />
Menschen im Grabe um seinen Glauben und seine Handlungen<br />
ausfragen; .Harut und Marut, die Wächter <strong>des</strong> Himmels,<br />
welche, nachdem sie Erlaubniss erhalten, in menschlicher<br />
Gestalt auf Erden zu wandeln, das Passwort, das sie, gegen<br />
das göttliche Verbot, der schönen Lautenspielerin Anahia m<strong>it</strong>getheilt<br />
und hierauf selbst vergessen hatten, zur Strafe in dem<br />
Brunnen von Babel bis an den Jüngsten Tag an den Füssen<br />
aufgehängt sind und dort die Menschen Zauberei lehren.<br />
Wir übergehen die Menge anderer namhafter Engel, von<br />
denen die Ueberlieferung der Araber zu erzählen weiss, und<br />
wenden uns zu den Teufeln, Scheijathin. Die einfache<br />
Zahl, Sche<strong>it</strong>han, erinnert sogleich an den hebräischen Satan,<br />
als der er auch dem Wesen nach erkannt worden ist. Sche<strong>it</strong>h<br />
erhält gewöhnlich das Prädikat „der zu Steinigende". 2 Er<br />
ist der Empörer wider Gott 3 und Feind der Menschen, unter<br />
die er Zwietracht bringt. 4 Die Scheijathin lehrten die Menschen<br />
Zauberei, die Kunst der gefallenen Engel Harut und<br />
Marut 5 , von ihren Verführungen der Menschen geschieht<br />
öfter Erwähnung 6 , daher letztere gewarnt werden. 7 Verschwender<br />
und Undankbare werden für Brüder der Satane<br />
erklärt. 8 M<strong>it</strong> ihnen werden aber nicht nur die Bösewichter<br />
und Ungläubigen, sondern auch die Poeten in Verbindung<br />
gebracht. 9 Dem Salomo wird die Herrschaft über die Satane<br />
1<br />
Sure LXXXII, 10. 11.<br />
2<br />
Sure III, XV, 16; XVI, 98; XXXVII, 7; LXVII, 5, u. a.<br />
3<br />
Sure XIX, 42.<br />
Sure XVII, 53.<br />
11, 102.<br />
Sure VI, 71. 112; XXIII, 99.<br />
7<br />
Sure VII, 28.<br />
8<br />
Sure XVII, 27.<br />
3<br />
Sure II, 14; XXVI, 220.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 89<br />
zugeschrieben *, als <strong>des</strong>sen Handlanger bei seinen Bauten<br />
und der Perlenfischerei sie erscheinen. 2<br />
Wie sich im islamischen Sche<strong>it</strong>han der jüdische Satan zu<br />
erkennen gibt, so hat man in dem Iblis den Diabolus gefunden.<br />
Dieser Iblis der Moslems ist, wie es scheint, ursprünglich<br />
kein Engel, wie der Lucifer der Christen, sondern<br />
der Sohn eines Dschinn, der von Engeln in den Himmel<br />
aufgenommen, um eine bessere Erziehung zu erhalten, aber<br />
misrathen war. Hammer 3 macht auf diese Abkunft <strong>des</strong> Iblis<br />
aufmerksam, unter Berufung auf den Koran und Kaswini's<br />
„Wunder der Geschöpfe". Als Gott den Engeln befohlen<br />
hatte, sich vor Adam in Verehrung niederzuwerfen, stellte sich<br />
Iblis an die Sp<strong>it</strong>ze der Devotionsverweigerung und ward zum<br />
Anführer der empörten Engel. Zur Strafe seines Hochmuths<br />
und Ungehorsams wurde er sammt seiner aufrührerischen Rotte<br />
in die Hölle gestürzt, wo er noch als Fürst und Beherrscher<br />
gedacht wird. Im Koran wird Iblis ein Dschinne genannt,<br />
Sure XVIII, 51 : „Und als wir den Engeln sagten : werft euch<br />
vor dem Adam nieder! warfen sie sich vor ihm nieder, nur<br />
nicht Iblis<br />
seines Herrn."<br />
der Dschinne, der widerspenstig wider den Befehl<br />
Besonders häufig wird das empörerische, hochmüthige<br />
Wesen Iblis' hervorgehoben. Sure II, 34: „Als wir<br />
den Engeln sagten: werft euch vor Adam nieder! warfen sie<br />
sich nieder, nur Iblis weigerte sich und war hochmüthig und<br />
war von den Ungläubigen." Vgl. Sure VII, 11; XV, 30. 31<br />
u. 32: „Da sagte Gott zu Iblis: was ist dir, dass du dich<br />
nicht niederwirfst? 33) Da sagte Iblis: was soll ich mich<br />
niederwerfen vor dem Menschen, den du erschaffen aus trockenem<br />
Thon und schwarzem Koth. 34) Da sagte Gott: geh<br />
35) Und<br />
hinaus aus dem Paradiese, du bist der zu Steinigende.<br />
über dich sei Fluch bis an dem Tage <strong>des</strong> Gerichts. Da sagte<br />
Iblis: 36) Herr, warte nur auf mich bis an den Tag der Auferstehung.<br />
37) Gott sprach: du wirst von den Erwarteten<br />
sein bis zum Tage der bestimmten Ze<strong>it</strong>. 38) Iblis sprach:<br />
Herr, weil du mich verführet hast, werde ich die Menschen<br />
auf Erden verführen alle. 39) Bis auf deine Diener, die auf-<br />
1<br />
Sure II, 102.<br />
2<br />
Sure XXXVIII, 38. 39.<br />
3<br />
A. a. 0., S. 191.
90 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
richtigen. 40) Gott sprach: dies ist der wahre Pfad. 41) Denn<br />
über meine Diener wirst du keine Macht haben, sondern über<br />
die, welche dir folgen von den Verführten." Sure XVII,<br />
&2. 03. G4: „Da sprach Gott: gehe von hinnen! wer dir folgt,<br />
<strong>des</strong>s Lohn wird die Hölle sein als ausgiebiger Lohn. G5) Verführe<br />
nur, wen du kannst, m<strong>it</strong> deiner Stimme und überziehe<br />
sie m<strong>it</strong> deinen Heeren zu Pferde und zu Fuss, und gib ihnen<br />
Reichtimm und Kinder, und mache ihnen Versprechen, aber<br />
die Versprechen <strong>des</strong> Satans sind e<strong>it</strong>ler Dunst." * Die we<strong>it</strong>ere<br />
Ausführung der Vorstellung von den Teufeln durch die Sage<br />
und Dichter lassen wir abse<strong>it</strong>s liegen.<br />
Babylonier.<br />
Chaldäer.<br />
Die we<strong>it</strong>e Ebene am untern Laufe <strong>des</strong> Euphrat und<br />
Tigris, etwa hundert Meilen vor deren Mündung, umfasst das<br />
von den Hebräern „Sinear" genannte Land 2 , das nach dem<br />
Vorgange der Griechen von der Hauptstadt Babel als Babylonien<br />
bekannt ist.<br />
Der an sich treffliche Boden, durch jährliche Ueberschwemmung<br />
der beiden Flüsse bewässert, die den geschmolzenen<br />
Schnee von den armenischen Bergen herabführen, der<br />
regelmässige Anbau durch die Bevölkerung, künstliche Kanalisirung,<br />
ungeheuere Bassins 3 machten das Niederland seiner<br />
Fruchtbarke<strong>it</strong> und seines Reichthums wegen frühze<strong>it</strong>ig<br />
berühmt. Die alten Schriftsteller sind voll bewundernden<br />
Lobes 4 , und das Perserreich soll den dr<strong>it</strong>ten Theil seines<br />
Einkommens aus Babylon allein bezogen haben. 5<br />
Da in den ältesten Quellen die Priester <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> Sinear<br />
stets Chaldäer (Chasdim) genannt werden und die Herrscherdynastie<br />
als eine chaldäische bezeichnet ist, so wird der Schluss<br />
wol richtig sein: dass die Chaldäer der herrschende Stamm<br />
in diesem Reiche gewesen, von dem es seine Könige und<br />
1<br />
Sure XXVI, 94 kommt Iblis abermals vor; XXXV11I enthalt die<br />
obige Anrede m<strong>it</strong> wenig Abweichung.<br />
- Genes. 10, 10; 11, 2; 14, 1.<br />
3<br />
Herodot, I, 179. 185; Diodor, 2, 9.<br />
4<br />
Berosus ap. Synccll., y. 28; Herodot, I, 193| Xeaoph. Angb., II, 3.<br />
B<br />
Herodot, I, 192.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Altertlumis. 91<br />
Priester erhalten habe. 1 Daher konnte Babylonien wol auch<br />
LLand der Chaldäer" genannt werden 2 , obschon dort zu<br />
Ze<strong>it</strong>en arabische und kuseh<strong>it</strong>ische Stämme vorkamen und die<br />
Chaldäer im südwestlichen Theile <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> am untern<br />
Euphrat eine besondere Landschaft innehatten.<br />
Diese Chaldäer hatten nicht nur durch Waffengewalt ein<br />
blühen<strong>des</strong> Reich gegründet, sie machten es auch berühmt<br />
durch Kunstfleiss, ausgedehnten Handel, waren die Urheber<br />
höherer Cultur, erfanden ein in der ganzen alten Welt gangbares<br />
Münz- und Gewichtsystem. Ihre astronomischen Beobachtungen<br />
werden bis ins zwe<strong>it</strong>e vorchristliche Jahrtausend<br />
zurückgeführt, und ebenso alt ist der Ruf ihrer künstlichen<br />
Keilschrift, die den Scharfsinn unserer Gelehrten auf die<br />
Probe stellt.<br />
Ein M<strong>it</strong>glied der chaldäischen Priesterschaft, Berosus<br />
(schrieb um 280—270 v. Chr. unter Antiochus Soter), theilt<br />
in seiner babylonisch-chaldäischen Chronik, die m<strong>it</strong> Erschaffung<br />
der Welt beginnt, die kosmogonischen und Cultur-Mythen<br />
der Babylonier m<strong>it</strong>. Im Anfange habe das All aus<br />
Finsterniss und "Wasser bestanden, voll von ungeheuerlichen<br />
Geschöpfen, welches' ein weibliches UrWesen: Homoroka, d. h.<br />
Weltmutter, Allmutter, beherrschte. Die männliche Urkraft<br />
gestaltete dann den chaotischen Urstoff; Bei, der Sonnengott,<br />
zertheiltc die Homoroka in Himmel und Erde, Tag und Nacht,<br />
Sonne, Mond und Sterne. Als die urweltlichen Ungeheuer,<br />
die das Licht nicht ertragen konnten, zu Grunde gegangen<br />
waren, und die Erde keine Bewohner hatte, habe sich Bei<br />
den Kopf abgerissen und den Göttern befohlen: sein Blut<br />
m<strong>it</strong> Erde zu vermischen, woraus sie Menschen und Thiere<br />
formten, die das Licht zu ertragen vermochten. 3 Da aber<br />
die in Babylonien lebenden Menschen in thierischer Wildhe<strong>it</strong><br />
lebten, sei ein göttliches Wesen, Oannes, halb Fisch, halb<br />
Mensch, jeden Morgen aus dem Meere gestiegen, um die<br />
Menschen Ackerbau, Religion, staatliche Einrichtungen, Künste<br />
und Wissenschaften, Städte und Tempelbau zu lehren, worauf<br />
es abends wieder ins Meer tauchte.<br />
1<br />
Duncker, I, 109 fg.<br />
- Jerem. 24, 5; 25, 12; Ezechiel 19, Vö.<br />
3<br />
Berosus ap. Syncell. cd. Richter, S. 29.
92 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Wie die Mythen allenthalben in die <strong>Geschichte</strong> münden,<br />
so auch bei den Babyloniern.<br />
Berosus berichtet von mehrern Oannes, die gemeinschaftlich<br />
m<strong>it</strong> den sieben ersten Herrschern <strong>des</strong> Reichs an den Babyloniern<br />
we<strong>it</strong>er bildeten. Diese sieben m<strong>it</strong> den drei darauf<br />
folgenden hätten 432000 Jahre regiert, und unter dem letzten,<br />
Namens Xisuthros, sei die grosse Flut gekommen, welche die<br />
Menschen vertilgte. Nur Xisuthros, der auf Anordnung Bel's<br />
sich und seine Familie nebst verschiedenen Thierpaarcn in<br />
einen von ihm erbauten Kasten begeben, nachdem er die von<br />
Oannes erhaltenen Offenbarungen verzeichnet und diese heiligen<br />
Schriften vergraben hatte, ward gerettet und nach der<br />
Flut in den Himmel erhoben, von wo er die Seinigen ermahnte,<br />
von den chaldäischen Bergen,<br />
auf denen der Kasten<br />
s<strong>it</strong>zen geblieben, wieder nach Babylon hinab zu wandern, die<br />
Offenbarungsschriften auszugraben, ihnen gemäss zu leben,<br />
das Land zu bevölkern und die Stadt Babel wieder aufzubauen.<br />
Es ist längst anerkannt, dass diesen Mythen der Sonnendienst<br />
zu Grunde liege. Bei als männliche Urkraft, als das<br />
scheidende und gestaltende Princip, ist ein Sonnengott. Auch<br />
Oannes, der m<strong>it</strong> dem Morgen erscheint und am Abend verschwindet,<br />
lässt in seiner Beziehung zum Sonnengott keinem<br />
Zweifel Kaum, und im Culturmythus knüpft sich das bildende,<br />
Avohlthätige, civilisatorische Moment hier wie bei andern<br />
Völkern <strong>des</strong> Alterthums an die Sonne.<br />
Neben Bei, dem höchsten Gott, der in Babylonien als<br />
Herr <strong>des</strong> Himmels, <strong>des</strong> Lichts verehrt wurde, dem Schöpfer<br />
<strong>des</strong> Menschen, auf den höchsten Bergen über den Wolken<br />
thronend 1 , steht Myl<strong>it</strong>ta 2 oder Bertis 3 als weibliche, in der<br />
Erde und im Wasser empfangende und gebärende Gotthe<strong>it</strong>.<br />
Sic war die Göttin der Fruchtbarke<strong>it</strong>, der Geburt, daher ihr<br />
die Thiere von starker Fortpflanzung (Fische, Tauben) heilig<br />
waren. 4 Ihr dienten die babylonischen Jungfrauen durch<br />
sinnliche Lust in dem Darbringen ihrer Jungfrauschaft, in-<br />
1<br />
Diodor, II, 30.<br />
2<br />
Herodot, I, 191».<br />
3<br />
Berosus, Fragmente von Richter, S. ( JÜ.<br />
1<br />
Munter, Religion der Babylonicr, ö. 28.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvülker <strong>des</strong> Alterthums. 93<br />
dem jede einmal, Myl<strong>it</strong>ta zu Ehren, sieh preisgab und den<br />
Geldlohn dafür in den Tempelschatz lieferte.<br />
Man kann dem Berichte Herodot's (an oben angeführter<br />
Stelle) glauben, wenn er meldet, dass die Schönen von den<br />
Frauen, welche der Myl<strong>it</strong>ta zu dienen kamen, bald ihren<br />
Mann gefunden, die hässlichen aber dem Gesetze schwer nachkommen<br />
konnten und daher drei und vier Jahre an den<br />
Festen der Göttin, in deren Haine, s<strong>it</strong>zen geblieben seien. 1<br />
Die spätere priesterliche Lehre fasste Myl<strong>it</strong>ta als das<br />
materielle Princip oder als Materie überhaupt 2 , und Bei als<br />
Lichtäther und Urheber der intellectuellen "Welt. 3<br />
Wie überhaupt im Alterthum (ja auch im M<strong>it</strong>telalter und<br />
noch später) war die Astronomie auch bei den Babyloniern<br />
m<strong>it</strong> Astrologie versetzt. Das Leben <strong>des</strong> Menschen und sein<br />
Schicksal dachte man abhängig von den Gestirnen <strong>des</strong> Himmels,<br />
Sonnenlauf, Planeten, der Stand gewisser Fixsterne bedingte<br />
die Jahresze<strong>it</strong>en, die Fruchtbarke<strong>it</strong> oder Unfruchtbarke<strong>it</strong><br />
der Erde; in den Sternen sah der Babylonicr die Ueberschwemmung<br />
der Flüsse angedeutet. Die Veränderung in<br />
der Natur wie im Menschenleben, jeder Zustand, jede Unternehmung,<br />
alles hing vom Stande der Sonne ab, vom Wechsel<br />
<strong>des</strong> Mon<strong>des</strong>, dem Auf- und Niedergang der Sterne.<br />
Im Sternendienst, dieser uralten Keligionsform, wird dem<br />
Menschen der Gedanke der Naturnothwendigke<strong>it</strong> eeo;enständlieh,<br />
indem er in dem ewig Wandelnden ein ewig Bleiben<strong>des</strong>,<br />
d. h. das Gesetz ahnt, auf dem die unabänderliche Ordnung<br />
<strong>des</strong> Daseienden beruht. Im Sternendienst wird das Gesetz,<br />
die Constellation, das Verhältniss der Sterne zueinander, göttlich<br />
verehrt. Die Sterne verkünden das Ungeheuere, Geheimnissvolle,<br />
Ewige, an welches der Mensch sein vergängliches<br />
Leben und sein Geschick geknüpft glaubt und zu knüpfen<br />
sucht.<br />
Aus der einfachen Anschauung entwickelte sich bei den<br />
Chaldäern ein complicirtes System <strong>des</strong> Sabäismus. Im Bei<br />
erkannten sie die überallhin wohlthätig wirkende Kraft der<br />
Sonne; das Licht der Nacht, der Mond, ward der Mjj<strong>it</strong>ta<br />
1<br />
Vgl. Baruch, 6, 42. 43; Genes. 38, 14 fg.<br />
2<br />
Berosus ap. Syncell., S. 29.<br />
3<br />
Movers, Religion der Phönizier, S. 2G2 fg., 287.
()4 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
zuerkannt \ der auch der Planet Venus geheiligt war. Der<br />
Planet Mars gehörte dem Kriegsgotte Nergal 2 ;<br />
der Mcrcur<br />
dem Schreiber <strong>des</strong> Himmels Nebo. 3<br />
Von den Planeten, welche von den Chaldäern auch die<br />
„Geburtsgötter" genannt wurden, unter deren Einfluss das<br />
Schicksal der Menschen stand, waren zwei wohlthätiger Natur,<br />
denen zwei übelthätige gegenüberstanden, die übrigen galten<br />
für unentschieden oder m<strong>it</strong>tlere. 4 Jup<strong>it</strong>er und Venus hielt<br />
man für heilbringende Sterne (auch in der Bibel kommt dieser<br />
als ^12 und m<strong>it</strong> ihm Jup<strong>it</strong>er als n? Glück vor), jenem<br />
wurde die wohlthät ige Wärme der Luft, diesem der fruchtbar<br />
machende Thau zugeschrieben. Dagegen war der rothscheinende<br />
Mars unheilbringend, der Urheber zerstörender Dürre.<br />
Da nicht nur die guten und Übeln Erscheinungen in der<br />
Natur, sondern auch im Menschenleben von den Sternen abgele<strong>it</strong>et<br />
wurden, so sahen die Chaldäer in ihnen die Verkünder<br />
<strong>des</strong> Willens der Götter. 5<br />
Den Lauf der Sonne theilten die Chaldäer in zwölf Stationen,<br />
„Häuser", die Zeichen <strong>des</strong> Thierkreises , woraus zwölf<br />
Constellationen entstanden (nach den von der Sonne berührten<br />
Sternbildern) entsprechend den zwölf Monaten <strong>des</strong> Jahrs.<br />
Im Zeichen <strong>des</strong> Löwen, dem höchsten Standpunkte der Sonne,<br />
war deren Haus. Auch die Planetenbahnen wurden in Häuser<br />
eingetheilt, und diese Planetenhäuser ebenfalls zu göttlichen<br />
1<br />
Die Frage, ob dem Bei der Planet Jup<strong>it</strong>er oder Saturn entspreche,<br />
ist stre<strong>it</strong>ig. Nach Gesenkte (a. a. 0.) wird Jup<strong>it</strong>er, nach andern (wie<br />
Duncker, gestützt auf Tac<strong>it</strong>., Histor., V, 4) der Saturn angenommen. Nork<br />
(Die Götter Syriens, S. 12) meint, obschon der ursprüngliche Name <strong>des</strong><br />
Apollo (A-bellio) an den jugendlichen Sonnengott denken lasse, sei doch<br />
der Planet Jup<strong>it</strong>er zu vermuthen. Servius (in Aeneide, I, 612. 729) glaubt,<br />
Belus müsse wol Saturnus sein, da dieser bei den Assyrern gewöhnlich<br />
m<strong>it</strong> dem Sonnengott verwechselt werde. Hiernach könnte Saturn auch<br />
auf die Babylonier bezogen werden.<br />
Für den vorliegenden Zweck erseheint die Entscheidung der Frage<br />
unmassgebend, das Wesentliche ist der Dualismus, der sich auch bei den<br />
Chaldäern herausstellt.<br />
2<br />
2 Könige 17, 30, der wahrscheinlich auch unter dem Namen Merodach,<br />
Jer. 50, 2, gemeint ist.<br />
3<br />
Josua 46, 1.<br />
4<br />
Plut., Is., c. 48.<br />
5<br />
Diodor, II, 30.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvülker <strong>des</strong> Alterthums. 95<br />
Mächten erhoben und „Herren der Götter" genannt. l Mehrere<br />
Fixsterne, als weniger einflussreich, Messen „rathgebende<br />
Götter"; zwölf am nördlichen und ebenso viel am südlichen Himmel<br />
waren die „Richter", von welchen die sichtbaren über<br />
das Schicksal der Lebenden, die unsichtbaren über das der<br />
Toclten entschieden. 2<br />
Die sieben Tage der Woche gehörten den Sternen. Der<br />
erste Tag war dem Bei geweiht. Dem Planeten, dem die<br />
erste Stunde nach M<strong>it</strong>ternacht geweiht war, kam auch der<br />
Tao- zu, dem in der folgenden Stunde der Sonne zunächststehenden<br />
ward die Herrschaft über jene zuerkannt und so<br />
war die Reihenfolge solarisch und lunarisch festgesetzt.<br />
Die Chaldäer verehrten also Sonne, Mond, Sterne und<br />
den Thierkreis, opferten den „Planetenhäusern und dem ganzen<br />
Heere <strong>des</strong> Himmels". 3 Die Priester erkannten in den Constellationen<br />
den Willen der Götter, verkündeten aus der<br />
Stunde der Geburt das<br />
Schicksal vorher, bestimmten die Ze<strong>it</strong><br />
für jede Unternehmung, und von der Stellung der Gestirne<br />
wurde das Glück oder Unglück <strong>des</strong> ganzen Reichs abhängig<br />
gedacht, sowie <strong>des</strong> Jahrs, <strong>des</strong> Tags, der Stunde, wobei die<br />
Himmelsgegend <strong>des</strong> Auf- und Niedergangs der Sterne, die<br />
Farbe, in der sie erschienen, für bedeutsam galt.<br />
Der erhabenen Auffassung <strong>des</strong> Bei als reinen, heiligen<br />
Himmelsherrn gegenüber machte sich der sinnliche Charakterzug<br />
<strong>des</strong> Volks in dem wollüstigen Dienste der Myl<strong>it</strong>ta geltend,<br />
der m<strong>it</strong> dem wachsenden Reichthum zunahm. Die babylonische<br />
Ueppigke<strong>it</strong> ist durch die Propheten <strong>des</strong> Alten<br />
Testaments sprichwörtlich geworden sowie die Pracht und<br />
der Reichthum der Hauptstadt Babel, der „Wohnung <strong>des</strong><br />
Bei", die sich einst in der Gegend <strong>des</strong> heutigen Dorfes Hil\ah<br />
in einem Umfange von anderthalb Meilen ausgebre<strong>it</strong>et hat. An<br />
Babel knüpft die hebräische Trad<strong>it</strong>ion die Scheidung der Völker,<br />
um diese und die Verschiedenhe<strong>it</strong> der Mundarten zu erklären<br />
im Zusammenhang m<strong>it</strong> dem frevelhaften Thurmbau der<br />
Stadt, worin ein jüdischer Schriftsteller eine übermüthige<br />
Auflehnung gegen Gott durch Nimrod personificirt erblickt. *<br />
1<br />
Diodor, II, 30.<br />
2<br />
Diodor, II, 31.<br />
3<br />
2 Kön. 23, 5-7.<br />
4<br />
Jos. Antiqu., I, 4.
96 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Das Wesen der religiösen Anschauung <strong>des</strong> Clialdiiers<br />
besieht<br />
in einer verständigen Berechnung aller Erscheinungen<br />
und deren Beziehung auf sich. Er stellt die Sternenmächte<br />
als geistig beseelte Wesen vor, von welchen Natur und<br />
Menschenleben abhängt, und schaut in den Bahnen der Himmelskörper<br />
das Gesetz alles Lebens also auch <strong>des</strong> eigenen an,<br />
som<strong>it</strong> hat<br />
von der Einhe<strong>it</strong>, die im Leben waltet und es beherrscht.<br />
das religiöse Bewusstsein <strong>des</strong> Chaldäers eine Ahnung<br />
Hieraus dürfte sich vornehmlich der geschichtliche Einfluss<br />
erklären, den das chaldäische Religionssystem auf Völker der<br />
alten und neuen Ze<strong>it</strong> gewonnen hat.<br />
Der sinnliche Chaldäer übertrug diese waltenden Mächte<br />
auf die Naturelemente und setzte das Bereich der Erde, <strong>des</strong><br />
Wassers und Feuers m<strong>it</strong> ihnen in Beziehung. Wie m<strong>it</strong> den<br />
Sternengeistern stand daher der Chaldäer auch m<strong>it</strong> den<br />
Geistern der Erde, der Luft, <strong>des</strong> Wassers und Feuers im<br />
Verkehr durch Beschwörung, Vogelschau, Traumdeutung,<br />
Opferschau, Sterndeuterei. *<br />
Aus der Ahnung <strong>des</strong> Zusammenhangs <strong>des</strong> gesammten<br />
Lebens in allen Dingen entspringt die Vorstellung: dass sich<br />
in den einzelnen Kreisen <strong>des</strong> Naturlebens die Sternenmächte<br />
abspiegeln, in denen aller Kräfte Ursprung zu suchen ist.<br />
Indem der Chaldäer auf selbstische Weise alle Erscheinungen<br />
auf sein eigenes irdisches Dasein bezieht, sucht er<br />
dieselben sich dienstbar zu machen. Seinem Zwecke sollten<br />
selbst die Todten dienen, die er aus dem Scheol heraufbannte<br />
2 , und die Erscheinungen <strong>des</strong> Naturlebens sollten ihm<br />
wenigstens zur Enträthselung seines Schicksals<br />
daher er<br />
auch die Erscheinungen am Sternenhimmel verständigberechnete.<br />
behülflich sein,<br />
Dieser selbstischen Thätigke<strong>it</strong> steht die passive Hingebung<br />
im sinnlichen Dienste der Myl<strong>it</strong>ta schroff entgegen,<br />
von der man glaubte, dass durch sie die Menschen zu sinnlichen<br />
Begierden, Tanz und Gesang angeregt Avürden.<br />
Wie in den Religionen Vorderasiens überhaupt , so tr<strong>it</strong>t<br />
auch in der chaldäischen ein geschlechtlicher Dualismus in<br />
der religiösen Anschauung nach dem Vorbilde der Natur-<br />
1<br />
Bertliold, Daniel, S. 837 fg.; Gesen., Jes., 2. Beil., 352.<br />
2 Vgl. Jes., 8, 19.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 97<br />
erzeugung auf. Es ist der Sonnengott , das männliche, active<br />
Princip als himmlischer Herrscher, als starker Befrnchter, und<br />
die Mondgöttin als weibliches, empfangen<strong>des</strong> Princip. Als<br />
Uro-eo-ensatz gelten die männliche Wärme und die weibliche<br />
Feuchte, und Bei und Myl<strong>it</strong>ta, Jup<strong>it</strong>er und Venus sind die<br />
glücklichste Constellation, unter welche nur die Geburt von<br />
beglückten Völkerherrschern fallen konnte.<br />
Der Dualismus ergibt sich ferner aus dem glücklichen<br />
oder unglücklichen Zustande <strong>des</strong> Menschen, und indem das<br />
Wohl und Weh von jenen göttlichen Mächten abgele<strong>it</strong>et wird,<br />
gestalten sich diese zu wohlthätigen oder unheilbringenden<br />
Sterngeistern. Von diesen verkündet und bringt Saturn, in<br />
seiner Kälte gefürchtet, der auch den Namen Elos trägt,<br />
grosses Misgeschick, wie Mars (Nergal, Nerig) kleines Misgeschick<br />
in seiner Glut. Nebo, der Stern Mercur, zwischen<br />
den guten und bösen Sterngeistern in der M<strong>it</strong>te stehend, hat<br />
als Schreiber die himmlischen und irdischen Begebenhe<strong>it</strong>en zu<br />
verzeichnen. 1 Syrische Stämme.<br />
Phönizier.<br />
Die syrischen Volksstämme theilen m<strong>it</strong> den Babyloniern<br />
dieselbe religiöse Grundanschauung, nur dass bei jenen die<br />
sinnliche Se<strong>it</strong>e<br />
<strong>des</strong> Cultus das Uebergewicht über den Gestirndienst<br />
gewinnt, der bei diesen mehr im Vordergrunde steht.<br />
Dem orgiastischen Cultus gegenüber, der namentlich in den<br />
phönizischen Städten we<strong>it</strong> getrieben wurde und den zeugenden<br />
Mächten galt, herrschte die grausamste Äscetik, wom<strong>it</strong> man<br />
den Gotthe<strong>it</strong>en, die dem natürlichen Leben als feindlich betrachtet<br />
wurden, zu dienen glaubte. Im Cultus war daher<br />
die ausschweifendste Wollust neben der blutigsten Grausamke<strong>it</strong><br />
herrschend. Solche dem Anscheine nach grell sich<br />
widersprechende Richtungen, die im Menschen überhaupt<br />
Raum gewinnen, treten besonders bei den Sem<strong>it</strong>en auf. Demgemäss<br />
finden sich bei den Syrern und Phöniziern Culte, wo<br />
in<br />
lasciver Wollust den befruchtenden und gebärenden Naturmächten<br />
gedient wird, und wieder andere, wo die lebensfeindlichen<br />
Gotthe<strong>it</strong>en m<strong>it</strong> Fasten, Kasteiung, Selbstentmannung,<br />
Kinderopfern verehrt werden.<br />
1<br />
Gesen., Jes., 2. Beil., Nr. 342.<br />
Boskoff, <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> <strong>Teufels</strong>. I. 7
|g Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Solche Gotthe<strong>it</strong>en <strong>des</strong> Lebens, der Zeugung und Geburt,<br />
<strong>des</strong> Lichts und der Fruchtbarke<strong>it</strong> waren Baal und Aschera.<br />
Ersterer trägt bei verschiedenen Stämmen verschiedene Namen,<br />
als Baal-Peor, Baal-Etan, Baal-Ber<strong>it</strong>h, Baal-Sebub u. a. m.<br />
Bei den Moab<strong>it</strong>ern wird er als Milkom und Kamos verehrt,<br />
obschon mehr als zerstörende Gotthe<strong>it</strong>; bei den Philistäern<br />
erscheint er als Dagon und Aschera, die auch Baaltis (Herrin)<br />
heisst, und in der fischweibgestaltigen Derketo zu Askalon<br />
erkenntlich ist.<br />
Wie Baal als Herr <strong>des</strong> Himmels auf Bergeshöhen angerufen<br />
und ihm Altäre errichtet wurden, so waren der grossen<br />
Lebensmutter Aschera die Gewässer, von Bäumen die<br />
Cypresse, Terebinthe, besonders der Granatapfelbaum als<br />
Symbol der Fruchtbarke<strong>it</strong>, von Thieren die Tauben, Fische,<br />
Widder, Ziegen geheiligt und Hügel und Haine als Lieblingsstätten<br />
der Göttin betrachtet. In ihrem Dienste wurde auch,<br />
wie bei den Babyloniern der Myl<strong>it</strong>ta, die weibliche Keuschhe<strong>it</strong><br />
zum Opfer gebracht.<br />
Das religiöse Bewusstsein der Sem<strong>it</strong>en erkannte aber auch<br />
in den lebenzerstörenden Naturmächten das Walten von Gotthe<strong>it</strong>en,<br />
und diese wurden dem Gott und der Göttin <strong>des</strong> Lebens<br />
ento-eo-ensesetzt. Moloch und Astarte sind die dem Leben<br />
der Natur und der Fortpflanzung der Menschen feindlichen<br />
Gotthe<strong>it</strong>en. Moloch, der König, repräsentirt das verzehrende,<br />
vertilgende Feuer. Er ist der Herr <strong>des</strong> Feuers, der Sommerdürre,<br />
<strong>des</strong> vernichtenden Kriegs. Der wilde, ungebändigte<br />
Stier ist ihm geheiligt, daher er als Stier oder m<strong>it</strong> einem<br />
Stierkopf dargestellt wird. Ihm eignet das Schwein , das die<br />
Sonnenh<strong>it</strong>ze wüthend macht. Den finstern Grimm <strong>des</strong> Moloch<br />
zu sänftigen und diesen gnädig zu stimmen, musste<br />
Menschenblut vergossen w T erden. Bei jeglicher Gefahr, ob<br />
durch Elementarereignisse oder durch Krieg herbeigeführt,<br />
bei wichtigen Unternehmungen fielen daher zahlreiche Menschen<br />
als Sühnopfer. Das Alte Testament gedenkt dieses<br />
grausamen Cultus an vielen Stellen, und viele Schriftsteller<br />
<strong>des</strong> Alterthums bestätigen ihn. ' Diese Menschenopfer mussten<br />
aus der M<strong>it</strong>te der Bürger genommen, durchaus rein, nämlich<br />
1<br />
Herodot, 1, 199; Plut. de superst<strong>it</strong>., 13, 171; Plin., Hist. nat., 36;<br />
Curüus, IV, 15; Silius Itulicus, IV, 819; Justin., XVIII, 5, u. a.
4. Dualismus in den Keligionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 99<br />
noch nicht durch Zeugung befleckt, also Jünglinge und Knaben<br />
sein , die sich noch nicht geschlechtlich vermischt hatten. Das<br />
Opfer galt für um so wirksamer , wenn man das einzige Kind,<br />
den erstgeborenen Knaben den glühenden Armen der Molochs-<br />
Statue übergab, som<strong>it</strong> das Liebste und Theuerste dem grimmigen<br />
Gotte darbrachte. 1 Sollten diese Opfer dem Moloch<br />
angenehm sein, so mussten sie ohne Klagen gebracht werden,<br />
daher die Mütter, die gegenwärtig sein mussten bei der<br />
Schlachtung ihrer Lieblinge, den Schmerz unterdrücken sollten,<br />
und das Wehklagen der unglücklichen Opfer von dem Geräusch<br />
der Pauken und. Pfeifen übertönt wurde.<br />
Das weibliche Se<strong>it</strong>enstück zu dem starken, zornigen Moloch<br />
ist „die grosse Astarte", besonders in Sidon verehrt, die<br />
„Königin <strong>des</strong> Himmels". Ihre Verwandtschaft m<strong>it</strong> Moloch<br />
.77 Ö<br />
zeigt sie in dem Stierkopfe oder den Stierhörnern, oder dass<br />
sie auf dem Stiere re<strong>it</strong>end dargestellt wird. 2 Sie ist Göttin<br />
<strong>des</strong> vernichtenden Kriegs, daher sie m<strong>it</strong> dem Speere in der<br />
Hand erscheint. 3 In diesem Sinne hängten die Philistäer die<br />
erbeuteten Waffen <strong>des</strong> von ihnen überwundenen Saul im Tempel<br />
der Astarte auf. Als zeugungsfeindlich ist der keusche<br />
Mond ihr Gestirn 4 , und m<strong>it</strong> den Mondhörnern wird sie zur<br />
gehörnten Astarte, Astaroth karnaim. Sie ist die „himmlische<br />
Jungfrau", ihre Priesterinnen sollten der Göttin, der sie sich<br />
geweiht, durch Ertödtung aller Sinnenlust gleich werden,<br />
demnach zur strengsten Keuschhe<strong>it</strong> verpflichtet sein. Das ihr<br />
wohlgefälligste Opfer war die Selbstentmannung, sonst wurden<br />
ihr Jungfrauen zum Opfer gebracht. Die Menschenopfer beim<br />
Astarte-Cultus waren zwar nicht so zahlreich wie beim Molochdienste,<br />
dafür fanden aber bei dem grossen Feuerfeste der<br />
Astarte im Frühling Verstümmelungen statt, welche Jünglinge,<br />
durch Pfeifen- und Paukenschall in Ekstase versetzt, m<strong>it</strong> dem<br />
Schwerte, das am Altar der Göttin stand, an sich vollzogen. 5<br />
Ueberdies gab es zur Feier der Astarte verschiedene Selbstquälereien,<br />
indem ihre Diener sich bis aufs Blut geiselten,<br />
1<br />
Euseb. praep. evang., IV, 16.<br />
2<br />
Lucian, De dea Syr., 4; Hock, Creta, 1, 98.<br />
3 Pausan., 3, 23.<br />
4<br />
Lucian, a. a. 0.<br />
3<br />
Lucian, 15. 27. 49—51.
JQO Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
sich die Arme zerbissen oder zerschn<strong>it</strong>ten und unter solchen<br />
Selbstpeinigungen Processionen veranstalteten. 1<br />
Der Syrer und Phönizier stellt die natürlichen und übernatürlichen<br />
Mächte als freundliche, lebenerzeugende den<br />
feindlichen, lebenzerstörenden Gotthe<strong>it</strong>en schroff gegenüber,<br />
und zwar nicht in Beziehung aufeinander, wie dies im Kampfe<br />
in den ägyptischen Mythen oder im Parsismus geschieht, wo<br />
es im Verlaufe eines epischen Processes durch Ueberwindung<br />
<strong>des</strong> verderblichen Princips zu einem pos<strong>it</strong>iven Resultate kommt.<br />
Ungeachtet <strong>des</strong>sen ist auch bei den Phöniziern das Streben<br />
nach Einhe<strong>it</strong> nicht zu verkennen, obschon die Ausgleichung lediglich<br />
verm<strong>it</strong>tels der Phantasie geschieht, welche die gegensätzlichen<br />
Momente ineinandersetzt und das übelthätige<br />
sowol<br />
als das wohlthätige, das zeugende m<strong>it</strong> dem vernichtenden<br />
Principe auf ein und dieselbe Gestalt überträgt.<br />
Dies ist der Fall bei Melkarth (Stacltkönig), dem Schutzgütte<br />
von Tyrus, in welchem der Baal m<strong>it</strong> dem Moloch verschmolzen<br />
ist. Seinen Tempel m<strong>it</strong> aller Pracht darin hat der<br />
we<strong>it</strong>reisende Herodot 2 bewundert. Dem Melkarth wurde die<br />
grosse Dvu-re <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> zugeschrieben und daher ein Stier<br />
als Sühnopfer zugemuthet, das er m<strong>it</strong> seinem Strahle verbrennen<br />
sollte, worüber der Spott <strong>des</strong> Propheten Elias laut<br />
ward, als es unterblieben war. 3 Derselbe Melkarth umwanderte<br />
aber auch die Erde wie die Sonne, stiftete die alten<br />
phönizischen Colonien, bezwang die feindlichen Volksstämme<br />
und lenkte das Schicksal der Könige und Völker. 4<br />
Aehnlich fasst sich die gegensätzliche Bedeutung der<br />
Aschera und Astarte in der phönizischen Dido-Astarte zusammen,<br />
die Spenderin <strong>des</strong> Segens und Stifterin <strong>des</strong> Unheils<br />
zugleich ist. Wie Melkarth m<strong>it</strong> der Sonne die Erde umkreist,<br />
Städte gründet, so ist jene eine wandernde Göttin, die m<strong>it</strong><br />
dem Wechsel <strong>des</strong> Mon<strong>des</strong>, ihres Gestirns, verschwindet und<br />
kommt. Melkarth als Baal sucht sie während ihrer Wanderung,<br />
und indem die zeugungsspröde Dido sich ihm ergibt, wird<br />
sie Anna (Anmuth), der Zeugung günstige Göttin, und verwandelt<br />
sich zur Anna-Aschera. Aus dieser Vereinigung <strong>des</strong><br />
1<br />
Movers, Relig. d. Phon., 681.<br />
- II, 44.<br />
3 1 Kön. 18, 2(5-29.<br />
4<br />
Lucian, De dea Syr., c. 6—8.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 101<br />
Sonnengottes m<strong>it</strong> der Mondgöttin geht Leben,<br />
Ordnung und<br />
Cnltur hervor.<br />
Der Wechsel der Jahresze<strong>it</strong>en, der freundlichen und feindlichen<br />
Naturmächte tr<strong>it</strong>t besonders deutlich im Adonis-Cnltus<br />
zu Byblus entgegen, wo in der Linusklage die hinwelkende<br />
Natur betrauert, die Auferstehung <strong>des</strong> Adonis im Frühling<br />
hingegen m<strong>it</strong> unbändigem Jubel und wilden Orgien von den<br />
Syrern gefeiert<br />
wurde.<br />
Kleinasien.<br />
Auf der Halbinsel Kleinasien, wo eine Vielzahl von Völkerschaften<br />
zusammengedrängt war, von welchen die Homerischen<br />
Gesänge die erste Kunde geben l und mehrere Jahrhunderte<br />
später Genaueres berichtet wird, erinnern nicht nur die Lebensbedingungen,<br />
wie Klima, Beschaffenhe<strong>it</strong> <strong>des</strong> Bodens, an die<br />
westasiatischen Länder, auch die Bewohner werden in der<br />
hebräischen Stammtafel m<strong>it</strong> den Syrern, Babyloniern, Phöniziern<br />
in ein verwandtschaftliches Verhältniss gesetzt, und<br />
zwar durch Lud (Lydier), den Sohn Sems. Die Lydier sind<br />
aber eben in religionsgeschichtlicher Beziehung der wichtigste<br />
Stamm Kleinasiens, und so lässt sich die religiöse Anschauung<br />
der Kleinasiaten überhaupt auf die Grundlage zurückführen,<br />
auf welcher die der Westasiaten beruht.<br />
Es findet sich bei den Kleinasiaten ebenfalls die Vorstellung<br />
und Verehrung einer zeugenden und gebärenden Naturmacht,<br />
die, wie bei den Westasiaten, locale Ausbildung erhalten hat.<br />
Es zeigt sich ferner hier wie dort derselbe gegensätzliche<br />
Dualismus eines schaffenden und zerstörenden Princips, sowie<br />
die Zusammenfassung <strong>des</strong> Männlichen und Weiblichen in eine<br />
mannweibliche Gestalt und der orgiastische Cult, in dem die<br />
Extreme von Lust und Pein sich berühren.<br />
Die phantasiereichen Phrygier, unter denen die Midas-Sage<br />
entstand sowie die von dem unglücklichen Flötenspieler<br />
Marsyas , verehrten Ma-Kybele als die „grosse Mutter", „die<br />
Königin", die „Alles-Gebärerin". 2 Sie führt auch von einer<br />
der Hauptstätten ihres Dienstes am Berge Ida den Namen<br />
•<br />
Uias, II, III, IV, V u. s. w.<br />
2 Diod., III, 58.
102 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
„die idäische Mutter". In Pessinus heisst sie auch Agdistis,<br />
auf den Höhendienst der Göttin hindeutend. 1 Die Griechen<br />
fanden in der idäischen Mutter die Aphrod<strong>it</strong>e, die Beschützerin<br />
Bions in der Nähe <strong>des</strong> Berges Ida. Gleich der syrischen<br />
Aschera waren auch der phrygischen Kybele Widder, Böcke,<br />
Tauben heilig und zu Opfern bestimmt, sowie der Granatapfelbaum<br />
als Sinnbild der Fruchtbarke<strong>it</strong> geweiht. Ihr bedeutendstes<br />
Opfer war das der jungfräulichen Keuschhe<strong>it</strong>,<br />
und die lydischen und phrygischen Mädchen gaben sich ihrer<br />
Göttin zu Ehren preis, wie die Babylonierinnen und Syrerinnen,<br />
nur dass erstere den Gewinn zu ihrer Aussteuer verwendet<br />
haben sollen. 2 Beim orgastischen Cultus treffen wir, wie bei<br />
den Westasiaten, die Steigerung bis zur Verzückung und<br />
Raserei und ebenso Selbstverwundungen und Selbstentmannung<br />
zu Ehren der Göttin. 3 Die Priester der Göttin waren Verschn<strong>it</strong>tene<br />
(Gallen) unter einem Archigallus, und alles übrige<br />
Beiwerk <strong>des</strong> Cultus erinnert an den Dienst der Astarte. Auch<br />
der Mythus von der Dido -Astarte wiederholt sich hier zwischen<br />
Kybele und Hyperion, wobei dieser die Rolle <strong>des</strong> Baal übernommen<br />
hat. 4 Das männliche Princip Men ist weniger<br />
betont, wie auch in Babylon der Dienst der Myl<strong>it</strong>ta und in<br />
Syrien der Aschera den Vordergrund einnimmt.<br />
In<strong>des</strong>s heisst<br />
Men doch Papas, Vater, wie Ma m<strong>it</strong> Amma bezeichnet wird.<br />
Auch hier findet sich die Verschmelzung <strong>des</strong> Männlichen und<br />
Weiblichen, indem die grosse Mutter eine mannweibliche<br />
Gestalt bekommt.<br />
Die syrischen Stämme, inm<strong>it</strong>ten <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> von den<br />
Griechen Kappadoker genannt, hatten zur Hauptgotthe<strong>it</strong> Ma 5 ,<br />
deren berühmtester Tempel zu Komana stand. Unwe<strong>it</strong> davon<br />
hatte der männliche Men den seinigen. Wenn es von den<br />
Bewohnern von Komana heisst, dass sie weichlich, die<br />
meisten von ihnen Begeisterte und Verzückte seien, dass eine<br />
Menge Mädchen, welche Strabo nach Tausenden zählt 6 dem<br />
,<br />
Tempel m<strong>it</strong> dem Leibe dienten; so finden wir hierin nur die<br />
1<br />
Herodot, I, 80; Pausan., I, 4, 11.<br />
2<br />
Herodot, I, 93.<br />
3<br />
Dio Cassius, LXVIII, 27.<br />
i Diod., III, 56 fg.<br />
ä<br />
Strabo, 535,<br />
* 536 fg.
4. Dualismus in den Religionen der Cullurvölker <strong>des</strong> Alterthums. 103<br />
Bestätigung <strong>des</strong> verwandtschaftlichen Zusammenhangs m<strong>it</strong><br />
Syrien. Dasselbe gilt auch von der Beschreibung der heiligen<br />
Gebräuche, sich im Taumel der Verzückung m<strong>it</strong> Schwertern<br />
zu zerfleischen oder den sinnlichen Ausschweifungen bei den<br />
Festen sich<br />
hinzugeben.<br />
In Lydien tr<strong>it</strong>t derselbe Cultus wie in Phrygien auf, dieselbe<br />
Lan<strong>des</strong>göttin Kybele auch unter dem Namen Ma 1 ;<br />
ihr<br />
steht Sandon (Sardan) zur Se<strong>it</strong>e, der dem Baal-Men entspricht.<br />
Auch hier der orgiastische Dienst in ausschre<strong>it</strong>endster<br />
Weise neben dem grausamsten Cultus der Astarte, der Artemis<br />
der Lydier 2 , durch Entmannung. 3<br />
Die Cilicier, welche schon der Vater der Geschichtschreibung<br />
von den Phöniziern able<strong>it</strong>et 4 , haben Baal als Ilauptgotthe<strong>it</strong>,<br />
was die Münzen bestätigen, auf denen auch die Naturgöttin<br />
dargestellt<br />
wird.<br />
Selbstverständlich lassen sich, ungeachtet der Verwandtschaft<br />
der Götterdienste, die von den Grenzen Syriens nordwärts<br />
bis zum Pontus und westwärts bis an die Küste <strong>des</strong><br />
Aesiuschen Meeres herrschend waren, doch Modificationen und<br />
locale Gestaltungen der religiösen Vorstellungen erwarten;<br />
alle schlössen sich aber nach ihrer Grundanschauung an den<br />
geschlechtlichen Dualismus, Ma und Men, wobei die Naturkraft<br />
bald als gebärende, bald als der Zeugung feindliche<br />
gedacht wird. Allen diesen Ländern ist som<strong>it</strong> der Dualismus<br />
von wohlthätigen und übelthätigen Wesen gemeinsam.<br />
Assyrien.<br />
Von dem S<strong>it</strong>ze der Assyrer, Assur, zwischem dem Zad<br />
und dein Tigris , hatte sich das Keich durch Eroberungen über<br />
Mesopotamien und Syrien bis nach Aegypten erwe<strong>it</strong>ert und<br />
schon im frühen Alterthum eine<br />
bedeutende Höhe der Cultur<br />
erreicht. Die Assyrer, nachdem sie das Reich von Babylonien<br />
aufgehoben, hatten nach etwa 600 Jahren das Los, unter<br />
Nabopolassar den Babyloniern zu unterliegen und annectirt<br />
zu werden, unter <strong>des</strong>sen Sohne Nebucadnezar aber wieder<br />
1<br />
Diod., III, 58.<br />
8<br />
Athen., XIV, 633 A.<br />
3<br />
Herodot, III, 48; VIII, 105.<br />
4<br />
Herodot, VII, 91; vgl. Movers, Phon., II, 1. 12!> fe.
104 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
als<br />
grosse assyrisch -babylonische Macht auf dem Schauplatze<br />
der <strong>Geschichte</strong> thätig aufzutreten.<br />
Aus den vereinzelten Nachrichten der Bibel und den in<br />
der Neuze<strong>it</strong> ausgegrabenen Ueberresten ist ersichtlich, dass<br />
die assyrische Religion m<strong>it</strong> der babylonischen dieselbe Grundlage<br />
theilt.<br />
Bei und Beltis als zeugende und empfangende Macht<br />
linden sich bei den Assyrern als Hauptgotthe<strong>it</strong>en. 1 An den<br />
ausgegrabenen Palastruinen von Nimrud und Khorsabad stehen<br />
die Namen, wie auch die ihnen von andern Stämmen beigelegten.<br />
In den Inschriften kommen für den „grossen König<br />
der Götter'' noch andere Benennungen vor, daher sich die<br />
Annahme empfiehlt, dass die einzelnen Landschaften ihre<br />
besonderen Localgötterdienste gehabt haben. In einer Processen<br />
wird ein bärtiger Gott m<strong>it</strong> vier Stierhörnern am<br />
Haupte, ein Beil in der Rechten, schre<strong>it</strong>end vorgestellt,<br />
worunter Bei gemeint ist. 2 Auf den ausgegrabenen Bruchstücken<br />
wiederholen sich weibliche Gestalten m<strong>it</strong> einem Sterne<br />
auf dem Kopf, auf einem Löwen stehend, einen Ring in der<br />
Hand, die auf die Astarte gedeutet werden. 3 Eine besonders<br />
häufig in den Sculpturen vorkommende menschliche Figur m<strong>it</strong><br />
einem Adlerkopf, den assyrischen Nisroch darstellend,<br />
findet<br />
ihre Erklärung darin, dass dem tyrischen Melkarth auch der<br />
Adler heilig war. 4<br />
Nach schriftlichen Berichten 5 hatten die Assyrer einen<br />
Gott Sandon , Sardon, den wir auch bei den Lydiern angetroffen<br />
haben, den die Griechen, wie auch den Melkarth, als<br />
Herakles bezeichnen.<br />
Bei den Assyrern findet sich auch die Vereinigung <strong>des</strong><br />
Männlichen und Weiblichen zu einer mannweiblichen Gotthe<strong>it</strong>,<br />
welche Verschmelzung im Cultus, wie bei andern sem<strong>it</strong>ischen<br />
Stämmen, durch die Vertauschung der männlichen und weib-<br />
1<br />
Servius ad Aeneid., I, 729.<br />
2 Layard, Niniveh, 417, Fig. 81; übers, von Meixner. Diodor., II, 9,<br />
erwähnt in seiner Beschreibung <strong>des</strong> Tempels zu Babel, die Statue <strong>des</strong> Bei<br />
gei in schre<strong>it</strong>ender Stellung dargestellt rewesen. Vgl. Baruch, 6, 14.<br />
3<br />
Layard, a. a. 0., 300.<br />
4<br />
Nonnus Dionys., 40. 495. 528.<br />
5<br />
Pausan., X, 17. 5; Joannes Lydus, De magistr., 3, 64.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 105<br />
liehen Tracht und in geschlechtlichen Ausschweifungen ihren<br />
Ausdruck fand. Wollust und Grausamke<strong>it</strong>, die in den sem<strong>it</strong>ischen<br />
Götterdiensten Hand in Hand gehen, finden sich besonders<br />
in dem assyrischen Mythus von der vergötterten<br />
Semiramis, und die Erdaufwürfe, die sogenannten Semiramishügel<br />
in jener Gegend, erklärt die Sage für Grabhügel der<br />
vielen Liebhaber der Semiramis \ die nach gepflogener Sinnenlust<br />
von ihr getödtet worden seien. Die der Aschera geheiligten<br />
Vögel, die Tauben, spielen in der Sage von der<br />
Semiramis eine grosse Rolle. Sie war die Tochter der höchsten<br />
weiblichen Gotthe<strong>it</strong>, der gebärenden Naturkraft, der Myljtta-<br />
Derketo. Die Göttin Derketo findet sich demnach wirklich<br />
bei den Assyrern, denn die Nachkommen der Semiramis auf<br />
dem assyrischen Throne werden als Derkeiaden bezeichnet 2 ,<br />
sowie auch das Vorhandensein <strong>des</strong> Dagon auf den Ueberresten<br />
zu Nimrud beglaubigt ist. 3 In der Semiramis vereinigt der<br />
Assyrer die Attribute der Derketo und Astarte in Einer Gestalt:<br />
Krieg und Liebeslust, Leben und Tod, die wohlthätige<br />
und verderbliche Macht, wie sie in der Aschera -Astarte der<br />
Phönizier und Syrer, in der Dido-Anna bei den Karthagern<br />
erscheinen. Auf diese Ineinandersetzung deuten die Züge in<br />
der Semiramis von ihrem unwiderstehlichen Liebreiz, von dem<br />
Untergange ihrer Buhlen, von ihren übermächtigen Kriegsthaten.<br />
Man braucht nicht die wirkliche Existenz einer Semiramis<br />
aus der <strong>Geschichte</strong> ganz hinwegzustreichen, muss aber<br />
dabei im Auge behalten, dass diese Persönlichke<strong>it</strong> durch die<br />
Sage zur Trägerin religiöser Elemente und zur göttlichen<br />
Gestalt<br />
erhoben ist.<br />
Arier:<br />
Inder-Perser.<br />
Nach dem heutigen Stande der "Wissenschaft ist es ausser<br />
Zweifel, dass die Arja am Indus und Ganges m<strong>it</strong> den Arja<br />
auf dem Hochlande von Iran ein und demselben Stamme angehören,<br />
dem sie als Zweige entwachsen, zu Völkern geworden<br />
sind. Wo aber ihr gemeinschaftlicher Urs<strong>it</strong>z vor ihrer Tren-<br />
1<br />
Diod., II, 14.<br />
2<br />
Vgl. Duncker, I, 270, Note 3.<br />
1 Rawlinson, Journ. of the roy. soc, vol. 12, p. 2, 1850.
106 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
nung gewesen, hat sich bisher noch nicht feststellen lassen,<br />
und selbst gewiegteste Indienforscher machen nur Anspruch<br />
auf Wahrscheinlichke<strong>it</strong>, wenn sie bei ihrer Hindeutung auf<br />
den ältesten Urs<strong>it</strong>z der Iraner und Inder das Quellengebiet<br />
<strong>des</strong> Oxus-Jaxartes, das Hochland auf dem Westgehänge <strong>des</strong><br />
Belurtag oder Mustag, das östliche hohe Iran angeben. 1<br />
Ebenso wenig bestimmt ist die Ze<strong>it</strong> der Trennung, denn diese,<br />
wie die Anfänge ihres Culturlebens, verliert sich im dunkeln<br />
Hintergründe der Mythen und Sagengeschichte. Sicher dagegen<br />
ist, dass der Urstamm der Arja zwei Sprösslinge entliess,<br />
wovon der eine südwestwärts bis in die Thalebenen <strong>des</strong><br />
Euphrat und Tigris sich erstreckte, der andere südostwärts<br />
über die Stromgebiete <strong>des</strong> Indus und Ganges sich ausbre<strong>it</strong>ete.<br />
Die Westarier bewohnten das nachmalige Baktrien und Persien,<br />
die Ostarier erhielten vom Indus den Namen Inder und<br />
ihr Land Indien.<br />
Der Beweis für ihre ursprüngliche Zusammengehörigke<strong>it</strong><br />
liegt in dem gemeinschaftlichen Namen, m<strong>it</strong> dem sich beide<br />
bezeichnen. Die Stämme, die im Alterthume das iranische<br />
Hochland bewohnten: Baktrer, Margianer, Sattagyden oder<br />
Sogdianer, Parther u. a,; im Westen: Meder, Perser, die<br />
alle nach den Berichten der Griechen in Sprache, Tracht und<br />
S<strong>it</strong>te sich ähnlichten, nannten sich selbst Arier und ihr Land<br />
Ariana (Airja, Airjana, Iran) 2 ; die Inder nannten nach ihrer<br />
ältesten und gangbarsten Bezeichnung Arja ihr Land Arjavarta. 3<br />
,, Airja und Arja bedeuten die Tüchtigen, die Würdigen". 4<br />
Lassen 5 übersetzt den Namen Arja durch „ehrwürdige Männer,<br />
Leute aus gutem Geschlecht".<br />
Die vergleichende Sprachwissenschaft hat zwischen dem<br />
Sanskr<strong>it</strong>, der ältesten Sprache der Inder, namentlich in den<br />
ältesten Veda, und der altiranischen Sprache enge Beziehungen<br />
entdeckt. Die Berührongen <strong>des</strong> Zendvolks und der Inder<br />
zeigen sich in dem Namen Jazata, Ized, Götter der zwe<strong>it</strong>en<br />
Ordnung im Zend, entsprechend der Sanskr<strong>it</strong>form Jag'ata in<br />
1<br />
Vgl. Lassen, Ind. Altertl)., I, 421 fg.<br />
2 llerod., VII, 62; Strabo, 721, 724.<br />
3<br />
Rigvedii v. Kosen, I, 51, 8; Samaveda v. Benf'ey, I, 1, 5; Manu,<br />
;X,.4ö, u. a.<br />
i<br />
Duneker, II, 13.<br />
5 Ind. Alterth., 1,5.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 107<br />
den Veda, m<strong>it</strong> der ursprünglichen Bedeutung „verehrungswürdig".<br />
In der Bibel der Iranier, dem Zendavesta, heissen<br />
die Priester: Aharvan; die Inder eignen das vierte der Veda<br />
dem Atharvan, einem geheiligten Charakter, in dem sich die<br />
Erinnerung bei den Indern aufbewahrt hat, dass auch bei<br />
ihnen wie bei<br />
den Iraniern der Priester ursprünglich Atharvan<br />
geheissen habe. Die alte Sprache der Inder und die, in<br />
welcher die religiösen Urkunden der Iranier abgefasst sind,<br />
finden<br />
die Sprachforscher nur dialektisch verschieden, und die<br />
Inschriften <strong>des</strong> Cyrus, Darius und Xerxes erhärten diese<br />
Annahme.<br />
Die Religionswissenschaft bestätigt die nahe Verwandtschaft<br />
der Ostarier oder Inder m<strong>it</strong> den Westariern oder<br />
Iraniern durch den Nachweis der gemeinschaftlichen Grundlage<br />
ihrer religiösen Anschauung, obschon sich dieselbe später<br />
verschieden gestaltet hat. Beiden gemein ist die Verehrung<br />
der Sonne als göttliches Wesen, das beide unter dem Namen<br />
M<strong>it</strong>ra anrufen; gemein ist dem Zendavesta m<strong>it</strong> den Veda die<br />
Verehrung <strong>des</strong> Mon<strong>des</strong>, <strong>des</strong> Feuers, der Erde, <strong>des</strong> Wassers.<br />
Der höchste Gott der Inder führt in alter Ze<strong>it</strong> gewöhnlich<br />
den Beinamen Vr<strong>it</strong>raghna, Tödter <strong>des</strong> Vr<strong>it</strong>ra; die Iranier<br />
kennen einen Geist <strong>des</strong> Sieges, den sie unter dem Namen<br />
Verethragna verehren. Nach den ältesten Mythen beider<br />
Völker steht das Opfer in höchsten Ehren , welches die Inder<br />
Soma, die Iranier Haoma nennen. Die Iranier nennen den<br />
ersten Opferer Vivanghvas, der zuerst den Saft <strong>des</strong> Haoma<br />
ausgedrückt und den Göttern dargebracht habe, wofür ihm<br />
zum Lohne Jima geboren worden, der Stifter <strong>des</strong> Ackerbaues<br />
und <strong>des</strong> geordneten Lebens, der erste Vereiniger der Menschen<br />
und erster König. Nach den indischen Mythen wird<br />
den höchsten Göttern, namentlich dem Indra, der Saft einer<br />
Bergpflanze Soma geopfert, der jene nicht nur erfreut und<br />
ihre Stärke vermehrt, sondern sie auch nöthigt, den Menschen<br />
hülfreich zu sein. Jama, bei den Indern der Name <strong>des</strong><br />
Todtenrichters und Beherrschers <strong>des</strong> Reichs der Verstorbenen,<br />
erscheint zwar nicht selbst als König, dafür aber sein Bruder<br />
Manu als erster Gesetzgeber, Begründer <strong>des</strong> geregelten<br />
Lebens und Stammvater der indischen Königsgeschlechter.<br />
Die Inder verehrten die ersten Lichtstrahlen <strong>des</strong> Morgens als<br />
das schöne Zwillingsbrüderpaar, die Acvinen; bei den Iraniern
108 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
finden wir die Aspinen. Die Sage der Inder erzählt von<br />
einem Heros Tra<strong>it</strong>ana oder Tr<strong>it</strong>a, Aptja's Sohne, der den<br />
dreiköpfigen Drachen erlegt; bei den Iraniern ist es Chraetavna,<br />
der Sohn Athwja's, der die verderbliche Schlange Dahaka<br />
m<strong>it</strong> drei Köpfen, drei Ilachen, sechs Augen und tausend<br />
Kräften tödtet. Beiden Völkern gemeinschaftlich ist auch der<br />
Glaube, dassTodtes, Haare, Nägel verunreinigen, und beide<br />
gebrauchen dasselbe Reinigungsm<strong>it</strong>tel. J<br />
Diese gemeinschaftliche Grundanschauung wurde nur von<br />
den Ariern am Indus und den Ariern am Ganges ie eigenartig<br />
zu zwei sich<br />
unterscheidenden Systemen ausgebildet.<br />
Die Arier am Indus und Ganges.<br />
Wie das Leben der Arier, die sich am Indus niedergelassen,<br />
beschaffen war, ist aus den religiösen Liedern <strong>des</strong><br />
Veda ersichtlich, die uns den Einblick in die religiösen Vorstellungen<br />
den Umrissen nach gewähren. Das Volk theilt<br />
sich in kleine Stämme, die von Viehzucht und Ackerbau<br />
leben, es herrschen Fehden, meist um Heerden und Weideplätze.<br />
In religiöser Beziehung werden die Geister der klaren<br />
Luft, <strong>des</strong> Lichts, <strong>des</strong> blauen Himmels, der Winde als Hülfsmächte<br />
angerufen. Die Götter heissen Deva 2 ; an der Sp<strong>it</strong>ze<br />
steht der „grossarmige Indra" als der höchste Gott <strong>des</strong> hohen<br />
Himmels, <strong>des</strong> Donners, Bl<strong>it</strong>zes, der Herrscher über das<br />
Flüssige und Feste, <strong>des</strong> gehörnten Viehs, der Speerträger, Herr<br />
der Männer.<br />
Diesem gewaltigen, aber wohlthätigen Wesen gegenüber<br />
stehen übelthätige Geister: Vr<strong>it</strong>ra, der Einhüller <strong>des</strong> Himmelswassers<br />
in die schwarze Wolke; Ahi, der die strömenden<br />
Wasser im Sommer in Berghöhlen versteckt. Indra kämpft<br />
gegen die bösen Dämonen, er muss die Wolke m<strong>it</strong> dem<br />
Speere spalten, dam<strong>it</strong> der Regen herabfliessen könne, er<br />
befre<strong>it</strong> auch die gefangenen Ströme. In diesem Kampfe stehen<br />
dem Indra als Gehülfen bei: der Gott Vaju, der Wehende,<br />
sammt der Schar der schnellen Winde, die den Himmel<br />
1<br />
Vgl. Duncker, II, 13 fg.<br />
- Von div, hellleuehtend; Lassen, a. a. 0., I, 756: Seo's, deus, im<br />
L<strong>it</strong>tauisch-Slav. diewas, althochd. zio, goth. tius, eddisch tivar, franz.<br />
dieu, <strong>it</strong>al. dio, span. dios.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvolker <strong>des</strong> Alterthums. 109<br />
reinigen, und unter ihnen ist Rudra (die tropische Windsbraut)<br />
besonders bemerklich, der zwar im Zorne verderblich<br />
und selbst den Tod für Mensch und Thier bringen kann,<br />
aber auch ein wohlthätiger Gott ist, dem erquickende Regen<br />
folgen. M<strong>it</strong> Rudra's Beistand besiegt Indra die „schwarzleibigen"<br />
Dämonen und ist demnach auch Gott <strong>des</strong> Siegs,<br />
um den er im Kampfe angerufen wird.<br />
Neben den Geistern <strong>des</strong> Lichts, die in den Veda angerufen<br />
werden, ist besondex*s Surja, die Sonne, unter verschiedenen<br />
Namen gepriesen, als Erzeuger (Sav<strong>it</strong>ri), Nährer der Menschen<br />
(Pushan), als allwissender Gott. Viele dieser alten Veda<br />
haben Agni (das Feuer) zum Gegenstande ihrer Anrufungen.<br />
Er bringt das Licht, ist Gast der Menschen, reinigt, tilgt<br />
das Böse, ist der Bote zwischen Menschen und Göttern.<br />
Ihm selbst, wie den übrigen Göttern, wird reine Butter, ins<br />
Feuer geworfen, als Opfer dargebracht, das Agni, wenn die<br />
Flamme emporprasselt, hinaufträgt. Agni ist auch Bekämpfer<br />
der riesigen Asuren und Rackschas, Personificationen der<br />
feindlichen Naturmächte; dem Erzeuger Indra und dem Erhalter<br />
Varuna gegenüber erscheint aber Agni selbst als Zerstörer.<br />
Dem Indra und den Geistern der Luft wird der Saft<br />
einer Bergpflanze, Soma, in einer Schale dargeboten, und<br />
durch Opfer sollen die Götter nicht nur erfreut, sondern auch<br />
o-enöthigt werden, sich den Menschen hülfreich zu erweisen.<br />
Die Priester, als Vorsteher <strong>des</strong> indischen Opferwesens, bekommen<br />
dadurch in der Vorstellung <strong>des</strong> Inders zauberische<br />
Gewalt über die Götter.<br />
In diesen Vorstellungen ungefähr bewegt sich das<br />
religiöse<br />
Bewusstsein der Arier am Indus nach den Hymnen der Veda,<br />
den ältesten Producten der religiösen Lyrik der Inder, deren<br />
Entstehuno; aber nach der Verschiedenhe<strong>it</strong> ihres Inhalts auf<br />
einen Ze<strong>it</strong>raum von mehrern Jahrhunderten avisgedehnt wird. 1<br />
Die im Ri«veda beschilderten Zustände setzt Duncker 2 zwisehen<br />
die Jahre 1800 und 1500 vor Christus, som<strong>it</strong> müsste<br />
die Einwanderung der Arja in das Indusland einige Jahrhunderte<br />
früher geschehen sein, da in den Hymnen der Veda<br />
1<br />
Duncker, II, 26.<br />
2<br />
A. a. 0., 26.
HO Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
keine Spur der Erinnerung an eine frühere Heimat zu<br />
finden<br />
ist.<br />
Als ein Theil der Arja sich aus dem Lande der sieben<br />
Ströme (dem Indus , Fünfstrom und Sarasvati) aufmachte,<br />
um den Vorbergen <strong>des</strong> Himalaja entlang in das Thal der<br />
Jamuna bis an die Ganga vorzudringen , war diese Wanderung<br />
m<strong>it</strong> vielen Kämpfen verbunden, und erst nach langen Kriegen<br />
erlangten die Ausgewanderten feste Wohns<strong>it</strong>ze in den eroberten<br />
Gebieten. Aus dieser Heldenze<strong>it</strong> entsprang die<br />
kriegerische Poesie der Inder, und die Erinnerung daran liegt<br />
in den riesenhaft grossen indischen Epen aufbewahrt.<br />
Um das Jahr 1300 v. Chr. mögen die Stämme der Inder<br />
im Gangeslande zu festen Staatsbilduno;en gelangt sein. 1 Der<br />
alten Bevölkerung, die den herrschenden Arja sich gefügt<br />
hatte, standen die Arja als Leute von besserm Geschlechte<br />
gegenüber, aus welchen sich wieder der kriegerische<br />
Adel hervorhob und zum besonderen Stand der Krieger<br />
(Kshatrija) entwickelte, von dem sich Bauern, Handwerker<br />
und Handelsleute ausschieden und als Kaste der Vaicja fixirten.<br />
Bei dem frommen Sinne der Inder und ihrer Vorstellung,<br />
dass der Sieg in der Schlacht vom Opfer abhängig sei, ja<br />
durch dasselbe die göttliche Gunst abgenöthigt werde und<br />
den Priestern die Kunst dieser Abnöthigung zuerkannt ward,<br />
da ihre Gebete und Bräuche diese Zauberkraft bes<strong>it</strong>zen sollten,<br />
konnte es den unentbehrlichen Priestern nicht schwer werden,<br />
ihrem Stande einen überwiegenden Einfluss zu sichern, ihre<br />
Kaste den andern gegenüber abzuschliessen. Dies gelang ihnen<br />
um so leichter, als sie nicht nur die Kenntniss <strong>des</strong> im Laufe<br />
der Ze<strong>it</strong> sehr complicirt gewordenen l<strong>it</strong>urgischen Codex allein<br />
besassen, sondern auch an Bildung überhaupt voraus waren.<br />
Als die Periode der Kämpfe vorüber und das Heldenthum<br />
zurückgetreten war, gewann das religiöse Interesse, das Opferwesen<br />
das Uebergewicht und dam<strong>it</strong> zugleich der Priesterstand<br />
die Macht.<br />
Aus dem Glauben, der sich in den ältesten Veda (von<br />
Priestern verfasst) ausspricht, dass die göttliche Hülfe durch<br />
Opfer und Gebete abgenöthigt werden könne, entwickelte die<br />
Priesterschaft den „Brahmanaspati", den Herrn <strong>des</strong> Gebets,<br />
1<br />
Duncker, II, 50.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 1 1<br />
in welchem sie die Zaubermacht ihres Gebets und ihrer heiligen<br />
Handlungen auf die Götter personificirt darstellte. Dieses<br />
Wesen ist in den Priestern selbst vorhanden, macht die Wirksamke<strong>it</strong><br />
ihrer Gebete aus, ist mächtiger als die Götter selbst,<br />
da es sie zwingen kann. Es ist das Brahma, d. h. das Heilige<br />
selbst, die specielle Gotthe<strong>it</strong> der Priester und Beter (Brahmana),<br />
es ist die höchste Gotthe<strong>it</strong>. Brahma übt auf die Götter Kraft<br />
aus, hat ihnen Kraft gegeben, ist selbst die Kraft der Götter,<br />
ist vor allen Göttern gezeugt. In diesem Abstractum, dem<br />
Brahma, fasst sich die ganze Heiligke<strong>it</strong> und Göttlichke<strong>it</strong><br />
zusammen. Dieser zauberhafte, unsichtbare Geist war nicht<br />
nur die wirkende Kraft, die hinter und über den heiligen<br />
Handlungen und Gebeten sich bethätigte, hinter und über<br />
den Göttern sich mächtig erwies, er war es auch, der hinter<br />
den grossen und mannichfaltigen Erscheinungen <strong>des</strong> Naturlebens<br />
waltete, er war die Welt seele, die alle Dinge der<br />
Natur durchzieht, belebt und erhält. Brahma war der geistige<br />
Uro-rund der geistigen und natürlichen Welt, er war in und<br />
ausser der Natur, alle Wesen verdankten dem Brahma ihren<br />
Ursprung.<br />
Wie überall so auch bei den Indern bedingt der Gottesbeoriff<br />
die s<strong>it</strong>tliche Aufgabe <strong>des</strong> Menschen. Ist Brahma ein<br />
reines, heiliges, körperloses Wesen, so setzt der Inder seine<br />
Bestimmung darein, jenem ähnlich zu werden durch ein stilles,<br />
heiliges Leben, durch Fügung in die Weltordnung, die von<br />
Brahma herrührt, m<strong>it</strong> der Hoffnung auf Rückkehr der reinen<br />
Seele zu Brahma, ans dem sie hervorgegangen. Die Seele<br />
allein ist aber die Se<strong>it</strong>e, welche dem Brahma zugekehrt ist,<br />
da dieses selbst ein unkörperliches Wesen ist. Die Seele ist<br />
som<strong>it</strong> die bessere Se<strong>it</strong>e am Menschen ; die unreine, schlechte<br />
Se<strong>it</strong>e ist seine Leiblichke<strong>it</strong>. Die höchste Bestimmung <strong>des</strong><br />
Menschen kann also nur sein: die wahre Reinhe<strong>it</strong> darein zu<br />
legen, dass die Seele nicht durch den Körper verunreinigt,<br />
der Geist vom Sinnenleben frei werde. Der Leib erhält hierm<strong>it</strong><br />
die Bedeutung eines Kerkers für die Seele, und da nur<br />
die reine Seele wieder zu Brahma gelangen kann, ist es die<br />
Aulgabe <strong>des</strong> Menschen, seine Leiblichke<strong>it</strong> ganz abzuthun.<br />
„Diese Wohnung <strong>des</strong> Menschen, deren Zimmerwerk die<br />
Knochen, deren Bänder die Muskeln sind, dies Gefäss m<strong>it</strong><br />
Fleisch und Blut gefüllt, m<strong>it</strong> Haut bedeckt, diese unreine
112 Erster Abschn<strong>it</strong>t : Der religiöse Dualismus.<br />
Wohnung, welche die Excremente und den Urin enthält,<br />
welche dem Alter, der Krankhe<strong>it</strong> und dem Kummer unterworfen<br />
ist, dem Leiden jeder Art und den Leidenschaften,<br />
diese Wohnung, dem Untergange bestimmt, muss m<strong>it</strong> Freuden<br />
von dem verlassen werden, welcher sie einnimmt." x<br />
Wohl war auch die sinnliche Welt aus Brahma hervorgegangen,<br />
denn er war ja auch der Quell, aus dem die<br />
materielle W T elt entsprungen; allein von den Brahmanen wurde<br />
diese stets als Brahma fern stehend betrachtet, von der<br />
sreistiaen, unsinnlichen auseinandergehalten und nur diese m<strong>it</strong><br />
Nachdruck hervorgehoben und jener entgegengesetzt.<br />
Der gegensätzliche Dualismus im indischen Brahmanentlmm<br />
besteht also in Seele und Leib, intellectuellem und<br />
materiellem Sein, Seelenleben und Sinnenleben, dieses als<br />
das Unreine, von Brahma Trennende, als Urquell <strong>des</strong> Uebels,<br />
<strong>des</strong> Bösen; jenes als das Reine, der Gotthe<strong>it</strong> Angehörige, das<br />
Gute betrachtet.<br />
Die ethische Aufgabe bestand hiernach darin : die sinnliche<br />
Existenz möglichst zu vernichten, also in Ascese, die Seele<br />
vom Leben loszulösen und zu reinigen, reines, immaterielles<br />
Leben zu sein, wie Brahma unsinnlich ist, nichts als Brahma<br />
zu denken, d. h. die absolute Abstraction von jeder Einzelhe<strong>it</strong><br />
und Vertiefung in die leere Allgemeinhe<strong>it</strong>, was gleichbedeutend<br />
ist m<strong>it</strong> Aufhebung sowol <strong>des</strong> physischen als auch<br />
<strong>des</strong> geistigen Lebens.<br />
Die Grausamke<strong>it</strong>en der indischen Ascese sind bekannt.<br />
Ein Beispiel der Selbstquälerei, das nicht als Product der<br />
dichterischen Phantasie zu betrachten ist, da Augenzeugen<br />
ähnliche Unternehmungen der Fakire schildern, ist im 7. Act<br />
der Sakuntala. Matali zeigt dem König eine Einsiedelei:<br />
„Wo dort der Weise unbeweglich wie ein Baumstamm gegen<br />
die Sonnenscheibe gewendet steht, m<strong>it</strong> dem in die Sp<strong>it</strong>ze<br />
eines Term<strong>it</strong>enhaufens versunkenen Körper, m<strong>it</strong> einer Brust,<br />
um die eine Schlangenhaut gebunden ist, am Halse über die<br />
massen gequält von sich ausdehnenden Schlingpflanzen, die<br />
ihn umringen, ein um den Sche<strong>it</strong>el gewundenes Haargeflecht<br />
tragend, das sich bis zu den Schultern erstreckt und m<strong>it</strong><br />
Vogelnestern angefüllt ist." 2<br />
1<br />
Manu, ß, 76. 77.<br />
2<br />
Boethlingk's Uebersetzung, 103'.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. H3<br />
Es liegt in der Natur der Sache, dass dieses System,<br />
welches sich über dem Brahmabegriff aufgebaut hatte, erst<br />
lange Ze<strong>it</strong>, nachdem das Leben im Gangeslande fest geordnet<br />
und thätig geworden, die Priesterschaft zu einer abgeschlossenen<br />
Körperschaft herausgebildet war, in das Leben der<br />
indischen Gangesbewohner eingreifen konnte. 1 Die neue<br />
Umgebung am Ganges, die neuen Verhältnisse, die zusammen<br />
ein anderes Leben gestalteten als das in der frühern<br />
Heimat am Indus, drängten auch die Erinnerung an die<br />
frühern religiösen Vorstellungen zurück. Der priesterlichen<br />
brahmanischen Abstractionstheorie kam besonders das heisse<br />
Klima am Ganges zu Hülfe, das die Nerven schwächte und<br />
die Muskeln schlaff inachte. Unter der heissen Sonne am<br />
Ganges, welche auf die Reisfelder niederbrennt und das<br />
Zuckerrohr kocht, musste die ursprüngliche Thatkraft, welche<br />
der Arier aus seiner Heimat m<strong>it</strong>gebracht hatte, im -Verlaufe<br />
der Ze<strong>it</strong> verschwinden. Wo sich die höchsten Gipfel <strong>des</strong><br />
Himalaja zusammendrängen, bricht der Ganges aus den<br />
Schneefeldern hervor und wird durch Zuflüsse vom Norden<br />
verstärkt, im Süden von dem dichtbewachsenen Gürtel <strong>des</strong><br />
Vindhja herab geschwellt, sodass er die niedrigen Ufer jährlich<br />
überschre<strong>it</strong>et und die Ebenen, die er durchströmt, ohne<br />
menschliches Hinzuthun zu fettem Fruchtboden macht. Die<br />
tropische Vegetation wuchert ins Masslose, Reis, Baumwolle,<br />
Zuckerrohr gedeiht auf das üppigste. Hier ist das Land<br />
der blauen Lotosblume, in der indischen Poesie so häufig<br />
erwähnt, hier wachsen die nahrhaften Bananen, die riesigen<br />
indischen Feigenbäume. We<strong>it</strong>er hinab wird das Klima noch<br />
heisser, die Luft m<strong>it</strong> Feuchtigke<strong>it</strong> imprägnirt, und in dem<br />
üppigen Tiefland m<strong>it</strong> seinen Kokos und Arekapalmen, Zimmtstauden,<br />
überwuchern endlose Schlingpflanzen die höchsten<br />
Baumstämme. Uebermächtig wird der Baumwuchs gegen<br />
die Mündung <strong>des</strong> Ganges und in der durchh<strong>it</strong>zten sumpfigen<br />
Waldgegend haust nur mehr der Tiger, Elefant und das<br />
Rhinoceros.<br />
Der Inder, schon an sich zum beschaulichen Leben angethan,<br />
wurde durch das heisse Klima am Ganges vielfach zur<br />
körperlichen Unthätigke<strong>it</strong> genöthigt und bei seiner klimatisch<br />
1<br />
Nach Duncker, II, 88, frühestens um das Jahr 1000 v. Chr.<br />
Eoskoff, <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> <strong>Teufels</strong>. I.<br />
y
1 14 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
bedingten Einfachhe<strong>it</strong> der Ernährung konnte er sich sorglos<br />
der Ruhe überlassen. Sein reflectirender Geist vertiefte sich<br />
in die bunte Vielhe<strong>it</strong> der ihn umgebenden Natur und suchte<br />
in dem immer wiederkehrenden Wechsel der Dinge das<br />
Bleibende, die ewige Dauer, er suchte in dem vielgestaltigen<br />
wirren Leben um ihn her den Urgrund dieses Durcheinander,<br />
die Einhe<strong>it</strong>, wie in allen pantheistischen Anschauungen mehr<br />
oder weniger der Zug nach einhe<strong>it</strong>licher Auffassung, der in<br />
der menschlichen Natur begründet ist,<br />
sich wahrnehmen lässt.<br />
Diese Einhe<strong>it</strong> glaubte er durch Abstraction von der Vielhe<strong>it</strong>,<br />
in der abstracten Allgemeinhe<strong>it</strong> und darin das Urwesen zu<br />
finden , das in der Natur walte, das den Gebeten der Priester<br />
die Kraft verleihe und die Götter den Menschen beizustehen<br />
zwinge, das also über den Göttern walte, wie in den heiligen<br />
Handlungen und allen Erscheinungen der Natur herrsche.<br />
Dieses Urwesen, Brahma, hat sich in Maja, d. h. Täuschung<br />
gespiegelt, heisst es in einer indischen Kosmogonie, und die<br />
einzelnen Erscheinungen sind daher nur wechselnde Modifikationen,<br />
ein Werk der Täuschung. Je<strong>des</strong> Daseiende ist nur<br />
gewissermassen ein Durchgangspunkt, welchen das Urwesen<br />
hindurchzieht.<br />
Der Buddhismus.<br />
In der spätem Ze<strong>it</strong>, nachdem der Buddhismus die abstracte<br />
Brahmanenreligion an der Wurzel angefasst, die<br />
starren Schranken <strong>des</strong> Kastenwesens zu durchbrechen gesucht<br />
und den trad<strong>it</strong>ionellen Dogmatismus der Brahmanen aufzuheben,<br />
sonach auch eine Umwandlung der socialen Verhältnisse<br />
anzubahnen gestrebt hatte, was auch nicht ohne<br />
liesultat geblieben, wie die we<strong>it</strong>e Verbre<strong>it</strong>ung der Buddhalehre<br />
bestätigt, bildete sich im indischen Volke, dem der reinspir<strong>it</strong>ualistische<br />
Gottesbegriff <strong>des</strong> Brahma nie<br />
ganz zugänglich<br />
geworden, eine concreto Form religiöser Anschauung aus.<br />
Der alte thatkräftige Sinn der Arier am Indus, die Kriegslust<br />
und Kampfbere<strong>it</strong>willigke<strong>it</strong>, die in dem alten Dämonentödter<br />
Indra das eigene Wesen angeschaut hatte, wurde nach langem!<br />
Aufenthalte unter geordneten Verhältnissen, bei einem<br />
stillen duldsamen Leben, umgeben von einer üppig wuchernden<br />
Natur, gänzlich verwischt und m<strong>it</strong>hin auch die religiöse An-
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 1 15<br />
schauung modificirt, welche, gegenüber dem abstracten Spir<strong>it</strong>ualismus<br />
der Brahmapriester und der seeptischen Lehre <strong>des</strong><br />
Buddhismus, in der realistischen Anschauung <strong>des</strong> Volks neue<br />
Formen hervorbrachte.<br />
In den Anrufungen <strong>des</strong> Rigveda, im Gesetzbuche Mauu's<br />
und im Epos wird Vishnu einigemal als ein den Menschen<br />
wohlthätiger Licht- und Luftgeist erwähnt. Diesen Vishnu<br />
ergriff das Volksbewusstsein und eignete ihm jegliche Wohlthaten,<br />
die der Mensch von der Natur empfängt. Die helle<br />
Luft, der blaue Himmel, das Wachsthum der Pflanzen, der<br />
erquickende Thau, das befruchtende Wasser, kurz alles Gute<br />
geht von Vishnu aus als der Macht, die Leben gibt und<br />
Leben erhält. In Vishnu sieht das Volk seinen grössten<br />
Wohlthäter, seinen besten Helfer, und er wird vornehmlich<br />
von den Bewohnern <strong>des</strong> friedlichen Gangesthaies verehrt.<br />
Hingegen in den Thälern <strong>des</strong> Himalaja und an den Küsten<br />
<strong>des</strong> Dekhan, wo der vernichtende tropische Sturmwind jedem<br />
Widerstände trotzt, wo das Naturleben gewaltig und unbändig<br />
erscheint, da tr<strong>it</strong>t der Cultus <strong>des</strong> Qiva auf. (piva ist zwar<br />
auch Gott der Befruchtung, wie Vishnu, aber gemäss den<br />
Gegenden , wo der Gew<strong>it</strong>tersturm unter Donner und Bl<strong>it</strong>z<br />
den befruchtenden Regen herbeiführt und neues Leben aus<br />
der Zerstörung hervorbringt, da wird Qiva als Gott <strong>des</strong><br />
Wachsthums, aber zugleich als der Zerstörung gefasst. Wo<br />
die<br />
stürmischen Naturerscheinungen überwiegen, stellt sich die<br />
verderbliche Se<strong>it</strong>e <strong>des</strong> Qiva heraus und er wird zum Gott<br />
<strong>des</strong> Schreckens , der Verwüstung, <strong>des</strong> To<strong>des</strong>, <strong>des</strong>sen Hals eine<br />
Kette von Todtenschädeln umgibt, der Schmerz und Thränen<br />
bringt. * Er ist der Vater <strong>des</strong> Kriegs. 2 Als Repräsentant<br />
der verderblichen , unbändigen, stürmischen Macht, bietet Qiva<br />
den Gegensatz zum friedlichen Vishnu. Qiva der Vernichter<br />
heisst auch Devadeva, Gott der Götter, Mahadeva, grosser<br />
Gott, Icvara, Herr, als lebensfeindliche Macht. Als Tödter<br />
<strong>des</strong> Selbst ist er der Patron der vernichtenden Ascese, selbst<br />
Ascet. So ist er der Ausdruck <strong>des</strong> Grundgedankens der<br />
indischen Weltanschauung, wonach das Dasein auf Erden für<br />
1<br />
Bohlen, Ind., 206 fg.<br />
2<br />
Lassen, Ind. Alterth., I, 782.
jl(j Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
ein Unglück gilt und die Selbstvernichtung als die höchste<br />
Bestimmung erachtet wird.<br />
Indem die Brahmanen der spätem Ze<strong>it</strong> neben ihren<br />
Brahma den Vishnu der Gangesbewohner hinstellten , wobei<br />
jenem die Schöpfung der Welt, diesem deren Erhaltung zufiel,<br />
während Qiva vorzugsweise das zerstörende Princip<br />
repräsentirte, ward eine Dreihe<strong>it</strong> der Götter erzielt, die im<br />
Epos zwar schon berührt, aber erst später ausgebildet erscheint.<br />
'<br />
Die Arier in Iran.<br />
Baktrer.<br />
Perser.<br />
In der Gegend, wo heute Perser, Beludschen, Afghanen<br />
und andere Volksstämme hausen, zwischen dem Industhale<br />
und dem Stromgebiete <strong>des</strong> Euphrat und Tigris, nach deren<br />
Vermischung als Scha-tel-Arab in den persischen Golf mündend,<br />
im Süden vom Persischen (Arabischen) Meer begrenzt,<br />
gegen Norden vom Kaspischen Meere und den Steppen am<br />
Oxus umgeben, ist das Hochland von Iran. Die heftigen<br />
Stürme, die im Frühjahre toben, schweigen vom Mai bis<br />
September, und während dieser Pause ist die Luft äusserst<br />
trocken und klar, dass die Berge sich scharf abheben und die<br />
Landschaft in eigenthümlicher Helligke<strong>it</strong> erscheint. Der rasche<br />
Temperaturwechsel entspricht dem gegensätzlichen Charakter<br />
<strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>, aus den glühend heissen Ebenen erheben sich<br />
schneebedeckte Terrassen. Während der Norden im Winter<br />
unter eisigen Winden erstarrt, die über das Kaspische Meer<br />
einherstürmen , durch die endlosen Steppen hinbrausen und<br />
Weideplätze und Felder auf mehrere Wochen m<strong>it</strong> Schnee<br />
bedecken, thürmen die Glutwinde im Süden den ausgebrannten<br />
Wüstensand zu Hügeln auf, die in wechselnder Gestalt die<br />
Bodenfläche den Meereswogen ähnlich machen und den Flugsand<br />
auf Aecker und in Brunnen treiben, wodurch diese<br />
unbrauchbar werden.<br />
Der Mensch hatte in Iran zu kämpfen m<strong>it</strong> der Kälte <strong>des</strong><br />
Winters, „welcher herbeischleicht, die Heerden zu tödten und<br />
voller Schnee ist, — am Wasser, an den Bäumen und am<br />
1<br />
Lassen, I, TS."! fg.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 117<br />
Acker", wie das Gesetzbuch der Iranier sagt. 1 Anderwärts<br />
umschwärmten stechende Wespen die Rinderheerden und<br />
mussten „fressende Raubthiere" abgewehrt werden. a An den<br />
niedrigen Ufergegenden hausten Schlangen, Eidechsen, Ungeziefer<br />
aller Art, und die sumpfige Luft erzeugte Fieber und<br />
andere Krankhe<strong>it</strong>en; an den Hochebenen beeiste die strenge<br />
Kälte den Gebirgsweg, an <strong>des</strong>sen Rande dem Reisenden tiefe<br />
Abgründe heraufgähnten. Dabei bot aber die Gegend auch<br />
lachende Oasen m<strong>it</strong> dem üppigsten Wiesengrün, schattigen<br />
Baumgruppen, prachtvollen Wäldern.<br />
Den Gegensätzen <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> entsprechend war die<br />
Lebensweise seiner Bewohner. Während ein Theil der Bevölkerung<br />
im Schweisse <strong>des</strong> Angesichts schwer arbe<strong>it</strong>ete, den<br />
dürren Boden mühsam bewässerte, den Flugsand vom Acker<br />
abwehren musste; zog ein anderer frei m<strong>it</strong> den Heerden umher,<br />
und zur Muse <strong>des</strong> Hirtenlebens gesellte sich häufig<br />
Kampflust und Wegelagerung.<br />
Am schneidendsten tr<strong>it</strong>t die Gegensätzlichke<strong>it</strong> hervor in<br />
den Thälern <strong>des</strong> Nordran<strong>des</strong>, die gegen die Steppen <strong>des</strong><br />
Kaspischen Meeres hin oifen liegen, in den einstigen Gebieten<br />
von Margiana (Merv), Baktrien (Bakhdhi) und Sogdiana<br />
(Sugdha). Fruchtbare Thäler, die, dank dem herabfliessenden<br />
Gebirgswasser, der üppigsten Vegetation sich erfreuen, stossen<br />
hart an die öde, unfruchtbare Wüste. Während auf den<br />
Hochflächen die Sterne in der reinen Atmosphäre blinkend<br />
die Nacht erleuchten, lagern über den Steppen dicke Nebel<br />
und Sandwolken. Im Winter bringen die Winde vom Kaspischen<br />
Meere schneidende Kälte, im Sommer treiben sie den<br />
heissen Wüstensand auf die Fruchtfelder. Während die Aecker<br />
in den Niederungen nur m<strong>it</strong> grösster Anstrengung vor dem<br />
Sonnenbrande durch Bewässerung geschützt werden müssen,<br />
herrscht auf den Höhen <strong>des</strong> Belurtag und Hindukuh ewiger<br />
Winter.<br />
Ausser diesem Kampfe, den die iranischen Arier m<strong>it</strong> den<br />
Gegensätzen der Lan<strong>des</strong>beschaffenhe<strong>it</strong> zu bestehen hatten,<br />
mussten sie überdies die Einfälle wilder turanischer Räuberscharen<br />
abwehren, die vom Norden her das Gebiet von<br />
1<br />
Vendidad Vil, G'J, 1, 9—12.<br />
2<br />
Vendidad I, 24.
11$ Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Baktrien und Sogdiana heimzusuchen pflegten. Der Fleiss<br />
der Arier konnte nur gedeihen, wenn nicht vom Norden<br />
Kälte, Schneefälle, Wüstenwinde oder Einbrüche der turanischen<br />
Horden die fruchtbaren Thäler verwüsteten, wenn<br />
nicht das Kaspische Meer vom Westen her die starken Winde<br />
schickte, wodurch die Gefilde in Baktrien und Sogdiana m<strong>it</strong><br />
dem verheerenden Triebsand verschüttet wurden. Hieraus<br />
erklärt sich, warum der Bewohner der Thäler <strong>des</strong> iranischen<br />
Lan<strong>des</strong> im Norden und Westen den S<strong>it</strong>z der bösen Geister<br />
erblickte. Vom Norden kam Frost, Schnee, Wüstenwind,<br />
die Schar der Räuber; im Westen ging die Sonne unter,<br />
da war der S<strong>it</strong>z der Finsterniss , <strong>des</strong> To<strong>des</strong> ; wo aus den<br />
vulkanischen Gipfeln <strong>des</strong> Eiburs die Rauchsäulen emporstiegen,<br />
wo verwüstende Wolkenbrüche niedergingen , wo Fieber und<br />
Krankhe<strong>it</strong> herrschte. Im Osten dagegen, wo die Sonne aufgeht,<br />
da wohnten die guten Geister, hier war der Ort <strong>des</strong><br />
Lichts, auf der hohen Kette <strong>des</strong> Belurtag der „Berg der<br />
Höhe", d. h. der heilige Berg, auf welchen sich der Sonnengott<br />
M<strong>it</strong>hra zuerst m<strong>it</strong> siegreichem Glänze setzte. 1<br />
Die Verehrung der Gotthe<strong>it</strong>en <strong>des</strong> Lichts und der he<strong>it</strong>ern<br />
Luft, <strong>des</strong> Sonnengottes M<strong>it</strong>hra, Anrufung <strong>des</strong> Feuers als<br />
Verscheuchers der bösen Dämonen, Darbringung <strong>des</strong><br />
Haomaopfers, die Mythen von Verethragna, dem Kämpfer<br />
gegen die bösen Geister, von Vivanghvat, von Jima, von dem<br />
Drachentödter Thraetaona, bilden die religiöse Grundlage, die<br />
den Iraniern m<strong>it</strong> den Indern vor ihrer Entzweiung gemeinschaftlich<br />
war.<br />
Im Lande der grellen Gegensätze musste sich auch bei<br />
seinen Bewohnern die Vorstellung von dem Kampfe <strong>des</strong> Himmels<br />
gegen die Dämonen der Dürre und Unfruchtbarke<strong>it</strong><br />
scharf entwickeln und in die Vorderlinie treten.<br />
Zarathustra (Zoroaster), der in diesem Lande der Gegensätze<br />
auftrat, fand den dualistischen Glauben an ein Lichtreich<br />
und Dunkelreich, an gute und böse Geister und deren Einfluss<br />
auf Land und Mensch, an ein lichtes Iran und ein böses Turan<br />
gewiss vor, als er sein Reformationswerk begann. Er fand die<br />
den Iraniern und Indern gemeinschaftliche religiöse Grundlage,<br />
nämlich eine Naturanschauung, welche die freundlichen Er-<br />
1<br />
Vendidad XIX, 92, XXI, 20.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 119<br />
scheinungen der Aussenwelt auf die wohlthätige Wirkung<br />
höherer Machte zurückführte, besonders die Erscheinungen<br />
<strong>des</strong> Lichts als unm<strong>it</strong>telbare Manifestationen <strong>des</strong> Göttlichen<br />
verehrte, wogegen sie in der i'insterniss eine feindliche Macht<br />
wirksam glaubte. Die Bedeutsamke<strong>it</strong> der Zarathustra'schen<br />
Reformation beruht darauf, dass sie den Gegensatz wohlthätiger<br />
und verderblicher Kräfte in der Natur zu s<strong>it</strong>tlicher Bedeutung<br />
entwickelt, indem sie den Gegensatz nicht nur in der<br />
Aussenwelt, durch den Kampf der göttlichen Wesen veranlasst,<br />
beibehält, sondern die Gegensätzlichke<strong>it</strong> m<strong>it</strong> dem Menschen<br />
in engste Beziehung setzt, denselben nicht nur in die<br />
M<strong>it</strong>te <strong>des</strong> Kampfplatzes stellt, sondern ihn selbst zum Kampfobjecte<br />
macht. *<br />
Die guten und bösen Geister zusammenfassend, nannte<br />
Zarathustra das Oberhaupt der guten Geister Ahuramasda,<br />
Herr (Ormuzd), den Vieleswissenden, Grossesgewährenden,<br />
(nach Roth: „ewige -Weise"), häufig auch Qpentamainju den<br />
Heiliffeesinnten, im Gegensatz zum Oberhaupt der bösen Geister<br />
Angramainju (Ahriman), dem Uebelgesinnten. Ormuzd ist<br />
der Schöpfer und Herrscher der Welt. „Niemand hätte diese<br />
Erde schaffen können, wenn ich sie nicht geschaffen hätte." 2<br />
Er hat die Welt m<strong>it</strong> Lieblichke<strong>it</strong> ausgestattet und seine Reinhe<strong>it</strong><br />
in die Geschöpfe gelegt, darnm ruht in der Erde, in<br />
Bäumen, Gewässern eine heilige Kraft, welche der Mensch<br />
zu seiner Hülfe rufen kann. (So heisst es oft in den Jescl<strong>it</strong>.)<br />
Ueberall, wo Ormuzd Gutes gepflanzt hat, säet Ahriman das<br />
Arge, er ist der Urheber alles Uebels. 3 Dieser kommt m<strong>it</strong><br />
seinen Geisterscharen , welche die „Verletzer, Reinhe<strong>it</strong>sverwirrer,<br />
Quäler" heissen, aus den nördlichen Gegenden; die<br />
Scharen <strong>des</strong> Lichts hingegen sollen aus Osten kommen, um<br />
ihn und sein Reich zu vernichten.<br />
Wie der Bewohner <strong>des</strong> iranischen Lan<strong>des</strong> auf Thätigke<strong>it</strong><br />
und Kampf angewiesen war, wenn er sich seiner Existenz<br />
erfreuen wollte, so waren auch die iranischen Götter und<br />
Geister sowol vor als nach Zoroaster als thätige gefasst. Die<br />
guten förderten die Arbe<strong>it</strong> der Menschen und lohnten deren<br />
1<br />
Roth, Zur Gesch. d. Rclig., in Theulog. Jahrb., VIII, 1841).<br />
2<br />
Heisst es: Veudid., Färg., 1.<br />
3<br />
Fargard, 1, 22 u. a.
12Q Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Fleiss, die bösen waren stets beflissen, ihnen zu schaden. Die<br />
vor Zoroaster verehrten Dämonenkämpfer Qraosha und Verethraghna<br />
waren nach der Reformation auf directen Kampf<br />
gestellt; nach Zarathustra's Lehre ist der Kampf ein indirecter<br />
um den Menschen, um Leben und Tod, um Wohlsein oder<br />
Schaden <strong>des</strong> Menschen, und nach seinem Tode kämpfen die<br />
guten und bösen Mächte um seine Seele. 1<br />
Ein sicherer Fingerzeig, dass zwischen den Indern und<br />
Iraniern religiöse Feindschaft stattgefunden und wahrscheinlich<br />
nebst andern Ursachen zur Trennung der Stämme m<strong>it</strong>gewirkt<br />
habe, liegt darin: dass ausser dass einige Götter der<br />
alten gemeinschaftlichen arischen Religion zu den Dämonen<br />
herabgedrückt wurden, z. B. Indra, die Acvinen 2 , auch der<br />
Gattungsname Daeva, der ursprünglich die „Götter" bezeichnet<br />
hatte, bei den Iraniern die Bedeutung böser Geister<br />
erhielt.<br />
Diese Erscheinung zeigt sich auf dem Gebiete religiöser<br />
Anschauungen überall da, wo zwischen den betreffenden<br />
Völkern ein feindseliger Gegensatz platzgegriffen hat.<br />
Im Zendavesta, dem heiligen Urkundenbuche der Iranier<br />
(Perser), das allmählig und innerhalb eines we<strong>it</strong>en Ze<strong>it</strong>raums<br />
von Jahrhunderten entstanden und erst nach Zarathustra zum<br />
Abschluss gekommen ist, findet sich der Opferdienst schon<br />
mehr in den Hintergrund gedrängt. Haoma ist zum göttlichen<br />
Wesen erhoben, und das Gebet wird zur wesentlichsten Pflicht<br />
gemacht. Neben Ahuramasda wird auch der Sonnengott<br />
M<strong>it</strong>hra angerufen, Haoma als Gott, der das Leben erhält,<br />
Verethraghna, bei den alten Ariern ein Dämonenkämpfer wie<br />
Indra Vr<strong>it</strong>raghna, wird im Zendavesta als Gott gepriesen, der<br />
den Sieg verleiht und den Glanz der Könige erhöht 3 ; ebenso<br />
wird das Feuer als der beste Schutz gegen die Daeva gefeiert.<br />
Auch die kleinern Lichter <strong>des</strong> Himmels werden als wohlthätige<br />
Mächte gepriesen, wie auch das Wasser, das nach dem<br />
Gesetzbuch stets heilig zu halten und nicht zu verunreinigen<br />
ist, ebenso die Erde.<br />
Das Zendavesta stellt überdies noch ein Heer von Geistern<br />
'<br />
Veudidad VII, 132— 136; XIX, 90—100; Jescht Sade, 15, 18.<br />
2 Farg., 10, 19.<br />
J<br />
Jescht Behrara, 12.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Altertmims. 121<br />
als Jazada, „Verehrungswürdige", auf, die sich theils als<br />
Pcrsonificationen von Tugenden und moralischen Eigenschaften,<br />
theils als allegorische Figuren zu erkennen geben, z. B.<br />
Geister der Ze<strong>it</strong>, der Jahresze<strong>it</strong>en, der Monate u. s. w.<br />
Diese Schar von guten Geistern ist um Ahuramasda versammelt,<br />
das Heer der bösen Daeva um Angramainju. Die<br />
guten Geister walten im Lichte <strong>des</strong> Sonnenaufgangs, im<br />
Osten, im hellen Glänze <strong>des</strong> reinen Himmels, überall wo<br />
Leben, Fruchtbarke<strong>it</strong>, Wohlsein herrscht; die bösen herrschen<br />
im kalten Norden, im Westen, wo die Sonne untergeht, wo<br />
Stürme brausen, wo Finsterniss, Tod und Verderben ist.<br />
Besonders merkbar macht sich im Zendavesta der Geist <strong>des</strong><br />
kalten Winters Zemana 1 , Azis, der den Menschen das Leben<br />
und das Feuer zu rauben sucht 2 ,<br />
der Daeva Bushjankta, der<br />
zur Träghe<strong>it</strong> verführt 3 , Bu<strong>it</strong>i, der Daeva der Lüge. 4 Unter<br />
andern bösen Geistern lässt das Zendavesta auch den Indra<br />
erscheinen 5 , der von den Indern und Iraniern unter dem<br />
Namen Verethragna verehrt ward.<br />
Ausser den Daeva gibt es noch Drudscha und andere<br />
untergeordnete Arten von Unholden.<br />
Ahuramasda ist der Schöpfer <strong>des</strong> Guten, und seinen<br />
guten Geistern eignet das Licht, Leben, die reine That, die<br />
fruchtbare Erde, das erquickende Wasser, die glänzenden<br />
Metalle, die Bäume, die Weiden. Angramainju hingegen<br />
schafft das Böse, <strong>des</strong>sen Keim er in die guten Schöpfungen<br />
legt, er bringt den Winter, die H<strong>it</strong>ze, die Stürme, Krankhe<strong>it</strong>en,<br />
ist Urheber der Sünden, Ausschweifungen, wodurch<br />
das Leben Abbruch leidet, der Lüge, der Träghe<strong>it</strong>. Auch<br />
die Thiere theilen sich zwischen die guten und bösen Geister.<br />
Ahuramasda bringt die dem Menschen nützlichen Thiere hervor;<br />
Angramainju dagegen ist der Schöpfer der schädlichen,<br />
der giftigen Schlangen, der Raubthiere, aller, die in dunkeln<br />
Höhlen und Lochern wohnen, die dem Acker schaden, alles<br />
Ungeziefers. 6 Angramainju hat som<strong>it</strong> theil an der Schöpferi<br />
Vendidad IV, 139.<br />
* Vendidad XVIU, 45.<br />
s<br />
Vendidad XVIII, 38.<br />
* Vendidad XIX, G, 146.<br />
s<br />
Vendidad X, 17.<br />
6<br />
Vendidad XVIII.
122 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
kraft, ist nicht durch Selbstbestimmung böse geworden, sondern<br />
war von Anbeginn böse. „Aber", fragt Döllinger, „ist<br />
er von Anbeginn böse? Die parsisehe Lehre kennt keinen<br />
abstracten Dualismus; nach einer Stelle wäre sogar: „der gute<br />
wie der schlechte Geist von Ormuzd erschaffen" und immer<br />
wird Ahuramasda tief unter Ormuzd gesetzt; während jenem<br />
Allwissenhe<strong>it</strong> zukommt, hat Ahuramasda nur ein<br />
Nachwissen,<br />
d. h. er sieht die Wirkungen seiner Thaten nicht vorher".<br />
Wir sehen in dieser Ueberlegenhe<strong>it</strong> Ormuzd's denselben<br />
Trieb nach Einhe<strong>it</strong>, wie er sich in allen polytheistischen<br />
Religionen mehr oder weniger an den Tag legt. Dam<strong>it</strong> stimmt<br />
überein , was Döllinger aus einer Pehlvi-Handschrift eines parsischen<br />
Lehrbüchleins anführt: „Es war eine Ze<strong>it</strong>, da er<br />
nicht war (nämlich Ahuramasda); es wird eine Ze<strong>it</strong> sein, da<br />
er nicht sein wird in den Geschöpfen Ormuzd's, und am Ende<br />
wird er verschwinden." x Soll man diese Stelle nicht eine<br />
prophetische nennen, zu vergleichen jenem Ausspruch der<br />
hebräischen Propheten vom messianischen Reiche? 2 — Was<br />
Zervan-Akarana, die ungeschaffene Ze<strong>it</strong>, das Eine Urwesen<br />
betrifft, von welchem Ormuzd und Ahriman erst hervorgebracht<br />
worden ist, wird dies als eine durch Anquetirs<br />
Misverständniss in die Ze<strong>it</strong>schriften hineingetragene Meinung 3<br />
erklärt. Könnte man es nicht für eine spätere speculative<br />
Zurückle<strong>it</strong>ung auf die Einhe<strong>it</strong> betrachten, die allerdings dem<br />
Volksbewusstsein fern gelegen? Dam<strong>it</strong> stimmt überein, dass<br />
in<br />
den altem Theilen <strong>des</strong> Zend Zervan nirgends über Ormuzd<br />
gesetzt wird, dass, wie auch Döllinger behauptet, Zervan ein<br />
der altiranischen Lehre ursprünglich frem<strong>des</strong> Wesen ist.<br />
Gemäss dieser Anschauung von thätigen Gotthe<strong>it</strong>en und<br />
Geistern bestimmt sich die s<strong>it</strong>tliche Aufgabe <strong>des</strong> Menschen<br />
dahin, im Guten thätig zu sein durch Abwehr der Macht <strong>des</strong><br />
Angramainju und seiner Geister, die nur da eingreifen, wo<br />
der Mensch die heiligen Gesetze aus dem Auo;e lässt. Das<br />
Gesetz Ahuramasda's bietet die M<strong>it</strong>tel gegen die Gewalt Angramainju's.<br />
Die Daeva walten, wo der Tod herrscht, also muss<br />
der Mensch sein und anderer Leben zu fördern trachten da-<br />
1<br />
2<br />
J. Müller iu den Müncliener Gel. Anzeigen, XX, 541.<br />
Vgl. Döllinger, Heidenth. und Judenth., 357 fg.<br />
3<br />
Vgl. Joh. Müller, Spiegel, Roth, Brockhaus, Ilaug.
•<br />
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 123<br />
durch, dass er den Acker bebaut, den Boden urbar macht,<br />
Viehzucht treibt, schädliche Thiere vertilgt. 1 Da schlechte<br />
Thaten auf der Wirksamke<strong>it</strong> Angramainju's beruhen, so wird<br />
<strong>des</strong>sen Macht vermindert durch gute Handlungen. Ahuramasda<br />
und seine Geister werden als die Reinen gepriesen,<br />
jener ist die Reinhe<strong>it</strong> selbst 2 ; demnach ist Reinerhaltung eine<br />
der vornehmsten Pflichten. Unrein ist aber alles, was dem<br />
Leben <strong>des</strong> Leibes und der Seele hinderlich ist, als: Unrath,<br />
Todtes, das den Däva angehört; auch Unzucht, Faulhe<strong>it</strong>,<br />
Lüge, Verleumdung gelten für Verunreinigung der reingeschaffenen<br />
Menschenseele. Die Reinhaltung wird durch eine<br />
Menge von Vorschriften geboten und die Reinigungen sind<br />
bis<br />
zur Aengstlichke<strong>it</strong> detaillirt.<br />
Beim Vergleich <strong>des</strong> gegensätzlichen Dualismus zwischen<br />
der indischen Religionsanschauung und der Zendreligion<br />
springt der Unterschied in die Augen. Während in jener<br />
der Gegensatz von Leib und Seele, Geist und Materie aufgestellt<br />
wird, der Leib als das Unreine gilt, demnach die<br />
Zerarbe<strong>it</strong>ung und Vernichtung <strong>des</strong>selben angestrebt werden<br />
soll, hat sich der Zendmensch gegen die schlimme Se<strong>it</strong>e der<br />
Natur als von bösen Geistern herrührend zu wehren, die gute<br />
Se<strong>it</strong>e hingegen soll von ihm gefördert werden, um eines gesunden<br />
Lebens sich zu erfreuen. Der Brahmaanbeter stellt<br />
sich die Aufgabe, sich selbst zu vernichten, der Ormuzddiener<br />
hingegen sich zu behaupten. 3<br />
1<br />
Vendidad XIV,- 9—18; XII, 65-71 u. a.<br />
2<br />
Vendidad X, 35—37.<br />
3<br />
Da Iran , auch nach dem Schachnameh zu urtheilen , lange Jahre<br />
unter assyrischer Oberhohe<strong>it</strong> stand, so findet es Kruger natürlich, dass<br />
auch sein Glaube kein anderer war als die assyrische Reichsreligion, in<br />
der Darstellung <strong>des</strong> Firdusi trete ferner noch das sabäische Element<br />
mächtig hervor. (Jak. Kruger, Gesch. d. Assyrer und Iranier vom 13.<br />
bis 5. Jahrh. v. Chr., 51.) Auch Spiegel macht auf etliche sem<strong>it</strong>ische Elemente<br />
im zoroastrischen Glauben aufmerksam , hält sie aber für später<br />
eingedrungen. (Zend-Avesta, Leipzig 1852, S. 269. Erster Exkurs : Ueber<br />
die Einwirkung sem<strong>it</strong>. Religionen auf die altpersische Religion.) Spiegel<br />
führt eine Stelle eines persischen Autors an: „Nachdem Zerduscht die<br />
sabäische Religion abgeschafft und den Feuerdienst eingeführt hatte, verfasste<br />
er das Buch Avesta." Spiegel erklärt diese Stelle für ein Zeugniss<br />
fremder Einmischung in die Religion Zoroasters; Kruger dagegen für<br />
ein Zeugniss der Entstehung der letztern aus dem Sabäismus und weist
124 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Griechen.<br />
Die griechische Halbinsel, von den Gebirgszügen <strong>des</strong><br />
Hämus herab bis zum M<strong>it</strong>telmeere sich erstreckend, ist ganz<br />
geeignet, die Cnltnr Asiens m<strong>it</strong> Europa zn verm<strong>it</strong>teln. Die<br />
hellespontische Meerenge, der Archipelag, die Inselreihe gegen<br />
Westen bilden eine Brücke znr We<strong>it</strong>erforderung <strong>des</strong> Ueberkommenen.<br />
Die überallhin verzweigten Berge, die das Land<br />
bedecken, waren zwar einer Vereinigung der Bewohner zu<br />
einem fcstgeschlossenen Ganzen hinderlich; dagegen musste<br />
die individuelle Ausbildung in den abgegrenzten Gebirgsauen<br />
um so ungestörter gedeihen. Die Nähe <strong>des</strong> Meeres half<br />
dem zu Lande gehemmten Verkehre, reizte zu Schiffahrt und<br />
Handel, schützte vor Erstarrung, und von den Höhen erhielt<br />
der Hellene die kräftigende Bergluft. Die grösste Mannigfaltigke<strong>it</strong><br />
herrscht sowol in der Formirung der Oberfläche <strong>des</strong><br />
Lan<strong>des</strong> als in der Uferbildung. Dort der verschiedene Anblick<br />
von Alpenlandschaften m<strong>it</strong> schneebedeckten Gipfeln, abwechselnd<br />
m<strong>it</strong> M<strong>it</strong>telgebirgen, Laubwälder m<strong>it</strong> Wiesengründen,<br />
hohe Felsenrücken sich erhebend aus Niederungen, die m<strong>it</strong><br />
Oliven und Lorberen bedeckt sind, und wieder kahle, wasserarme<br />
Landschaften, zahllose Buchten, fruchtbare Thäler, schattige<br />
Wälder. Ebenso mannigfaltig ist das Klima <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>.<br />
auf eine schriftliche Quelle vorzoroastrischer oder assyrischer Religion<br />
hin, die bisher beise<strong>it</strong>e geblieben. Est ist der Dabistan <strong>des</strong> Scheikh<br />
Mohammed-Jani oder Mohsan-Jani, aus dem 17. Jahrhundert stammend,<br />
im Anfang unsers Jahrhunderts nach Europa gebracht. Der Verfasser,<br />
ein Mohammedaner aus Kaschmir, beschäftigte sich m<strong>it</strong> dem Studium<br />
aller bekannten Glaubensbekenntnisse und legte das Resultat in<br />
seinem Werke nieder. Das erste Buch handelt von der ältesten ihm bekannten<br />
Sekte, den Jezdianen oder Huschianen, die den Zoroaster<br />
nicht als Propheten, sondern nur als Reformator anerkennen, bis auf die<br />
Ze<strong>it</strong>en der Araber m<strong>it</strong>ten unter den Dienern der Feuerreligion ihr vorzoroastrisches<br />
Gesetz bewahrten, von Persern und Mohammedanern verfolgt<br />
nach Indien auswanderten, sich dort in der Stille erhielten und eine<br />
eigene L<strong>it</strong>eratur erzeugten, aus der Mohsan das Wesentliche m<strong>it</strong>theilt.<br />
Kruger gebraucht diese Schrift zur Unterstützung seiner obenerwähnten<br />
Ansicht; uns hingegen liefert sie einen Beweis mehr für die Annahme<br />
eines durchgängigen Dualismus, der auch bei den Jezdianen stattfindet.<br />
Diese erweisen dem bösen Wesen oder Sche<strong>it</strong>an sogar eine so hohe Achtung,<br />
dass sie die blose Nennung seines Namens für die verwegenste Handlung<br />
halten.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 125<br />
Die Rauhe<strong>it</strong> Huf den Höhen mildert sich nach der Senkung<br />
und Richtung der Berge bis zu jener Wärme, in welcher die<br />
Olive, Feige, Traube zur Reife gelangt, und die H<strong>it</strong>ze an der<br />
Ostküste wird wieder vom Seewinde gekühlt. Den im Sommer<br />
fehlenden Regen ersetzt der Herbst und der Frühling in<br />
reichlichem Masse. Der Boden, obschon fruchtbar, erheischte<br />
doch einen fleissigen Anbau, und die nothige Arbe<strong>it</strong> schützte<br />
den Hellenen unter dem milden Himmel vor Erschlaffung und<br />
üppiger Sinnlichke<strong>it</strong>. In einem Lande ohne die schroffe<br />
Gegensätzlichke<strong>it</strong> von nordischer und tropischer Zone, konnte<br />
sich in den Bewohnern Phantasie, Gefühl und Verstand wol<br />
harmonisch entwickeln. Daher wird es erklärlich, dass die<br />
schneidenden Gegensätze in der religiösen Anschauung der<br />
Arier, welche die Hellenen aus ihrer arischen Heimat m<strong>it</strong>brachten,<br />
in der Erinnerung allmählich verwischt wurden, und<br />
der griechische Genius, seiner künstlerischen Natur gemäss,<br />
auch fremde Vorstellungen, die durch Ansiedelungen von<br />
Aegyptern und Phöniziern in seinen Kreis kamen, um- und<br />
durchbildete, indem er aus speculativen Begriffen religiöse<br />
Kunstgebilde schuf und die Ideen zu schönen, lebensvollen<br />
Individual<strong>it</strong>äten verkörperte. So wurde die griechische Götterwelt<br />
zu einem Kunstwerke <strong>des</strong> künstlerischen Genius von<br />
Hellas, die ungeheuerlichen Personificationen <strong>des</strong> Orients erscheinen<br />
vermenschlicht, der Mensch wird idealisirt zum<br />
Göttlichen, der Himmel ist verirdischt und die Erde verhimmelt,<br />
die physische und menschliche Natur wird durchgöttert<br />
und der Hellene stellt in seiner Gotthe<strong>it</strong> die idealisirt<br />
schöne menschliche Individual<strong>it</strong>ät dar.<br />
Die Sprachwissenschaft hat schon längst den Beweis geliefert,<br />
dass die Griechen Verwandte der Arier sind, und die<br />
Religionswissenschaft gelangt zu derselben Ansicht. Von der<br />
Trennung <strong>des</strong> hellenischen Zweiges vom arischen Urstamme<br />
haben die Griechen selbst keine Erinnerung aufbewahrt, sie<br />
erzählen nur von einem goldenen und silbernen Ze<strong>it</strong>alter, auf<br />
welches ein dr<strong>it</strong>tes Geschlecht folgte, das sich in beständigem<br />
Kampfe aufgerieben, worauf das Ze<strong>it</strong>alter der Helden, der<br />
Kämpfer vor Theben, vor Ilion, gefolgt sei. Die historische<br />
Trad<strong>it</strong>ion der Griechen beginnt m<strong>it</strong> Pelasgos,<br />
welchen Homer l<br />
1<br />
Ilias Iß, 324.
12(3 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
m<strong>it</strong> dem Hciligthume zu Dodona in Verbindung stellt, und<br />
dies erscheint als der älteste M<strong>it</strong>telpunkt der Religion. x Hier<br />
wird der Gott <strong>des</strong> Himmels verehrt, <strong>des</strong>sen Willen man im<br />
Rauschen <strong>des</strong> Win<strong>des</strong> in den Zweigen der heiligen Eiche<br />
vernahm. Er sammelt die Wetterwolken und führt den Beinamen<br />
Naios, der Regner. Ausserdem wird zu Dodona die<br />
fruchtbringende Erde verehrt. Dodona weist auf die ersten<br />
Anfänge hellenischen Lebens in der pelasgischen, d. h. jener<br />
ältesten Ze<strong>it</strong> auf der Halbinsel, hin, und die Religion gibt<br />
sich als Naturreligion zu erkennen. Die älteste Form religiöser<br />
Anschauung der Griechen beruht also auf der m<strong>it</strong> den<br />
Ariern am Indus gemeinsamen Grundlage. Der helle Himmel,<br />
das Licht, die Winde, Wolken werden verschiedenartig personificirt,<br />
und als freundliche Mächte angeschaut. Die empfundene<br />
Wirkung setzt der Grieche in göttliche Wirksamke<strong>it</strong><br />
um und schaut in der Natur Götter und Gestalten.<br />
Obschon in Griechenland in klimatischer und geographischer<br />
Beziehung wie auch in<br />
der religiösen Anschauung keine<br />
schroffe Gegensätzlichke<strong>it</strong> auftr<strong>it</strong>t, daher auch der Dualismus<br />
von guten und bösen Wesen weniger scharf ausgeprägt erscheint,<br />
so ist dieser doch nicht gänzlich verwischt, und Zeus<br />
schleudert Donner und Bl<strong>it</strong>z, kämpft m<strong>it</strong> Dämonen <strong>des</strong> Dunkels<br />
der Nacht. Aber der Kampf ist nach den Homerischen<br />
Gesängen ein längst vergangener, die Dämonen Japetos, Kronos<br />
sind überwunden und an die äussersten Grenzen der Erde<br />
oder in den Tartaros gebannt. 2 Auch die Giganten, die Riesen<br />
der dunkeln Region, wo die Sonne untergeht, sind bei Homer<br />
schon besiegt. 3 Die Göttin <strong>des</strong> blauen Himmels , die „helläugige<br />
Pallas", besteht ihre Kämpfe m<strong>it</strong> den finstern Dämonen,<br />
sie überwindet die Unholdin <strong>des</strong> Dunkels, Gorgo, lässt<br />
hierauf den Gew<strong>it</strong>terregen herabfallen und den Himmel wieder<br />
in klarer Bläue leuchten. So ist Pallas eine befruchtende<br />
Göttin und zugleich Göttin <strong>des</strong> Siegs. In Athen stre<strong>it</strong>et<br />
diese Göttin <strong>des</strong> himmlischen Wassers m<strong>it</strong> Poseidon, dem<br />
Gott <strong>des</strong> irdischen Wassers, und behauptet den Vorrang, da<br />
Attika mehr auf die Bewässerung durch Regen und Thau<br />
als<br />
auf Fluss- und Quellenbewässerung angewiesen war.<br />
1<br />
Vgl. 1 Mos. 10, 4.<br />
2<br />
Ilias 14, 274. 278; 8, 478; 15, 224; vgl. Hesiod., Theog., 625.<br />
3<br />
Odyss. 7, 58; 10, 113. 129.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 127<br />
Apollon, m<strong>it</strong> dem ältesten Beinamen Lykeios, gibt sich<br />
als Lichtgott zu erkennen, dass er als Kämpfer gegen die Dämonen<br />
der Finsterniss, der Nacht auftr<strong>it</strong>t. In der Perseussage<br />
hat Hesiod eine alte Auffassung solcher Kämpfe <strong>des</strong><br />
Lichtgottes aufbewahrt, wo aber Perseus, der Vernichter der<br />
Unholde, den Apollon vertr<strong>it</strong>t. Der Lichtgott haut nicht nur<br />
der Gorgo Medusa den Kopf ab, woraus das geflügelte Wolkenpferd<br />
Pegasus entspringt, er tödtet auch den finstern Drachen<br />
am Parnassus, die dunkeln Dämpfe, die aus der Schlucht <strong>des</strong><br />
Gebirges aufsteigen. Der Lichtgott ' überwältigt das stürmische<br />
Meer und verjagt die dunkeln Geister, wo die Lichtstrahlen<br />
auf dasselbe fallen. Die Lichtstrahlen sind die Pfeile,<br />
die der siegreiche Apollon von seinem Bogen gegen die Ungethüme<br />
der Finsterniss abschiesst.<br />
Da von dem Lichtgotte das Reifen der Saaten abhängt,<br />
so wird Appollon in den ackerbautreibenden Gegenden als<br />
Erntegott gefeiert.<br />
In der Anschauung der Griechen von der Entstehung<br />
der Dinge und dem Ursprünge der Götter findet sich der<br />
Dualismus von guten und bösen "Wesen erhalten; jedoch<br />
treten die dunkeln Mächte und übelthätigen Gotthe<strong>it</strong>en,<br />
welche<br />
bei den Ariern im fortdauernden Kampfe m<strong>it</strong>einander begriffen<br />
waren, in der Kosmogonie und Theogonie der Griechen nur<br />
in der Erinnerung auf und es bildete sich die Vorstelluno-,<br />
dass die übelthätigen Wesen vor den wohlthätigen die Herrschaft<br />
in der Welt gehabt hätten, sodass die bösen als Väter<br />
der guten Götter erschienen. Diese Auffassung liegt in der<br />
Kosmogonie der Homerischen Gedichte vor. Okeanos, der<br />
grosse Strom, der die Welt umgibt, erzeugt die Götter und<br />
ist der Urquell aller Dinge überhaupt. Seine weibliche Se<strong>it</strong>e<br />
ist Thetys. * Aus dem dunkeln Schos der Gäa (Erde) gehen<br />
die finstern Mächte Japetos, Kronos, Rheia und die übrigen<br />
T<strong>it</strong>anen hervor. Der finstere Kronos, als schädliche Macht<br />
betrachtet, daher ihn die Griechen im Moloch der Phönizier<br />
erkannten 2 ,<br />
und die Rheia erzeugen den lichten Zeus , den<br />
Poseidon, den Gott <strong>des</strong> Wassers, und Hera, die Göttin <strong>des</strong><br />
Sternenhimmels. Zeus, der lichte Gott, stösst seinen finstern<br />
1<br />
Ilias 14, 200 fg. ; 21, 193 fg.<br />
2<br />
Duncker, III, 300, Anm. 3.
128 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Vater Kronos, sammt den übrigen Wesen der Dunkelhe<strong>it</strong>,<br />
vom Himmel in das Reich der Finsterniss hinab und bannt<br />
sie we<strong>it</strong> unter den Ha<strong>des</strong> in den Tartaros. l Auch Okeanos<br />
muss sich vor dem Bl<strong>it</strong>zstrahl <strong>des</strong> Zeus fürchten 2 ,<br />
und die<br />
dunkeln Geister <strong>des</strong> Westens, wo die Sonne untergeht, die<br />
Giganten, werden vertilgt. Die riesigen Söhne der Erde, die<br />
den Pelion auf den Ossa gehoben, um den lichten Himmel<br />
zu erreichen und ihn zu verdunkeln, werden von den Pfeilen<br />
<strong>des</strong> Lichtgottes Apollon getroffen. 3<br />
Jn diesem Kampfe der lichten Götter m<strong>it</strong> den T<strong>it</strong>anen<br />
und Giganten wird man an die Kämpfe <strong>des</strong> indischen Vr<strong>it</strong>raghna<br />
und <strong>des</strong> iranischen Veretraghna m<strong>it</strong> den bösen Geistern<br />
der Finsterniss erinnert. Wie hier Naturmächte personificirt<br />
auftreten, so auch dort in den kämpfenden Gestalten der griechischen<br />
Anschauung, nur dass die Kämpfe als längstgekämpfte<br />
dargestellt sind und die Göttergestalten zu Trägern<br />
ethischer Mächte erhoben werden, von denen sich die Griechen<br />
zu jener Ze<strong>it</strong> bewegt fühlten. Die Naturbedeutung<br />
erscheint sonach m<strong>it</strong> der ethischen ineinandergesetzt. Eben<br />
darum, weil die unterste und älteste Grundlage der religiösen<br />
Vorstellungen der Griechen auf Naturanschauung gestellt<br />
ist und die Gestalt der Götter m<strong>it</strong> dem sinnlichen Eindruck<br />
in Beziehung steht, kann es nicht befremden, dass manche<br />
Gotthe<strong>it</strong>en den Dualismus an sich tragen, und von der einen<br />
Se<strong>it</strong>e als wohlthätige erscheinen, andererse<strong>it</strong>s als Urheber <strong>des</strong><br />
Uebels sich zeigen, oder durch ihre Abstammung dam<strong>it</strong> in<br />
Zusammenhang; gebracht sind. So erscheinen die T<strong>it</strong>anen als<br />
weltbildende Mächte und zugleich als Urheber <strong>des</strong> Hasses<br />
und der Zwietracht in der Welt, indem sie zuerst gegen<br />
ihren eigenen Vater und dann gegen Zeus sich empören. In<br />
den ältesten Dichtungen wird die Bedeutung <strong>des</strong> Wiederspruchs<br />
und <strong>des</strong> Kampfes gegen die bestehende Ordnung der<br />
Dinge besonders hervorgehoben. 4<br />
In dem vielfach<br />
verschlungenen Artemis-Mythus wird die<br />
Göttin bald m<strong>it</strong> der keuschen Selene verschmolzen, bald erscheint<br />
sie m<strong>it</strong> der furchtbaren Hekate identificirt.<br />
1<br />
2<br />
Ilias 8, 13. 479.<br />
Ilias 21, 199.<br />
3<br />
Odyss. 11, 315.<br />
'<br />
Ilias 8, 13 fg., 478 fg.; 14, 200 fg.; 15, 224.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 129<br />
Kronos, <strong>des</strong>sen Cult im Sinne der heisseh Jahresze<strong>it</strong> imd<br />
der Ernte in Griechenland we<strong>it</strong> verbre<strong>it</strong>et war, ist als Erntegott<br />
zugleich Herrscher <strong>des</strong> goldenen Ze<strong>it</strong>alters, wo nichts<br />
als Reife und Ernte war. l Als Gott der Reife ist er aber<br />
auch der Gott der reifenden Ze<strong>it</strong> selbst, der schleichenden<br />
und plötzlich abschneidenden, und von dieser Se<strong>it</strong>e ist er als<br />
böse Macht gefasst.<br />
zerstörende,<br />
Der Tartaros, in der altern Mythologie als atisserweltliches,<br />
tief unter der Erde und dem Meere befindliches T<strong>it</strong>anengefängniss<br />
, wohin die abgesetzten und überwundenen<br />
Götter einer vergangenen Weltordnung Verstössen sind, steht<br />
im Gegensatz zum Himmel und dem Olympos, wo die herrschenden<br />
Götter he<strong>it</strong>er leben. Die T<strong>it</strong>anen werden aber häufig<br />
m<strong>it</strong> sinnverwandten Unholden, den Repräsentanten ungeregelter<br />
Naturkräfte, in eins verschmolzen, z. B. m<strong>it</strong> Typhon, und<br />
so können die T<strong>it</strong>anen als böse Mächte erscheinen^<br />
Im Zusammenhang dam<strong>it</strong> steht die Ansicht <strong>des</strong> Alterthums<br />
über die Ursachen von vulkanischen Naturumwälzungen,<br />
wonach die gasartigen Dämpfe, die das Innere der Erde erfüllen,<br />
nach auswärts drängen und, wo sie keinen Ausgang<br />
finden, diesen m<strong>it</strong> Gewalt erzwingen. Der allgemeine mythologische<br />
Ausdruck für solche Dämpfe und ihre zerstörenden<br />
Wirkungen ist Typhon, daher er späterhin überall hausend<br />
gedacht wurde, wo der Boden vulkanische Wirkungen nachwies.<br />
Sein Name wird von xv!po, hauchen, blasen, abgele<strong>it</strong>et 2 ,<br />
besonders vom warmen Hauche, die jüngste Form ist<br />
T\)
130 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
als Sturmwind gedacht die Göttin <strong>des</strong> Wolkendunkels ebenso<br />
gut zur Mutter haben könne wie die Erde. Nach Diestel \<br />
der Welcker folgt 2 , hat vielmehr Hera die Bedeutung der<br />
Erde als olympische Reproduction der Gäa, und zum Tartaros<br />
stehe Typhon nur darum in Beziehung, weil er unter der<br />
Erde sein Wesen treibt. Seine Natur sei durch und durch<br />
vulkanisch, worauf sich die Schilderungen bei Hesiod 3 ,<br />
Pindar,<br />
Aeschylos und den Spätem beziehen. „Er liegt unter<br />
grossen Bergen v<br />
welche Feuer speien, überall in solchen Gegenden,<br />
die durch Erdbeben zu leiden haben. Das mannichfache<br />
Getöse, das bald wie Löwengebrüll, wie Hundegeheul,<br />
wie ein schrilles Pfeifen klingt und vulkanische Eruptionen<br />
begle<strong>it</strong>et, kennzeichnet ihn. Die Eruption selbst ist ein Kampf<br />
<strong>des</strong> Himmels (Zeus) m<strong>it</strong> diesen irdischen Mächten, von beiden<br />
Se<strong>it</strong>en wird m<strong>it</strong> Donner und Bl<strong>it</strong>z (daher die Schlangenhäupter)<br />
gekämpft; aus seinem ganzen Körper scheint das<br />
Feuer auszugehen. Die Berge schmelzen wie Zinn-Geschmolzenes,<br />
so schildert Hesiod die Lavaströme. Daher konnte<br />
Typhoeus auch den Namen rop9vp£ov erhalten. Erst viel später<br />
ist<br />
diese Naturbasis mehr zurückgetreten und die Vorstellung<br />
einer ungebändigten Oppos<strong>it</strong>ion gegen den Weltenlenker als<br />
geistiger Niederschlag." Von Typhon stammen die den Seefahrern<br />
verderblichen Winde ab, die ihre Schiffe zerschellen. 4<br />
Endlich vermengte sich<br />
die Vorstellung von Typhon m<strong>it</strong> der<br />
schädlichen Se<strong>it</strong>e der T<strong>it</strong>anen und wurde Repräsentant <strong>des</strong><br />
Wilden, Unbändigen, der rohen Naturkräfte. M<strong>it</strong> der schrecklichen<br />
Echidna, einem Ungeheuer, halb Jungfrau m<strong>it</strong> schwarzen<br />
Augen, grässlich und blutgierig, in einer Höhle hausend,<br />
zeugt er den mehrköpfigen Orthus, den Cerberus, die Lernäische<br />
Hydra, die Chimäre, die Sphinx, den nemeischen<br />
Löwen. 5<br />
Als Vater von allen mythischen Ungethümen, welche auf<br />
und unter der Erde das menschliche Geschlecht bedrohen,<br />
bis ihnen Herakles ein Ende macht, steht er im feindlichen<br />
1<br />
Abhandlung über Typhon, S. 191.<br />
Mythologie, I, 362 fg.<br />
2<br />
3<br />
Theog., 820-868.<br />
4<br />
Hesiod, Thcog., 869.<br />
6 Hesiod, Theog., 295 fg.; Apollodor, II, 5. 11; III, 5. 8.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 131<br />
Gegensatz zur obersten ordnenden, die Menschen segnenden<br />
Gotthe<strong>it</strong>, Zeus, der ihn am Ende m<strong>it</strong> seinem Bl<strong>it</strong>zstrahle<br />
aufs Haupt trifft und in den Tartaros wirft, von wo er nunmehr<br />
nur noch ze<strong>it</strong>weise verderbliche Wirkungen auf die<br />
Oberwelt sendet, während, wenn er als Sieger aus dem die<br />
Welt bis in den tiefsten Grund erschütternden Kampfe hervorgegangen<br />
wäre, er sich der Herrschaft über Götter und Menschen<br />
bemächtigt haben würde.<br />
Der Schluss dieses Kampfs, wie der T<strong>it</strong>anomachie und<br />
Gigantomachie, erklärt sich der natürlichen Bedeutung nach<br />
dahin: dass aus der ordnungslosen Wirksamke<strong>it</strong> der Naturmächte<br />
in ihrer Unbändigke<strong>it</strong> das schöngeordnete Leben hervorgeht;<br />
nach der ethischen Se<strong>it</strong>e: der vergebliche Aufwand<br />
der rohen Gewalt gegenüber dem göttlichen Regiment <strong>des</strong><br />
Olympiers.<br />
Der Dualismus, der in<br />
diesen Kämpfen zur Feindseligke<strong>it</strong><br />
gesteigert ist, tr<strong>it</strong>t auch an den einzelnen Gotthe<strong>it</strong>en auf,<br />
deren Grundlage auf Naturbedeutung zurückweist. Die Götter<br />
der Griechen haben eine doppelte Se<strong>it</strong>e, eine milde und<br />
eine furchtbare, obschon letztere in der Anschauung <strong>des</strong><br />
Volks mehr zurücktr<strong>it</strong>t und die ethische Bedeutung sich vorschiebt.<br />
Die dualistische Se<strong>it</strong>e lässt sich an den Hauptgotthe<strong>it</strong>en<br />
deutlich wahrnehmen.<br />
Zeus, der Gott schlechthin, ist der Gott <strong>des</strong> Himmels,<br />
auf den höchsten Bergen verehrt, wo er im Lichtglanze thront.<br />
Er sammelt Wolken, schleudert aber auch Bl<strong>it</strong>ze, er ist der<br />
segnende, aber auch der schreckliche Himmelsgott. Leicht<br />
erkenntlich ist die Naturbedeutung, wonach der W<strong>it</strong>terunffsprocess<br />
dargestellt ist. Da die Erscheinung und Macht <strong>des</strong><br />
Bl<strong>it</strong>zes das Gemüth eines Volks ergreifen muss, ist diese<br />
Se<strong>it</strong>e in den Mythen gewöhnlich mehr hervorgehoben. Die<br />
schreckliche Se<strong>it</strong>e kehrt Zeus besonders als Zeus [xat-jjLaxTr^,<br />
als zürnender Zeus heraus. Dieser Se<strong>it</strong>e entsprechen auch<br />
die Menschenopfer, die dem lykäischen Zeus in Arkadien fielen.<br />
1 Der entwickeltere humane Sinn war aber darauf bedacht,<br />
solche Barbareien zu bese<strong>it</strong>igen, und brachte daher<br />
Gebräuche auf, die nur mehr die Erinnerung daran aufbewahrten,<br />
abgesehen davon, dass solche Greuel ursprünglich<br />
Hermann, Gottesdienstliche Alterthümer, 827.
132 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
aus der Fremde eingeschlichen waren, die durch das erstarkte<br />
hellenische Gefühl ausgetilgt wurden.<br />
Hera, als älteste Schwester und Gemahlin <strong>des</strong> Zeus und<br />
Himmelskönigin, stellt die weibliche Se<strong>it</strong>e <strong>des</strong> Himmels dar,<br />
die Luft, das weibliche Fruchtbare der Elementarkraft. Sie<br />
ist lieblich, die Erde befruchtend, stiftet und behütet unter<br />
den Menschen die Ehe; allein sie ist auch in den ehelichen<br />
Zerwürfnissen m<strong>it</strong> Zeus als finstere, furchtbare, verderbliche<br />
Göttin dargestellt. Obschon ihre vornehmliche Bedeutung<br />
die himmlische Herrschaft neben Zeus und das weibliche eheliche<br />
Leben bleibt, so verhilft doch die Naturbedeutung beider<br />
Gotthe<strong>it</strong>en zur Erklärung der ehelichen Zänkereien zwischen<br />
ihnen, von welchen die Mythen viel zu erzählen haben. In<br />
dem Lande der Griechen, wo die Gebirge meistens enge Thäler<br />
bilden, bei der Nähe <strong>des</strong> Meeres und der feinen Atmosphäre,<br />
entstehen liegen, Sturm und andere Lufterscheinungen<br />
gewöhnlich plötzlich m<strong>it</strong> gewaltsamem Auftreten. Das Bild<br />
<strong>des</strong> ehelichen Verhältnisses ist vom griechischen Himmel hergenommen,<br />
und in dieser Beziehung erklären sich die bekannten<br />
ehelichen Scenen, wie sie die Ilias erzählt und in der<br />
Heraklessage der Stre<strong>it</strong><br />
der beiden Himmelsmächte allegorisch<br />
dargestellt wird. In diesem Sinne fährt Zeus p.ai{j.axi:7)C<br />
im Sturme und in Wetterwolken einher, geiselt die Luft und<br />
wirft m<strong>it</strong> Feuerstrahlen um sich; Hera verbindet sich m<strong>it</strong> den<br />
finstern Mächten der Tiefe, um weltverderbliche Wesen zu<br />
erzeugen *, sodass sie sogar den Typhon von den T<strong>it</strong>anen<br />
empfangen und gebären kann. 2 Hera erscheint demnach als<br />
verderbliche<br />
Sturmgöttin, und als Mutter <strong>des</strong> Ares nimmt sie<br />
eifrig theil am wilden Kriege, wo sie m<strong>it</strong> solcher Wuth gegen<br />
die Trojaner erfüllt ist, dass sie, nach der Aussage ihres Gemahls,<br />
dieselben am liebsten m<strong>it</strong> Haut und Haar auffrässe. 3<br />
Hephästos, der Gott <strong>des</strong> Feuers, dieses sowol als Elementarmacht<br />
in der Natur wirkend als auch formbildend,<br />
also das Princip der Kunst, ist der Sohn <strong>des</strong> Zeus und der<br />
Hera, obschon aus dem Stre<strong>it</strong>e zwischen beiden hervorgegangen.<br />
4 Die civilisatorische Bedeutung in Hephästos ist zwar<br />
1<br />
Ilias, 8, 478 fg. ; 14, 270 fg.<br />
2<br />
Apollodor, 127 fg.<br />
3<br />
Ilias 4, 35; 5, 711 fg.; 8, 350 fg.<br />
4<br />
Hesiod, Theog., 927.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 133<br />
die überwiegende, er erscheint aber doch auch als zerstörende<br />
Macht der Vulkane * und stre<strong>it</strong>et m<strong>it</strong> Dionysos um Naxos,<br />
und m<strong>it</strong> Demeter um Sicilien. Nach dieser Se<strong>it</strong>e hat Hephästos<br />
einen dämonischen Anstrich, daher verbindet sich auch<br />
m<strong>it</strong> seinen Kunstwerken eine gewisse Art List und Tücke 2 ,<br />
wie sich an die Metallurgie in den Sagen gewöhnlich etwas<br />
Dämonisches anknüpft, weswegen die Berg- und Schmiedegeister,<br />
die Korybanten, die idäischen Daktylen,<br />
die rhodischen<br />
Teichinen, obschon grosse Künstler, doch auch als schlimme<br />
Kobolde gedacht werden.<br />
In Athena verschmilzt Zeus und Hera gewissermassen<br />
in Eins, in ihr verehrt der Grieche den reinen, klaren Himmel,<br />
den Aether, als höchste Naturmacht und charakterisirt<br />
diese Naturbedeutung durch Athena's Jungfräulichke<strong>it</strong>. Sie<br />
ist lieblich, bodenbefruchtend, Menschengeschlechter erziehend,<br />
und in ihrer ätherischen Reinhe<strong>it</strong> wird sie die Göttin <strong>des</strong><br />
Sinnens, <strong>des</strong> künstlerischen Erfindens. In den auf ihren Ursprung<br />
bezüglichen Mythen, in welchen kosmogonische Ideen<br />
niedergelegt sind, erscheint sie aber als gewaltige Himmelsmacht,<br />
über Wolken, Bl<strong>it</strong>z, Sonne und Mond gebietend, in<br />
furchtbarer Majestät einherfahrend.<br />
Der unfreundlichen Se<strong>it</strong>e<br />
ihrer Naturbedeutung entsprechend, erscheint sie als Kriegsgöttin,<br />
und in diesem Sinne, der besonders in der altern<br />
Ze<strong>it</strong> mehr hervorgehoben worden, kommt bei den Palladien<br />
die Lanze öfter vor als der Spinnrocken.<br />
Auch Apollo n vereinigt einen gegensätzlichen Dualismus<br />
in sich, wie schon sein Doppelname
134 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Artemis, als allgemeiner Name für die verschieden<br />
gestaltete Mondgöttin, weist in ihrem Cultus einen Dualismus<br />
auf, hergenommen von dem theils nützlich, theils schädlich<br />
gedachten Einfluss <strong>des</strong> Mon<strong>des</strong> auf die gesammte Natur, also<br />
auch auf den Menschen. Sie ist die Göttin <strong>des</strong> schnellen<br />
To<strong>des</strong> und tödtet m<strong>it</strong> Apollon die Niobiden. Ueberall, besonders<br />
wo es das weibliche Geschlecht betrifft, ist sie die Ursache<br />
<strong>des</strong> schnellen To<strong>des</strong>. l Ihr werden Acte <strong>des</strong> Blutdurstes<br />
und der Rache zugeschrieben, daher der blutige Charakter<br />
ihres frühern Cultus, wo selbst Kinderopfer stattfanden, die<br />
nachher durch Geiselung vertreten wurden, und noch in<br />
späterer<br />
Ze<strong>it</strong> war ihr Dienst zu Paträ ein für Griechenland grausamer.<br />
2 Der blosse Anblick ihres Bil<strong>des</strong> erfüllte alles m<strong>it</strong><br />
Schrecken, machte Bäume verdorren, Früchte vernichten. 3<br />
Obschon gewöhnlich von ihr getrennt, erscheint doch<br />
auch in ihrem Zusammenhange Hekate als früh nach Griechenland<br />
eingewanderte Mondgöttin in grossem Ansehen und<br />
m<strong>it</strong> we<strong>it</strong>verbre<strong>it</strong>etem Dienste. Sie erscheint als wohlthäti£<br />
dem menschlichen Leben, der Geburtshülfe, der Kinderzucht,<br />
der Jagd, der Viehzucht, ist heimisch auf den Strassen, auf<br />
denen sie wandert, wurde vor den Häusern der Vornehmen 4 ,<br />
an Pfaden und Scheidewegen aufgestellt, ihr waren die Dreiwege<br />
geheiligt, daher Prothyräa, Enodia, Triod<strong>it</strong>is genannt.<br />
Ihr eignete man aber auch allen geisterhaften Spuk und die<br />
gespensterhaften Erscheinungen auf den mondbeleuchteten<br />
Strassen und Kreuzwegen, gemäss dem unheimlichen Eindrucke<br />
der huschenden Gestalten bei Mondlicht. Sie ist daher<br />
die Göttin der Gespenster und der magischen Beschwörungen<br />
geworden. Als solche ist sie die grauenvolle Mutter <strong>des</strong><br />
Scheusals Scylla, Tochter <strong>des</strong> Tartaros und der Nacht, Obwalterin<br />
<strong>des</strong> Schattenreichs. Sie schwärmt als Geisterkönigin<br />
schwarz verhüllt und begle<strong>it</strong>et von den Seelen der Verstorbenen<br />
um die Gräber. 5 In ihrer grässlichen Gestalt, Fackel<br />
1<br />
Ilias, 6, 205. 428; Odyss., 11, 172. 324; 15, 478; 18, 402.<br />
2<br />
Pausan., 7, 18. 7.<br />
3<br />
Pkt., Arat., 32.<br />
4<br />
Aeschyl., Sept. Theb., 455.<br />
5<br />
Apoll. Khod., III, 8G2; Orph. Hymn. in Ilecat. und Hymn. in Tych.,<br />
Vers 5.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 135<br />
und Schwert in<br />
Händen, von schwarzen grossen Hunden erefolgt,<br />
schreckt sie die Reisenden und bezweckt dasselbe durch<br />
das Gespenst Empusa. ' Sie ist die Helferin, die bei Bere<strong>it</strong>ung<br />
von Zauberm<strong>it</strong>teln angerufen wurde 2 , und überhaupt<br />
Vorsteherin der Zauberei.<br />
Ares ist Repräsentant <strong>des</strong> stürmischen Himmels, hat seine<br />
Heimat in Thrazien, dem Lande <strong>des</strong> Nordens und <strong>des</strong> Winters,<br />
wo die Stürme zu Hause sind. In dieser Beziehung<br />
steht er im Gegensatz zu Apollon, dem Gotte <strong>des</strong> Lichts und<br />
<strong>des</strong> Frühlings , wie auch Athena, als Göttin der hellen, reinen<br />
Luft, sein 3 Gegnerin ist. 3 Die ursprüngliche Naturbedeutung<br />
<strong>des</strong> Ares, als Hervorbringers schädlich wirkender Naturereignisse,<br />
auch der Seuchen, wird aber überwogen durch die <strong>des</strong><br />
blutigen Kriegs, und so repräsentirt Ares den Kriegssturm,<br />
den wilden Krieg <strong>des</strong> To<strong>des</strong> und der Wunden 4 , die im Kampfe<br />
sich entzündende Mordlust, das Blutvergiessen, weshalb auch<br />
der Areopag zu Athen als Blutgericht dem Ares geheiligt<br />
war. Obschon Sohn <strong>des</strong> Zeus und der Hera, ist er doch,<br />
nach der Aussage <strong>des</strong> Homerischen Zeus, dem eigenen Vater<br />
unter allen Olympiern der Verhassteste, und auch bei Sophokles<br />
heisst er der Misachtete unter den Göttern. 5 Als Gott<br />
<strong>des</strong> tödtenden, wilden Krieges ist<br />
er unterschieden von Athena,<br />
der Repräsentantin <strong>des</strong> besonnenen Muthes. 6<br />
Wie Zeus und Hera sammt ihrem Gefolge oben in den<br />
himmlischen lichten Höhen herrschen, so ist Ha<strong>des</strong> (Pluton)<br />
und Persephone das Herrscherpaar über die Mächte der<br />
dunkeln Unterwelt. Pluton's Wohnung ist <strong>des</strong>halb 56[xo£<br />
"Ai"5o£, er selbst 'A'töoveüs. Nach der Anschauung <strong>des</strong> Epos<br />
ist dieses Herrscherpaar allem frischen Leben feindlich gesinnt,<br />
dem es unaufhörlich Tod und Verderben zusendet, daher<br />
Göttern und Menschen verhasst. Dem düstern Charakter<br />
dieser Gotthe<strong>it</strong>en entspricht auch ihr Aufenthalt, der finster, in<br />
seinen we<strong>it</strong>en, unheimlichen Räumen voll dämonischer Schrecken<br />
1<br />
Schol. Apoll., 111,862; Lobeck Aglaoph., 223. 121.<br />
2 Theoer., II, 15.<br />
3 Ilias, 5, 853 fg.; 21, 400 fg.<br />
* Ilias, 17, 529; 13, 569.<br />
5<br />
Oed. Tyr., 214.<br />
6 Ilias, 5, 3f fg.; 15, 123.
136 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
ist. 1 Der finstere, traurige, schweigsame Fürst der Unterwelt<br />
ist, von dieser Se<strong>it</strong>e betrachtet, der gerade Gegensatz zu<br />
dem he<strong>it</strong>ern, lichten, gesangreichen Apollon:<br />
„Des Gesanges Freud' und die Spiele liebt vor allem Apollon;<br />
Sorgen und Seufzergetön ist <strong>des</strong> A'i<strong>des</strong> Theil." 2<br />
Pluton, als welcher er erst bei den Tragikern erscheint, ist als<br />
Aidoneus der gewaltsame To<strong>des</strong>gott, bei dem kein Opfer, kein<br />
Gebet gilt. Er ist der König der Schattenwe<strong>it</strong>, der finstere,<br />
unerb<strong>it</strong>tlich strenge Herrscher. Die ihm zur Se<strong>it</strong>e hausende<br />
ernste und furchtbare Persephone, nach ihrer ursprünglichen<br />
Bedeutung „die Würgerin", ist die alles Lebendige verschlingende<br />
To<strong>des</strong>göttin, die Führerin der schrecklichen Erinyen 3 ,<br />
steht ebenso feindlich dem Leben gegenüber. Die Erinyen,<br />
die das unterirdische Herrscherpaar umgeben, sind unerb<strong>it</strong>tliche<br />
Straf- und Rachegeister, eigentlich „zürnende Hadergöttinnen",<br />
die Fluch und schrecklichen Tod bringen. Sie<br />
haben aber auch eine freundliche Se<strong>it</strong>e, wonach sie als Gotthe<strong>it</strong>en<br />
<strong>des</strong> ländlichen Segens erscheinen, wie auch im gewöhnlichen<br />
Cultus die mildere Naturbedeutung von Pluton und<br />
Persephone mehr im Auge behalten wurde, die in dem Mythus<br />
vom Raube der Persephone und ihrem Beilager m<strong>it</strong><br />
Pluton sich herauskehrt.<br />
Es war die lebensvolle, plastische Phantasie <strong>des</strong> Hellenen,<br />
durch die jeder Eindruck, jede Empfindung eine lebensvolle<br />
Gestalt erhielt, die selbst die verführerische Glätte <strong>des</strong> Meeres,<br />
unter welcher Klippen und Sandbänke Schiffbruch und<br />
Tod verursachen, durch die Sirenen vorstellte, die als dämonische<br />
Wesen der See erscheinen 4 , m<strong>it</strong> ihrem Gesänge bezaubern<br />
und den Schiffer auf ihre Insel locken, deren Ufer<br />
voll sind von Leichen und Todtenknochen. Der lebensfrische<br />
Sinn <strong>des</strong> Hellenen schob auch von der doppelten Se<strong>it</strong>e der<br />
Gotthe<strong>it</strong>en die düstere, furchtbare mehr in den Hintergrund,<br />
wobei die ethische Bedeutung das Uebergewicht gewann und<br />
die Göttergestalten eine licht- und lebensvolle Färbung erhielten.<br />
In Uebereinstimmung dam<strong>it</strong> steht auch die ethische<br />
1<br />
Odyss., 11, 634.<br />
2<br />
Stesichorus bei Plutarch de EJ ap. Delph., 20.<br />
3 Ilias, 9, 569 fg.<br />
f Odyss., 12, 39 fg.; Apollon. Rh., 4, 893.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 137<br />
Aufgabe, in deren Lösung der Grieche seine Bestimmung<br />
setzt. Er ist we<strong>it</strong> entfernt, Geist und Natur, Leib und Seele<br />
in ihrer Getrennthe<strong>it</strong> einander gegenüberzustellen, daher es<br />
ihm weder um abstracte Ascese, noch um sinnlichen Orgiasmus<br />
zu thun sein kann. Vielmehr strebt er nach dem Gleichgewichte<br />
beider Momente, nach Mässigung und Veredlung<br />
seiner natürlichen Se<strong>it</strong>e, Herrschaft über die wilde Leidenschaft.<br />
Er sieht seine Bestimmung in der Harmonie <strong>des</strong><br />
Geistigen und Leiblichen und sucht daher die edle Gesinnung<br />
auch leiblich zum schönen Ausdruck zu bringen. Er<br />
stellt sich die Aufgabe, nicht nur die Heftigke<strong>it</strong> seines Gemüthes<br />
zu bezwingen, sondern auch die Herrschaft über die<br />
Glieder seines Leibes im vollen Masse zu erlangen. Indem<br />
er den Leib als die sichtbar gewordene Seele betrachtet, wird<br />
sich der veredelte Geist auch in edeln Formen auszuprägen<br />
suchen , und in dieser Harmonie der geistigen und leiblichen<br />
Se<strong>it</strong>e erscheinen auch die hellenischen Göttergestalten in plastischer<br />
Schönhe<strong>it</strong>. Denn in seiner Götterwelt hat der Grieche<br />
die ethisch verklärte Menschenwelt angeschaut.<br />
Die Dämonen, die den eigentlichen Göttern zunächst<br />
standen, kennt Homer nicht als M<strong>it</strong>telwesen, ihm ist Dämon<br />
noch das göttlich Waltende. Hesiod aber spricht vom Dasein<br />
unsterblicher Dämonengeschlechter, die zwischen Göttern<br />
und Menschen die M<strong>it</strong>te einnehmen, den Menschen als Schutzgeister<br />
und zur Vertheilung guter Gaben beigesellt sind. *.<br />
Der Glaube an Personaldämonen ist bei den Griechen<br />
sehr alt, schon Phokyli<strong>des</strong>, Pindar, Menander sprechen von<br />
Schutzdämonen, dass jedem Menschen ein Schutzdämon als<br />
wohlthätiger Mystagog <strong>des</strong> Lebens zur Se<strong>it</strong>e stehe. 2 Diese<br />
Vorstellung wurde mehr in den philosophischen Schulen ausgebildet,<br />
im Volksglauben hingegen trat mehr die Scheu vor<br />
bösen Dämonen hervor. Gewöhnlich gilt Empedokles als der<br />
erste, welcher den Dualismus von guten und bösen Dämonen<br />
gelehrt haben soll 3 ; allein schon Hippokrates spricht von<br />
abergläubischen Leuten, die sich Tag und Nacht von übelwollenden<br />
Dämonen umgeben glauben. Dass bei den Schrift-<br />
1<br />
Hesiod, Op. et dies, V, 109—150. 250 fg.<br />
2<br />
Plut., Qu. gr., 6.<br />
3<br />
Clem. Alex., Strom., 5, 726.
23g Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
stellern bis auf Plutarch (1. Jahrhundert n. Chr.) meist nur<br />
gute Dämonen erwähnt werden, suchte man daraus zu erklären:<br />
dass die Scheu, um keine üble Vorbedeutung zu geben,<br />
die Erwähnung der bösen Dämonen vermieden habe. 1 Die<br />
Ansicht von guten und bösen Dämonen wurde allgemeiner,<br />
und m<strong>it</strong> ihr trat die Vorstellung von der Schicksalsmacht<br />
(Ananke, A'isa, Moira), die sich nicht zu einer abgeschlossenen<br />
Persönlichke<strong>it</strong> ausgebildet hatte, in Verbindung, und es<br />
cribt ein Schwanken zwischen unabänderlicher gesetzmässiger<br />
Ordnung, wie sie die Natur aufweist, und einer nach persönlicher<br />
Neigung oder Willkür verfahrenden Macht. Bei den<br />
Tragikern Aeschylos und Sophokles gewinnt das Fatum eine<br />
s<strong>it</strong>tliche Bedeutung, es ist die vorausbestimmte Weltordnung,<br />
der o-eo-enüber die übermüthige Auflehnung zu Grunde richtet.<br />
Nach Theognis ist der Mensch ohne Dämon weder gut noch<br />
böse, die Gotthe<strong>it</strong> ist es, welche ihm die Hybris als erstes<br />
Unheil m<strong>it</strong>gegeben hat. 2 In dem Werke „Die Gesetze", das<br />
Piaton als letztes schriftstellerisches Product, obschon nicht m<strong>it</strong><br />
völliger Gewisshe<strong>it</strong>, zuerkannt wird, ist eine Art Dualismus<br />
von einer wohlthätigen Weltseele und einer, die das Entgegengesetzte<br />
bewirkt, angedeutet 3 . Von Platon's Nachfolgern<br />
wurde m<strong>it</strong> der pythagoräisirenden Zahlenspeculation eine halb<br />
mythische, halb populäre Theologie verbunden, wobei der<br />
Dämonenlehre eine bedeutende Rolle zukam , die besonders<br />
Xenokrates ausbildete. Ihm sind die Dämonen M<strong>it</strong>telwesen<br />
zwischen den olympischen Göttern und Menschen,<br />
wohnen in der Region unter dem Monde 4 ,<br />
verm<strong>it</strong>teln den<br />
Verkehr zwischen Göttern und Menschen, sind theils wohl-,<br />
theils übelthätig. Die guten Dämonen sind die Urheber alles<br />
Guten und Nützlichen, die bösen alles Widerwärtigen und<br />
Unheilvollen für den Menschen. ft Letztere erfreuen sich an<br />
den Festen, wo Schläge, Geiselungen, schmuzige Reden vorkommen,<br />
besonders an Unglückstagen. Er scheint auch die<br />
Menschenseele für dämonisch betrachtet zu haben. „Eudämonie"<br />
sagt er, „kommt dem zu, der eine gute Seele hat,<br />
1<br />
Petersen, Hausgottesdienst der alten Griechen, S. 55.<br />
2<br />
V. 65. 151. 540.<br />
3 Legg., 10.<br />
* Stob., 1, 1; Plut. de ls. et Os., c. 25 fg.<br />
5 Plut. de ls., 1, 1, adv. Stoic, c. 22.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 139<br />
Kakodämon ist derjenige, welcher eine bösartige als Dämon<br />
in sich hat." l<br />
Schon Piaton hatte mythisch-mystische Elemente in die<br />
Philosophie aufgenommen, um durch deren Symbolisirung eine<br />
Philosophie der Mythologie darzustellen. Den Neuplatonikern<br />
dienten Mythus und Mysterium als Ergänzung ihrer Philosophie,<br />
um die hellenische Weltanschauung aus den sinnlichen<br />
Vorstellungen zum Begriffe zu erheben, wobei aber das Mystische<br />
das Uebergewicht gewann. Nach dem Vorgange <strong>des</strong><br />
platonischen Dualismus von Gott und Hyle, betrachteten alle<br />
Neuplatoniker das leibliche, sinnliche Wesen als das Nichtige,<br />
Böse; die Materie, das absolut Willenlose, war der Grund<br />
aller s<strong>it</strong>tlichen Verkehrthe<strong>it</strong>, obschon keine pos<strong>it</strong>ive Macht,<br />
wie kein Neuplatoniker ein eigentliches böses Urprincip aufstellt.<br />
Bei allen findet sich neben der Vielgötterei die Dämonlehre.<br />
Philo, der für den ältesten und bedeutendsten<br />
Vorläufer der Neuplatoniker gilt, ist an einer andern Stelle<br />
berücksichtigt. Plotinus (geb. 205 n. Chr., gest. 270) spricht<br />
zwar viel von Göttern und Dämonen, fasst sie aber viel geistiger<br />
auf als die spätem Platoniker, die ihn misverstanden haben.<br />
Die Seelen von Dämonen hält er für höher und stärker<br />
als die Menschenseelen, sie sind m<strong>it</strong> grosser Macht begabt<br />
und verwalten gleichsam im Auftrage der Allseele die einzelnen<br />
Theile <strong>des</strong> All. 2 Wenn sie zuweilen unsere Gebete hören,<br />
so ist diese Erhörung nicht Folge unsers Einflusses,<br />
sondern der grossen Weltsympathie, denn nichts geschieht<br />
gegen die Natur. 3 Die Menschenseele, ein Bild <strong>des</strong> Weltganzen,<br />
ist nicht ganz in den Körper eingegangen, sie hängt<br />
noch an der Allseele. 4 Auch die Dämonen, die gleichen Wesens<br />
m<strong>it</strong> den Menschen sind, hangen m<strong>it</strong> ihrem Wesen an<br />
Gott. 5 Porphyrius, der seinen phönizischen Namen Malchus<br />
m<strong>it</strong> dem griechischen vertauscht hatte (233—304), vermochte<br />
nicht überall die speculativen Gedanken seines Lehrers Plotinus<br />
festzuhalten und verlor sich in das Gebiet der Magie<br />
und der orientalischen Theologie. Er spricht von Engeln und<br />
1<br />
Aristot., Top., 2, 6; Clem. Alex., Strom., II; Stob., Serm., 101, 24.<br />
2 V, 3, 6.<br />
3<br />
IV, 4, 42; 7, 26.<br />
4<br />
IV, 8, 8; 9, 4.<br />
8 Vgl. Steinhart, Art. Plotinus in Pauly, Realencyklopädie.
140 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Erzengeln, weist erstem den Wohns<strong>it</strong>z im Empyreum an, er<br />
weiss von Dämonen, die in der Lnft wohnen 1 ,<br />
theilt sie in<br />
irdische und feurige, und redet von bösen und strafenden<br />
Dämonen. Er anerkannte Zauberei und Beschwörung von<br />
Dämonen, sowie schädliche magische Einwirkungen der Menschen<br />
durch theurgische Künste. 2 Jamblichus (gest. um 330<br />
— 333) betonte ganz entschieden das orientalische und theurgisch-mystische<br />
Element in seiner Lehre, die er für Platonisraus<br />
ausgab und durch Aneignung chaldäischer und ägyptischer<br />
Mythen und Philosopheme im Orient herrschend zu machen<br />
und zugleich dem Christenthum entgegenzuarbe<strong>it</strong>en suchte. In<br />
einer Schrift, deren Abfassung ihm zuerkannt, aber in neuerer<br />
Ze<strong>it</strong> angezweifelt wurde: „Ueber die ägyptischen Geheimnisse",<br />
stellt er die ägyptische Geheimlehre als den Gipfelpunkt<br />
aller Weishe<strong>it</strong> dar. Hier kennt er eine lange Reihe<br />
von Dämonen, Engeln, Erzengeln, er setzt die Merkmale auseinander,<br />
an welchen die Erscheinungen der Götter, Engel<br />
und Dämonen unterschieden werden 3 , er kennt die besondern<br />
Wirkungen der guten und bösen Dämonen, deren bestimmte<br />
Eigenschaften. 4 Die meisten der Verehrer und Schüler <strong>des</strong><br />
Jamblichus scheinen weniger seine wissenschaftliche Bedeutung<br />
den damals herrschenden Glauben an magische Wirkungen<br />
als<br />
und die Dämonologie, der er eine philosophische Grundlage<br />
geben wollte, ergriffen und verbre<strong>it</strong>et zu haben. Die<br />
Lehre von den Dämonen erhielt sonach eine grosse Ausbildung:,<br />
man suchte das Geisterreich wie das Naturreich einzutheilen,<br />
mehrere Klassen nach dem Element, worin sie lebten,<br />
nach ihrer Natur und ihrem Wirkungskreise festzustellen.<br />
Das Mystische gewann um so mehr Werth, als es geeignet<br />
war, den Berührungspunkt abzugeben für orientalische Vorstellungen<br />
und griechische Ideen. Obschon die Haupttendenz<br />
der spätem Platoniker auf das Uebersinnliche , Begriffliche<br />
gerichtet war, war sie doch von dem Hang begle<strong>it</strong>et, Vorstellungen<br />
zu hypostasiren und die Natur zu personificiren.<br />
Die Neigung sowol als die Empfänglichke<strong>it</strong> dafür lag in der<br />
1<br />
Augustin, De civ<strong>it</strong>. D., X, 9.<br />
2<br />
Augustin, I, 1.<br />
5<br />
De myster. Aegyp., II, c. 3, 4.<br />
* C. 6, 9.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 141<br />
Ze<strong>it</strong>, in welcher sich die morgenländische Denkart m<strong>it</strong> der<br />
abendländischen zu vereinigen<br />
suchte.<br />
Römer.<br />
Die Grundlage <strong>des</strong> römischen Götterglaubens war, wie<br />
die <strong>des</strong> griechischen, ursprünglich Naturreligion; es muss sich<br />
aber jener Stamm durch eine eigentümliche Gemüthsrichtung<br />
besondert haben, sowie auch die Factoren bei seiner Entwickelung<br />
andere gewesen sein müssen, weil sich der wesentliche<br />
Inhalt der römischen religiösen Vorstellungen von dem<br />
der griechischen als verschieden kennzeichnet. Während die<br />
frische Sinnlichke<strong>it</strong> und plastische Phantasie der Griechen<br />
eine Götterwelt voll schöner Individual<strong>it</strong>äten anschaut, besteht<br />
das Wesen <strong>des</strong> religiösen Bewusstseins der Römer in<br />
Abstraction und Personificirung der Abstracta. Ein Beispiel<br />
<strong>des</strong> Abstractions - und Personificationstriebs der Kömer liefert<br />
Mommsen *, wo der infolge der Einführung <strong>des</strong> Silbercourants<br />
im Jahre 485 neuentstandene Gott „Silberich" (Argentinus)<br />
als Sohn <strong>des</strong> altern Gottes „Kupferich" (Aesculanus) gedacht<br />
wird. Ein anderes Beispiel haben wir an den Dieben, d. h.<br />
den im Dunkel Schleichenden (Fures, auch Caverniones genannt),<br />
die in Rom eine eigene Schutzgotthe<strong>it</strong> abstrahirten,<br />
die Laverna, nach welcher ein Thor den Namen Porta Lavernalis<br />
führte, wobei Laverna augenscheinlich m<strong>it</strong> Laren und<br />
Larven zusammenhängt und ihr die Bedeutung: Göttin <strong>des</strong><br />
Schweigens und der Verborgenhe<strong>it</strong> zutheil wird. Alle wichtigen<br />
Begriffe aus dem physischen, ethischen und socialen<br />
Leben wurden von den römischen Theologen zu Göttern ausgeprägt<br />
und in die Klassen der Götter eingereiht, um ihre<br />
richtige Anrufung der Menge zu weisen (indig<strong>it</strong>are). Vorstellungen,<br />
als: Blüte (Flora) , Krieg (Bellona), Grenze (Terminus),<br />
Jugend (Juventus), Wohlfahrt (Salus), Rechtschaffenhe<strong>it</strong><br />
(Fi<strong>des</strong>), Eintracht (Concordia) u. dgl. m., rechnete man<br />
zu den heiligsten Gotthe<strong>it</strong>en, die Intelligenz ward als Mens<br />
verehrt, eine ganze Reihe von Affecten, Eigenschaften, Zuständen<br />
wurden vergöttert, wie Spes die Hoffnung, Pudic<strong>it</strong>ia<br />
die Schamhaftigke<strong>it</strong>, Pietas die kindliche Ehrfurcht, Virtus<br />
1<br />
Rom. <strong>Geschichte</strong>, I, 408.
142 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
die Tapferke<strong>it</strong>, Liberias die Freihe<strong>it</strong>, Honor die Ehre, Pax<br />
der Friede, u. s. f. Die mythologische Abstractionsfertigke<strong>it</strong><br />
der Römer machte Robigo oder Robigus zu einer Gotthe<strong>it</strong>,<br />
die, als Urheberin <strong>des</strong> Sonnenbran<strong>des</strong>, der die Fruchtfelder<br />
verheerte, bei landwirtschaftlicher Calam<strong>it</strong>ät um Hülfe angerufen<br />
wurde. * Das Fieber, Febris, in dem feuchten Tiberthale<br />
von jeher hausend, hatte als<br />
personificirte Gotthe<strong>it</strong> dieser<br />
Krankhe<strong>it</strong> drei Heiligthümer , wovon das bedeutendste auf<br />
dem Palatinus stand. 2<br />
Der Römer betrachtet Natur und Leben nur von der<br />
Se<strong>it</strong>e <strong>des</strong> Nützlichen, Zweckmässigen, alles wird zum Besten<br />
<strong>des</strong> Gemeinwesens ausgebeutet und in Beziehung darauf als<br />
Anlass zu Opfern, Weissagungen und Anrufungen genommen.<br />
Die Griechen waren künstlerisch angelegt, sie gestalteten ihr<br />
Leben auch so, ihr Gebiet war die Kunst; bei den Römern<br />
war alles auf Nützlichke<strong>it</strong> und Zweckmässigke<strong>it</strong> gestellt, ihre<br />
Religion hatte nur das Praktische im Auge, ihr Lebensgebiet<br />
war das Reich und das Recht. Schon die Etrusker waren<br />
auf die Entwickelung der Römer von Einfluss, was m<strong>it</strong> der<br />
Verpflanzung <strong>des</strong> etruskischen Gottesdienstes nach Rom durch<br />
die Tarquinier angedeutet ist; von we<strong>it</strong> grösserm Einfluss war<br />
aber die griechische Bildung, deren fruchtbares Reis auch von<br />
den Tarquiniern durch Einführung der Sibyllinischen Sprüche<br />
aus dem griechischen Kumä in den römischen Boden eingesenkt<br />
wurde. Die Römer waren die Erben der griechischen<br />
Cultur, und nachdem, se<strong>it</strong> dem zwe<strong>it</strong>en Punischen Kriege, neben<br />
den griechischen Göttern auch syrische, ägyptische, kleinasiatische<br />
Elemente nach Rom gekommen, ward die römische<br />
Religion zu einem Pandämonismus.<br />
Die Seele <strong>des</strong> Römerthums war Weltherrschaft, die<br />
Idee der ewigen Roma, die Religion war Religion <strong>des</strong><br />
Staats, m<strong>it</strong> <strong>des</strong>sen Ausbre<strong>it</strong>ung alles, bis auf den Kalender<br />
herab, das Gepräge der Staatsreligion erhielt. Die ursprüngliche<br />
Grundlage als Naturreligion bleibt zwar stets kenntlich,<br />
obschon sie der nüchterne Sinn der Römer, der die Töchter<br />
<strong>des</strong> Hauses numerirte, durch die praktischen Beziehungen<br />
<strong>des</strong> bürgerlichen Lebens mehr verdeckte.<br />
» Gell. N. A., V, 12; Plin. bist, nat., XVIII, 29. 69.<br />
2<br />
7. 5.<br />
Cic. de nat. deor., III, 25. 63; Val. Max., II, 5. 6; Plin. h. n., II,
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 143<br />
Wie in allen Naturreligionen ein Dualismus auftr<strong>it</strong>t, sei<br />
es im feindlichen Gegeneinander, im ergänzenden Nebeneinander,<br />
oder im Ineinander beider Momente in ein und demselben<br />
göttlichen Individuum; so findet sich auch bei den alten<br />
<strong>it</strong>alischen Gotthe<strong>it</strong>en eine geschlechtliche Zweihe<strong>it</strong>, die in<br />
den altern römischen Gebeten paarweise und ehelich verbunden<br />
erscheint, wie: Lua Saturni, Satalia Neptuni, Hora<br />
Quirini, Mäia Volcani, Nerio Martis. 1 Da diese Ehen meist<br />
kinderlos dargestellt werden, so sind die <strong>it</strong>alischen Götter<br />
der patriarchalischen Vorstellung gemäss gewöhnlich als Vater<br />
und Mutter gedacht. Daher Pater in der Zusammensetzung<br />
wie in Jup<strong>it</strong>er, Marsp<strong>it</strong>er, Diesp<strong>it</strong>er, oder meist als<br />
Zusatz, wie: Saturnus pater, Neptunus pater, Diva mater vorkommt.<br />
Die <strong>it</strong>alische Mythologie hat zwar vorzugsweise wohlthuende,<br />
ihrer Erscheinung nach lichte und freundliche Wesen;<br />
sie kennt aber doch, nach dem verschiedenen Eindruck<br />
der Natur auf das Gemüth, auch finstere und unholde Götter<br />
von schrecklicher Gestalt, Götter der Tiefe, <strong>des</strong> To<strong>des</strong>, Dii<br />
aquili, fusci, atri, deren Cultus grausam und trübselig war. 2<br />
Auch die Genien unterscheiden sich in lichte, freundliche,<br />
gute, und dunkle, feindliche, böse. Der Glaube an zwei Genien<br />
für jeden Menschen, der zuerst von dem Megariker<br />
Eukli<strong>des</strong> ausgesprochen wird, fand bei einigen römischen<br />
Schriftstellern Aufnahme. 3<br />
Die Naturbeziehung auf den Himmel und seine Erscheinungen<br />
ist den himmlischen Göttern eigen. Jup<strong>it</strong>er weist<br />
durch die erste Sylbe Ju oder Jov, die in der altern Sprache<br />
als Diovis, Jovis hervortr<strong>it</strong>t und in dem indischen djaus, d. h.<br />
Himmel, im Griechischen Zsu£, wo £ aus dj entstanden, sich<br />
erkennen lässt, auf ein Erbtheil <strong>des</strong> indogermanischen Sprachstammes<br />
und mythologischen Systems hin. Er bedeutet den<br />
lichten Himmel, die Tageshelle. In Jup<strong>it</strong>er erkannten die<br />
alten Völker Italiens einen guten Vater <strong>des</strong> Himmels, <strong>des</strong><br />
Lichts, den höchsten Gott aller himmlischen und irdischen<br />
Natur. Er ist der Gott der lichten Erscheinungen am Himi<br />
Gellius, N. A., XIII, 23.<br />
2<br />
Augustin, De civ. D., II, 11.<br />
3 Serv., V. A., VI, 743.
144 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
mel, auch <strong>des</strong> Wetterstrahls und <strong>des</strong> Gew<strong>it</strong>ters, Jup<strong>it</strong>er fulgurator,<br />
fulminator. Bekannt ist die Bl<strong>it</strong>ztheorie, die aus den<br />
Beobachtungen der etrurischen Priester herausgebildet, durch<br />
die Haruspices in Rom ausgeübt wurde, da die Bl<strong>it</strong>ze als<br />
Offenbarungen <strong>des</strong> göttlichen Willens galten. Jup<strong>it</strong>er war<br />
auch Regengott, Jup<strong>it</strong>er pluvius, als solcher vornehmlich auf<br />
dem Lande verehrt. Von Jup<strong>it</strong>er hing die Entscheidung der<br />
Schlacht ab, J. Stator und Feretrius, und war Gott <strong>des</strong> Sieges.<br />
Nach seiner ethischen Bedeutung personificirt sich in ihm die<br />
Idee <strong>des</strong> Rechts und der Treue, J. Fidius, sowie die<br />
höchste Reinhe<strong>it</strong> und Heiligke<strong>it</strong>. Im Verlaufe der Ze<strong>it</strong>,<br />
wo das pol<strong>it</strong>ische Moment das Uebergewicht erlangt, wird<br />
Jup<strong>it</strong>er optimus maximus auf dem Cap<strong>it</strong>ole als Rex, als ideales<br />
Oberhaupt <strong>des</strong> Staats verehrt.<br />
Vejovis (Vediovis, Vedius), in dem schon durch das<br />
aufhebende Präfixum etwas Schädliches angedeutet wird, ist<br />
ursprünglich ein Gott von schlimmer, schädlicher Wirksamke<strong>it</strong><br />
und insofern das Gegentheil von Jovis, als ve contradictorisch<br />
negirt. Das Verderbliche seiner Bl<strong>it</strong>ze empfanden<br />
diejenigen, die sie treffen sollten, vorher an der Taubhe<strong>it</strong>. 1<br />
In seinem Tempel, zwischen der Tarpejischen Burg und dem<br />
Cap<strong>it</strong>ol, stand sein jugendliches Bild m<strong>it</strong> Pfeilen bewaffnet,<br />
wobei römische Alterthümler an den verderbenden Apollon<br />
erinnerten. Dass dieser alt<strong>it</strong>alische Gott ursprünglich böser<br />
Bedeutung gewesen, bestätigt sich dadurch, dass er auch den<br />
unterirdischen Gotthe<strong>it</strong>en beigezählt, ja in den spätem Ze<strong>it</strong>en<br />
m<strong>it</strong> dem To<strong>des</strong>gotte sogar identificirt erscheint 2 , weil er eben<br />
für übelthätig gehalten wurde. Auf der Tiberinsel kommt<br />
im Cultus <strong>des</strong> Vejovis der Name abwechselnd vor, daher die<br />
Vermuthung naheliegt, es seien in diesem Cultus beide Götter<br />
nebeneinander verehrt worden. 3 Auf die ursprünglich schädliche<br />
Bedeutung kann auch die Ziege bezogen werden, sein<br />
gewöhnliches Opfer, more humano, als stellvertreten<strong>des</strong> Sühnopfer<br />
dargebracht 4 , das ursprünglich in einem Menschenopfer<br />
bestanden haben mochte. Für die verderbliche Bedeu-<br />
1<br />
Ammian. Marc, XVII, 10.<br />
J<br />
Martian. C, I, 58; II, 142. 1GG.<br />
3 Preller, Rom. Mythologie, 237.<br />
4<br />
Gell., V, 12.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 145<br />
tung dieser Gotthe<strong>it</strong> spricht ferner, dass man tödtende Bl<strong>it</strong>ze<br />
insbesondere dem Vejovis zuschrieb *, sowie die herrschende<br />
Meinung, dass ihm, gleich den Göttern der Unterwelt, die<br />
Abendse<strong>it</strong>e eigne. 2 Eine Spur seiner negativen Wirksamke<strong>it</strong><br />
liegt auch darin, dass Vejovis als Gott der Sühne zugleich<br />
ein Gott der Zuflucht<br />
ausgestossener Verbrecher war, obschon<br />
er in dieser Hinsicht auch die pos<strong>it</strong>ive Se<strong>it</strong>e an sich trägt,<br />
demnach beide Bedeutungen verschmelzen, ja die letztere sogar<br />
überhandnimmt. An dem jugendlichen Jup<strong>it</strong>er, der<br />
zugleich Sonnengott war und als solcher besonders im<br />
Frühling, wo Epidemien herrschten, verehrt wurde, ist<br />
aber doch die schädliche Se<strong>it</strong>e der Berührungspunkt, und<br />
som<strong>it</strong> bleibt Vejovis seiner ersten Geltung nach eine schädlich<br />
wirkende Gotthe<strong>it</strong>, und erst, als bei we<strong>it</strong>erer Entwickelung<br />
diese Bedeutung mehr zurückgetreten war, konnte Vejovis<br />
als Gott der Sühne und der Heilung angeschaut werden.<br />
Das Se<strong>it</strong>enstück zu Jup<strong>it</strong>er ist Juno, Jovino, das Weibliche<br />
von Jovis, die weibliche Macht <strong>des</strong> Himmels, <strong>des</strong> himmlischen<br />
Lichts, <strong>des</strong> neuerscheinenden Mon<strong>des</strong>, neben Jup<strong>it</strong>er<br />
Rex als Regina verehrt. In Italien ist sie wesentlich die weibliche<br />
Natur überhaupt. Als Sosp<strong>it</strong>a ist sie, nach römischen<br />
Münzen, eine wehrhafte Göttin und schleudert wie Jup<strong>it</strong>er<br />
Bl<strong>it</strong>ze. 3 Sie ist aber auch Mater, Muttergöttin der weiblichen<br />
Natur, der Ehe, Entbindung, der Kinderzucht, nicht zu erwähnen<br />
der übrigen verschiedenen Beziehungen, die sie darstellt.<br />
Einer der ältesten, volksthümlichsten Götter Italiens ist<br />
Faunus, wie schon sein echt <strong>it</strong>alischer Name zeigt: der Gute,<br />
Holde, von faveo. Er ist ein guter Geist der Triften, Berge,<br />
Fluren, Befruchter von Acker, Vieh und Menschen, Stifter<br />
frommer S<strong>it</strong>te, Urheber vieler alter Geschlechter. Faunus<br />
wird oft in der Mehrzahl gedacht, und der Glaube an diese<br />
guten Geister, die auf dem Felde und im Walde hausen,<br />
war im Volke so tief eingewurzelt, dass es sie oft im Freien<br />
zu sehen wähnte. Faunus als Collectivbegriff' gilt für das<br />
Geschlecht der Faune, die man umherschleichend dachte, in<br />
1<br />
Aramian. Marc., XVII, 10.<br />
2<br />
Vgl. 0. Müller, Etrusk., 2. Abtheil., 140.<br />
3 Virg. Aen., I, 42; Liv., XXXII, 1.<br />
Eoskoff, <strong>Geschichte</strong> <strong>des</strong> <strong>Teufels</strong>. I. IQ
24G Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Begle<strong>it</strong>ung von Hunden, den feinen "W<strong>it</strong>terern , oft einen Ruf<br />
erschallen lassend, wodurch die Heerden erschreckt in wilde<br />
Flucht gejagt werden. Dies deutet schon auf das dämonische<br />
Wesen der Faune, denen überdies noch verschiedene Neckereien<br />
im Schlafe zugeschrieben werden, sodass sie zu förmlichen<br />
Plasre£reistern sich umwandeln. Die Lüsternhe<strong>it</strong> der Faune<br />
hat es vornehmlich auf das weibliche Geschlecht abgesehen,<br />
das sie gern im Bette beschleichen , wo sie dann im Volksmunde<br />
Incubi heissen.<br />
Nicht nur der geschlechtliche Dualismus findet sich bei<br />
den römischen Gotthe<strong>it</strong>en, wonach sie als männliche und weibliche<br />
auftreten, sodass einer Tellus ein Tellumo, dem Saturnus<br />
die Ops u. s. f. entspricht, wie der Erde eine zeugende<br />
und empfangende Kraft zuerkannt wird; auch die Zweihe<strong>it</strong>,<br />
im Sinne <strong>des</strong> Gegensatzes von wohl- und übelthätig, erscheint<br />
sowol in getrennten Gestalten als auch in ein und demselben<br />
Wesen, das bald die eine, bald die andere Se<strong>it</strong>e herauskehrt,<br />
wie bere<strong>it</strong>s früher berührt wurde. Schon in der ältesten Periode<br />
findet sich der römische Glaube an eine Menge dämonischer<br />
Mächte, und der praktische Sinn der Römer schuf<br />
für die günstigen oder ungünstigen Fügungen ein ganzes Register<br />
von Wesen, die unter der Rubrik Fortuna, Fors u. s. w.<br />
die ins Leben eingreifenden Beziehungen repräsentirten. Plutarch<br />
in seiner bekannten Schrift : „Vom Glauben der Römer", führt<br />
eine Sammlung von Beinamen auf, m<strong>it</strong> welchen die Göttin<br />
Fortuna von Rom, die Fortuna publica oder Fortuna populi<br />
Romani, erwähnt wird, gegenüber der Fortuna privata, der<br />
Glücksgöttin <strong>des</strong> Familienlebens, abgesehen von den Fortunen,<br />
die als individuelle Schutzgöttinnen oder als die von Körperschaften,<br />
von Gebäuden u. s. w. ins Endlose sich zerspl<strong>it</strong>tern.<br />
Indem sich Fortuna erhörend oder versagend erweist, erhält<br />
sie die Bedeutung einer guten oder schlimmen Gotthe<strong>it</strong>.<br />
Dass der Dualismus von guten und bösen Wesen bei<br />
den Römern vorhanden war, würde schon dadurch zur Gewisshe<strong>it</strong><br />
erhoben, dass sie an letztere glaubten und daher eine<br />
Mehrzahl davon annahmen. Bekannt sind die Strigen, vor<br />
denen sich nicht nur die Italer, sondern auch die Griechen<br />
fürchteten. Unter garstiger Gestalt, m<strong>it</strong> grossem Kopf, starrenden<br />
Augen, m<strong>it</strong> dem Schnabel eines Raubvogels und scharfen<br />
Krallen kommen sie <strong>des</strong> Nachts, um den Kindern das
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alierthums. 147<br />
Blut zu entsaugen, das Mark zu verzehren, die Eingeweide<br />
zu fressen und dann durch die Luft zu rauschen. Zur Abwehr<br />
dieser verderblichen Scheusale war Carna oder Cardia,<br />
die Schutzgöttin aller Thürangeln, alles Ein- und Ausgangs.<br />
Durch einen Weissdorn, dem auch Asien und Griechenland<br />
eine wohlthätige Wirkung gegen dämonische Einflüsse zuschrieb,<br />
daher er bei Geburten oder Leichenbegängnissen an<br />
die Thüre geheftet oder vor dem Eingange verbrannt wurde,<br />
sollte diese Schutzgöttin das Haus sicherstellen.<br />
Bei den Etruskern erscheint der furchtbare To<strong>des</strong>gott<br />
Mantus, entsprechend dem römischen Orcus, der aber bei<br />
jenen gewöhnlich m<strong>it</strong> . dem griechischen Namen Charun bezeichnet<br />
wurde, nachdem ersterer zur Schreckengestalt <strong>des</strong> To<strong>des</strong><br />
überhaupt geworden war. Er ist der Gott <strong>des</strong> gewaltsamen<br />
To<strong>des</strong>, der alle Bande der Liebe zerreisst, weder Jugend noch<br />
Schönhe<strong>it</strong> verschont, unter grauenhafter Gestalt m<strong>it</strong> seinem<br />
wuchtigen Hammer oder Schwerte alles gewaltsam niederschlägt.<br />
Er erscheint auch als einer der höllischen Dämonen<br />
der Unterwelt, und die etruskischen Sculpturen der Todtenkasten<br />
und Grabgemälde zeigen noch verschiedene andere,<br />
sowol männliche als weibliche Genien <strong>des</strong> To<strong>des</strong>, bald in<br />
freundlicher, lichter, bald in finsterer, greulicher Gestalt. M<strong>it</strong><br />
Mantus verwandt und gleich schrecklich an Gestalt erscheint<br />
den alten Italern Mania 1 als furchtbare Göttin, der man<br />
unter Tarquinius dem Stolzen in Rom die Comp<strong>it</strong>alien feierte<br />
und dabei auch Knaben geopfert haben soll, um durch ihre<br />
Sühnung das Wohl der Hausgenossen zu wahren. 2 Das<br />
Fest der Comp<strong>it</strong>alien, der Mania m<strong>it</strong> den Gotthe<strong>it</strong>en der<br />
Kreuzwege (ubi viae competunt) gemeinsam geweiht, soll nach<br />
der Vertreibung <strong>des</strong> Tarquinius durch einen Orakelspruch<br />
Apollon 1 s dahin abgeändert worden sein, dass man Knoblauch<br />
und Mohnköpfe opferte und die Bilder der Mania an den<br />
Thüren aufhängte, wo sie als Dea avertens die Familie vor<br />
Gefahren beschützen sollte.<br />
Später ward Mania zum Schreckgespenst,<br />
wom<strong>it</strong> man schlimme Kinder bedrohte. Mania heisst<br />
auch die Mutter oder Grossmutter der Laren, zu welchen,<br />
nach dem spätem Volksglauben, gute Menschen wurden, wo-<br />
1<br />
Vgl. 0. Müller, Etrusk., III, 4, 11, S. 101.<br />
-<br />
Macrob. Sat., I, 7.<br />
10
148 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismas.<br />
gegen böse zu Larven und Manien 1 , in der Luft umherschweifende<br />
Gespenster, sich verwandelten, als deren Mutter<br />
auch die Mania genannt wird. Die Vorstellung von den<br />
Larven bildete der Volksglaube immer mehr aus, sie galten<br />
als absonderlich scheussliche Plagegeister, die als abgezehrte<br />
Gestalten oder Gerippe die Lebenden in Wahnsinn versetzten<br />
und die Verstorbenen auch in der Unterwelt ängstigten. 2<br />
Der Mania verwandte finstere Göttinnen waren die Furinae<br />
oder Furrinae, die früher angesehene Cultusgöttinnen gewesen,<br />
später aber verschollen sein sollen. Cicero vergleicht sie m<strong>it</strong> den<br />
m<strong>it</strong> demselben Stamme „fus"<br />
Furien, deren Name allerdings<br />
zusammenhängt, wonach sie „die dunkeln, finstern" bedeuten<br />
würden. 3 Den Larven und Manien verwandte Spukgeister<br />
sind auch die Lemuren, die von einigen 4 für Geister der<br />
Verstorbenen gehalten werden, während Augustinus sie den<br />
Larven gleichsetzt, wofür sie auch im gewöhnlichen Sprachgebrauche<br />
galten. Auch die Lemures schweifen nächtlich<br />
umher, um die Menschen zu necken und zu quälen. 5 Sie zu<br />
sühnen und das Haus zu reinigen, wurden in den Nächten <strong>des</strong><br />
neunten, elften und dreizehnten Mai gewisse Ceremonien vollführt<br />
, die Ovid ausführlich beschreibt. 6<br />
Dank der Wissenschaft ist<br />
Germanen.<br />
sowol die nahe Verwandtschaft<br />
der Sprache als auch die Gemeinschaftlichke<strong>it</strong> der religiösen<br />
Anschauungen der Deutschen und Skandinavier nachgewiesen,<br />
es ist klar dargethan, dass die Religionen beider in ein und<br />
demselben Grundgedanken wurzeln und selbst bei späterer<br />
Entwickelung, ungeachtet mancher Abweichungen, irr.<br />
wesentlichen<br />
übereingestimmt bleiben. Die Sprache, der idealistische<br />
Zug in der Weltanschauung, die Religion le<strong>it</strong>en auf die arische<br />
Urheimat zurück, und dies genügt, die physikalische Grund-<br />
1<br />
Augustin. de civ. D. IX, 11.<br />
2<br />
Senec, Ep., 24; Ammian. Marc, XXXI, 1, 3.<br />
3<br />
Cic. de nat. deor., III, 18, 46.<br />
1<br />
Nach Appul. de deo Socrat., p. 237 ed. Bip.; vgl. Seiv. zu Yirg.<br />
Aen., III, 63, a. a. 0.<br />
5<br />
Horat. Ep., II, 2, 209.<br />
6<br />
Fast., V, 419 fg.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 149<br />
läge der religiösen Anschauung aller germanischen Stämme,<br />
den Lichtbegriff anzunehmen. Es liegt im Wesen der Naturreligion<br />
überhaupt, sich dualistisch auszudrücken, und so muss<br />
der Begriff <strong>des</strong> Lichts nothwendig sein Correlat, den der<br />
Dunkelhe<strong>it</strong>, hervorrufen, daher auch die ursprüngliche religiöse<br />
Anschauung der Germanen vom Dualismus nicht frei geblieben<br />
ist, wenn auch keine durchgreifende Zertheilung der Göttergestalten<br />
in zwei feindliche Lager, wie im Parsismus, sich<br />
herausgebildet hat. l Treffend ist daher die Bemerkung<br />
RückertV z , dass Cäsar' s Reihe der deutschen Götter sich schon<br />
dadurch als unvollständig erweise, „dass der Begriff <strong>des</strong> belebenden<br />
Lichts und der segnenden Wärme m<strong>it</strong> unabweisbarer<br />
Notwendigke<strong>it</strong> den der ertödtenden Finsterniss und zerstörenden,<br />
feindseligen Kälte voraussetzt". Es zeigen sich die<br />
Gegensätze von Licht und Dunkel, H<strong>it</strong>ze und Kälte, die sich<br />
in der Naturreligion wie Sonne und Mond personificirt darstellen.<br />
Die Nacht als feindliche, böse Gewalt ist m<strong>it</strong> dem<br />
gütigen Wesen <strong>des</strong> Tags im Stre<strong>it</strong>e und erlangt erst die<br />
Oberhand, wenn der Tag seinen Kampf aufgegeben hat.<br />
Sommer und Winter stehen in persönlicher Feindschaft, Reif<br />
und Schnee, als personificirtes Gefolge <strong>des</strong> letztern, künden<br />
dem erstem den Krieg an, ihr Kampf wird jährlich erneut<br />
und ist in we<strong>it</strong>verbre<strong>it</strong>eten Volksfesten dramatisch dargestellt,<br />
ja bis auf den heutigen Tag in Liedern und Gebräuchen als<br />
Erinnerung aufbewahrt, wie z. B. im Todaustragen, wo der<br />
Tod an die Stelle <strong>des</strong> Winters tr<strong>it</strong>t. 3 Weil es im Entwickelungsprocesse<br />
<strong>des</strong> menschlichen Geistes liegt, dass er die<br />
wahrgenommene Vielhe<strong>it</strong> der Eindrücke, durch die er von<br />
aussen angeregt worden, zur Einhe<strong>it</strong> erhebe: darum muss in<br />
den Religionen der Culturvölker das<br />
Streben nach einem einhe<strong>it</strong>lichen<br />
Gottesbegriff sich kundgeben, zunächst dadurch,<br />
dass die Vielhe<strong>it</strong> der Gotthe<strong>it</strong>en in Einem göttlichen Wesen<br />
gipfelt und jene als Ausfluss aus diesem erscheint. Es ist<br />
gemüthsvolle Pietät gegen die Urahnen, welche die religiösen<br />
Vorstellungen der Germanen aus Einem geistigen Urwesen<br />
able<strong>it</strong>en und die Einhe<strong>it</strong> <strong>des</strong> Gottesbegriffs zur Voraussetzung<br />
1<br />
Vgl. Grimm, D. M., 3. Ausg., 414, 936, 942 u. a.<br />
2 Culturgeschichte <strong>des</strong> deutschen Volks, I, 62,<br />
3<br />
Vgl. Grimm, 713 fg.
150 Erster Abschn<strong>it</strong>t : Der<br />
religiöse Dualismus.<br />
einer spätem polytheistischen Zerspl<strong>it</strong>terung machen will;<br />
allein der geschichtliche Vorgang zeigt der unbefangenen<br />
Beobachtung, dass der sinnliche Mensch durch geistige<br />
Operation von der sinnlichen Vielhe<strong>it</strong> zur geistigen Einhe<strong>it</strong><br />
gelangt, es wird durch die erfahrungsmässige Wahrnehmung<br />
bestätigt, dass nicht nur der abstracte Monotheismus der<br />
Hebräer in seiner Reinhe<strong>it</strong> erst das Resultat der ganzen <strong>Geschichte</strong><br />
dieses Volks gewesen, dass der reine, einhe<strong>it</strong>liche<br />
Gottesbegriff überhaupt erst das Ergebniss eines vorhergegangenen<br />
Entwickelungsprocesses sein kann.<br />
Allerdings waren die alten Germanen so angelegt, däss<br />
sie leichter als mancher andere Volksstamm der polytheistischen<br />
Anschauung, die von Naturreligion unzertrennlich ist, sich<br />
entwinden konnten, um sich den Einhe<strong>it</strong>sbegriffen von Einem<br />
göttlichen Urwesen zu nähern. Der sinnige Ernst, welcher<br />
deutsche Art kennzeichnet, verband m<strong>it</strong> sich zugleich ein<br />
reges<br />
Einhe<strong>it</strong>sstreben auch in religiöser Beziehung, das in anderer<br />
Hinsicht, besonders in der germanischen Vorstellung vom<br />
Königthum zu Tage tr<strong>it</strong>t, das m<strong>it</strong> dem, der germanischen<br />
Natur tiefeingeprägten Fidel<strong>it</strong>ätsverhältniss <strong>des</strong> Dienstgefolgs<br />
gegen den Dienstherrn, m<strong>it</strong> der Kampfeslust und Kampfestreue<br />
für und m<strong>it</strong> dem angestammten und erwählten Herrn 1 ,<br />
im engsten Zusammenhang steht und, auf das Christenthum<br />
übertragen, die so oft besprochene „natürliche Prädispos<strong>it</strong>ion"<br />
der germanischen Völker für jenes im wesentlichen ausmacht.<br />
Darin liegt der pos<strong>it</strong>ive Grund, aus dem sich im allgemeinen<br />
die Neigung der germanischen Völker zum Christenthum<br />
erklären lässt, obschon auch negative Momente bei der<br />
schnellen Bekehrung der Germanen m<strong>it</strong>gewirkt haben, so<br />
namentlich das haltlos gewordene germanische Hddenthum<br />
selbst , dem bei seiner Uebersctzung auf fremden Boden,<br />
unter dem unsteten Völkergedränge der damaligen Ze<strong>it</strong>,<br />
die nöthige Ruhe versagt blieb , um neue Wurzel zu<br />
schlagen. Sollte nicht vielleicht in der grauenhaften<br />
Ahnung von der Endlichke<strong>it</strong> dieser Weltordnung, die<br />
den germanischen Glaubenskreis hindurchzieht, ein sollic<strong>it</strong>iren<strong>des</strong><br />
Moment für die Gemüthsvertiefung und den idealistischen<br />
Sinn der Germanen, als Tendenz nach einhe<strong>it</strong>lichem<br />
1<br />
Kurtz, Ilandb. d. allgem. Kirchengesch., II, 1. Abtheil., S. 15.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 151<br />
geistigem Gottesbegriff sich offenbarend, zu suchen sein?<br />
Nicht zu vergessen ist ferner die glimpfliche Weise, in der<br />
die Gebräuche <strong>des</strong> Heidenvolks von den Kirchenlehrern oft<br />
geschont wurden, sodass die heilige Scheu und die Vorstellungen<br />
aus dem heidnischen Glaubenskreise leicht in das<br />
Christenthum übertragen werden konnten. Grimm l erwähnt ein<br />
Beispiel aus dem Beginne <strong>des</strong> 7. Jahrhunderts , wonach in der<br />
„schon christlichen Kirche" die alten heidnischen Götterbilder<br />
in<br />
der Wand eingemauert waren, um dem Volk, das an ihnen<br />
hing, sich gefällig zu bezeigen.<br />
Die Einhe<strong>it</strong>stendenz innerhalb der religiösen Anschauung<br />
der Germanen zeigt sich in der Vorstellung von einem „Allvater"<br />
(Allfadur), einem göttlichen Urwesen, das alle deutschen<br />
Mundarten m<strong>it</strong> „Gott" bezeichnen. Diese Erscheinung findet<br />
ihre Analogie auch in andern Naturreligionen, wo an der<br />
Sp<strong>it</strong>ze der Vielhe<strong>it</strong> von Gotthe<strong>it</strong>en Eine zu stehen kommt, in<br />
der sich die zerspl<strong>it</strong>terte Bedeutung mehr oder weniger merkbar<br />
zusammenfasst. Aus diesem starken Drange nach geistiger<br />
Einhe<strong>it</strong>,<br />
der in der germanischen Natur ursprünglich begründet<br />
ist, erklärt es sich, dass der Dualismus innerhalb <strong>des</strong><br />
nordischen und germanischen Glaubenskreises nicht bis in die<br />
feinsten Adern <strong>des</strong> Organismus sich durchgebildet hat und<br />
das wohlthätige, gute Princip in dem Göttlichen vorwaltet.<br />
Allein der Dualismus schweigt doch nicht, wie selbst Meister<br />
Grimm zugesteht, und ausser dem berührten Gegensatze in<br />
den Mythen von Tag und Nacht, Sommer und Winter, macht<br />
er sich in der Vorstellung von Licht- und Schwarzeiben geltend.<br />
Es ist ein Dualismus, wie ihn auch andere mythologische<br />
Systeme zwischen freundlichen und feindlichen, wohl- und<br />
übelthätigen Engeln <strong>des</strong> Lichts und der Finsterniss, himmlischen<br />
und höllischen Geistern aufstellen. Obgleich alle Eiben<br />
klein und neckhaft gedacht werden, so erscheinen doch die<br />
lichten wohlgebildet, von zierlicher Schönhe<strong>it</strong>, in leuchtendem<br />
Gewände gegenüber den misgestalteten, hässlichen schwarzen,<br />
die auch m<strong>it</strong> den Zwergen vermengt werden. 2<br />
Es handelt sich hier um keine Darstellung der nordischgermanischen<br />
Mythologie, vielmehr nur um die Andeutung<br />
1<br />
S. 97.<br />
2<br />
Grimm, 414 fg.
152 Erster Abschn<strong>it</strong>t : Der<br />
religiöse Dualismus'.<br />
derjenigen Züge, die den Dualismus bezeigen, und solcher,<br />
die sich an die Vorstellung <strong>des</strong> m<strong>it</strong>telalterlichen <strong>Teufels</strong> angesetzt<br />
und dam<strong>it</strong> verwachsen haben, an <strong>des</strong>sen späterer Gestalt<br />
und seiner Umgebung noch kenntlich sind.<br />
Das Streben nach Anerkennung einer höchsten Macht,<br />
die von Einem Wesen getragen wird, findet seinen Ausdruck<br />
in dem höchsten Gott unserer Vorfahren, in Wodan (Wuodan,<br />
Woden, Guodan, nord. Odhin), dem Alldurchdringenden,<br />
unter dem die Welt steht, in den ältesten Liedern Allvater genannt,<br />
insofern die Macht und die Eigenschaften, die auf<br />
verschiedene Götter vertheilt sind, in ihm zusammengefasst gedacht<br />
werden. Nach Vergleichung der Göttertrilogien 1 liegt<br />
der ältesten gemäss dem Wodan die Luft zu Grunde, und<br />
zwar vom leisesten Wehen bis zum tobenden Sturm. Nach<br />
der unm<strong>it</strong>telbaren Anschauung, <strong>des</strong> Alterthums, welche Geist<br />
und Natur nicht scheidet, waltet Wodan wie im Geiste so<br />
in der Natur, er erregt die zarte Empfindung der Dichter und<br />
Liebenden, aber auch die wilde Kampfeswuth. Wie die Luft<br />
alles durchdringt, so ist Wodan der alldurchdringende Geist<br />
der Natur. Nach seiner physikalischen Bedeutung ist Wodan<br />
Sonnengott, welche Eigenschaft dann auf Freyr überging. 2<br />
Als Sonnengott wird Wodan einäugig vorgestellt, die Sonne<br />
ist sein Auge, von der die Erde beleuchtet und befruchtet<br />
wird; er ist auch der Himmel, der die Erde umfängt; er ist<br />
die schaffende und bildende Kraft , die Menschen und Dingen<br />
Gestalt und Schönhe<strong>it</strong> verleiht, von der auch die Dichtkunst<br />
ausgeht. Denn von Wodan geht alles aus und hängt alles ab,<br />
ihm kommt nach der ethischen Bedeutung die Allwissenhe<strong>it</strong> zu,<br />
wonach er von seinem hohen S<strong>it</strong>ze alles überschaut, er ist der<br />
weltlenkende, weise, kunsterfahrene Gott, der auch Kriege<br />
und Schlachten ordnet, den Sieg lenkt, also zugleich Kriegsgott<br />
ist. Sonach konnte er m<strong>it</strong> dem eigentlichen Kriegsgott<br />
Ziu, Tyr verwechselt und neben Mars und Mercurius gestellt<br />
werden. 3 Da von Wodan alles Heil ausgeht, ist er<br />
auch Gott <strong>des</strong> Glücks, <strong>des</strong> Spiels und in dieser Beziehung<br />
Erfinder <strong>des</strong> Würfelspiels, Als Oski (Wunsch) gibt er<br />
1<br />
Vgl. Simrock, Handb. d. deutsch. Mythol., 837 fg.<br />
2<br />
Simrock, 225.<br />
3<br />
Grimm, 9l>, 108, 122.
4. Dualismus in den Beligionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 153<br />
nicht nur den Schiffern günstigen Wind, sondern ist überhaupt<br />
der Spender erwünschter Gaben und kann im Sinne<br />
<strong>des</strong> Wunsches Gott der Sehnsucht und Liebe sein. 1<br />
Als Gangleri und Gangradr ist<br />
er der unermüdliche Wanderer,<br />
der in unscheinbarer Gestalt die Menschenwohnungen besucht<br />
und die Gastfreundschaft auf die Probe stellt; Yggr bezeichnet<br />
ihn als den schrecklichen Gott, Glapwidr als den in Listen<br />
Erfahrenen, Bölwerke und Bölwisi gar als den Verfeinder der<br />
Fürsten und Zankerreger unter Verwandten. Als kriegliebender<br />
Gott konnte er schon die Bedeutung <strong>des</strong> Stifters von Zwist<br />
und Feindschaft erhalten, da Wuotans Name von selbst in<br />
den Begriff von Wuth und Zorn umschlägt und aus dem<br />
Sinne, den das Alterthum m<strong>it</strong> Wuotan verband, sich die<br />
Abstractionen von Wout (furor), Wunsch, (Ideal) und voma<br />
(impetus, fragor) ergaben, sodass der anmuthverleihende Gott<br />
zum schrecklichen Stürmer werden konnte. 2<br />
Als Odhin trägt er auf dem Haupte den Goldhelm, in<br />
der' Hand den Spiess Gungnir, re<strong>it</strong>et auf dem achtbeinigen<br />
Wunderross Sleipnir, dem Symbole der Allgegenwart. Zuweilen<br />
erscheint er als schlichter Wanderer m<strong>it</strong> tief herabgedrücktem<br />
bre<strong>it</strong>em Hute. Gewöhnlich trägt er einen we<strong>it</strong>en<br />
blauen Mantel (das Symbol <strong>des</strong> Wolkenhimmels), und so<br />
zieht er als Hakulberand vor dem wilden Heere einher. In<br />
der Haddingssage 3 kommt er als einäugiger Greis dem<br />
stärkt diesen durch einen Trunk,<br />
fliehenden Hadding zu Hülfe,<br />
fasst ihn dann in den Mantel und führt ihn durch die Luft<br />
nach der Heimat.<br />
Wenn Odhin seinen Hochs<strong>it</strong>z einnimmt, hat er auf jeder<br />
Schulter einen Raben, die ihm zuflüstern, was in der Ze<strong>it</strong><br />
vorgeht. Er selbst bedarf keiner Nahrung, reicht aber das<br />
für ihn bestimmte Fleisch <strong>des</strong> Ebers den Wölfen zu seinen<br />
Füssen, die zuweilen auch Hunde heissen, wie noch Hans<br />
Sachs die Wölfe „unsers Herrgotts Jagdhunde" nennt. Der<br />
Wolf gebührt ihm als Kriegsgott. Odhin ähnlicht dem<br />
Apollon darin, dass von ihm Seuchen, aber auch deren Heii<br />
Grimm, XLII.<br />
2<br />
Grimm, 131 fg.<br />
3<br />
Bei Saxo, I, 12.
154 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
lung ausgehen, „jede schwere Krankhe<strong>it</strong> ist Gottes Schlag,<br />
und Apollons Pfeile senden die Pest". '<br />
Kraft seiner kriegerischen Eigenschaften kommen die gefallenen<br />
Helden, die er durch seine Todtenwählerinnen<br />
(Walküren) erhält, zu ihm. An ihn, als Luft- und Kriegsgott,<br />
knüpft sich auch die Sage vom wüthenden Heer und der<br />
wilden Jagd, wobei wol an den Gew<strong>it</strong>tersturm,<br />
zunächst zur<br />
Ze<strong>it</strong> der Aequinoctien, zu denken ist. Er ist der Erfinder der<br />
Runenlieder, der Poesie, überhaupt aller Bildung, und da man<br />
sich der Runen zum Losen, Weissagen und Zaubern bediente,<br />
deren Gebrauch m<strong>it</strong> allen priesterlichen Weihen zusammenhing,<br />
sowie Opfer, Poesie, Weissagung und Zauber untereinander<br />
verwandt sind, steht er m<strong>it</strong> diesen in Beziehung.<br />
Aus seiner Umarmung der Erde geht sein gewaltigster<br />
Sohn Donar (Thunar, nord. Thörr) hervor,<br />
der seine Mutter<br />
Erde und deren Bebauer beschützt, die Feinde der Götter<br />
und Menschen bekämpft. Als Gott <strong>des</strong> Donners, der den<br />
Bl<strong>it</strong>z schleudert, sollte Thörr als oberster der Götter erscheinen,<br />
seine Mutter Jördh, die grosse Lebensmutter, wird<br />
auch die Mutter der Götter genannt. In Norwegen heisst er<br />
auch schlechthin der As, und in der ersten Christenze<strong>it</strong> galt<br />
an Thörr glauben für gleichbedeutend m<strong>it</strong> Heide sein. War<br />
er also einstens der oberste Gott, so hat er diesen Rang dem<br />
Odhin räumen müssen.<br />
Thörr schleudert seine Bl<strong>it</strong>ze nur gegen die Riesen als<br />
Feinde der Götter und Menschen, er spaltet ihnen m<strong>it</strong> seinem<br />
Hammer das Haupt, d. h. er erschliesst das unfruchtbare<br />
Land dem Anbau. Weil die kalten Winde von Osten her<br />
kommen, darum ist Thörr immer im Kampfe m<strong>it</strong> den Bergriesen,<br />
stets auf der Ostfahrt. Wenn Thörr nicht wäre, sagt<br />
ein nordisches Sprichwort, würden die Riesen überhandnehmen.<br />
2 Als Freund der Menschen schützt er diese gegen<br />
alle dem Landbau schädlichen Naturkräfte, vor Frost und<br />
Sturm, schickt seine Bl<strong>it</strong>ze gegen die Dämonen der Gluth<strong>it</strong>ze<br />
und wehrt die verderblichen Gew<strong>it</strong>ter ab. Er ist auch der<br />
Gott der Brücken, die den Verkehr der Menschen fördern,<br />
überhaupt Gott der Cultur.<br />
1<br />
Grimm, 136.<br />
* Grimm, 497.
4< Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 155<br />
Als Herr <strong>des</strong> Gew<strong>it</strong>ters führt Thörr den zermalmenden<br />
Hammer, der aber auch eine heiligende Kraft hat, das<br />
Brautpaar weiht, Leichen einsegnet, <strong>des</strong>sen Wurf die Grenzen<br />
<strong>des</strong> Eigenthumes bestimmt, wonach Thörr als Gott der Ehe,<br />
<strong>des</strong> Eigenthums erscheint. Von der Farbe <strong>des</strong> Bl<strong>it</strong>zes ist er<br />
rothbärtig. M<strong>it</strong> Hindeutung auf die sprunghafte Bewegung<br />
<strong>des</strong> Bl<strong>it</strong>zes, hat Thörr ein Gespann von zwei Böcken vor<br />
seinem Wagen, auf dem er zu fahren pflegt. Der eine von<br />
den Böcken hinkt, was auf die Naturanschauung bezogen<br />
wird. Der Bock war ein dem Donar geheiligtes Thier. 1<br />
Uhland sieht in den Ziegen das Sprunghafte über das Gebirge<br />
versinnlicht, andere beziehen sie auf das Sternbild der Ziege,<br />
das zur Ze<strong>it</strong> der ersten Gew<strong>it</strong>ter aufzugehen pflegt.<br />
Von seiner Gemahlin Sif hat Thörr eine Tochter Thrudh,<br />
d. h. Kraft, sein Gebiet Thrudhwang bezieht daher Uhland<br />
auf das fruchtbare Land und Thrudh auf das Saatkorn. 2<br />
Ein anderer Sohn Wodan's ist Zio (Ziu, sächs. Sahsnot,<br />
Saxnot, nord. Tyr), der als specifischer Kriegsgott alles,<br />
was auf Krieg und Schlacht in Beziehung steht, ausführt; er<br />
ist der eigentliche Sehwert gott, den die jüngere Edda als<br />
kühn und mathig schildert, der über den Sieg im Kriege<br />
wacht.<br />
Der Name Tyr, <strong>des</strong>sen Grundbedeutung auf „leuchten"<br />
zurückgeführt worden ist 3 , weist auf einen leuchtenden Himmelsgott<br />
hin, als der er aber in der Edda nicht mehr vorkommt.<br />
Als Kriegsgott wird er unter dem Symbole <strong>des</strong><br />
Schwertes verehrt, von dem der Glanz kriegerischer Völker<br />
ausgeht. Tyr war Himmelsgott und Kriegsgott zugleich, und<br />
in letzter Bedeutung ist sein Andenken im Namen <strong>des</strong> dr<strong>it</strong>ten<br />
Wochentags (dies Martis) Ertag, Irtag, der in Baiern und<br />
einigen Gegenden Oesterreichs gebräuchlich ist, aufbewahrt,<br />
indem Tyr durch Er, der m<strong>it</strong> jenem zusammenfällt, vertreten<br />
ist.<br />
Nach Leo 4 haben die Sachsen von ihrer Steinwaffe Sahs<br />
ihren Namen, und Saxnot, der von dem ostsächsischen Volk<br />
1<br />
Grimm, 947.<br />
2 Uhland, Mythol. vom Thorr, S. 2.<br />
3<br />
Grimm, 176.<br />
4<br />
Vorlesung., 220.
15G Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
in Br<strong>it</strong>annien an die Sp<strong>it</strong>ze gestellt wird, ist ein und derselbe<br />
Gott, den die „Abrenuntiatio" als Saxnot anführt.<br />
Ein dr<strong>it</strong>ter Sohn Wodan's ist Fro (Froho, nord. Freyr),<br />
der frohinachende Gott, Beschirmer der Ehe und <strong>des</strong> Friedens,<br />
der auch die Liebe erzeugt und Gott <strong>des</strong> Ehesegens<br />
ist. Wenn Freyr, um in Gerda's, der Tochter <strong>des</strong> Frostriesen<br />
Gymir, Bes<strong>it</strong>z zu gelangen, sein Schwert hingibt, so<br />
ist er 1 als Sonnengott zu fassen: er gibt es her um Gerda's<br />
Bes<strong>it</strong>z, d. h. die Sonnenglut senkt sich in die Erde, um<br />
Gerda's Erlösung aus der Haft der Frostriesen zu bewirken,<br />
die sie unter Eis und Schnee zurückhalten. „Freyr gibt sein<br />
Schwert alljährlich her, er erschlägt alljährlich den Beli, den<br />
Riesen der Frühlingsstürme, alljährlich feiert er seine Vermählung<br />
m<strong>it</strong> Gerda im grünenden Haine." Als Sonnengott<br />
bes<strong>it</strong>zt er den goldborstigen Eber Gullinbursti , waltet über<br />
Regen, Sonnenschein und Wachsthum der Erde, wird daher<br />
um Fruchtbarke<strong>it</strong> angerufen.<br />
Freyr erscheint in einigen Erzählungen bei Saxo als<br />
Drachenkämpfer 2 , und wie unter dem Drachen das die Ernte<br />
vernichtende Austreten der Flüsse und Bäche verstanden<br />
wird, so steht dies m<strong>it</strong> der Bedeutung <strong>des</strong> Gottes in Uebereinstimmung.<br />
Der weise und gerechte Paltar (nord. Baidur, Baldr)<br />
ist auch ein Sohn Wodan's, er gibt Recht und Gesetz, wird<br />
der weiseste und beste aller nordischen Äsen genannt, darum<br />
von allen geliebt. Ihm zur Se<strong>it</strong>e ist sein Sohn Forasizzo<br />
(nord. Forsetti), der Vors<strong>it</strong>zer der Gerichte und Schlichter<br />
der Händel, in welchem nur eine Eigenschaft Baldur's personilicirt<br />
zu sein scheint. 3 Baldur's Urtheile kann niemand<br />
schelten, was Simrock daraus erklärt, dass er das Licht bedeutet.<br />
Er ist unverletzbar durch Wurf und Schlag, die<br />
Mistel ist die einzige Waffe gegen ihn, sie ist Symbol <strong>des</strong><br />
Winters, da sie bei ihrem Wachsen <strong>des</strong> Lichts nicht bedarf. 4<br />
Baldur's Tod bedeutet die Neige <strong>des</strong> Lichts, <strong>des</strong> Sommers in<br />
der Sommersonnenwende.<br />
Wol (Phol, nord. Uli er) ist die winterliche Se<strong>it</strong>e<br />
1<br />
Nach Simrock, 73.<br />
2<br />
W. Müller, Ze<strong>it</strong>schrift, III, 43.<br />
3<br />
Simrock, 343.<br />
1<br />
ühland, Mythol. d. Thörr, 146.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 157<br />
Odhin's, ist Gott der Jagd. Als Wintergott ist Uller Sohn<br />
der Sif, der Erdgöttin. Indem das Jahr ans Sommer und<br />
Winter besteht, steht Baidur als Sommergott m<strong>it</strong> Ulier im<br />
Zusammenhang.<br />
Den männlichen Gotthe<strong>it</strong>en parallel stehen weibliche,<br />
als: Nerthus (Nirdu, nord. Jördh) die fruchtbare Erde, welche,<br />
wie fast in allen Sprachen weiblich, im Gegensatz zu dem sie<br />
umfangenden Himmel, als gebärende, fruchtbare Mutter aufgefasst<br />
wird. Sie hält Umzüge unter den Völkern, wird von<br />
zwei Kühen gezogen und bringt Frieden und Fruchtbarke<strong>it</strong>. 1<br />
Auf einer Insel <strong>des</strong> Weltmeers lag ihr heiliger Hain, wo ihr<br />
Wagen aufbewahrt ward, woraus geschlossen wird, dass ihr<br />
Wagen zugleich ein Schiff gewesen sei, da Nerthus sonst<br />
nicht von ihrer Insel im Ocean zu den Völkern hätte gelangen<br />
können. 2 Den Wagen der Nerthus schirrt der Priester und<br />
begle<strong>it</strong>et sie auf ihren Umzügen, die hinsichtlich der Götter<br />
überhaupt zunächst als deren Handlungen erscheinen. Das<br />
Volk schmückt sich und Haus und Hof zum festlichen Empfang<br />
der Göttin, es sind frohe Tage, wo Krieg und Arbe<strong>it</strong> ruhen.<br />
Hol da, der die nordische Freya entspricht, schützt die<br />
Liebenden, segnet die Ehebündnisse, ist die herrlichste der<br />
Asinnen, hat vor ihren Wagen zwei Katzen gespannt, die<br />
Symbole starken Geschlechtstriebs. Sie liebt den Minnegesang,<br />
ist daher in Liebesangelegenhe<strong>it</strong>en anzurufen. Sie<br />
entspricht auch der deutschen Frouwa, der Anmuth und<br />
Liebreiz verleihenden Schwester <strong>des</strong> holdseligen Fro, von<br />
welcher der Ehrenname Frau seinen Ursprung hat.<br />
Dem Namen Hol da ist der Begriff der milden, gnädigen<br />
Göttin eingedrückt und soll der gütigen Frika Beiname sein. 3<br />
Sie berührt sich aber auch vielfach m<strong>it</strong> Hilda 4 ,<br />
selbst m<strong>it</strong><br />
Hei, der „Verborgenen", als Todtesgöttin. Holda ist im Norden<br />
tief herabgewürdigt, wenn sie langnasig, hässlich, grosszahnig,<br />
m<strong>it</strong> struppigem, verworrenem Haar vorgestellt wird.<br />
Denn obschon der jährliche Umzug Holda's m<strong>it</strong> ihrem Gefolge<br />
von Eiben, die nach ihr die „guten Holden" heissen, dem<br />
Lande Fruchtbarke<strong>it</strong> bringt, so fährt sie doch auch, gleich<br />
1<br />
Tac<strong>it</strong>., Germ., 40.<br />
2<br />
Simrock, 399.<br />
3<br />
Grimm, 244.<br />
4<br />
Simrock, 413.
158 Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
Wuotan, schreckenerregend durch die<br />
Lüfte und gehört, wie<br />
dieser, zum wüthenden Heer. Hieran knüpft sich der m<strong>it</strong>telalterliche<br />
Glaube von den Fahrten der Hexen in Gesellschaft<br />
der Holda. Der christliche Volksglaube Hess die Seelen der<br />
ungetauft verstorbenen Kinder, da sie heidnisch geblieben,<br />
dem Wuotan oder der Holda verfallen.<br />
Berchta, dem Namen nach „die leuchtende, glänzende<br />
Göttin", und Holda (aus dem altdeutschen: hulda, Dunkelhe<strong>it</strong>),<br />
den Gegensatz bildend, findet Simrock in der Hei verbunden,<br />
indem diese eine lichte und eine dunkle Se<strong>it</strong>e hat,<br />
und je nachdem sie dem Menschen die eine oder die andere<br />
zukehrte, als lichte (Berchta) oder als dunkle Göttin (Hulda)<br />
erscheinen konnte. l Letztere Se<strong>it</strong>e ist durch christlichen Einfluss<br />
besonders hervorgehoben worden, wo sie als kinderschrecken<strong>des</strong><br />
Scheusal auftr<strong>it</strong>t. Nach Grimm ist Berchta<br />
durch die<br />
christliche Volksansicht noch tiefer als Holda herabgedrückt.<br />
2 Holda wird, wie Berchta, auch als spinnende<br />
Frau dargestellt, sie steht dem Flachsbau vor sowie dem<br />
Feldbau, beaufsichtigt die strenge Ordnung im Haushalt, beschützt<br />
den weiblichen Fleiss, ist demnach, gleich Nerthus,<br />
eine bemutternde Gotthe<strong>it</strong>. Ihr und Bertha's Erscheinen ist<br />
daher dem Neidischen und Faulen ungünstig. Der Holda<br />
waren die Grenzen heilig, und es scheinen auch die Gerichte<br />
unter der Obhut dieser hehren Göttin gestanden zu haben. 3<br />
Daran knüpft sich wol der Zusammenhang, in dem, nach dem<br />
Volksglauben, die Hexen m<strong>it</strong> den Richtstätten stehen.<br />
Holda, welche nach Simrock 4 zwischen Hei und<br />
Ran in der M<strong>it</strong>te steht, empfängt die Ertrinkenden auf dem<br />
Grunde ihres Sees oder Brunnens auf freundlichen Wiesen.<br />
Ran, die im Wasser wohnende To<strong>des</strong>göttin und Gattin <strong>des</strong><br />
Wasserriesen Oegir, raubt die Ertrinkenden, die sie im Netz<br />
an sich zieht. Sie ist eine Nebenbildung der Hei, und die<br />
Unterwelt scheint in dem Schose der Erde wie in der Tiefe<br />
<strong>des</strong> Meeres gedacht zu sein.<br />
Frey ja und ihr Bruder Freyr, der über Regen und<br />
Sonnenschein und das Wachsthum der Erde waltet, Kinder<br />
1<br />
Simrock, 414.<br />
2<br />
Grimm, 250.<br />
3<br />
Simrock, 419.<br />
i<br />
S. 475.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 159<br />
<strong>des</strong> Äsen Niordr, repräsentiren die zur Frühlingsze<strong>it</strong> sich<br />
regende Zeugungskraft in der Natur. Frey ja erscheint als<br />
Göttin der schönen Jahresze<strong>it</strong>, der Liebe, sie ist aber auch<br />
Walküre, der die Hälfte in der Schlacht Gefallener angehört,<br />
in welcher Beziehung sie Odhin's Gemahlin ist.<br />
Als solche reicht<br />
sie den in Odhin's Halle eingedrungenen Riesen den Trunk.<br />
eddischen Glaubenskreise erscheint sie aber als Göttin der<br />
schönen Jahresze<strong>it</strong>, der Liebe, der Ehe. Neben ihr steht<br />
Friofor, die aber dem Begriffe wie dem Namen nach nur aus<br />
Freyja hervorgegangen, als selbständige Göttin neben jene<br />
hingestellt erscheint, hat von ihrer Mutter Nerthus die gleiche<br />
Würde der Freyja angeerbt, ist Wodan's Gemahlin und theilt<br />
m<strong>it</strong> diesem die Allwissenhe<strong>it</strong>, steht der Ehe vor, wird von<br />
Kinderlosen angefleht. In Niedersachsen hat Frigg den Namen<br />
Fru Freke und spielt häufig Rollen der Frau Holle. 1 Nach<br />
Simrock 2 schied sich Odhin von der Mutter Thörf's,<br />
Njördh, als er sich der Frigg verband, und wenn diese jetzt<br />
wol auch Tochter Fiörgyn's heisst, so soll sie dies m<strong>it</strong> der ersten<br />
Gemahlin <strong>des</strong> Gottes identificiren, sie konnte auch nicht mehr<br />
Njördh's Tochter heissen,<br />
Im<br />
se<strong>it</strong> sie von der Freyja unterschieden<br />
ward. Frigg, als Verjüngung der Erdmutter, personificirt den<br />
Zeugungstrieb der Natur, worauf sich ihre Buhlschaften bei<br />
Saxo und in der älteren Edda beziehen. Freyja fährt auf<br />
einem m<strong>it</strong> zwei Katzen bespannten Wagen, den Symbolen<br />
<strong>des</strong> starken Zeugungstriebs. Grimm 3 anerkennt die Ident<strong>it</strong>ät<br />
der Freyja und Frigg m<strong>it</strong> Hera und Aphrod<strong>it</strong>e und sieht<br />
ausser verschiedenen andern Zügen auch darin eine Vermengung<br />
der Frigg und Freya, dass eine Göttin Jolla als<br />
Schwester der letztern, die altnordische Julia als Dienerin der<br />
erstem erscheint, indem Jolla und Julia dem Namen wie dem<br />
Amte nach zusammenfallen.<br />
Die der Freya geheiligte Katze macht das M<strong>it</strong>telalter zum<br />
Thiere der Hexen und Nachtfrauen.<br />
Da die ursprüngliche Form der germanischen Religionsanschauung<br />
Naturreligion war 4 ,<br />
schaute die gläubige Phan-<br />
1<br />
Vgl. Grimm, 245, 280.<br />
2<br />
S. 379.<br />
3 S. 285.<br />
4<br />
Ueber den Sonnendienst der Germanen, vgl. J. Caesar, B. G., VI, 21;<br />
Grimm, D. Myth. a. versch. 0.; <strong>des</strong>sen R.-Alt., 278.
1(3(J Erster Abschn<strong>it</strong>t: Der religiöse Dualismus.<br />
tasie in den waltenden Naturkräften noch eine Menge götterhafter<br />
Wesen an, bei welchen sich der Dualismus von wohlund<br />
übelthätig mehr oder weniger herausstellt. Jener Nordmann<br />
dürfte daher nicht unrecht haben, wenn er behauptet:<br />
dass seine Vorfahren die ganze Welt m<strong>it</strong> Geistern verschiedener<br />
Art erfüllt glaubten, wovon einige den Menschen zugethan<br />
waren, daher Licht-Asen, gute Äsen genannt wurden;<br />
andere, die nach ihrem Aufenthalte in Wäldern, Höhlen, auf<br />
Bergen und Felsen, in der Luft oder im Wasser benannt<br />
waren, als böse Dämonen betrachtet wurden. l Es wurde<br />
schon erwähnt, dass den Lichtelben die schwarzen Eiben<br />
gegenüberstehen, und obschon das Eibenvolk im allgemeinen<br />
als gutmüthig angenommen wird, und die Gegensätzlichke<strong>it</strong><br />
im religiösen Bewusstsein der Germanen überhaupt nicht im<br />
vollen Geichgewicht steht, indem die gute Se<strong>it</strong>e überwiegt, so<br />
suchen doch die Eibinnen gerne schöne Jünglinge, die Zwerge<br />
schöne Jungfrauen in ihre gefährliche Umarmung zu locken.<br />
Die Gegensätzlichke<strong>it</strong> zeigt sich an den im deutschnordischen<br />
Glaubenskreise häufig vorkommenden Riesen,<br />
deren<br />
einige zwar m<strong>it</strong> den guten Äsen im friedlichen Verhältniss<br />
stehen, meist aber doch einen feindlichen Dualismus bilden,<br />
wie ihre Kämpfe m<strong>it</strong> ihnen klar beweisen. Die Eintheilung<br />
n Fr ostriesen, Bergriesen, Wasserriesen, Feuerriesen gibt<br />
eine deutliche Erklärung ihrer urelementaren Bedeutung. Die<br />
altern Urkunden erkennen sie als<br />
die Urgeborenen, die älter<br />
als die Äsen erscheinen, zu denen sie das gegensätzliche Verhältniss<br />
<strong>des</strong> Unorganischen zum Organischen bilden, wozu die<br />
griechische Mythologie eine Analogie bietet.<br />
Die Kiesen sind als<br />
die älteste Götterdynastie zu betrachten, an deren Stelle, nach<br />
dem Volksglauben, die spätem Götter getreten sind, also<br />
eine entwickeltere Stufe bilden, und m<strong>it</strong> jenen, die in der Erinnerung<br />
aufbewahrt worden, in Gegensatz zu stehen kommen.<br />
Die Riesen werden zu Feinden der Götter, und da es im<br />
Begriffe der letztern liegt, gut zu sein, so können erstere<br />
nicht anders als böse dargestellt werden. Es ist ein Vernichtungskrieg,<br />
in dem sie begriffen sind, wobei die Welt<br />
untergehen soll.<br />
Der Urriese Ymir verdankt sein Leben dem Zusammen-<br />
1<br />
Thorlacius im Skandinav. Museum v. 1803, II, 33.
4. Dualismus in den Religionen der Culturvölker <strong>des</strong> Alterthums. 161<br />
wirken von Licht und Wärme auf das Wasser,<br />
den Grundstoff*<br />
alles Seins. Die Riesen sind hiernach Repräsentanten<br />
der vom Geiste noch ungeformten Materie. Den Riesen eignet<br />
daher Plumphe<strong>it</strong>, Ungeschicklichke<strong>it</strong>, Ungeschlachthe<strong>it</strong> ; in den<br />
deutschen Sagen wird ihnen meistens Dummhe<strong>it</strong> zugeschrieben,<br />
die bald m<strong>it</strong> Gutmüthigke<strong>it</strong>, bald m<strong>it</strong> Boshe<strong>it</strong> vereint ist. Im<br />
Norden hat sich der ursprüngliche Gegensatz mehr zum<br />
ethischen von gut und böse entwickelt. Die Äsen erscheinen<br />
als Träger <strong>des</strong> Guten, der schaffenden und erhaltenden Cultur;<br />
die Riesen hingegen als ein Geschlecht, das auf Zerstörung sinnt<br />
und das uranfängliche Chaos herbeiführen will. Wie die Urwälder<br />
und die Ungeheuern Thiere der Vorze<strong>it</strong> ausgerottet werden<br />
, so erliegen die Riesen den gegen sie kämpfenden Helden.<br />
Andern Ursprungs sind die Götter , sie werden durch die<br />
Kuh Audhumbla aus den salzigen Eisblöcken geleckt; es ist<br />
hiem<strong>it</strong> ein bildender Process angedeutet, wobei das Salz die<br />
Bedeutung <strong>des</strong> geistigen Princips hat. Aus der Vermählung<br />
Böt's, <strong>des</strong> Sohnes Buri's, m<strong>it</strong> der Tochter <strong>des</strong> Riesen Bölthorn<br />
gehen die Söhne üdhin, W^ili und We hervor. Durch die<br />