Inhalt AUFSÄTZE BUCHREZENSIONEN - ZIS
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<strong>Inhalt</strong><br />
AUFSÄTZE<br />
Internationales Strafrecht<br />
Festnahme von Piraterieverdächtigen auf Hoher See<br />
Geltung des § 127 StPO im Rahmen der Operation Atalanta<br />
Von Prof. Dr. Robert Esser, Passau, Ass. iur. Sebastian Fischer,<br />
Berlin 771<br />
Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen<br />
Entwicklungen in nationalen und internationalen<br />
Strafverfahren<br />
Von Prof. Dr. Christoph Safferling, LL.M. (LSE),<br />
Wiss. Mitarbeiterin Alena Hartwig, Marburg 784<br />
Strafrecht<br />
Die Obstruktion der Konstruktion<br />
Über die Bremswirkung gewohnter Denkmuster im<br />
Strafrecht<br />
Von Prof. Dr. Bernhard Hardtung, Rostock 795<br />
Neue Wege der Vorsatzdogmatik – Eine Auseinandersetzung<br />
mit drei neuen Monographien zum Vorsatzbegriff<br />
Von Wiss. Assistent Dr. Luís Greco, München 813<br />
<strong>BUCHREZENSIONEN</strong><br />
Strafrecht<br />
Fabian Pfefferkorn, Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit<br />
im französischen und deutschen Recht, 2006<br />
(Prof. Dr. Martin Heger, Dr. Erol Rudolf Pohlreich, Berlin) 822<br />
Jorge F. Perdomo-Torres, Garantenpflichten aus<br />
Vertrautheit, 2006<br />
(Privatdozent Dr. Andreas Popp, M.A., Passau) 825<br />
Laila Mintas, Glücksspiele im Internet, 2009<br />
(Privatdozent Dr. Norbert Janz, Potsdam/Berlin) 827<br />
Annette Louise Herz, Menschenhandel, 2005<br />
(Dr. Stephanie Öner, Wien) 829
Festnahme von Piraterieverdächtigen auf Hoher See<br />
Geltung des § 127 StPO im Rahmen der Operation Atalanta<br />
Von Prof. Dr. Robert Esser, Passau, Ass. iur. Sebastian Fischer, Berlin*<br />
I. Einleitung<br />
Der Deutsche Bundestag hat am 19. Dezember 2008 die<br />
Beteiligung der Deutschen Marine an der ersten maritimen<br />
EU-(Militär-)Mission „EUNAVFOR/Operation Atalanta“<br />
und die Bereitstellung von Kriegsschiffen beschlossen. Mit<br />
der zunächst bis Dezember 2009 angesetzten und nunmehr<br />
um ein weiteres Jahr verlängerten Operation verfolgt die EU<br />
das Ziel, die am Horn von Afrika und im Seegebiet vor der<br />
Küste Somalias verstärkt agierenden Piraten abzuschrecken<br />
und die Seeräuberei 1 zu bekämpfen. Im Rahmen der Operation<br />
hat die Deutsche Marine ein vielschichtiges Aufgabenspektrum<br />
übernommen; 2 im Kern geht es neben der Durchsetzung<br />
des Völkerrechts um die Gewährung von Schutz für<br />
die Schiffe des Welternährungsprogramms sowie den Schutz<br />
anderer ziviler Schiffe im Operationsgebiet, die Überwachung<br />
der Gebiete vor der Küste Somalias einschließlich der<br />
somalischen Hoheitsgewässer und die Durchführung der<br />
erforderlichen Maßnahmen, einschließlich des Einsatzes von<br />
Gewalt, zur Abschreckung, Verhütung und Beendigung von<br />
seeräuberischen Handlungen, bewaffneten Raubüberfällen,<br />
Geiselnahmen und Lösegelderpressungen, die im Operationsgebiet<br />
begangen werden. 3<br />
* Der Autor Esser ist Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches,<br />
Europäisches und Internationales Strafrecht und Strafprozessrecht<br />
sowie Wirtschaftsstrafrecht an der Universität Passau.<br />
1 Art. 101 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen<br />
(SRÜ) vom 10.12.1982 (BGBl. 1994 II, S. 1799) – für<br />
Deutschland am 16.11.1995 (BGBl. II, S. 602) in Kraft getreten<br />
– definiert als „Seeräuberei“ die folgenden Handlungen:<br />
a) jede rechtswidrige Gewalttat oder Freiheitsberaubung oder<br />
jede Plünderung, welche die Besatzung oder die Fahrgäste<br />
eines privaten Schiffes oder Luftfahrzeugs zu privaten Zwecken<br />
begehen und die gerichtet ist i) auf Hoher See gegen ein<br />
anderes Schiff oder Luftfahrzeug oder gegen Personen oder<br />
Vermögenswerte an Bord dieses Schiffes oder Luftfahrzeugs;<br />
ii) an einem Ort, der keiner staatlichen Hoheitsgewalt untersteht,<br />
gegen ein Schiff, ein Luftfahrzeug, Personen oder<br />
Vermögenswerte; b) jede freiwillige Beteiligung am Einsatz<br />
eines Schiffes oder Luftfahrzeugs in Kenntnis von Tatsachen,<br />
aus denen sich ergibt, dass es ein Seeräuberschiff oder<br />
-luftfahrzeug ist; c) jede Anstiftung zu einer unter Buchstabe<br />
a oder b bezeichneten Handlung oder jede absichtliche Erleichterung<br />
einer solchen Handlung.“; vgl. gleich lautend<br />
auch: Art. 15 des Übereinkommens v. 29.4.1958 über die<br />
Hohe See (HSÜ; BGBl. 1972 II, S. 1091).<br />
2 Vgl. Antrag der Bundesregierung v. 10.12.2008, BT-Drs. 16/<br />
11337 v. 10.12.2008, S. 1 (5). Zur Verlängerung des Einsatzes<br />
vgl. Beschl. 2009/907/GASP des Rates v. 8.12.2009,<br />
ABl. EU Nr. L 322 v. 9.12.2009, S. 27, sowie Antrag der<br />
Bundesregierung v. 9.12.2009, BT-Drs. 17/179 v. 9.12.2009,<br />
S. 1 ff.<br />
3 Vgl. hierzu BT-Drs. 16/11337 v. 10.12.2008, S. 1 f.; BT-<br />
Drs. 16/11416 v. 19.12.2008, S. 1.<br />
Die EU und Kenia haben eine Vereinbarung in Form eines<br />
Briefwechsels über die Bedingungen und Modalitäten für<br />
die Übergabe von Personen getroffen, die seeräuberischer<br />
Handlungen verdächtigt und von den an der Operation Atalanta<br />
beteiligten Marineeinheiten in Gewahrsam genommen<br />
werden. 4 Im Zuge der Operation ist bislang in vier Fällen<br />
(vgl. Fn. 106) eine Ingewahrsamnahme von Piraterieverdächtigen<br />
durch deutsche Marinesoldaten erfolgt. In zwei Fällen<br />
schloss sich eine Überstellung an die kenianischen Behörden<br />
an, in einem weiteren Fall wurden die Verdächtigen nach<br />
einigen Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt. 5<br />
Mit diesem Einsatz betritt Deutschland in vielerlei Hinsicht<br />
juristisches Neuland. Insbesondere die Durchführung<br />
freiheitsentziehender Maßnahmen durch deutsche Soldaten<br />
auf Hoher See im Rahmen einer internationalen Mission und<br />
die Überstellung von Zivilpersonen an Drittstaaten werfen,<br />
neben völker- und verfassungsrechtlichen Fragen, zahlreiche<br />
strafrechtliche und strafprozessuale Fragen auf, die bislang,<br />
auch mangels praktischer Notwendigkeit in der Vergangenheit,<br />
in Rechtsprechung und Lehre kaum Erörterung erfahren<br />
haben. Dies stellt aktuell sowohl Politik als auch Justiz vor<br />
erhebliche Probleme und betrifft insbesondere die Zulässigkeit<br />
der Ingewahrsamnahme von Piraterieverdächtigen durch<br />
Soldaten der Deutschen Marine und die hierfür einschlägigen<br />
Rechtsgrundlagen.<br />
Vor diesem Hintergrund befasst sich die vorliegende Untersuchung<br />
mit der Frage, ob eine Ingewahrsamnahme Piraterieverdächtiger<br />
durch Marinesoldaten im Zuge der Operation<br />
Atalanta auf das strafprozessuale Festnahmerecht aus § 127<br />
StPO gestützt werden kann. Dabei wird zugrunde gelegt, dass<br />
4 Beschluss 2009/293/GASP des Rates v. 26.2.2009, ABl. EU<br />
Nr. L 79 v. 25.3.2009, S. 47; Briefwechsel v. 6.3.2009 zwischen<br />
der Europäischen Union und der Regierung Kenias<br />
über die Bedingungen und Modalitäten für die Übergabe von<br />
Personen, die seeräuberischer Handlungen verdächtigt werden<br />
und von den EU-geführten Seestreitkräften (EUNAVFOR)<br />
in Haft genommen wurden, und von im Besitz der EU-<br />
NAVFOR befindlichen beschlagnahmten Gütern durch die<br />
EUNAVFOR an Kenia und für ihre Behandlung nach einer<br />
solchen Übergabe, ABl. EU Nr. L 79 v. 25.3.2009, S. 49.<br />
Von einer ähnlichen, zwischen der EU und der Republik<br />
Seychellen geschlossenen Vereinbarung wurde bislang noch<br />
nicht Gebrauch gemacht. Vgl. Beschl. 2009/877/GASP des<br />
Rates v. 23.10.2009, ABl. EU Nr. L 315 v. 2.12.2009, S. 35<br />
f., 37 ff.<br />
5 Vgl. zum praktischen Ablauf freiheitsentziehender Maßnahmen<br />
auf Schiffen der Deutschen Marine im Rahmen der<br />
Operation Atalanta und die Zusammenarbeit mit der Bundespolizei:<br />
Kuhfahl/Althaus, MarineForum 3-2009, 16 (18 f.);<br />
Uhl, MarineForum 3-2009, 11 (12).<br />
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Robert Esser/Sebastian Fischer<br />
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die Freiheitsentziehung auf Hoher See erfolgt. 6 Völker- und<br />
verfassungsrechtliche (Vor-)Fragen der Operation Atalanta 7<br />
stehen hingegen nicht im Fokus und werden lediglich insoweit<br />
erörtert, als sie im vorliegenden Kontext unmittelbar<br />
relevant sind.<br />
II. Rechtsgrundlage für freiheitsentziehende Maßnahmen<br />
der Deutschen Marine gegen Piraterieverdächtige<br />
1. Völkerrecht (Art. 105, 107 SRÜ)<br />
Nach Ansicht der Bundesregierung 8 erfolgt der Einsatz der<br />
Deutschen Marine im Rahmen der Operation Atalanta „auf<br />
der Grundlage von Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz 9 in Verbindung<br />
mit dem völkerrechtlichen Mandat aus der Sicherheits-<br />
[rats]resolution 1816/2008 und dem allgemeinen Völkerrecht,<br />
der darauf aufbauenden Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP<br />
vom 10.11.2008 10 , dem Mandat des Deutschen Bundestages<br />
(Drucksache 16/11416) 11 vom 19.12.2008 sowie entsprechender<br />
Einsatzregeln und Abkommen der Europäischen Union“<br />
12 . Nach Auffassung des BMJ bedarf es über diese Regelungen<br />
hinaus keiner weiteren Rechtsgrundlage für freiheitsentziehende<br />
Maßnahmen durch Einsatzkräfte der Bundeswehr<br />
im Rahmen der Pirateriebekämpfung. Grundlage der<br />
Ingewahrsamnahme durch die Deutsche Marine sei unmittelbar<br />
das Völkerrecht: einerseits Bestimmungen des UN-<br />
Seerechtsübereinkommens (insb. Art. 101 ff. SRÜ 13 ), andererseits<br />
die völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Befugnis<br />
zum Kampf gegen Piraterie, die gemäß Art. 25 GG Bestandteil<br />
des Bundesrechts sei. 14 Bei Erlass eines Haftbefehls trete<br />
6 Auf die durch UN-SR-Resolution 1846/2008 geschaffene<br />
Möglichkeit, solche Maßnahmen auch in somalischen Hoheitsgewässern<br />
vorzunehmen (Nr. 10), wird nicht eingegangen.<br />
7 Vgl. hierzu z.B. Heinicke, Kritische Justiz 2009, 179.<br />
8 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der<br />
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – BT-Drs. 16/12531 v.<br />
30.3.2009, BT-Drs. 16/12648 v. 17.4.2009, S. 3, Antwort zu<br />
Frage 5; vgl. auch Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs<br />
Lutz Diwell v. 13.3.2009, BT-Drs. 16/12356 v.<br />
20.3.2009, S. 18 f.<br />
9 Ob man auch bei Maßnahmen im Rahmen der Europäischen<br />
Sicherheits- und Verteidigungspolitik (noch) von einem System<br />
gegenseitiger kollektiver Sicherheit (Art. 24 Abs. 2 GG)<br />
sprechen kann, ist nach dem Urteil des BVerfG v. 30.6.2009<br />
zum Vertrag von Lissabon, NJW 2009, 2267 (2274), Rn. 254<br />
f., 390 f., fraglich geworden.<br />
10 Gemeinsame Aktion 2008/851/GASP des Rates v. 10.11.<br />
2008 über die Militäroperation der Europäischen Union als<br />
Beitrag zur Abschreckung, Verhütung und Bekämpfung von<br />
seeräuberischen Handlungen und bewaffneten Raubüberfällen<br />
vor der Küste Somalias, ABl. EU Nr. L 301 v. 12.11.<br />
2008, S. 33.<br />
11 BT-Drs. 16/11416 v. 19.12.2008.<br />
12 Antwort der Bundesregierung (Fn. 8), S. 3, Antwort zu<br />
Frage 5; vgl. auch Diwell (Fn. 8), S. 18 f.<br />
13 Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (Fn. 1).<br />
14 BMJ, Vorlage zur Sitzung des Rechtsausschusses des<br />
Deutschen Bundestages v. 17.12.2008, Antwort auf Frage 2<br />
dieser bis zur Übergabe der festgehaltenen Person – an die<br />
Bundespolizei bzw. die kenianischen Behörden 15 – und der<br />
damit einhergehenden Beendigung des völkerrechtlich legitimierten<br />
Gewahrsams der Bundeswehr neben diesen; insoweit<br />
bestehe eine Parallele zur Situation der Überhaft; da die<br />
Bundeswehr einen etwaigen Haftbefehl nicht vollziehe, werde<br />
sie nicht strafverfolgend tätig. 16 Bei den freiheitsentziehenden<br />
Maßnahmen gegen mutmaßliche Piraten handele es<br />
sich explizit nicht um eine vorläufige Festnahme auf der<br />
Grundlage deutschen Rechts. Die deutsche Strafprozessordnung<br />
(§§ 127, 163b StPO) sei nicht auf eine derartige „besondere<br />
Konstellation“ zugeschnitten, „soweit erforderlich“<br />
aber entsprechend anzuwenden. 17<br />
Nach Art. 105 S. 1 SRÜ kann jeder Staat auf Hoher See<br />
(u.a.) „ein Seeräuberschiff aufbringen und die Personen an<br />
Bord des Schiffes festnehmen“. Da Art. 107 SRÜ Kriegsschiffen<br />
ausdrücklich die Berechtigung zum „Aufbringen<br />
wegen Seeräuberei“ zuspricht, besteht jedenfalls völkerrechtlich<br />
eine ausreichende Grundlage sowohl für den Einsatz der<br />
Deutschen Marine als solchen als auch für die Ingewahrsamnahme<br />
von Piraterieverdächtigen. 18<br />
Es stellt sich aber die Frage, ob Art. 105 SRÜ i.V.m. Art. 1<br />
des Zustimmungsgesetzes zum SRÜ 19 auch verfassungsrechtlich<br />
eine ausreichende Rechtsgrundlage für Freiheitsentziehungen<br />
auf Hoher See darstellt oder ob insoweit eine Anwendung<br />
der StPO als Rechtsgrundlage für die Festnahme<br />
erforderlich ist.<br />
2. Verfassungsrechtliche Anforderungen des Art. 104 GG<br />
Eine Freiheitsentziehung gestützt auf Art. 105 SRÜ i.V.m.<br />
Art. 1 des Zustimmungsgesetzes respektive Völkergewohnheitsrecht<br />
müsste den hohen formalen Anforderungen entsprechen,<br />
die Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG an das „förmliche<br />
Gesetz“ und die „darin vorgeschriebenen Formen“ stellt, auf<br />
Grund dessen die Freiheit der Person beschränkt werden<br />
kann. Voraussetzung wäre allerdings, dass sich der Einsatz<br />
der Deutschen Marine überhaupt an den Grundrechten messen<br />
lassen muss.<br />
des Abgeordneten Montag, abrufbar unter http://www.jerzymontag.de/cms/default/dokbin/263/263180.beantwortung_der<br />
_fragen_vom_bmj.pdf. So schon zum mit Art. 105 SRÜ<br />
wortgleichen Art. 19 HSÜ (Fn. 1): Wille, Die Verfolgung<br />
strafbarer Handlungen an Bord von Schiffen und Luftfahrzeugen,<br />
1974, S. 100.<br />
15 Ggf. auch die Behörden eines anderen aufnahmebereiten<br />
Drittstaats. Diese Möglichkeit der Überstellung sieht die<br />
Gemeinsame Aktion v. 10.11.2008 (Fn. 10) ausdrücklich vor.<br />
16 Vgl. BMJ (Fn. 14), Antwort auf Fragen 2 und 5.<br />
17 Vgl. BMJ (Fn. 14), Antwort auf Frage 5.<br />
18 Weitergehende staats- und europarechtliche Fragestellungen<br />
zum Einsatz der Deutschen Marine bleiben außer Betracht.<br />
19<br />
Vertragsgesetz Seerechtsübereinkommen v. 2.9.1994<br />
(BGBl. II, S. 1798 ff.).<br />
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<strong>ZIS</strong> 13/2009
Festnahme von Piraterieverdächtigen auf Hoher See<br />
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a) Bindung der Marinesoldaten an die Grundrechte<br />
Art. 1 Abs. 3 GG normiert die Bindung aller (deutschen) 20<br />
staatlichen Gewalt an die Grundrechte. 21 Diese Bindung<br />
staatlicher Gewalt erstreckt sich auf alle Zweige der deutschen<br />
Hoheitsgewalt: Durch den Begriff „vollziehende Gewalt“<br />
22 in Art. 1 Abs. 3 GG sollte insbesondere die Bindung<br />
der Streitkräfte an die Grundrechte klargestellt werden. 23<br />
Spätestens seit einem Urteil des BVerfG zum G-10-<br />
Gesetz aus dem Jahr 1999 steht fest, dass der Schutz von<br />
Grundrechten nicht auf das Inland beschränkt ist und die<br />
Grundrechtsordnung auch bei grenzüberschreitenden Sachverhalten<br />
Anwendung findet. 24 Die Grundrechtsbindung<br />
deutscher Soldaten besteht daher prinzipiell auch für freiheitsentziehende<br />
Maßnahmen im Ausland. Sie hängt nicht<br />
davon ab, ob sich die Grundrechtseinwirkung auf deutschem<br />
Hoheitsgebiet oder solchem Gebiet vollzieht, welches von<br />
deutscher Hoheitsgewalt kontrolliert wird; vielmehr ist die<br />
Bindung an die Grundrechte geographisch ungebunden. 25 Die<br />
Staatsgrenze markiert jedenfalls nicht per se die Grenze der<br />
Grundrechtsbindung; 26 entscheidend ist, ob die Einwirkung in<br />
Grundrechte anderer von deutscher Hoheitsgewalt ausgeht. 27<br />
Diese Grundsätze gelten auch für das Gebiet der Hohen<br />
See, wenngleich deren rechtlicher Status nicht unumstritten<br />
ist. Zwar ist das Gebiet frei von staatlicher Souveränität; 28<br />
dies bedeutet allerdings nicht, dass die Hohe See ein rechtsfreier<br />
Raum wäre. Soweit deutsche Hoheitsgewalt auf dem<br />
Gebiet der Hohen See ausgeübt wird, besteht auch hier –<br />
20 Art. 1 Abs. 3 GG bindet nur die deutsche Staatsgewalt (vgl.<br />
Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.<br />
3/1, 1988, 72 V 5, 1229); ausländische Staaten und internationale<br />
Organisationen sind nicht an deutsche Grundrechte<br />
gebunden (vgl. BVerfGE 1, 10 – kein tauglicher Beschwerdegegenstand).<br />
Allerdings kann das Handeln ausländischer<br />
Organe deutscher Hoheitsgewalt unter bestimmten Voraussetzungen<br />
zugerechnet werden (BVerfGE 66, 39 = NJW<br />
1984, 601 – Nachrüstung/Pershing II).<br />
21 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar,<br />
56. Lfg., Stand: September 2009, Art. 1 Abs. 3 Rn. 11.<br />
22 Geändert durch Art. 1 Nr. 1 G zur Änderung des GG v.<br />
19.3.1956 – Wehrverfassungsnovelle (BGBl. I, S. 111).<br />
23<br />
Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar,<br />
5. Aufl. 2009, Art. 1 Rn. 99; Antoni, in: Hömig (Hrsg.),<br />
Grundgesetz, Kommentar, 8. Aufl. 2007, Art. 1 Rn. 21 a.E.<br />
24 BVerfGE 100, 313 (362 ff.) = NJW 2000, 55. Die Frage,<br />
ob die deutschen Grundrechte auch im Ausland gegenüber<br />
Ausländern zu beachten sind, hat das BVerfG damals ausdrücklich<br />
offen gelassen, weil sie im konkreten Fall nicht<br />
entscheidungserheblich war.<br />
25 Herdegen (Fn. 21), Art. 1 Abs. 3 Rn. 71; Höfling (Fn. 23),<br />
Art. 1 Rn. 86.<br />
26 So treffend: Höfling (Fn. 23), Art. 1 Rn. 86.<br />
27 BVerfGE 6, 290 (295) = NJW 1957, 745; 57, 9 (23) =<br />
NJW 1981, 1154; Jarass, in: Ders./Pieroth, Grundgesetz,<br />
Kommentar, 10. Aufl. 2009, Art. 1 Rn. 44.<br />
28 Wolfrum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Handbuch des Seerechts,<br />
2006, Kap. 4 Rn. 5 ff.<br />
genau wie im Ausland – im Grundsatz eine Bindung an die<br />
Grundrechte. 29<br />
aa) Besonderheiten aufgrund organisatorischer Einbindung<br />
in die EU-Mission?<br />
Die von den deutschen Marinesoldaten ergriffenen grundrechtsbeschränkenden<br />
Maßnahmen könnten allerdings dann<br />
nicht mehr als deutsche Hoheitsgewalt angesehen werden,<br />
wenn die Bundesrepublik im Rahmen der Operation Atalanta<br />
rechtlich oder tatsächlich gehindert wäre, auf einen Geschehensablauf,<br />
der zu einem Eingriff in ein grundrechtlich geschütztes<br />
Rechtsgut führt, durch Steuerung der als maßgebend<br />
erscheinenden Umstände Einfluss zu nehmen. 30 Maßgebend<br />
für die grundrechtsbeschränkenden Geschehensabläufe<br />
ist hier zum einen der verfassungsrechtlich notwendige 31<br />
Bundestagsbeschluss 32 zur Entsendung deutscher Streitkräfte,<br />
zum anderen die unmittelbare Kommandogewalt im Einsatz<br />
über die deutschen Soldaten.<br />
Die Teilnahme deutscher Marineschiffe an internationalen<br />
Einsätzen wie der Operation Atalanta entbindet diese nicht<br />
von deutscher Kommandogewalt: Zwar liegt die operative<br />
Leitung beim Hauptquartier der Operation Atalanta in<br />
Northwood (UK); auch gelten die Rules of Engagement<br />
(RoE) der Gemeinsamen Aktion 33 , doch ist davon auszuge-<br />
29 Herdegen (Fn. 21), Art. 1 Abs. 3 Rn. 71; Höfling (Fn. 23),<br />
Art. 1 Rn. 86.<br />
30 So BVerfGE 66, 39 (62) = NJW 1984, 601 (Nachrüstung/<br />
Pershing II).<br />
31 BVerfGE 90, 286 (383 ff.) = NJW 1994, 2207 m. Anm.<br />
Arndt, NJW 1994, 2197.<br />
32 BT-Drs. 16/11416 v. 19.12.2008.<br />
33 Da diese nicht öffentlich zugänglich sind, können die darin<br />
im Vorfeld eines Einsatzes, der Durchführung freiheitsentziehender<br />
Maßnahmen gegen Piraten und einer evtl. Überstellung<br />
von Verdächtigen an einen Drittstaat geforderten<br />
Konsulationen und Abstimmungen zwischen den im Einzelfall<br />
betroffenen Entscheidungsträgern vorliegend nicht im<br />
Detail nachgezeichnet werden. Allerdings ist davon auszugehen,<br />
dass die Bundesrepublik Deutschland sich durch die<br />
Teilnahme an Atalanta nicht ihrer Hoheitsbefugnisse bzgl.<br />
der eingesetzten (deutschen) Schiffe und Soldaten entäußert<br />
hat. Selbst für den Fall, dass die RoE vorsehen sollten, dass<br />
an der Atalanta-Operation teilnehmende Einheiten vor Durchführung<br />
eines Zugriffs eine Freigabe des Hauptquartiers in<br />
Northwood (OHQ) oder des Force Commanders vor Ort<br />
(Force Headquarter FHQ an Bord eines Kriegsschiffs einer<br />
teilnehmenden Nation im Einsatzgebiet) einholen müssten,<br />
wäre eine völlige Aufhebung der deutschen Kommandogewalt<br />
und damit auch eine Auflösung der Bindung an die<br />
Grundrechte abzulehnen. Denn zumindest verbleiben die in<br />
der unmittelbaren Einsatzsituation vorgenommenen Maßnahmen<br />
(z.B. Stoppen piraterieverdächtiger Boote, Abgabe<br />
von Warnschüssen, Boarding, Durchsuchung des Boots und<br />
ggf. Durchführung freiheitsentziehender Maßnahmen) im<br />
Kommando und in der Entscheidungsbefugnis des jeweiligen<br />
(deutschen) Schiffsführers. Im Übrigen liegt trotz der organisatorischen<br />
bzw. militärischen Einbindung der deutschen<br />
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Robert Esser/Sebastian Fischer<br />
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hen, dass in der konkreten Situation – selbst nach erfolgter<br />
Absprache mit der Einsatzzentrale – der Kommandeur des<br />
deutschen Schiffes als Teil deutscher Hoheitsgewalt es selbst<br />
in der Hand hat, nach Art und Intensität geeignete und erforderliche<br />
Maßnahmen z.B. zur Ergreifung der Piraten zu treffen.<br />
Gegen eine Übertragung der unmittelbaren Kommandogewalt<br />
auf die EU spricht auch der Umstand, dass Deutschland<br />
gemäß Art. 11 Abs. 2 der Gemeinsamen Aktion 2008/<br />
749/GASP des Rates vom 17.9.2008 34 für Ansprüche Dritter<br />
im Zusammenhang mit dem Einsatz der Deutschen Marine<br />
im Rahmen der Operation Atalanta als Flaggenstaat haftet.<br />
bb) Einschränkung aufgrund völkerrechtlicher Pflicht zur<br />
Pirateriebekämpfung?<br />
Selbst eine völkerrechtliche Bindung der Bundesrepublik bei<br />
Ausübung ihrer Hoheitsgewalt bestünde lediglich in den<br />
Grenzen des Art. 1 Abs. 3; 20 Abs. 3 GG. 35 Anders wäre dies<br />
lediglich dann, wenn die völkerrechtliche Bindung einen<br />
Belang von Verfassungsrang innehätte. Dies ist regelmäßig<br />
nur bei Normen des ius cogens 36 der Fall. 37<br />
Zwar ist die Bekämpfung der Seeräuberei seit langem eine<br />
völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Befugnis der Staaten.<br />
38 Doch gab es auch schon vor Abschluss der ersten Kodifikation<br />
über die Hohe See, des HSÜ von 1958, nach allgemeiner<br />
Meinung keine Verpflichtung zur Bekämpfung der<br />
Piraterie. 39 Art. 14 HSÜ verpflichtet die Vertragsstaaten zur<br />
Zusammenarbeit in Bezug auf die Bekämpfung der Piraterie.<br />
40 Unstrittig ist insoweit nur, dass es eine Verpflichtung<br />
der Staaten gibt, nicht mit Piraten zu kooperieren oder ihnen<br />
sonstige Unterstützung zu gewähren. 41 Der zu Art. 14 HSÜ<br />
wortgleiche Art. 100 SRÜ verpflichtet gleichfalls die Staaten<br />
dazu, in größtmöglichem Maße zusammenzuarbeiten, um<br />
Seeräuberei zu bekämpfen. 42 Schon zu Art. 14 HSÜ wurde<br />
vertreten, dass die Vertragsparteien zwar dem generellen Ziel<br />
der Piratenbekämpfung verpflichtet seien, jedoch nicht zu<br />
Maßnahmen im Einzelfall. 43 Dies ist auch die Rechtsauffassung<br />
der Bundesregierung. 44<br />
Andere Stimmen entnehmen jedoch schon den einschlägigen<br />
Bestimmungen des HSÜ eine Pflicht zur Bekämpfung<br />
der Piraten, ohne dies allerdings näher zu begründen. 45 Auch<br />
dem SRÜ werden ohne weitere Begründung Verpflichtungen<br />
der Staaten zur Bekämpfung der Piraterie im konkreten Einzelfall<br />
entnommen. 46 Im Hinblick auf den Wortlaut der einschlägigen<br />
Bestimmungen des SRÜ über die Rechte der Vertragsstaaten<br />
zur Pirateriebekämpfung 47 kann dieser Auffassung<br />
indes nicht zugestimmt werden. Zwar sind die Vertragsstaaten<br />
des SRÜ zur Zusammenarbeit zur Bekämpfung der<br />
Seeräuberei verpflichtet; auch verpflichten sie sich, nicht mit<br />
Piraten zusammen zu arbeiten oder diese anders zu fördern.<br />
Es besteht jedoch keine Pflicht zum Eingreifen im konkreten<br />
Einzelfall. 48<br />
Damit besteht letztlich keine zwingende völkerrechtliche<br />
Verpflichtung zur Pirateriebekämpfung. Die Bundesrepublik<br />
Marineeinheiten in die Strukturen der EU-Operation die<br />
nationale Führungsverantwortung für die deutschen Einheiten<br />
im Atalanta-Einsatz und in OHQ und FHQ beim Befehlshaber<br />
des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr in Potsdam.<br />
Es wäre angesichts dessen, schon um Umgehungen zu<br />
vermeiden, nicht hinnehmbar, wollte man aufgrund der organisatorischen<br />
bzw. militärischen Einbindung der deutschen<br />
Marineeinheiten in die Strukturen der EU-Operation eine<br />
Aufgabe jeder Steuerungs- und Einflussmöglichkeit und eine<br />
Auflösung der Grundrechtsbindung der deutschen Soldaten<br />
annehmen. Vgl. zur Kommandostruktur des Einsatzes Uhl,<br />
MarineForum 3-2009, 11 (12).<br />
34 Gemeinsame Aktion 2008/749/GASP des Rates v. 17.9.<br />
2008, ABl. EU Nr. L 252 v. 20.9.2008, S. 39.<br />
35 Herdegen (Fn. 21), Art. 1 Abs. 3 Rn. 74.<br />
36 Zu diesen Normen vgl. Herdegen (Fn. 21), Art. 25 Rn. 16.<br />
37 Herdegen (Fn. 21), Art. 1 Abs. 3 Rn. 74. Die Bekämpfung<br />
der Piraterie stellt indes nach überwiegender Ansicht keine<br />
Norm des zwingenden Völkergewohnheitsrechts dar: Wolfrum<br />
(Fn. 28), Kap. 4 Rn. 47; Lagoni, in: J. Ipsen/Schmidt-<br />
Jortzig (Hrsg.), Recht, Staat, Gemeinwohl, Festschrift für<br />
Dietrich Rauschning, 2001, S. 501 (S. 520 ff., 533); wohl<br />
auch: K. Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 54 Rn. 16 („berechtigt“);<br />
a.A. Stein, in: J. Ipsen/Schmidt-Jortzig (a.a.O.),<br />
S. 487 (S. 489-491, 496).<br />
38 Beckert/Breuer, Öffentliches Seerecht, 1991, Rn. 284 unter<br />
Verweis auf Berber, in: H.P. Ipsen/Necker (Hrsg.), Recht<br />
über See, Festschrift, Rolf Stödter zum 70. Geburtstag am 22.<br />
April 1979, 1979, S. 147.<br />
39 Wille (Fn. 14), S. 100 m.w.N.<br />
40 Vgl. die englische Sprachfassung: „[…] shall co-operate to<br />
the fullest possible extent […]“; hierzu Wille (Fn. 14), S. 100 f.<br />
41 So zu den wortgleichen Bestimmungen des SRÜ: Wolfrum<br />
(Fn. 28), Kap. 4 Rn. 47.<br />
42 Ipsen (Fn. 37), § 54 Rn. 6.<br />
43 Ausdrücklich Wolfrum (Fn. 28), Kap. 4 Rn. 47: „es besteht<br />
keine Verpflichtung der Staaten, Akte von Piraterie auf Hoher<br />
See zu verfolgen.“ Vgl. auch Wille (Fn. 14), S. 101.<br />
44 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der<br />
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drs. 16/11382 v. 17.12.<br />
2008, Antwort auf Frage Nr. 28.<br />
45 Jescheck, in: Schroeder/Zipf (Hrsg.), Festschrift für Reinhard<br />
Maurach zum siebzigsten Geburtstag, 1972, S. 579<br />
(S. 591): „Für die Piraterie gilt seit alters her das Universalitätsprinzip,<br />
eine Strafpflicht gibt es jedoch erst neuerdings.<br />
Sie wurde durch die Konvention über die Hohe See von 1958<br />
eingeführt.“<br />
46 Stein (Fn. 37), S. 496, nimmt etwa an, dass die Deutsche<br />
Marine durch das vom BMVg ausgesprochene generelle<br />
Verbot, gekaperte Schiffe zu entern, der völkerrechtlich bestehenden<br />
Verpflichtung der Bundesrepublik nicht nachkommen<br />
könne.<br />
47 Vgl. z.B. Art. 105 SRÜ: „[…] every state may seize […].<br />
The courts of the State that carried out the seizure may decide<br />
upon the penalties to be imposed.“; Art. 110 SRÜ: „Right of<br />
visit“.<br />
48 So auch Lagoni (Fn. 37), S. 522; so auch – bezogen auf<br />
Art. 105 SRÜ: Tomuschat, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhoff<br />
(Hrsg.), Bonner Kommentar, Grundgesetz, 142. Lfg., Stand:<br />
Juni 2009, Art. 25 GG Rn. 106.<br />
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774<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Festnahme von Piraterieverdächtigen auf Hoher See<br />
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hat also keineswegs die Steuerung der als maßgebend erscheinenden<br />
Umstände des Einsatzes aus der Hand gegeben.<br />
Damit wird die Bindung an die Grundrechte durch Art. 1<br />
Abs. 3 GG auch nicht durch die völkerrechtlichen Bindungen<br />
der Bundesrepublik zur Bekämpfung der Seeräuberei gelöst.<br />
b) Gesetzesvorbehalt des Art. 104 Abs. 1 GG<br />
aa) Das Grundgesetz legt für Freiheitsentziehungen in Art.<br />
104 Abs. 1 S. 1 GG hohe Maßstäbe an. Jede Art der Freiheitsentziehung<br />
49 darf nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes<br />
erfolgen. 50 Dies kann allein ein Parlamentsgesetz sein,<br />
welches nach dem vorgeschriebenen Verfahren (für den Bund<br />
nach Art. 77 ff. GG) verabschiedet werden muss. 51 Diese –<br />
im GG seltene direkte Nennung des förmlichen Gesetzes 52 –<br />
hat zur Folge, dass als gesetzliche Grundlage für Freiheitsentziehungen<br />
nur Bundes- oder Landesgesetze in Frage<br />
kommen. 53<br />
Ein solches Gesetz muss die materiellen Voraussetzungen<br />
der Freiheitsbeschränkung mit hinreichender Bestimmtheit<br />
regeln. 54 Voraussetzungen und Natur des Eingriffs sowie Art<br />
und Maß der Freiheitsbeschränkung müssen durch den Gesetzgeber<br />
selbst festgelegt werden. 55 Die gesetzlichen Bestimmungen<br />
müssen derart präzise sein, dass darauf ein Verwaltungsakt<br />
gestützt werden kann. 56 Eine Konkretisierung<br />
der Voraussetzungen der Freiheitsentziehung durch untergesetzliche<br />
Normen ist nur dann zulässig, wenn der Gesetzgeber<br />
wenigstens die Grundzüge im Gesetz geregelt hat. 57<br />
bb) Daher stellt sich die Frage, ob das von der Bundesregierung<br />
(s.o.) zur Begründung freiheitsentziehender Maßnahmen<br />
gegen Piraterieverdächtige herangezogene Völkergewohnheitsrecht<br />
ein förmliches Gesetz i.S.v. Art. 104 GG<br />
sein kann. Die völkergewohnheitsrechtliche Befugnis zum<br />
Kampf gegen Piraterie wird abgeleitet aus dem Weltrechtsprinzip<br />
(universal jurisdiction). Danach hat ein Staat die<br />
Befugnis, weltweit gegen Piraten auf der Hohen See vorzu-<br />
49 Degenhart, in: Sachs (Fn. 23), Art. 104 GG Rn. 9.<br />
50 BVerfGE 78, 374 (383) = NJW 1989, 1663; BGHZ 145,<br />
297 (304) = NJW 2001, 888 = JZ 2001, 821.<br />
51 BVerfGE 14, 174 (186 f.) = NJW 1962, 1339; Degenhart<br />
(Fn. 49), Art. 104 GG Rn. 9, 12; Rüping, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhoff<br />
(Fn. 48), 135. Lfg., Stand: August 2008) Art.<br />
104 GG Rn. 27; Müller-Franken, in: Stern/Becker (Hrsg.),<br />
Grundrechte-Kommentar, 2009, Art. 104 Rn. 55.<br />
52 Vgl. Jarass (Fn. 27), Art. 104 GG Rn. 3.<br />
53 BVerfGE 105, 239 (247) = NJW 2002, 3161.<br />
54 Vgl. Hömig, in: Ders. (Fn. 23), Art. 104 Rn. 3 („Grundzüge<br />
der Eingriffsvoraussetzungen”); Jarass (Fn. 27), Art. 104 Rn. 4.<br />
55 Kunig, in: von Münch/Ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar,<br />
Bd. 3, 5. Aufl. 2003, Art. 104 Rn. 8; vgl. auch: Rüping<br />
(Fn. 51), Art. 104 Rn. 32 ff. zum Erfordernis der „darin<br />
[im Gesetz] vorgeschriebenen Formen“.<br />
56 BVerfGE 109, 133 (188) = NJW 2004, 739.<br />
57 BVerfGE 14, 174 (186 f.) = NJW 1962, 1339 m. Anm.<br />
Weißauer, DÖV 1966, 114; 75, 329 = NJW 1987, 3175 m.<br />
Anm. Keller, JR 1988, 172; BVerfGE 78, 374 (383) = NJW<br />
1989, 1663; BGHZ 15, 61 (64) = DÖV 1954, 760.<br />
gehen. 58 Die Regeln des Völkergewohnheitsrechts gelten<br />
nach Art. 25 GG als Teil des Bundesrechts mit Vorrang vor<br />
den einfachen Bundesgesetzen und dem Landesrecht; ihre<br />
Berücksichtigung durch innerstaatliche Organe ist durch die<br />
Bestimmung umfassend sichergestellt. 59<br />
Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG macht indes ein förmliches Gesetz<br />
zur Bedingung jeder Freiheitsentziehung. 60 Gewohnheitsrecht<br />
muss daher als Rechtsgrundlage für eine Freiheitsentziehung<br />
ebenso ausscheiden wie eine analoge Anwendung<br />
von Normen. 61<br />
Dementsprechend genügt nach überwiegender Ansicht in<br />
der Literatur auch eine völkergewohnheitsrechtliche Regelung<br />
i.S.v. Art. 25 GG nicht den von Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG<br />
gestellten Anforderungen an das den Eingriff legitimierende<br />
förmliche Gesetz. 62 Selbst wenn man einer Norm des Völkergewohnheitsrechts<br />
aufgrund des ihr zugrunde liegenden Staatenkonsenses<br />
eine unmittelbare Anwendung auch ohne einfachgesetzliche<br />
Regelung zubilligte 63 , so kann dies – unabhängig<br />
von der durch Art. 25 GG aufgestellten, aber durchaus<br />
umstrittenen Normenhierarchie 64 – eine im Verfassungsrecht<br />
58 Der StIGH des Völkerbundes hatte sich im Lotus-Fall,<br />
Frankreich ./. Türkei, 7.9.1927, Series A No. 10, erstmals mit<br />
der Materie befasst und die Geltung des Weltrechtsprinzips<br />
statuiert.<br />
59 Herdegen (Fn. 21), Art. 25 GG Rn. 37.<br />
60 Hömig (Fn. 54), Art. 104 Rn. 3; Kunig (Fn. 55), Art. 104<br />
Rn. 8; Schmahl, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf<br />
(Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 11. Aufl. 2008, Art. 104<br />
Rn. 10; Degenhart (Fn. 49), Art. 104 Rn. 9; Herdegen<br />
(Fn. 21), Art. 104 Rn. 15; Schultze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.),<br />
Grundgesetz, Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 104<br />
Rn. 29. Darin unterscheidet sich die Vorschrift von Art. 114<br />
Abs. 1 S. 2 WRV, der nur ein materielles Gesetz vorsah; vgl.<br />
Rüping (Fn. 51), Art. 104 Rn. 27.<br />
61 BVerfGE 29, 183 (195 f.) = NJW 1970, 2205; Kunig<br />
(Fn. 55), Art. 104 Rn. 10; Degenhart (Fn. 49), Art. 104 Rn. 9;<br />
Schultze-Fielitz (Fn. 60), Art. 104 Rn. 29; Radtke, in: Epping/<br />
Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, Grundgesetz,<br />
Stand: 15.7.2009, Art. 104 Rn. 6; Müller-Franken<br />
(Fn. 51), Art. 104 Rn. 56.<br />
62 Streinz, in: Sachs (Fn. 23), Art. 25 Rn. 46; Tomuschat<br />
(Fn. 48), Art. 25 Rn. 103 f.; a.A. Hillgruber, in: Schmidt-<br />
Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Fn. 60), Art. 25 Rn. 19; Pernice,<br />
in: Dreier (Fn. 60), Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 25 Rn. 30.<br />
63 In diese Richtung argumentieren: Röben, Außenverfassungsrecht,<br />
2007, S. 294 f.; Tomuschat (Fn. 48), Art. 25<br />
Rn. 64; Streinz (Fn. 62), Art. 25 Rn. 38; wohl auch BVerfGE<br />
18, 441 (448); 27, 253 (274).<br />
64 Nach h.M. besitzen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts<br />
einen Rang oberhalb von einfachem Gesetzesrecht,<br />
aber unterhalb des Verfassungsrechts: BVerfGE 111, 307<br />
(318); Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 4. Aufl. 2009,<br />
S. 152 f.; Risse, in: Hömig (Fn. 23), Art. 25 Rn. 3; Jarass<br />
(Fn. 27), Art. 25 Rn. 14; Herdegen (Fn. 21), Art. 25 Rn. 42;<br />
für einen Verfassungsrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts<br />
sprechen sich dagegen aus: Pernice (Fn. 62),<br />
Art. 25 Rn. 25; Streinz (Fn. 62), Art. 25 Rn. 90; Herzog,<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
775
Robert Esser/Sebastian Fischer<br />
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ausdrücklich niedergelegte Qualifikation eines Gesetzesvorbehalts<br />
(hier: förmliches Gesetz, ganz zu schweigen von der<br />
inhaltlichen Bestimmtheit des Gesetzes) nicht überwinden. 65<br />
Auch eine völkergewohnheitsrechtliche Befugnis i.S.v. Art. 25<br />
GG zur Festnahme Piraterieverdächtiger muss daher als<br />
Rechtsgrundlage für eine Freiheitsentziehung i.S.v. Art. 104<br />
Abs. 1 S. 1 GG ausscheiden. 66<br />
cc) Die einschlägigen Resolutionen des UN-Sicherheitsrates<br />
67 sind gemäß Art. 25 UN-Charta i.V.m. dem Gesetz<br />
über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Charta<br />
der Vereinten Nationen 68 für Deutschland – auch innerstaatlich<br />
– bindend. Allerdings erscheint sehr fraglich, ob das<br />
Beitrittsgesetz bzw. die einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrates<br />
den Anforderungen an ein förmliches Gesetz<br />
i.S.v. Art. 104 GG genügen können. Das BVerfG verlangt<br />
vom Gesetzgeber, dass dieser die wesentlichen Grundzüge<br />
der Freiheitsentziehung bzw. -beschränkung im Gesetz selbst<br />
regelt. 69 Davon kann aber weder im Beitrittsgesetz zur UN-<br />
Charta noch in den Resolutionen des Sicherheitsrates die<br />
Rede sein; als Rechtsgrundlage für die Freiheitsentziehung<br />
scheiden diese also ebenfalls aus.<br />
dd) Dementsprechend kommt nur Art. 105 SRÜ als Teil<br />
eines völkerrechtlichen Übereinkommens als „förmliches<br />
Gesetz“ i.S.v. Art. 104 Abs. 1 GG – allein oder i.V.m. Art. 1<br />
des Zustimmungsgesetzes – in Betracht. Das Seerechtsübereinkommen<br />
wurde von Deutschland unterzeichnet und ratifiziert.<br />
Unabhängig davon, ob das SRÜ durch das Zustimmungsgesetz<br />
in nationales Recht transformiert 70 oder lediglich<br />
ein bloßer Rechtsanwendungsbefehl 71 erteilt wurde, 72<br />
steht es innerstaatlich durch Art. 1 des Zustimmungsgesetzes<br />
im Range einfachen Bundesrechts. Das Erfordernis eines<br />
Parlamentsgesetzes wird mithin erfüllt.<br />
Es stellt sich weiterhin die Frage, ob Art. 105 SRÜ die inhaltlichen<br />
Anforderungen des Gesetzesvorbehaltes des<br />
Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG erfüllt (s.o. II. 2. b). Art. 105 S. 1<br />
SRÜ normiert, dass jeder Staat auf Hoher See (vgl. Art. 86<br />
SRÜ) ein Seeräuberschiff (vgl. Art. 103 SRÜ) oder ein durch<br />
EuGRZ 1990, 483 (486); Steinberger, in: Isensee/Kirchhof<br />
(Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik<br />
Deutschland, Bd. 7, 1992, § 173 Rn. 61.<br />
65 Vgl. speziell zum Verhältnis von Art. 25 GG und der Lehre<br />
vom Gesetzesvorbehalt: Tomuschat (Fn. 48), Art. 25 Rn. 103 ff.<br />
66 Davon zu trennen ist die – hier aus strafrechtlicher Sicht<br />
nicht zu erörternde – Frage, ob völkergewohnheitsrechtliche<br />
Grundsätze über Art. 25 GG allgemein eine tragfähige<br />
Grundlage für den Einsatz der Bundeswehr (auf Hoher See)<br />
zum Zwecke der Pirateriebekämpfung liefern. Vgl. hierzu die<br />
Darstellung des Streitstandes bei: Wiefelspütz, NZWehrr<br />
2009, 133 (137-143).<br />
67 SR-Res. 1814 (2008); 1816 (2008); 1838 (2008), 1846<br />
(2008), 1851 (2008).<br />
68 Gesetz v. 6.6.1973 (BGBl. II, S. 430).<br />
69 BVerfGE 14, 174 (186 f.) = NJW 1962, 1339.<br />
70 So Maunz, in: Ders./Dürig (Fn. 21), 56. Lfg., Stand: September<br />
2009, Art. 59 GG Rn. 25.<br />
71 Vgl. Streinz (Fn. 62), Art. 59 GG Rn. 65.<br />
72 Zum Streitstand Herdegen (Fn. 21), Art. 25 GG Rn. 36.<br />
Seeräuber erbeutetes Schiff „aufbringen, die Personen an<br />
Bord des Schiffes festnehmen und die dort befindlichen Vermögenswerte<br />
beschlagnahmen“ kann. Damit geht Art. 105<br />
SRÜ zwar in seiner Formulierung über eine allgemeine völkerrechtliche<br />
Aufgabenzuweisung, wie sie in Art. 100 SRÜ<br />
niedergelegt ist, deutlich hinaus. Art. 105 SRÜ i.V.m. dem<br />
Zustimmungsgesetz zum SRÜ bietet aber letztlich nur eine<br />
hinreichende Befugnis, gegen Piraten zum Zweck der Strafverfolgung<br />
vorzugehen. Der Umfang der Zwangsmaßnahmen,<br />
die Reichweite des Festnahmerechts und insbesondere<br />
auch das weitere Verfahren nach einer Freiheitsentziehung,<br />
sind erst unter Heranziehung des nationalen Straf- und Strafverfahrensrechts<br />
zu ermitteln. Grund hierfür ist die Differenzierung<br />
zwischen der Ermächtigung durch das SRÜ und der<br />
(Einzel-)Entscheidung, wann diese Ermächtigung wahrgenommen<br />
werden soll. 73<br />
Zwar weist das BMJ 74 unter Bezugnahme auf das<br />
BVerfG 75 zutreffend darauf hin, dass das Verfassungsrecht<br />
bei Sachverhalten mit Auslandsbezug mit dem Völkerrecht<br />
abgestimmt werden muss und die Reichweite von Grundrechten<br />
„unter Berücksichtigung von Art. 25 GG aus dem Grundgesetz<br />
selbst zu ermitteln“ ist, „wobei je nach den einschlägigen<br />
Verfassungsnormen Modifikationen und Differenzierungen<br />
zulässig oder geboten sein können“. 76 Angesichts der<br />
herausragenden Bedeutung des Grundrechts auf Freiheit –<br />
wofür nicht zuletzt die exponierte Stellung des Art. 104 GG<br />
ein Beleg ist – kommen Einschränkungen der formalen Anforderungen<br />
an die „Gesetzlichkeit“ einer Freiheitsentziehung<br />
gemäß Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG durch deutsche Amtsträger<br />
bzw. Soldaten im Ausland aber nicht in Betracht. 77<br />
c) Zwischenergebnis<br />
Zwar bietet Art. 105 SRÜ eine Festnahmebefugnis bei Piraterie.<br />
Um den inhaltlichen Anforderungen des Art. 104 Abs. 1<br />
S. 1 GG für Freiheitsentziehungen zu genügen, bedarf es<br />
jedoch zusätzlich eines Rückgriffs auf die Vorschriften des<br />
nationalen Rechts, welche die Rahmenbedingungen der Freiheitsentziehung<br />
hinreichend inhaltlich konkretisieren. Damit<br />
73 Wille (Fn. 14), S. 101 f., hat diese Überlegungen bereits<br />
1974, also noch vor Einführung des SeeAufgG angestellt; die<br />
Ausführungen beziehen sich noch auf das HSÜ (Fn. 1) von<br />
1958; die Vorschriften bzgl. der Piraterie sind wortgleich in<br />
das SRÜ übernommen worden.<br />
74 BMJ (Fn. 14), Antwort auf Frage 5 a.E.<br />
75 BVerfGE 100, 313 (G-10; Fernmeldeüberwachung durch<br />
BND) = NJW 2000, 55 (58).<br />
76 BVerfGE 100, 313 (363) unter Hinweis auf: BVerfGE 31,<br />
58 (72 ff.) = NJW 1971, 1509; 92, 26 (41 f.) = NJW 1995,<br />
2339.<br />
77 Damit ist noch keine Aussage hinsichtlich einer einschränkenden<br />
Auslegung von Verfahrensgarantien getroffen, die –<br />
abhängig vom Einzelfall und jeweils bezogen auf die einzelne<br />
Garantie – u.U. bei Auslandssachverhalten in Betracht<br />
kommen kann. Siehe BVerfGE 100, 313 (363) unter Hinweis<br />
auf: BVerfGE 31, 58 (72 ff.) = NJW 1971, 1509; 92, 26 (41<br />
f.) = NJW 1995, 2339; Herdegen (Fn. 21), Art. 1 Abs. 3<br />
Rn. 72 f., 76.<br />
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776<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Festnahme von Piraterieverdächtigen auf Hoher See<br />
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wird die Anwendbarkeit der Vorschriften der Strafprozessordnung<br />
(StPO), insbesondere des Festnahmerechts aus § 127<br />
StPO, als Rechtsgrundlage für Freiheitsentziehungen auf Hoher<br />
See im Zuge der Operation Atalanta unmittelbar relevant.<br />
3. Geltung der StPO auf Hoher See<br />
a) Grundsätze des Internationalen Strafrechts (§§ 3 ff. StGB)<br />
Stimmen in der Literatur wollen schon aus praktischen Erwägungen<br />
die Anwendung der StPO bei Durchführung von<br />
Ermittlungshandlungen und insbesondere Zwangsmaßnahmen<br />
auf Hoher See herleiten. 78 Ein solcher Ansatz mag auf<br />
den ersten Blick eine gewisse Überzeugungskraft besitzen,<br />
bedarf aber selbstredend eines juristischen Fundamentes.<br />
Zur Anwendbarkeit der Festnahmevorschriften der StPO<br />
gelangte man, wenn im Einklang mit einer im Schrifttum<br />
vertretenen Ansicht bei einem strafprozessualen Handeln<br />
deutscher (Strafverfolgungs-)Behörden auf Schiffen (auch)<br />
außerhalb der deutschen Hoheitsgewässer – zur Aufklärung<br />
eines nach deutschem materiellen Strafrecht strafbaren Verhaltens<br />
– stets von der Geltung des deutschen Strafprozessrechts<br />
auszugehen wäre. 79<br />
Grundsätzlich ist der Geltungsbereich der StPO auf das<br />
Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland einschließlich<br />
der Eigengewässer und des Küstenmeeres sowie des zugehörigen<br />
Luftraums beschränkt. 80 Eine staatsgebietsübergreifende<br />
Strafverfolgungstätigkeit ist damit im Grundsatz ausgeschlossen.<br />
81 Eine allgemeine Gleichstellungsklausel, wie die<br />
78 Vgl. Kühne, in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die<br />
Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 1,<br />
26. Aufl. 2006, Einl. E Rn. 12 ff.; differenzierend nach dem<br />
Ort der Vornahme der Handlung: Wille (Fn. 14), S. 91-121<br />
(z.T. überholt); ähnlich (unter Berufung auf allgemeine völkerrechtliche<br />
Grundsätze): Meyer-Goßner, Strafprozessordnung,<br />
Kommentar, 52. Aufl. 2009, Einl. Rn. 209; vgl. auch<br />
Affeld, HuV-I 2000, 95 (102-108). Allgemein zu den Grenzen<br />
deutscher Strafgewalt durch das Völkerrecht und insbesondere<br />
durch fremde Gebietshoheit: Werle/Jeßberger, in: Laufhütte/Ris-sing-van<br />
Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch,<br />
Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, Vor § 3 Rn. 5<br />
ff., 31 ff. m.w.N.<br />
79 Diese Frage wird indes bislang kaum diskutiert und ist<br />
nicht abschließend geklärt. Vgl. hierzu Kühne (Fn. 78), Einl.<br />
E Rn. 12 ff. unter Verweis auf Wille (Fn. 14). Auch der BGH<br />
hat in seinem Beschl. v. 7.4.2009 – 2 ARs 180/09 = NStZ<br />
2009, 464 – hierüber nicht befunden, da lediglich über das<br />
örtlich zuständige Gericht gemäß § 13a StPO bzw. § 10 StPO<br />
zu entscheiden war.<br />
80 Erb, in: Ders. u.a. (Fn. 78), § 10 Rn. 1; BGH, Beschl. v.<br />
7.4.2009 – 2 ARs 180/09: Ablehnung der Möglichkeit einer<br />
quasi akzessorischen Anwendung der StPO im Falle der<br />
Anwendbarkeit deutschen materiellen Strafrechts, da unter<br />
deutscher Flagge fahrende Schiffe kein Teil des deutschen<br />
Staatsgebietes seien.<br />
81 Fischer, Strafgesetzbuch, Kommentar, 56. Aufl. 2009, Vor<br />
§§ 3-7 Rn. 22.<br />
Regelung des § 4 StGB im materiellen Strafrecht, fehlt für<br />
den Bereich des Strafprozessrechts. 82<br />
Die StPO enthält in §§ 10, 10a lediglich Gerichtsstandsregelungen<br />
für außerhalb ihres Geltungsbereichs begangene<br />
Straftaten – d.h. auf Schiffen, die berechtigt sind, die Bundesflagge<br />
zu führen (§ 10 StPO) bzw. für allgemein im Bereich<br />
des Meeres begangene Straftaten (§ 10a StPO). Diese Normen<br />
treffen hingegen keine Aussage über den Geltungs- bzw.<br />
Anwendungsbereich der StPO an sich. Insbesondere können<br />
nicht bereits aus der „Hoheits- und Strafgewaltserstreckung“<br />
des § 4 StGB unmittelbar Rückschlüsse auf den Anwendungsbereich<br />
der StPO gezogen werden. 83<br />
Gleichwohl würde es keinen Sinn machen, über § 10<br />
StPO einen deutschen Gerichtsstand zu begründen und dann<br />
der örtlich zuständigen Staatsanwaltschaft bzw. dem Gericht<br />
(§ 143 GVG; § 162 StPO) für Ermittlungsmaßnahmen den<br />
Weg über die StPO zu versperren. „Außerhalb des Geltungsbereichs“<br />
i.S.v. § 10 StPO bezeichnet daher lediglich einen<br />
Tatort außerhalb des Hoheitsbereichs der Bundesrepublik<br />
Deutschland 84 – und daran anknüpfend einen anderen Gerichtsstand<br />
– verschließt aber damit der Anwendbarkeit der<br />
StPO auf Hoher See nicht generell den Weg. 85 Ein restriktiverer<br />
Ansatz 86 ist – jedenfalls für den Bereich der Hohen See<br />
– auch völkerrechtlich nicht geboten, da die Handlungen hier<br />
im hoheitsfreien Raum erfolgen.<br />
b) Verweis auf die Vorschriften der StPO im SeeAufgG 87<br />
Da es sich bei der Hohen See um ein Gebiet handelt, das<br />
keiner Gebietshoheit eines Staates untersteht, 88 weist § 1<br />
Nr. 3 lit. d lit. bb SeeAufgG dem Bund als Aufgabe auf dem<br />
82 Kühne (Fn. 78), Einl. E Rn. 12.<br />
83 Vgl. BGH, Beschl. v. 7.4.2009 – 2 ARs 180/09; LG Mannheim<br />
NStZ-RR 1996, 147 („Mit dem Flaggenprinzip des § 4<br />
StGB sollen Streitfragen und Strafbarkeitslücken vermieden<br />
werden, es wird lediglich die Geltung deutschen Strafrechts<br />
angeordnet, nicht ‚schwimmendes bzw. fliegendes Territorium‘<br />
des Flaggenstaates eingeführt“); Wolfrum (Fn. 28), Kap. 4<br />
Rn. 36. Anders noch RGSt 23, 266 (267) unter Hinweis auf<br />
die Entstehungsgeschichte des § 10 StPO; siehe auch: BAG<br />
AP § 116 BetrVG 1972 Nr. 1; Meyer-Goßner (Fn. 78), Einl.<br />
Rn. 209.<br />
84 In diesem Sinne auch: BGH, Beschl. v. 7.4.2009 – 2 ARs<br />
180/09.<br />
85 Insofern ist zu beachten, dass der BGH, Beschl. v. 7.4.2009<br />
– 2 ARs 180/09 seine Ausführungen mehrfach auf die Bestimmung<br />
des Geltungsbereichs der StPO ausschließlich<br />
i.S.d. § 10 Abs. 1 StPO bezogen hat, also gerade keine Aussagen<br />
zum Geltungsbereich der StPO an sich treffen wollte.<br />
86<br />
Vgl. Fischer-Lescano/Kreck, ZERP-Diskussionspapier<br />
3/2009, Piraterie und Menschenrechte, S. 20 f.<br />
87 Gesetz über die Aufgaben des Bundes auf dem Gebiet der<br />
Seeschifffahrt (Seeaufgabengesetz – SeeAufgG) in der Fassung<br />
der Bekanntmachung v. 26.7.2002 (BGBl. I, S. 2876),<br />
zuletzt geändert durch Art. 11 Abs. 2 UVMG v. 30.10.2008<br />
(BGBl. I S. 2130).<br />
88 Vgl. zum Rechtsstatus der Hohen See: Wolfrum (Fn. 28),<br />
Kap. 4 Rn. 2 ff., sowie Werle/Jeßberger (Fn. 78), § 5 Rn. 48 ff.<br />
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777
Robert Esser/Sebastian Fischer<br />
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Gebiet der Seeschifffahrt, seewärts des Küstenmeeres, also<br />
auf der Hohen See, „wenn das Völkerrecht dies zulässt oder<br />
erfordert“, die Aufgaben der Behörden und Beamten des<br />
Polizeidienstes nach der Strafprozessordnung zu – „soweit<br />
zur Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen oder zur<br />
Wahrnehmung völkerrechtlicher Befugnisse der Bundesrepublik<br />
Deutschland nach Maßgabe zwischenstaatlicher Abkommen<br />
erforderlich“.<br />
Noch eindeutiger formuliert § 4 Abs. 1 SeeAufgG, dass<br />
seewärts der Begrenzung des Küstenmeeres bei der Verfolgung<br />
von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten zur Erfüllung<br />
völkerrechtlicher Verpflichtungen oder zur Wahrnehmung<br />
völkerrechtlicher Befugnisse die Vorschriften der Strafprozessordnung<br />
und des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten<br />
entsprechend gelten.<br />
Ob Art. 100 i.V.m. Art. 105 SRÜ sogar eine Verpflichtung<br />
der Staaten begründen, im konkreten Einzelfall gegen<br />
Piraten vorzugehen, ist umstritten. 89 Die Frage kann aber<br />
letztlich dahinstehen, da aus den Vorschriften jedenfalls eine<br />
völkerrechtliche Befugnis folgt, gegen Seeräuberei auf der<br />
Hohen See vorzugehen, und sich insofern eine Anwendbarkeit<br />
der Vorschriften der StPO begründen lässt. Da im Übrigen<br />
das SeeAufgG ohne weitere Einschränkungen auf die<br />
StPO in ihrer Gesamtheit verweist, ist zunächst festzustellen,<br />
dass § 127 StPO – vorbehaltlich des Vorliegens der tatbestandlichen<br />
Voraussetzungen – auch auf Hoher See grundsätzlich<br />
anwendbar ist. 90<br />
89 Ablehnend schon zu Art. 14 HSÜ (Fn. 1): Wille (Fn. 14),<br />
S. 100 f.; Faller, Gewaltsame Flugzeugentführungen aus<br />
völkerrechtlicher Sicht, 1972, S. 105 f. Auch aus dem<br />
SeeSchSiÜbk v. 10.3.1988 (BGBl. II 1990, S. 496, vgl. hierzu<br />
Werle/Jeßberger (Fn. 78), § 4 Rn. 77, Vor § 3 Rn. 176,<br />
182) folgt nur eine eingeschränkte völkerrechtliche Verfolgungspflicht,<br />
da Art. 6, 10 SeeSchSiÜbk eine Verpflichtung<br />
nur für Straftaten gemäß Art. 3 des Übereinkommens und nur<br />
für den Fall vorsehen, dass der Täter oder der Verdächtige im<br />
Vertragsstaat aufgefunden und nicht ausgeliefert wird (aut<br />
dedere aut iudicare). Gleiches gilt für die Geiselnahmekonvention.<br />
Vgl. Art. 8 der Geiselnahmekonvention v. 18.12.1979<br />
(BGBl. 1980 II, S. 1361); hierzu: Werle/Jeßberger (Fn. 78),<br />
Vor § 3 Rn. 155 ff. Hierzu eingehend Lagoni (Fn. 37), S. 524<br />
ff. Siehe auch bereits oben unter II. 2. a) bb).<br />
90 Hiervon ist die Frage der Zuständigkeit für die Strafverfolgung<br />
zu trennen. Im vorliegenden Kontext muss zwischen<br />
völkerrechtlicher Festnahmebefugnis, Aufgabenzuweisung<br />
für den Bund, Anwendbarkeit der StPO insgesamt, Festnahmerecht<br />
gemäß § 127 Abs. 1 S. 1 StPO und Zuständigkeit für<br />
die Strafverfolgung genau differenziert werden. Dabei ist zu<br />
beachten, dass die Frage der Zuständigkeit für Maßnahmen<br />
zur Bekämpfung der Seeräuberei auf Hoher See, die gemäß<br />
§ 4 Abs. 3 SeeAufgG i.V.m. § 1 ZustBV-See der Bundespolizei<br />
zugewiesen ist (vgl. hierzu unter II. 4. b), die grundsätzliche<br />
Anwendbarkeit des Jedermannfestnahmerechts des<br />
§ 127 Abs. 1 S. 1 StPO bei freiheitsentziehenden Maßnahmen<br />
durch Marinesoldaten nicht berührt. Hierbei handelt es sich<br />
entgegen kritischer Stimmen in der Literatur keineswegs um<br />
eine extensive Interpretation des Festnahmerechts gemäß<br />
Vorbehaltlich der Erfüllung seiner tatbestandlichen Voraussetzungen<br />
kommt daher prinzipiell das Festnahmerecht<br />
aus § 127 StPO als Eingriffsgrundlage und förmliches Gesetz<br />
i.S.v. Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG in Betracht. Insofern ist es<br />
bemerkenswert, dass die Bundesregierung das zur Ausführung<br />
des SRÜ erlassene SeeAufgG bei der Ermittlung der<br />
Ermächtigungsgrundlage für die Festnahme von Piraterieverdächtigen<br />
gänzlich außer Betracht gelassen hat und deren<br />
Festnahme unmittelbar auf die Vorschriften des SRÜ stützt.<br />
§ 127 StPO i.V.m. § 4 Abs. 1 SeeAufgG stellt somit das<br />
„förmliche Gesetz“ dar, das die Voraussetzungen des Art. 104<br />
Abs. 1 S. 1 GG erfüllt.<br />
Einer Anwendbarkeit des § 127 StPO auf Festnahmen<br />
von Piraterieverdächtigen auf deren Schiff steht das völkerrechtliche<br />
Flaggenstaatsprinzip nicht entgegen. Dieses besagt,<br />
dass Schiffe auch auf Hoher See grundsätzlich nur der Jurisdiktion<br />
des Flaggenstaates unterliegen (vgl. Art. 94, 97<br />
SRÜ). 91 Dass einem Schiff, von dem aus Piraterie betrieben<br />
wird, eine Flagge verliehen worden ist, wird in der heutigen<br />
Praxis nicht vorkommen. 92 In jedem Fall wären die Art. 100<br />
ff. SRÜ und die daraus abzuleitenden Befugnisse zur Pirateriebekämpfung<br />
als vorrangig einzustufen. 93<br />
4. Tatbestandliche Voraussetzungen des § 127 StPO<br />
a) § 127 Abs. 1 S. 1 StPO<br />
§ 127 Abs. 1 S. 1 StPO sieht vor, dass jedermann – auch ohne<br />
richterliche Anordnung – befugt ist, eine Person vorläufig<br />
festzunehmen, die auf frischer Tat betroffen oder verfolgt<br />
wird, wenn diese der Flucht verdächtig ist oder ihre Identität<br />
nicht sofort festgestellt werden kann.<br />
aa) Ermächtigungsgrundlage für Amtsträger<br />
Auf das Festnahmerecht aus § 127 Abs. 1 S. 1 StPO können<br />
sich nach h.M. auch Beamte der Staatsanwaltschaft und der<br />
Polizei berufen 94 – als öffentlich-rechtliche Ermächtigungs-<br />
§ 127 StPO. Es ist gerade kennzeichnend für das Jedermannfestnahmerecht,<br />
dass es durch Personen ausgeübt werden<br />
kann, denen keine Strafverfolgungszuständigkeit zugewiesen<br />
ist, weil der zuständige Amtsträger zum Zeitpunkt der Festnahme<br />
nicht vor Ort ist.<br />
91 Jurisdiktion umfasst neben der Gerichtsbarkeit im engeren<br />
Sinne auch strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, wie etwa<br />
Festnahmen und Durchsuchungen: Wolfrum (Fn. 28), Kap. 4<br />
Rn. 37; vgl. auch: Lagoni (Fn. 37), S. 528.<br />
92 Flaggenverleihung und Piraterie schließen sich jedoch<br />
nicht grundsätzlich aus, vgl. Wolfrum (Fn. 28), Kap. 4 Rn. 47<br />
(„erlauben […], unter Durchbrechung des Flaggenstaatsprinzips,<br />
die Verfolgung der Piraten auf Hoher See […]“);<br />
beachte aber auch Wolfrum (Fn. 28), Kap. 4 Rn. 52, sowie<br />
Art. 101 und 102 SRÜ.<br />
93 Wolfrum (Fn. 28), Kap. 4 Rn. 38, 47; in diesem Sinne auch:<br />
EGMR, Medvedyev u.a. ./. Frankreich, 10.7.2008, § 54 (nicht<br />
endgültig).<br />
94 Hilger, in: Erb. u.a. (Fn. 78), Bd. 4, 26. Aufl. 2007, § 127<br />
Rn. 26; Julius, in: Ders. u.a. (Hrsg.), Strafprozeßordnung,<br />
Heidelberger Kommentar, 4. Aufl. 2009, § 127 Rn. 1, 14;<br />
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<strong>ZIS</strong> 13/2009
Festnahme von Piraterieverdächtigen auf Hoher See<br />
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grundlage ihres Handelns. Für diese Amtsträger ist außerdem<br />
in Abs. 2 ein zusätzliches 95 , nicht an die engen räumlichen<br />
bzw. zeitlichen Verbindungen zur Tat anknüpfendes Festnahmerecht<br />
normiert. Dass sich auch Amtsträger im Rahmen<br />
der Strafverfolgung auf § 127 Abs. 1 S. 1 StPO berufen können,<br />
geht aus dem Wortlaut des § 127 Abs. 2 StPO unmissverständlich<br />
hervor („auch dann“). Der Annahme einer für<br />
Amtsträger abschließend in § 127 Abs. 2 StPO geregelten<br />
Festnahmebefugnis – unter Ausschluss des Jedermann-Festnahmerechts<br />
des Abs. 1 S. 1 96 – ist nicht zuletzt aus historischen<br />
und systematischen Erwägungen entgegenzutreten. 97<br />
Für Amtsträger eröffnet § 127 Abs. 1 S. 1 StPO – neben<br />
der für „Jedermann“ einschlägigen (materiell-)strafrechtlichen<br />
Rechtfertigung 98 – zugleich ein öffentlich-rechtliches<br />
Eingriffsrecht („befugt“). Ob andere öffentlich-rechtliche<br />
Festnahmebefugnisse – soweit tatbestandlich einschlägig 99 –<br />
Krey, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 3. Aufl. 2008,<br />
Rn. 596; Kühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2007, Rn. 453;<br />
Paeffgen, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar<br />
zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz,<br />
61. Lfg., Stand: April 2009, § 127 Rn. 18; Meyer-Goßner<br />
(Fn. 78), § 127 Rn. 1, 7; Wankel, in: von Heintschel-Heinegg/Stöckel<br />
(Hrsg.), KMR, Kommentar zur Strafprozeßordnung,<br />
47. Lfg., Stand: Juni 2007, § 127 Rn. 11.<br />
95 Vgl. Lammer, in: Krekeler/Löffelmann (Hrsg.), Anwaltkommentar<br />
Strafprozessordnung, 2007, § 127 Rn. 1 („erweitert“).<br />
96 In diese Richtung argumentiert Heinen, NZWehrr 1995,<br />
138, der allerdings nicht klar zwischen der Notwehr und dem<br />
Festnahmerecht aus § 127 StPO differenziert.<br />
97 Vgl. Bülte, ZStW 121 (2009), 377 (379 ff.) zur Herleitung<br />
der Festnahmebefugnis Privater aus § 127 Abs. 1 S. 1 StPO:<br />
„derivativ eingeräumte Befugnis“, „Recht des Bürgers zur<br />
Wahrnehmung staatlicher Aufgaben“.<br />
98 Für Straftaten, die nach dem WStG mit Strafe bedroht sind<br />
und von einem Soldaten der Bundeswehr im Ausland begangen<br />
werden, sieht § 1a Abs. 1 Nr. 1 WStG die Geltung deutschen<br />
Strafrechts vor – unabhängig vom Recht des Tatortes;<br />
zum „Ausland“ zählt dabei auch die Hohe See (vgl. Dau, in:<br />
Joecks/Miebach [Hrsg.], Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch,<br />
Bd. 6/2, 2009, § 1 WStG Rn. 8). Das WStG<br />
erfasst in seinem Zweiten Teil aber lediglich „Militärische<br />
Straftaten“ (§§ 2 Nr. 1; 15-48 WStG). Die mit der Festnahme<br />
eines Piraterieverdächtigen durch einen Marinesoldaten verbundene<br />
Freiheitsberaubung (§ 239 StGB), einschließlich<br />
einer Nötigung (§ 240 StGB), fällt nicht darunter, stellt aber<br />
eine sonstige Auslandsstraftat eines Soldaten „in Beziehung<br />
auf seinen Dienst“ i.S.v. § 1a Abs. 2 WStG dar, auf die –<br />
ebenfalls unabhängig vom Recht des Tatorts – deutsches<br />
Strafrecht anwendbar ist. Schließlich ergäbe sich eine Anwendbarkeit<br />
deutschen Strafrechts auf Festnahmehandlungen<br />
im Zuge der Operation Atalanta (je nach Sachverhalt) über<br />
§ 4 bzw. § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB.<br />
99 Das Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges<br />
und die Ausübung besonderer Befugnisse durch Soldaten der<br />
Bundeswehr und verbündeter Streitkräfte sowie zivile Wachpersonen<br />
(UZwGBw) enthält zwar in § 9 Nr. 3 und § 15<br />
neben § 127 Abs. 1 S. 1 StPO zur Anwendung kommen,<br />
muss an dieser Stelle nicht entschieden werden, da sie der<br />
Anwendbarkeit des § 127 Abs. 1 S. 1 StPO jedenfalls nicht<br />
entgegenstehen.<br />
Da sich demzufolge auch Soldaten als „Jedermann“ auf<br />
das Festnahmerecht aus § 127 Abs. 1 S. 1 StPO berufen können,<br />
kommt diese Vorschrift – über § 4 Abs. 1 SeeAufG –<br />
prinzipiell für Festnahmen im Rahmen der Operation Atalanta<br />
in Betracht.<br />
bb) Anwendbarkeit bei „gezielter Entsendung in Festnahmesituationen“<br />
Vor dem Hintergrund, dass § 127 StPO lediglich ein Recht<br />
zur vorläufigen Festnahme gewährt, wird allerdings im<br />
Schrifttum bezweifelt, ob die Vorschrift als Rechtsgrundlage<br />
für freiheitsentziehende Maßnahmen durch Marinesoldaten<br />
gegen Piraterieverdächtige im Rahmen der Operation Atalanta<br />
herangezogen werden kann, da die eingesetzten Verbände<br />
der Bundeswehr u.a. den Auftrag haben, neben diversen<br />
Maßnahmen zur Sicherung des Schiffsverkehrs und der Seeraumüberwachung,<br />
auch den Aufgriff, das Festhalten sowie<br />
die Überstellung von Personen durchzuführen, die seeräuberische<br />
Handlungen begangen haben oder im Verdacht stehen,<br />
solche Taten begangen zu haben. 100<br />
Eine Ansicht verneint die Anwendbarkeit des § 127 StPO<br />
in diesen Fällen, da die Norm „keine Rechtsgrundlage für die<br />
gezielte Entsendung in Festnahmesituationen“ biete. 101 Soweit<br />
ersichtlich ist diese Literaturmeinung – für die eine<br />
nähere Begründung fehlt – bislang unerwidert geblieben. 102<br />
So ist bereits zu hinterfragen, inwieweit die Prämisse der<br />
vorgenannten Ansicht zutrifft, die Einsatzkräfte der Marine<br />
Abs. 1 Nr. 3 einen ausdrücklichen bzw. inzidenten Verweis<br />
auf § 127 Abs. 1 StPO; dieses Gesetz berechtigt jedoch nur<br />
Soldaten der Bundeswehr, denen militärische Wach- oder<br />
Sicherheitsaufgaben übertragen sind (§ 1 UZwGBw) zu bestimmten<br />
Zwangsmaßnahmen, und auch dies nur zur Abwehr<br />
bzw. Verfolgung von Straftaten, die sich gegen die Bundeswehr<br />
richten. Auf die Pirateriebekämpfung findet das UZw-<br />
GBw (zumindest unmittelbar) keine Anwendung. Zu diskutieren<br />
wäre dies, wenn sich der Angriff der Piraterieverdächtigen<br />
gegen ein Schiff der Bundeswehr richtet.<br />
100 Vgl. Art. 2 lit. e der berichtigten deutschen Fassung der<br />
Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates v. 10.11.<br />
2008 über die Militäroperation der Europäischen Union als<br />
Beitrag zur Abschreckung, Verhütung und Bekämpfung von<br />
seeräuberischen Handlungen und bewaffneten Raubüberfällen<br />
vor der Küste Somalias, ABl. EU Nr. L 301 v. 12.11.2008,<br />
S. 33 sowie ABl. EU Nr. L 10 v. 15.1.2009, S. 35 sowie BT-<br />
Drs. 16/11337 v. 10.12.2008, S. 2.<br />
101 Fischer-Lescano/Tohidipur, NJW 2009, 1243 (1246); ebenso<br />
– unter Hinweis auf Rechtsmissbrauch – Fischer-Lescano/<br />
Kreck (Fn. 86), S. 20.<br />
102 Vgl. abweichend z.B. Wolfrum, Interview, Das Parlament,<br />
52/2008, S. 2, der von der Anwendbarkeit des § 127 Abs. 1<br />
StPO als Rechtsgrundlage für freiheitsentziehende Maßnahmen<br />
durch Marinesoldaten im Rahmen des Atalanta-Einsatzes<br />
ausgeht.<br />
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würden gezielt in Festnahmesituationen entsandt. Zwar ist die<br />
Marine ausdrücklich auch befugt, Piraterieverdächtige festzuhalten.<br />
103 Ob diese Befugnis, die sich im Übrigen für<br />
Kriegsschiffe auf Hoher See auch außerhalb derartiger besonderer<br />
Operationen bereits aus Art. 105, 107 SRÜ ergibt,<br />
den von o.a. Ansicht gezogenen Schluss zulässt, es handle<br />
sich bei dem Einsatz um eine „gezielte Entsendung in Festnahmesituationen“,<br />
erscheint indes angesichts des militärischen<br />
Charakters des Einsatzes, der vielfältigen Aufgaben der<br />
Marine und der Vielgestaltigkeit der Einsatzszenarien (siehe<br />
Einleitung) 104 mehr als fraglich. 105 Das Aufgreifen und Festhalten<br />
von Verdächtigen stellt vielmehr lediglich ein Mittel<br />
zur Erfüllung des – komplexen – Auftrages dar. Dementsprechend<br />
ist, nach den bisherigen Erfahrungen seit Beginn des<br />
Einsatzes, die Durchführung freiheitsentziehender Maßnahmen<br />
durch Einsatzkräfte der Marine die Ausnahme geblieben.<br />
106 Insoweit erscheint das Argument einer gezielten Entsendung<br />
in Festnahmesituationen bereits aus tatsächlichen<br />
Gründen fraglich.<br />
Auch der Umstand, dass es sich beim Festnahmerecht aus<br />
§ 127 Abs. 1 S. 1 StPO um eine Art „Notrecht“ handelt<br />
(strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund), ist letztlich kein<br />
Argument, das die Gegenansicht für sich in Anspruch nehmen<br />
kann. Denn die „Not“ und die aus ihr resultierende<br />
„Vorläufigkeit“ der Eingriffsmaßnahme besteht allein im<br />
103 Vgl. zum Aufgabenspektrum im Rahmen des Einsatzes<br />
BT-Drs. 16/11337 v. 10.12.2008, S. 2.<br />
104 Hierzu weiterführend und zwischen verschiedenen, im<br />
Rahmen von Atalanta vorgesehenen Operationsarten differenzierend<br />
Uhl (Fn. 5), S. 12.<br />
105 Vgl. Heinicke (Fn. 7), 192 f.: „[…] Festnahme von Piraten<br />
[…] nicht das primäre Ziel der Operation.“<br />
106 Seit Beginn der Operation Atalanta wurden mehr als 200<br />
Handelsschiffe sowie 50 Schiffe des Welternährungsprogramms<br />
von im Rahmen der Mission eingesetzten Kriegsschiffen<br />
im Golf von Aden begleitet (Stand 22.10.2009).<br />
Lediglich in vier Fällen kam es bislang zu freiheitsentziehenden<br />
Maßnahmen gegen Piraterieverdächtige durch Schiffe<br />
der Deutschen Marine. Am 3.3.2009 wurden neun Personen,<br />
am 29.3.2009 weitere sieben Personen und am 7.9.2009 weitere<br />
vier Piraterieverdächtige in Gewahrsam genommen, ein<br />
weiterer Verdächtiger wurde hierbei getötet. Am 27.10.2009<br />
kam es zu einer Ingewahrsamnahme von insgesamt sieben<br />
Verdächtigen. Während die vier bei dem Einsatz vom 7.9. in<br />
Gewahrsam genommenen Personen nach einigen Tagen wieder<br />
auf freien Fuß gesetzt wurden, entschied die Bundesregierung<br />
in enger Abstimmung mit dem EUNAFVOR-Hauptquartier,<br />
die am 27.10.2009 festgehaltenen Personen an Kenia<br />
zum Zwecke der Strafverfolgung zu überstellen. Insgesamt<br />
wurden seit Beginn der EU-Mission im Dezember 2008<br />
ca. 90 Piratenangriffe abgewehrt und mehr als 80 Personen<br />
durch Marineeinheiten in Gewahrsam genommen; vgl. hierzu<br />
Tagesspiegel v. 16.9.2009 (Aus Mangel an Beweisen) sowie<br />
http://www.consilium.europa.eu/showPage.aspx?id=1518&la<br />
ng=de (Stand 9.10.2009). Zum Vorfall v. 7.9.2009 vgl.<br />
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,649004,00.html<br />
(Stand 28.9.2009).<br />
Fehlen eines richterlichen Haftbefehls, durch den die Untersuchungshaft<br />
gegenüber einer bestimmten Person angeordnet<br />
wird (§ 114 StPO). Vergleichbare „Festnahmesituationen“, in<br />
die etwa Polizeibeamte „gezielt“ geschickt werden, gibt es<br />
auch bei Demonstrationen oder Menschenansammlungen<br />
(aus bestimmten Anlässen). Niemand käme auf die Idee, der<br />
Polizei in einer solche Konstellation das Recht auf eine vorläufige<br />
Festnahme von mutmaßlichen Straftätern nach § 127<br />
Abs. 1 S. 1 StPO streitig zu machen. Letztlich ist der Einsatz<br />
der Marinesoldaten „als Jedermann“ – in Bezug auf die zu<br />
erwartenden vorläufigen Festnahmen – vergleichbar mit einer<br />
polizeilichen Streifenfahrt in einem kriminalitätsbelasteten<br />
Wohnviertel oder dem Einsatz bei einer Großveranstaltung<br />
mit gewaltbereiten Teilnehmern.<br />
cc) Festnahmelage und Festnahmegrund<br />
Weiterhin wird im Schrifttum bei der Anwendung von § 127<br />
Abs. 1 S. 1 StPO bei Maßnahmen gegen Piraten auf Hoher<br />
See das Merkmal der Betroffenheit auf frischer Tat problematisiert.<br />
107 „Frisch“ im Sinne der Norm ist eine Tat während<br />
des Tatvorgangs und kurz danach. Das Tatgeschehen muss<br />
für einen Beobachter als rechtswidrige Tat 108 oder als strafbarer<br />
Versuch erkennbar sein, wobei sich die Beobachtung<br />
nicht auf den gesamten Tathergang erstrecken muss. Die<br />
wahrgenommenen Teile müssen jedoch ohne weitere Indizien<br />
nach der Lebenserfahrung den Schluss auf eine rechtswidrige<br />
Tat zulassen. 109 Nach überwiegender Ansicht im Schrifttum<br />
muss die Tat auch tatsächlich vorliegen; ein Verdacht reicht –<br />
anders als bei § 127 Abs. 2 StPO – nicht aus. 110<br />
Auf frischer Tat betroffen wird jemand, wenn er bei der<br />
Erfüllung des Straftatbestandes oder unmittelbar danach am<br />
Tatort oder in dessen unmittelbarer Nähe gestellt wird. 111 Auf<br />
frischer Tat verfolgt wird eine Person, wenn unmittelbar nach<br />
Entdeckung der kurz zuvor mutmaßlich von ihr verübten Tat<br />
Maßnahmen der Nacheile, die auf ihre Ergreifung gerichtet<br />
sind, beginnen. Zum Zeitpunkt der Entdeckung der Tat muss<br />
der Täter nicht mehr selbst anwesend sein. Es reicht aus, dass<br />
seine Verfolgung auf Grund konkreter auf ihn hinweisender<br />
Anhaltspunkte unverzüglich begonnen wird. 112 Die Verfolgung<br />
muss auch nicht sofort nach der Entdeckung beginnen,<br />
107 Vgl. hierzu Wolfrum (Fn. 102), S. 2.<br />
108 Vgl. zu den bei Piraterie in Betracht kommenden Straftatbeständen<br />
(StGB) die Antwort der Bundesregierung auf die<br />
Kleine Anfrage der FDP, BT-Drs. 16/12927 v. 8.5.2009, S. 6,<br />
Frage 16. Weitere in Betracht kommende Delikte bei Allmendinger/Kees,<br />
NZWehrr 2008, 60 (69).<br />
109 Schultheis, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar<br />
zur Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2008, § 127 Rn. 10.<br />
110 Vgl. Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. 1, 2006, Rn. 532 ff.<br />
m.w.N.; Beulke, Strafprozessrecht, 10. Aufl. 2008, Rn. 235.<br />
111 RGSt 65, 392 (394); Meyer-Goßner (Fn. 78), § 127 Rn. 5;<br />
Schultheis (Fn. 109), § 127 Rn. 10; Satzger, Jura 2009, 107<br />
(110).<br />
112 Hilger (Fn. 94), § 127 Rn. 15; Meyer-Goßner (Fn. 78),<br />
§ 127 Rn. 6; Schultheis (Fn. 109), § 127 Rn. 12.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
780<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Festnahme von Piraterieverdächtigen auf Hoher See<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
sondern der Verfolger kann erst Helfer herbeirufen. 113 Nicht<br />
vorausgesetzt wird eine Verfolgung auf Sicht und Gehör, 114<br />
so dass im vorliegenden Kontext ggf. auch eine Nacheile<br />
aufgrund der Wahrnehmung eines Piratenbootes mittels Radar-<br />
oder Satellitenüberwachung im Einzelfall hierunter gefasst<br />
werden könnte.<br />
Nicht erforderlich ist, dass der Verfolger selbst die Tat<br />
entdeckt hat. Er kann vom Entdecker der frischen Tat, also<br />
z.B. dem Kapitän oder der Besatzung eines angegriffenen<br />
Schiffes, informiert worden sein oder die von diesem unmittelbar<br />
nach der Tat begonnene Verfolgung übernommen<br />
haben. 115 § 127 Abs. 1 S. 1 StPO verlangt auch nicht, dass<br />
der Festnehmende der erste Verfolger ist. Vielmehr reicht<br />
aus, dass er von diesem oder einer weiteren Person zur Verfolgung<br />
oder Festnahme veranlasst worden ist. 116 Im Übrigen<br />
enthält § 127 Abs. 1 S. 1 StPO keine zeitliche Begrenzung<br />
der Verfolgungsdauer. Die unmittelbar nach Entdeckung der<br />
frischen Tat aufgenommene und ununterbrochen andauernde<br />
Verfolgung kann daher bis zur Festnahme des Täters fortgesetzt<br />
werden. 117<br />
Eine „frische Tat“ im Sinne dieser Norm läge beispielsweise<br />
vor, wenn ein durch Marinesoldaten im Rahmen eines<br />
Konvois geschütztes Schiff durch Piraten angegriffen wird,<br />
sowie in Fällen, in denen z.B. eine Fregatte der Deutschen<br />
Marine außerhalb eines Konvois einem von Piraten angegriffenen<br />
Schiff auf dessen Funkspruch hin zur Hilfe eilt und die<br />
Piraten aufgrund des Eingreifens den Angriff abbrechen und<br />
flüchten 118 , da in diesen Fällen zumindest Teile des Tathergangs<br />
durch die verfolgenden Soldaten noch selbst wahrgenommen<br />
werden können. Selbst in Fällen, in denen die Piraten<br />
noch vor Erscheinen der Marine aufgrund des Hilferufs<br />
den Angriff abbrechen und die Flucht ergreifen, dürfte nach<br />
dem zuvor Gesagten eine Betroffenheit auf frischer Tat vorliegen,<br />
sofern die Verfolgung aufgrund des Notrufs und der<br />
Hinweise der Besatzung des angegriffenen Schiffs unverzüglich<br />
begonnen wird und die Täter im Rahmen der Nacheile<br />
noch in dem entsprechenden Seegebiet von den Marinesoldaten<br />
gestellt werden. 119<br />
Ein § 127 Abs. 1 S. 1 StPO genügender Festnahmegrund<br />
dürfte bei Freiheitsentziehungen im Zuge der Operation Atalanta<br />
schon darin zu sehen sein, dass die Piraterieverdächti-<br />
113 Hilger (Fn. 94), § 127 Rn. 15; Schultheis (Fn. 109), § 127<br />
Rn. 12.<br />
114 Hilger (Fn. 94), § 127 Rn. 15.<br />
115 Hilger (Fn. 94), § 127 Rn. 16.<br />
116 Hilger (Fn. 94), § 127 Rn. 16; Schultheis (Fn. 109), § 127<br />
Rn. 13.<br />
117 Hilger (Fn. 94), § 127 Rn. 17; Schultheis (Fn. 109), § 127<br />
Rn. 14. Völkerrechtliche Probleme der Verfolgung etwa in<br />
somalische Küstengewässer bleiben vorliegend außer Betracht.<br />
Vgl. hierzu die UN-Resolutionen 1846 (2008) und<br />
1851 (2008).<br />
118 Vgl. hierzu Pressemitteilung des BMVg v. 18.11.2008<br />
zum Einsatz der Fregatte Karlsruhe am 17.11.2008:<br />
http://www.marine.de, Suchwort: 18.11.2008 (Stand 24.12.2009).<br />
119 In diesem Sinn Wolfrum (Fn. 102), S. 2.<br />
gen der Flucht verdächtig sind oder aber ihre Identität nicht<br />
sofort festgestellt werden kann.<br />
dd) Festnahmemittel<br />
Erlaubte Mittel zur Ermöglichung der Festnahme sind – im<br />
Rahmen der Verhältnismäßigkeit – (leichte) Körperverletzungen,<br />
Freiheitsberaubungen sowie die Anwendung physischer<br />
Gewalt. 120 Eine Befugnis zum Gebrauch der Schusswaffe<br />
gegenüber (fliehenden) Tatverdächtigen gibt § 127<br />
Abs. 1 Satz 1 StPO dagegen nicht (weder für Private noch für<br />
Amtsträger) 121 ; eine solche Befugnis folgt für Amtsträger –<br />
auch im Bereich der Strafverfolgung – erst aus den Gesetzen<br />
über die Anwendung unmittelbaren Zwangs (für Soldaten der<br />
Bundeswehr: UZwGBw) bzw. aus den Landespolizeigesetzen.<br />
122 Das Androhen der Schussabgabe sowie die Abgabe<br />
von Warnschüssen sind dagegen zulässig. 123<br />
ee) Zwischenergebnis<br />
Das damit gegebene vorläufige Festnahmerecht deutscher<br />
Soldaten im Zuge der Operation Atalanta auf der Grundlage<br />
des § 127 Abs. 1 S. 1 StPO ist auch mit dem durch das SRÜ<br />
gesteckten völkerrechtlichen Rahmen vereinbar. Danach darf<br />
ein Aufbringen wegen Seeräuberei nur von Kriegsschiffen<br />
oder von anderen Schiffen vorgenommen werden, die deutlich<br />
als im Staatsdienst stehend gekennzeichnet, als solche<br />
erkennbar und hierzu befugt sind (vgl. Art. 107 SRÜ). 124 Bei<br />
120 Im Einzelnen str.: vgl. Krey (Fn. 110), Rn. 537 ff.; Hilger<br />
(Fn. 94), § 127 Rn. 29 f.<br />
121 Beulke (Fn. 110), Rn. 237; Kühne (Fn. 94), Rn. 455;<br />
Paeffgen (Fn. 94), § 127 Rn. 21; Hilger (Fn. 94), § 127<br />
Rn. 29 m.w.N.; Schröder, Jura 1999, 10 (12 f.); befürwortend<br />
dagegen eine Mindermeinung in der Literatur (im Rahmen<br />
der Verhältnismäßigkeit): Schultheis (Fn. 109), § 127 Rn. 28;<br />
Wankel (Fn. 94), § 127 Rn. 11.<br />
122 Vgl. Krey (Fn. 94), Rn. 608; Satzger, Jura 2009, 107 (113);<br />
Schröder (Fn. 121), 13, Fn. 29; Hilger (Fn. 94), § 127 Rn. 31.<br />
123 Siehe: RGSt 65, 392 (396); Krey (Fn. 110), Rn. 537; Hilger<br />
(Fn. 94), § 127 Rn. 29; Paeffgen (Fn. 94), § 127 Rn. 21.<br />
124 Entgegen der von Fischer-Lescano/Tohidipour (Fn. 101),<br />
1245) vertretenen Ansicht setzt Art. 107 SRÜ zumindest bei<br />
Kriegsschiffen keine innerstaatliche Befugnis zum Aufbringen<br />
von Piratenschiffen voraus. Die entsprechende Einschränkung<br />
des zweiten Halbsatzes des Art. 107 SRÜ („[…]<br />
die deutlich als im Staatsdienst stehend gekennzeichnet und<br />
als solche erkennbar sind und die hierzu befugt sind“) gilt<br />
ausschließlich für andere Schiffe und Luftfahrzeuge im Sinne<br />
des Artikels. Dies ergibt sich aus einem Vergleich der deutschen<br />
Fassung mit dem Wortlaut der authentischen Sprachfassungen<br />
des SRÜ (vgl. hierzu Art. 320 SRÜ). So lautet<br />
Art. 107 SRÜ in der englischen Fassung: „A seizure on account<br />
of piracy may be carried out only by warships or military<br />
aircraft, or other ships or aircraft clearly marked and<br />
identifiable as being on government service and authorized to<br />
that effect.“ Hieran wird deutlich, dass die vier Aufzählungselemente<br />
nicht gleichrangig nebeneinander stehen. Es werden<br />
vielmehr zwei Gruppen gebildet, wobei sich der Relativsatz<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
781
Robert Esser/Sebastian Fischer<br />
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den derzeit eingesetzten Schiffen der Deutschen Marine wäre<br />
die erste Alternative eindeutig erfüllt; Schiffe der Bundespolizei<br />
würden die formalen Anforderungen des Art. 107 SRÜ<br />
ebenfalls erfüllen, werden aber zurzeit nicht eingesetzt. 125<br />
b) § 127 Abs. 2 StPO<br />
Einschlägig für Freiheitsentziehungen auf Hoher See könnte<br />
des Weiteren § 127 Abs. 2 StPO sein, wonach die Staatsanwaltschaft<br />
und die Beamten des Polizeidienstes bei Gefahr im<br />
Verzug zur vorläufigen Festnahme (auch dann) befugt sind,<br />
wenn die Voraussetzungen eines Haftbefehls […] vorliegen.<br />
Da § 4 Abs. 1 SeeAufgG vorsieht, dass seewärts der Begrenzung<br />
des Küstenmeeres bei der Verfolgung von Straftaten<br />
und Ordnungswidrigkeiten zur Erfüllung völkerrechtlicher<br />
Verpflichtungen oder zur Wahrnehmung völkerrechtlicher<br />
Befugnisse die Vorschriften der Strafprozessordnung<br />
und des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten entsprechend<br />
gelten, ist § 127 Abs. 2 StPO prinzipiell für Freiheitsentziehungen<br />
im Zuge der Operation Atalanta anwendbar – unabhängig<br />
von der Frage der Zuständigkeit bestimmter staatlicher<br />
Stellen zur Vornahme der Maßnahme.<br />
Eine Gefahr im Verzug liegt bei einer Festnahmesituation<br />
auf Hoher See regelmäßig vor, die Voraussetzungen eines<br />
Haftbefehls (§§ 112, 112a, 114 StPO) – dringender Tatverdacht<br />
sowie einer der in §§ 112, 112a StPO genannten Haftgründe<br />
(insb. Flucht oder Fluchtgefahr) – ebenfalls. Die auf<br />
allein auf die zweite Gruppe der sonstigen Schiffe und Luftfahrzeuge<br />
bezieht. Kriegsschiffe und Militärluftfahrzeuge<br />
sind demnach auch ohne besondere innerstaatliche Befugnis<br />
völkerrechtlich zur Pirateriebekämpfung ermächtigt. Überzeugend<br />
Arndt, Zu Rechtsgrundlagen und Fristen bei der<br />
Festnahme von Piraten, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen<br />
Bundestages, 2009, S. 6; zustimmend: Wiefelspütz,<br />
UBWV 2009, 361 (365); Fischer-Lescano/Kreck (Fn. 86),<br />
S. 29 f., leiten hingegen aus einer „Gesamtschau“ des<br />
Art. 107 SRÜ mit der in Art. 29 SRÜ enthaltenen Definition<br />
eines Kriegsschiffs das Erfordernis einer innerstaatlichen<br />
Befugnis zum Aufbringen von Piratenschiffen ab. Dem kann<br />
nicht gefolgt werden. Die Voraussetzung des Art. 29 SRÜ,<br />
wonach ein Kriegsschiff unter dem Befehl eines Offiziers<br />
stehen muss, der sich im Dienst des jeweiligen Staates befindet<br />
(in der authentischen englischen Sprachfassung „an officer<br />
duly commissioned by the government of the State“)<br />
wird von jedem an der Operation Atalanta beteiligten Schiff<br />
der Deutschen Marine erfüllt. Das Erfordernis ordnungsgemäßer<br />
Bevollmächtigung („duly commissioned“) bezieht sich<br />
eindeutig auf den Auftrag des Schiffskommandanten, der sich<br />
im Dienst des Flaggenstaates befinden muss und nicht etwa,<br />
z.B. nach einer Meuterei, „auf eigene Rechnung“ handeln<br />
darf. Eine Aussage über innerstaatliche, insbesondere verfassungsrechtliche<br />
Voraussetzungen eines Einsatzes ist Art. 29<br />
SRÜ weder nach Sinn und Zweck noch nach dem Wortlaut<br />
zu entnehmen.<br />
125 Für Militärluftfahrzeuge und sonstige staatlichen Luftfahrzeuge,<br />
z.B. für einen auf einer Fregatte stationierten<br />
Bordhubschrauber, gelten die Voraussetzungen und Bedingungen<br />
entsprechend.<br />
Hoher See begangene Tat, derer die Person dringend verdächtig<br />
sein muss, dürfte in den meisten Fällen als Angriff<br />
auf den (zivilen) Seeverkehr i.S.v. § 316c Abs. 1 Nr. 1 lit. b<br />
StGB – ggf. in Tateinheit mit §§ 223 ff., 239, 239a, 239b,<br />
240, 249, 253, 255, 303, 315 StGB – einzustufen sein.<br />
Es stellt sich allerdings die Frage, wer für die Durchführung<br />
einer vorläufigen Festnahme nach § 127 Abs. 2 StPO<br />
zuständig wäre. § 1 Nr. 3 lit. d lit. bb SeeAufgG weist dem<br />
Bund auf der Hohen See die Aufgaben der Behörden und<br />
Beamten des Polizeidienstes nach der Strafprozessordnung<br />
zu. Gemäß § 4 Abs. 3 SeeAufgG i.V.m. § 1 Nr. 1 126 und Nr. 2<br />
lit. a 127 ZustBV-See 128 besteht für Maßnahmen gegen die<br />
Seeräuberei auf der Hohen See die Zuständigkeit der Bundespolizei,<br />
die sich sowohl auf Schiffe unter deutscher Flagge<br />
als auch auf alle anderen Schiffe erstreckt.<br />
Unterstützung erfährt dieses Ergebnis – Zuständigkeit der<br />
Bundespolizei, nicht der Bundeswehr – für Festnahmen nach<br />
§ 127 Abs. 2 StPO auf Hoher See 129 auch durch die Regelung<br />
im BPolG. § 6 BPolG normiert die der Bundespolizei obliegenden<br />
„Aufgaben auf See“. Unbeschadet der Zuständigkeit<br />
anderer Behörden oder der Streitkräfte hat die Bundespolizei<br />
auf Hoher See die Maßnahmen zu treffen, zu denen die BR<br />
Deutschland nach dem Völkerrecht befugt ist. Bei der Aufbringung<br />
i.S.v. Art. 105 SRÜ ist dies der Fall; auch handelt<br />
es sich dabei nicht um eine Maßnahme, die durch Rechtsvorschriften<br />
des Bundes anderen Behörden oder Dienststellen<br />
zugewiesen oder die ausschließlich Kriegsschiffen vorbehalten<br />
ist. 130<br />
Eine Zuständigkeit der Bundeswehr im Rahmen des § 127<br />
Abs. 2 StPO ließe sich allenfalls noch über den Gedanken der<br />
Amtshilfe (Art. 35 GG) herleiten. Eine spezielle Vorschrift in<br />
126 Für Straftaten auf unter deutscher Flagge fahrender Schiffe.<br />
127 Für alle übrigen Schiffe.<br />
128 Verordnung zur Bezeichnung der zuständigen Beamten<br />
des Bundes für bestimmte Aufgaben nach der Strafprozessordnung<br />
auf dem Gebiet der Seeschifffahrt (ZustBV-See) v.<br />
4.3.1994 (BGBl. I, S. 442), zuletzt geändert durch Gesetz v.<br />
21.6.2005 (BGBl. I, S. 1818).<br />
129 Allgemein gegen eine „ausschließliche Kompetenzzuweisung“<br />
an die Bundespolizei aus § 6 BPolG: Wiefelspütz<br />
(Fn. 66), 142; keine Kompetenzzuweisung an die Bundeswehr<br />
wegen des verfassungsrechtlichen Trennungsgebotes<br />
i.V.m. § 6 BPolG dagegen: Fischer-Lescano/Kreck (Fn. 86),<br />
S. 34 f.<br />
130 Diese Zuständigkeit der Bundespolizei für Festnahmen<br />
gemäß § 127 Abs. 2 StPO vermag hingegen nichts an der<br />
(s.o.) begründeten Befugnis der Deutschen Marine zur Vornahme<br />
von Maßnahmen gemäß § 127 Abs. 1 S. 1 StPO zu<br />
ändern. Insoweit ist die Situation auf Hoher See mit der innerstaatlichen<br />
Rechtslage zu vergleichen. Hier greift das<br />
Jedermannrecht des § 127 Abs. 1 S. 1 StPO gerade im Falle<br />
der Nichterreichbarkeit der zuständigen Strafverfolgungsbehörden<br />
mit ihrem Festnahmerecht gemäß § 127 Abs. 2 StPO<br />
ein und ermöglicht ein Festhalten des Täters bis zum Eintreffen<br />
der zuständigen Strafverfolgungsbehörden. Die hier vertretene<br />
Ansicht fügt sich damit nahtlos in die Dogmatik der<br />
Festnahmerechte nach der StPO ein.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
782<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Festnahme von Piraterieverdächtigen auf Hoher See<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Bezug auf die Kriminalitätsbekämpfung auf Hoher See fehlt<br />
sowohl im BPolG als auch im SeeAufgG. Hilfe im Sinne von<br />
Art. 35 GG meint die Tätigkeit einer Behörde, die diese auf<br />
Ersuchen einer anderen Behörde vornimmt, um die Durchführung<br />
der Aufgaben der ersuchenden Behörde zu ermöglichen<br />
oder zu erleichtern; Art. 35 Abs. 1 GG enthält keine Ermächtigung<br />
zur Vornahme von anderweitig nicht zulässigen<br />
Hoheitsakten durch eine andere Behörde. 131 Strittig ist, ob<br />
Art. 35 Abs. 1 GG nur eine Spezialregelung zur grundsätzlichen<br />
Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern ist<br />
und somit auch nur in diesem Verhältnis gilt, nicht jedoch<br />
zwischen unterschiedlichen Bundesbehörden. 132 Letztlich<br />
kann der Streit dahinstehen, da die Amtshilfe allein nicht zu<br />
Grundrechtseingriffen ermächtigt. 133 Soll in Grundrechte eingegriffen<br />
werden, bedarf die Amtshilfe daher – bei Überwindung<br />
der sachlichen Zuständigkeit – eines Spezialgesetzes. 134<br />
Die Amtshilfe ist weiterhin nicht auf Dauer ausgelegt; sie ist<br />
nur ausnahmsweises und punktuelles, nicht aber dauerhaftes<br />
Zusammenwirken. 135<br />
III. Ergebnis<br />
Die Befugnis zum Einschreiten gegen Piraten leitet sich völkerrechtlich<br />
aus Art. 105 SRÜ und dem völkergewohnheitsrechtlichen<br />
Recht zur Pirateriebekämpfung ab. Der Umfang<br />
der Zwangsmaßnahmen, insbesondere der Freiheitsentziehung,<br />
muss im Hinblick auf den nicht abdingbaren Art. 104<br />
Abs. 1 S. 1 GG durch den Gesetzgeber in einem förmlichen<br />
Gesetz geregelt werden, das die wesentlichen Grundzüge der<br />
Maßnahme selbst normiert. Eine solche gesetzliche Ausgestaltung<br />
liegt mit dem in § 4 Abs. 1 SeeAufgG enthaltenen<br />
Verweis auf die StPO vor, die damit anwendbar ist. Eine<br />
Befugnis der Soldaten der Deutschen Marine für vorläufige<br />
Freiheitsentziehungen auf Hoher See ergibt sich aus § 127<br />
Abs. 1 S. 1 StPO, soweit dessen tatbestandliche Voraussetzungen<br />
im Einzelfall erfüllt sind. § 127 Abs. 2 StPO ist hingegen<br />
für Soldaten der Deutschen Marine im Rahmen der<br />
Operation Atalanta nicht anwendbar.<br />
131 Maunz (Fn. 70), Stand: 5/2009, Art. 35 GG Rn. 1.<br />
132 So Pieroth, in: Jarass/Ders. (Fn. 27), Art. 35 GG Rn. 1;<br />
a.A. Erbguth, in: Sachs (Fn. 23), Art. 35 GG Rn. 5; Gubelt,<br />
in: von Münch/Kunig (Fn. 55), Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001,<br />
Art. 35 GG Rn. 1; Magen, in: Umbach/Clemens (Hrsg.),<br />
Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. 1,<br />
2002, Art. 35 GG Rn. 10; Hömig (Fn. 54), Art. 35 GG Rn. 2.<br />
133 BVerwGE 119, 123 = NJW 2004, 1191.<br />
134 So ausdrücklich Pieroth (Fn. 132), Art. 35 GG Rn. 2.<br />
135 Epping, in: Ders./Hillgruber (Fn. 61), Stand 1.2.2009,<br />
Art. 35 GG Rn. 4 unter Verweis auf BVerfGE 63, 1 = NVwZ<br />
1983, 527.<br />
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783
Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen<br />
Entwicklungen in nationalen und internationalen Strafverfahren<br />
Von Prof. Dr. Christoph Safferling, LL.M. (LSE), Wiss. Mitarbeiterin Alena Hartwig, Marburg<br />
I. Einleitung<br />
Die Rechtsstellung des Beschuldigten ist dadurch gekennzeichnet,<br />
dass er nicht nur Untersuchungsobjekt, sondern<br />
zugleich ein mit besonderen Rechten und Pflichten ausgestattetes<br />
Prozesssubjekt ist. 1 Eine der elementarsten Garantien<br />
des Verfahrensrechts, die aus dieser Überlegung hervorgeht,<br />
ist das Recht des Beschuldigten, sich nicht selbst belasten zu<br />
müssen. Der Beschuldigte darf nicht gezwungen werden, zur<br />
Strafverfolgung gegen sich selbst beizutragen. 2 Denknotwendig<br />
verbunden mit einem solchen Recht ist, dass der Beschuldigte<br />
das Recht haben muss, ohne Gefahr von Nachteilen<br />
auf die Anschuldigungen und Fragen der ermittelnden<br />
Personen hin zu schweigen. Untrennbar mit dem Verbot des<br />
Selbstbelastungszwanges hängt somit die Aussagefreiheit<br />
zusammen. Diese gewährleistet eine umfassende Verhaltensfreiheit,<br />
innerhalb derer der Beschuldigte sowohl über das<br />
„Ob“ als auch über das „Wie“ seiner Aussage frei bestimmen<br />
kann. 3 Er soll die Möglichkeit haben, frei und eigenverantwortlich<br />
zu entscheiden, ob er sich selbst belastet oder nicht,<br />
und dabei Herr seiner Entschlüsse sein. Das Recht zu<br />
schweigen schützt den Beschuldigten in erster Linie vor unzulässigem<br />
Druck oder Zwang durch die Strafverfolgungsbehörden,<br />
beugt der Erlangung von Beweismitteln gegen bzw.<br />
ohne den Willen des Beschuldigten vor und hilft, Justizirrtümer<br />
zu vermeiden. 4<br />
1 Kühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2007, Rn. 102; Ransiek,<br />
Die Rechte des Beschuldigten in der Polizeivernehmung,<br />
1990, S. 49, 52; Peters, Strafprozess, 4. Aufl. 1985, S. 203.<br />
2 Gollwitzer, in: Rieß (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung<br />
und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 8, 25.<br />
Aufl. 2005, Art. 6 MRK Rn. 248; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung,<br />
Kommentar, 52. Aufl. 2009, Einl. Rn. 29a;<br />
Böse, GA 2002, 98 (99); Abernathy/Perry, Civil Liberties<br />
under the Constitution, 1993, S. 84; Harris, I.C.L.Q. 16<br />
(1967), 355 (369). Zur geschichtlichen Entwicklung des<br />
nemo-tenetur-Grundsatzes siehe von Gerlach, in: Ebert u.a.<br />
(Hrsg.), Festschrift für Ernst-Walter Hanack zum 70. Geburtstag,<br />
1999, S. 117.<br />
3 Eser, ZStW 79 (1967), 565 (576); Rogall, Der Beschuldigte<br />
als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 45.<br />
4 EGMR, Funke ./. Frankreich, Serie A Nr. 256-A, Rn. 44;<br />
Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I, Rn. 45.<br />
Nach den Urteilen in Funke und Murray sah der EGMR den<br />
Sinngehalt des Schweigerechts vorrangig darin, den Willen<br />
des Beschuldigten, zu schweigen, zu schützen, vgl. Saunders<br />
./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-VI, Rn. 69 („The<br />
right not to incriminate oneself is primarily concerned with<br />
respecting the will of an accused person to remain silent<br />
[…]“). Über diese Interpretation des Sinngehaltes der Selbstbelastungsfreiheit<br />
durch den EGMR hinaus wird versucht, die<br />
ratio dieser Garantie auf Genaueres festzulegen. Siehe hierzu<br />
Redmayne, OJLS 27 (2007), 209 unter 3. D.; Judge Martens,<br />
In jüngerer Zeit ist das Schweigerecht in erhebliche Bedrängnis<br />
geraten. Es sind nicht die Folterberichte aus Ländern<br />
mit zweifelhafter rechtsstaatlicher Struktur, auch in westlich<br />
demokratischen Staaten werden Vorwürfe von Folter oder<br />
menschenunwürdiger Behandlung laut. Selbst in Deutschland<br />
zeigen die Fälle Jalloh 5 und Gäfgen 6 , dass die Strafverfolgung<br />
auch hier keine lupenreine Weste trägt. In England wird<br />
ganz offen schon seit längerem das Schweigerecht des Angeklagten<br />
in Frage gestellt. Vor internationalen Strafgerichtshöfen<br />
wird über die Reichweite des Angeklagtenschutzes gestritten.<br />
In diesem Beitrag sollen die Entwicklungen in verschiedenen<br />
nationalen Rechtsordnungen (Deutschland, USA,<br />
England) mit denen vor internationalen Strafgerichtshöfen<br />
erörtert und verglichen werden.<br />
II. Nationale Rechtssysteme<br />
1. Verschiedene Einzelstaaten: Deutschland, USA, England<br />
a) Grundregelungen des Schweigerechts<br />
In der deutschen Strafprozessordnung hat der nemo-tenetur-<br />
Grundsatz seinen Niederschlag in den §§ 55, 136 Abs. 1,<br />
136a Abs. 1, 3, 163a Abs. 3, 4, 243 Abs. 4 S. 1 StPO gefunden.<br />
Zwar ist die Selbstbelastungsfreiheit in der deutschen<br />
Strafprozessordnung nicht ausdrücklich normiert, sie wird<br />
jedoch nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO für den Beschuldigten<br />
und nach § 55 StPO für den Zeugen vorausgesetzt. 7 Dabei<br />
weisen die §§ 136 Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 3, 4 StPO auf die<br />
Pflicht der vernehmenden Institution (gleich, ob Richter,<br />
Staatsanwalt oder Polizeibeamter) hin, den Beschuldigten<br />
über seine Rechte, unter anderem auch das Recht zu schweigen,<br />
aufzuklären. Der Beschuldigte kann zunächst von seinen<br />
Rechten immer nur dann Gebrauch machen, wenn er zuvor<br />
darüber in Kenntnis gesetzt wurde und ihm die Möglichkeit<br />
eröffnet wurde, diese Rechte auch faktisch auszuüben. Gleiches<br />
gilt, geprägt durch den Gedanken der Verfahrensfairness,<br />
für das Recht zu schweigen. 8 Aus diesem Grund muss<br />
zeitlich gesehen vor der ersten Vernehmung durch Angehörige<br />
der Strafverfolgungsbehörden eine Belehrung des Beschuldigten<br />
erfolgen, in der er über die ihm zustehenden<br />
Dissenting Opinion, Saunders ./. Vereinigtes Königreich,<br />
Rn. 9 ff.; Butler, C.L.F. 11 (2000), 461 (482).<br />
5 EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Urt. v. 11.7.2006, Safferling,<br />
Jura 2008, 100; Schuhr, NJW 2006, 3538.<br />
6 EGMR, Gäfgen ./. Deutschland, Urt. v. 30.6.2008 = NStZ<br />
2008, 699; dazu Jäger, JA 2008, 678; umfassend Lamprecht,<br />
Darf der Staat foltern, um Leben zu retten?, 2009.<br />
7 Safferling, Jura 2008, 100 (106); Meyer-Goßner (Fn. 2),<br />
Einl. Rn. 29a.<br />
8 Eser, ZStW 79 (1967), 565 (573); Stürner, NJW 1981, 1757<br />
(1758); Diemer, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar<br />
zur Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2008, § 136 Rn. 11.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
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<strong>ZIS</strong> 13/2009
Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Rechte informiert wird. 9 Neben der Sicherung des wohl wichtigsten<br />
Verfahrensrechts des Beschuldigten soll dadurch auch<br />
der Gefahr begegnet werden, dass der Beschuldigte wegen<br />
des amtlichen Charakters der Vernehmung irrtümlich annimmt,<br />
Angaben machen zu müssen. 10 Allerdings wird das<br />
Schweigerecht – wohl in Ansehung von § 136a StPO – verstanden<br />
als Freiheit von Zwang zur Aussage bzw. Mitwirkung<br />
am Strafverfahren und nicht als Ausfluss der allgemeinen<br />
Entschließungsfreiheit. 11 Täuschung und List beeinträchtigen<br />
nach Meinung des BGH die Aussagefreiheit daher<br />
nicht.<br />
Ebendies gilt im amerikanischen Strafprozessrecht. Hier<br />
ist es der 5. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten<br />
Staaten, der sicherstellen soll, dass niemand in einer Untersuchung<br />
gegen sich selbst aussagen muss. 12 Die Pflicht zur<br />
Belehrung ergibt sich für die ermittelnden Behörden aus<br />
einem Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten<br />
Staaten aus dem Jahre 1966. In der Sache Miranda v.<br />
Arizona wurde entschieden, dass aufgrund der zwanghaften<br />
Natur polizeilicher Verhöre kein Geständnis zuzulassen sei,<br />
sofern der Verdächtige nicht vorher über seine ihm im 5. und<br />
6. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten zugestandenen<br />
Rechte belehrt worden sei und ausdrücklich auf<br />
diese verzichtet habe. 13 Die seitdem bestehende Aufklärungspflicht<br />
vor Beginn der polizeilichen Vernehmung wird auch<br />
als „Miranda Warning“ bezeichnet. 14 Im englischen Recht<br />
ergibt sich eine solche, dem § 136 StPO entsprechende Belehrungspflicht<br />
aus dem als Konkretisierung der section 78<br />
des Police and Criminal Evidence Act 1984 (PACE) ausgestalteten<br />
Code C 10.5. 15<br />
9 Ransiek (Fn. 1), S. 8; Hanack, in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg,<br />
Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz,<br />
Bd. 4, 26. Aufl. 2007, § 136 Rn. 22.<br />
10 Diemer (Fn. 8), § 136 Rn. 11; Herrmann, NStZ 1997, 209<br />
(211).<br />
11 BGHSt 42, 139 (153); zuletzt auch BGH NJW 2007, 3138<br />
(3140). Auch in der deutschen Literatur scheint teilweise von<br />
einem Schutz lediglich vor Zwang zur Selbstüberführung<br />
ausgegangen zu werden, siehe nur Rogall, in: Rudolphi u.a.<br />
(Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung<br />
und zum Gerichtsverfassungsgesetz, 14. Lfg., Stand: Juli<br />
1995, Vor § 133 Rn. 139; Kühl, StV 1986, 187 (190).<br />
12 Siehe zur geschichtlichen Herkunft des Fünften Zusatzartikels<br />
und des Rechts auf Freiheit von Selbstbelastung ausführlich<br />
Levy, Political Science Quarterly 84 (1969), 1.<br />
13 U.S. Supreme Court Miranda v. Arizona 384 U.S. 436<br />
(1966).<br />
14 Der Mindeststandard einer solchen Aufklärungspflicht ist<br />
dem Urteil Miranda v. Arizona gemäß folgender: „You have<br />
the right to remain silent. Anything you say can and will be<br />
used against you in a court of law. You have the right to<br />
speak to an attorney, and to have an attorney present during<br />
any questioning. If you cannot afford a lawyer, one will be<br />
provided for you at government expense.“<br />
15 „Code of Practice for the Detention, Treatment and Questioning<br />
of Persons by Police Officers“; zur Erforderlichkeit<br />
der Belehrung auch Feldman, Crim.L.R. 1990, 452 (454).<br />
b) Folgen des Schweigens<br />
Darüber hinaus muss die Frage gestellt werden, ob das<br />
Schweigen des Beschuldigten mit nachteiligen Folgen für den<br />
Betroffenen verbunden ist, bzw. überhaupt mit Nachteilen in<br />
Verbindung gebracht werden darf. Hier kollidiert das<br />
Schweigerecht des Beschuldigten mit den Zielen eines Strafverfahrens<br />
(bspw. der Wahrheitsfindung) und der Effektivität<br />
der Strafrechtspflege. 16<br />
Nach deutschem Recht ist es den Strafgerichten nicht gestattet,<br />
dem Schweigen eine belastende Bedeutung beizumessen<br />
– zumindest nicht bei vollständigem Schweigen. 17 Anders<br />
hingegen, sofern sich der Beschuldigte grundsätzlich zur<br />
Sache einlässt und lediglich im Hinblick auf bestimmte Punkte<br />
die Einlassung ablehnt. Für den Fall eines solchen „teilweisen<br />
Schweigens“ dürfen aus dem gesamten Verhalten des<br />
Betreffenden nachteilige Schlüsse gezogen werden. 18 Dem<br />
Beschuldigten steht es grundsätzlich frei, die ihm am zweckmäßigsten<br />
erscheinende Verteidigungsart zu wählen, nämlich<br />
sich zur Sache einzulassen oder zu schweigen. Entscheidet<br />
sich der Beschuldigte für letztere Alternative, so darf prinzipiell<br />
kein Schluss zu seinem Nachteil aus dieser Entscheidung<br />
gezogen werden. Es obliegt allein den Strafverfolgungsbehörden,<br />
den Beschuldigten zu überführen, denn<br />
schließlich muss sich auch und gerade im Fall des Schweigens<br />
des Beschuldigten die Unschuldsvermutung bewähren. 19<br />
Dies ist nur dann gewährleistet, wenn aus dem Schweigen<br />
keine Rückschlüsse auf die Schuld gezogen werden. Andernfalls<br />
würde das Schweigerecht des Beschuldigten wirkungslos,<br />
da es von den Strafverfolgungsbehörden mittelbar, quasi<br />
„durch die Hintertür“, umgangen werden könnte. Überdies<br />
können die Motive, aus denen heraus sich der Angeklagte<br />
(oder der Beschuldigte) für das Schweigen entscheidet, so<br />
vielschichtig sein, dass schon aus diesem Grund nicht auf ein<br />
Schuldeingeständnis geschlossen werden kann, zumal nach<br />
dem Grund des Schweigens nicht gefragt werden darf. 20 Der<br />
Zur geschichtlichen Entwicklung McConville/Hodgson/<br />
Bridges/Pavlovic, Standing Accused, 2003, S. 72 ff.<br />
16<br />
Dazu Stalinski, Aussagefreiheit und Geständnisbonus,<br />
2000, S. 24; Eser, ZStW 79 (1967), 565 (570); Kirsch, in:<br />
Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt/Main (Hrsg.),<br />
Vom unmöglichen Zustande des Strafrechts, 1995, S. 229,<br />
236 ff.<br />
17 BGHSt 20, 281 (282 f.); Diemer (Fn. 8), § 136 Rn. 10;<br />
Jäger, JR 2003, 166 (167); Stalinski (Fn. 16), S. 29 ff.<br />
18 BGHSt 1, 366 (368); 20, 298 (300); 38, 302 (307). In Bezug<br />
auf die Einlassung des Angeklagten im Rahmen der<br />
Hauptverhandlung mache dieser sich aufgrund eines freien<br />
Entschlusses zu einem Beweismittel und unterstelle sich<br />
hiermit der freien richterlichen Beweiswürdigung. Ausführlich<br />
zur Problematik des „Teilschweigens“ siehe Verrel, Die<br />
Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, 2001, S. 24 ff.<br />
19 Salditt, in: Michalke u.a. (Hrsg.), Festschrift für Rainer<br />
Hamm zum 65. Geburtstag am 24. Februar 2008, 2008, S. 595<br />
(S. 607 Fn. 53); Rau, Schweigen als Indiz der Schuld, 2004,<br />
S. 175.<br />
20 Schoreit, in: Hannich (Fn. 8), § 261 Rn. 39; Miebach, NStZ<br />
2000, 234 (235). Diesbezüglich weist Hanack (Fn. 9), § 136<br />
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Christoph Safferling/Alena Hartwig<br />
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schweigende Beschuldigte kann sich demnach sicher sein,<br />
dass sich sein Schweigen nicht nachteilig für ihn auswirkt,<br />
wohingegen er mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen<br />
darf, dass es ihm auch nicht zum Vorteil gereicht. 21<br />
Gleiches gilt nach der anglo-amerikanischen Rechtstradition.<br />
Auch im Geltungsbereich des common law wird das<br />
Recht zu schweigen dem Beschuldigten nicht zugestanden,<br />
um es sogleich wieder dadurch zu unterlaufen, dass die Ausübung<br />
dieses Rechts mit einem Schuldeingeständnis gleichgesetzt<br />
wird. 22 Ausnahmen gelten allerdings, obwohl auf<br />
derselben Rechtstradition beruhend, unter bestimmten Bedingungen<br />
für die Rechtslage in Großbritannien. 23 Zunächst<br />
wurde mit der Criminal Evidence (Northern Ireland) Order<br />
1988 24 das Schweigerecht für Beteiligte in Strafverfahren in<br />
Nordirland dergestalt eingeschränkt, dass nachteilige Schlussfolgerungen<br />
ohne weiteres gezogen werden konnten. Diese<br />
anfangs vorläufige, für die Bekämpfung des Terrorismus in<br />
Nordirland gedachte Regelung manifestierte sich mit dem<br />
Criminal Justice and Public Order Act 1994 auch für England<br />
und Wales 25 mit weit reichenden Folgen für den Beschuldigten.<br />
26 Zur Gesetzesbegründung wird angeführt, dass es das<br />
Schweigerecht den Beschuldigten ermöglichen würde, einer<br />
gerechten Strafe zu entgehen und daher fälschlicherweise<br />
Rn. 21 darauf hin, dass die Sachvernehmung des Beschuldigten<br />
in wesentlichem Maße auch seiner Verteidigung diene<br />
und demnach derjenige, der sich nicht zur Sache einlasse, auf<br />
ein wichtiges Verteidigungsrecht verzichte.<br />
21 Stalinski (Fn. 16), S. 35; Green, Brooklyn L.R. 65 (1999),<br />
627 (646 ff.); Seidmann/Stein, Harv.L.R. 114 (2000), 430<br />
(446 f.).<br />
22 Van Kessel, Hastings L.J. 38 (1986), 1 (13, 137 f.); Van der<br />
Walt/de la Harpe, African Hum. Rts. L. J. 5 (2005), 70 (78).<br />
23 Eser, ZStW 79 (1967), 565 (593); Berger, Colum. J. Eur.<br />
L. 12 (2006), 339 (373 ff.); von Gerlach (Fn. 2), S. 141 f. Zu<br />
der lang anhaltenden Diskussion über die Sinnhaftigkeit der<br />
common law-Tradition siehe Mirfield, Silence, Confessions<br />
and Improperly Obtained Evidence, 1997, S. 242 ff. und<br />
Cownie/Bradney/Burton, English Legal System in Context,<br />
2007, S. 277 ff., sowie Greer, MLR 53 (1990), 709 (715 ff.).<br />
Die Bedingungen, unter denen nachteilige Schlussfolgerungen<br />
gezogen werden können, finden sich in Court of Appeal,<br />
16.12.1996, R v Argent [1997] 2 Cr.App.R. 27.<br />
24 Diese wurde in Nordirland zu dem Zweck eingeführt, der<br />
wachsenden terroristischen Bedrohung durch die IRA und<br />
anderer paramilitärischer Organisationen entgegenzutreten. S.<br />
allgemein zu einer kritischen Auseinandersetzung der Beschränkungen<br />
des Schweigerechts mit dem Ziel der Bekämpfung<br />
des Terrorismus Carrara Friends, Suffolk Transnat’l L.<br />
Rev. 23 (1999), 207.<br />
25 Dazu Cownie/Bradney/Burton (Fn. 23), S. 280; Berger,<br />
Colum. Human Rights L. Rev. 31 (2000), 243 (254 ff.); Van<br />
Kessel, Ind.L.R. 35 (2001/2002), 925 (951 f.).<br />
26 Pattenden, Crim.L.R. 1995, 602 (607): „Silence becomes<br />
an evidential poly-filler for cracks in the wall of incriminating<br />
evidence which the prosecution has built around the accused“.<br />
Sehr ausführlich dazu Berger, Colum. Human Rights<br />
L. R. 31 (2000), 243 und Mirfield (Fn. 23), S. 248 ff.<br />
einen Schutz eher für Schuldige als für Unschuldige bieten<br />
würde. 27 Hier muss die Frage erlaubt sein, ob von der ursprünglichen<br />
Idee des nemo tenetur-Grundsatzes überhaupt<br />
noch etwas übrig geblieben ist. 28<br />
2. Menschenrechtliche Vorgaben<br />
a) Konventionstexte<br />
Das Schweigerecht ist in internationalen und regionalen<br />
Menschenrechtsabkommen grundsätzlich enthalten. Menschenrechtsinstrumentarien<br />
wie der IPbpR 29 und die AMRK 30<br />
haben die Selbstbelastungsfreiheit explizit in ihren Vertragstext<br />
aufgenommen. 31 In der EMRK findet sich demgegenüber<br />
keine ausdrückliche Regelung dieser fundamentalen strafprozessualen<br />
Gewährleistung; sie wird jedoch aus dem Grundsatz<br />
des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 EMRK hergeleitet<br />
32 und gehört nach der Rechtsprechung des EGMR zum<br />
Kernbereich der Verfahrensfairness. 33 Der durch die EMRK<br />
27 Ganz im Gegensatz dazu Seidmann/Stein, Harv.L.R. 114<br />
(2000), 430 (461 ff.), die darauf eingehen, warum das Schweigerecht<br />
gerade den unschuldigen Beschuldigten privilegiere.<br />
28 Fenwick, Crim.L.R. 1995, 132 (134); Redmayne, OJLS 27<br />
(2007), 209 unter 3. C., der das persönliche „Trilemma“<br />
aufzeigt, in dem sich allerdings auch nur Schuldige befinden<br />
könnten: Einerseits Gefahr zu laufen, dass Nachteile aus der<br />
Weigerung, mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten,<br />
d.h. dem Schweigen, gezogen werden können; zum<br />
anderen, Informationen an die Behörden weiterzugeben und<br />
sich dadurch selber zu belasten; und letztens, zu lügen und<br />
das Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Meineides<br />
einzugehen. Redmayne scheint darin allerdings keinen<br />
Anstoß zu finden, da Unschuldige sich seiner Ansicht nach<br />
erst gar nicht in diesem „Trilemma“ befinden könnten. Nach<br />
deutschem Strafprozessrecht entfällt dieser zusätzliche Aspekt<br />
freilich, da der Angeklagte nicht wegen falscher Aussage<br />
und erst recht nicht wegen Meineids strafbar sein kann.<br />
29 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte<br />
(International Covenant on Civil and Political Rights), GV<br />
Res. 2200/A (XXI), UN Doc. A/6316 (1966).<br />
30 Amerikanische Menschenrechtskonvention (American Convention<br />
on Human Rights, „Pact of San José, Costa Rica“)<br />
vom 22.11.1969, 1144 United Nations Treaty Series 17955.<br />
31 Art. 14 Abs. 3 lit. g IPbpR: „[… everyone shall be entitled<br />
…] Not to be compelled to testify against himself or to confess<br />
guilt.“ Art. 8 Abs. 2 lit. g AMRK: „[… every person is<br />
entitled …] the right not to be compelled to be a witness<br />
against himself or to plead guilty.“<br />
32 Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention,<br />
Handkommentar, 2. Aufl. 2006, Art. 6 Rn. 52; Gollwitzer<br />
(Fn. 2), Art. 6 MRK Rn. 248; Rogall (Fn. 11), Vor § 133 Rn.<br />
131; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention,<br />
Studienbuch, 4. Aufl. 2009, § 24 Rn. 119.<br />
33 EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I,<br />
Rn. 45; Saunders ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-<br />
VI, Rn. 68 („[…] there can be no doubt that the right to remain<br />
silent […] and the privilege against self-incrimination<br />
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<strong>ZIS</strong> 13/2009
Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
gewährte Schutz vor Selbstbelastung bleibt demnach keinesfalls<br />
hinter dem einer ausdrücklichen Regelung zurück. Dem<br />
EGMR zufolge gilt das Schweigerecht unabhängig davon, ob<br />
sich der Beschuldigte bereits in einer Situation sieht, in der er<br />
Zwang widerstehen muss oder nicht. Das Recht zu schweigen<br />
diene prinzipiell der Freiheit einer verdächtigen Person zu<br />
entscheiden, ob sie aussagen oder schweigen wolle. 34 Der<br />
EGMR versteht demnach den nemo tenetur-Grundsatz als<br />
positive Gewährleistung dahingehend, eine eigenverantwortliche<br />
Entscheidung über die Mitwirkung an der Tataufklärung<br />
treffen zu können.<br />
Im Hinblick auf die Relevanz einer vorherigen Belehrung<br />
ist anzumerken, dass sowohl die EMRK, wie auch der IPbpR,<br />
eine Belehrung zu Beginn der ersten Vernehmung des Beschuldigten<br />
nicht ausdrücklich vorsehen. 39 Hierbei gilt es<br />
jedoch zu berücksichtigen, dass EMRK und IPbpR als völkerrechtliche<br />
Regeln auf Übereinkünfte von Staaten mit unterschiedlichen<br />
Rechtssystemen zurückzuführen sind. Ziel<br />
kann demnach nur sein, einen gemeinsamen Mindeststandard<br />
zu garantieren, wobei es für die Ausgestaltung des Verfahrens<br />
auf das Recht der Mitgliedstaaten und deren allgemeine<br />
Grundsätze ankommt.<br />
b) Unschuldsvermutung<br />
Das Recht zu schweigen ist ferner eng mit der Unschuldsvermutung<br />
der Art. 6 Abs. 2 EMRK bzw. Art. 14 Abs. 2<br />
IPbpR verknüpft. Derjenige, dessen Unschuld vermutet werde,<br />
könne nicht gehalten sein, sich selbst zu belasten. 35 Für<br />
das Schweigerecht des Beschuldigten folgt aus dieser Verknüpfung<br />
zum einen, dass er in Ergänzung dessen auch nicht<br />
verpflichtet ist, aktiv mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten<br />
und auf diese Weise zur Sachverhaltsaufklärung<br />
beizutragen. Zum anderen verdeutlicht der Bezug zur<br />
Unschuldsvermutung, dass die Beweislast bei der Anklagebehörde<br />
liegt und dass es durch eine Würdigung des Schweigens<br />
jedweder Art nicht zu einer Verschiebung dieser Beweislast<br />
auf den Beschuldigten kommen darf. 36 Der Beschuldigte<br />
darf sich nicht in die Position gedrängt fühlen, dass er<br />
seine Unschuld zu beweisen hätte und dadurch zu Angaben,<br />
gleich welcher Art, veranlasst wird. Dieser Aspekt zeigt noch<br />
deutlicher als der zuerst genannte auf, dass es allein den<br />
Strafverfolgungsbehörden obliegt, den Beschuldigten zu<br />
überführen. Es dürfen zu diesem Zweck keine durch Druck<br />
oder Zwang erlangten Beweismittel herangezogen werden. 37<br />
Wegen dieser Verknüpfung mit der Unschuldsvermutung<br />
wird sie auch „Spiegelbild des Schweigerechts“ genannt. 38<br />
are generally recognised international standards which lie at<br />
the heart of the notion of a fair procedure under Article 6“).<br />
34 Hierzu EGMR, Allan ./. Vereinigtes Königreich, Reports<br />
2002-IX, Rn. 50.<br />
35 EGMR, Weh ./. Österreich, Urt. v. 8.4.2004, Rn. 46; Böse,<br />
GA 2002, 98 (123); Guradze, in: Commager u.a. (Hrsg.),<br />
Festschrift für Karl Loewenstein aus Anlass seines achtzigsten<br />
Geburtstages, 1971, S. 151 (S. 160); Mahoney, Judicial<br />
Studies Institute Journal, 2004, 107 (121).<br />
36 Vgl. Safferling, Towards an International Criminal Procedure,<br />
2003, S. 123.<br />
37<br />
Grabenwarter, in: Ehlers/Becker (Hrsg.), Europäische<br />
Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005, § 6 Rn. 47;<br />
Jacobs/White, The European Convention on Human Rights,<br />
3. Aufl. 2002, S. 175; Nowak, UNO-Pakt über bürgerliche<br />
und politische Rechte und Fakultativprotokoll, CCPR-Kommentar,<br />
1989, Art. 14 Rn. 59.<br />
38 So Salditt (Fn. 19), S. 608. Anders hingegen Redmayne, 27<br />
OJLS (2007), 209 unter 3. A., der zumindest für die Selbstbelastungsfreiheit<br />
eine derart weitgehende Verknüpfung mit der<br />
Unschuldsvermutung nicht erkennen kann.<br />
c) Negative Schlussfolgerungen aus dem Schweigen<br />
Was nachteilige Schlussfolgerungen aus dem Schweigen des<br />
Beschuldigten anbelangt, so ist den Menschenrechten und<br />
deren Handhabung durch die jeweiligen Spruchkörper zufolge<br />
ein Verbot dieser Rückschlüsse naheliegend. Dies gilt<br />
zumindest insofern, als man gemeinsam mit der Rechtsprechung<br />
des EGMR den Standpunkt einnimmt, dass das Verbot<br />
der Selbstbelastung von staatlichen Stellen verlange, den<br />
Willen des zum Schweigen entschlossenen Beschuldigten zu<br />
respektieren. 40 Gleichwohl misst der EGMR dem Recht zu<br />
schweigen nicht den Charakter eines absoluten Rechts bei. 41<br />
Das steht in Übereinstimmung mit der generellen Zurückhaltung<br />
des Gerichtshofs, kategorische Festlegungen zu treffen.<br />
In ständiger Rechtsprechung wird daher bezogen auf Art. 6<br />
EMRK stets in einer Gesamtwürdigung untersucht, ob das<br />
Verfahren insgesamt als „fair“ anzusehen ist. 42 In Bezug auf<br />
das Schweigerecht wird es daher für zulässig erachtet, dass<br />
39 Esser, Auf dem Weg zu einem Europäischen Strafverfahrensrecht,<br />
2002, S. 528. Das Bedürfnis einer vorherigen Belehrung<br />
erkennt auch Trechsel, Human Rights in Criminal<br />
Proceedings, 2005, S. 352, an, äußert aber Bedenken im Hinblick<br />
auf eine solche Verpflichtung zur Belehrung der Konvention<br />
zufolge.<br />
40 So EGMR, Saunders ./. Vereinigtes Königreich, Reports<br />
1996-VI, Rn. 69.<br />
41 EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I,<br />
Rn. 47; Condron ./. Vereinigtes Königreich, Reports 2000-V,<br />
Rn. 56; Heaney u. McGuinness ./. Irland, Reports 2000-XII,<br />
Rn. 47. Anders hingegen Müller, EuGRZ 2002, 546 (551,<br />
554), der aus den Ausführungen des EGMR das Postulat<br />
eines absoluten, ausnahmslosen Charakters herleitet. Er zitiert<br />
hierzu die Entscheidung im Fall Saunders, wobei sich<br />
der EGMR in diesem Urteil jedoch ausdrücklich nicht zu der<br />
Frage der Ausnahmslosigkeit des nemo-tenetur-Grundsatzes<br />
äußert (Rn. 74: „Nor does the Court find it necessary […] to<br />
decide whether the right not to incriminate oneself is absolute<br />
or wheter infringements of it may be justified in particular<br />
circumstances.“). Der EGMR äußerte sich hier lediglich zu<br />
der Verwertbarkeit erzwungener Aussagen und lehnte diese ab.<br />
42 EGMR, Schenk ./. Schweiz, Serie A Nr. 140, Rn. 46; Pélissier<br />
und Sassi ./. Frankreich, Reports 1999-II, Rn. 45; Allan<br />
./. Vereinigtes Königreich, Reports 2002-XI, Rn. 42; Jalloh ./.<br />
Deutschland, Urt. v. 11.7.2006, Rn. 95; Esser (Fn. 39),<br />
S. 402; Gollwitzer, Menschenrechte im Strafverfahren, MRK<br />
und IPBPR, Kommentar, 2005, Art. 6 MRK Rn. 64.<br />
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unter bestimmten Voraussetzungen nachteilige Schlussfolgerungen<br />
(sog. „adverse inferences“) aus dem Schweigen des<br />
Beschuldigten gezogen werden. 43 Dies gilt jedenfalls dann,<br />
wenn bestimmte Schutzvorkehrungen weiterhin die Fairness<br />
des Verfahrens gewährleisten. Im Urteil Murray bezeichnet<br />
der EGMR den Rahmen, innerhalb dessen das Schweigen des<br />
Beschuldigten verwertet werden kann wie folgt: Wird das<br />
Urteil ausschließlich oder hauptsächlich („solely or mainly“)<br />
darauf gestützt, dass sich der Beschuldigte auf sein Recht zu<br />
schweigen berufen hat, liegt ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK<br />
vor. Das Schweigen soll jedoch in Situationen berücksichtigt<br />
werden können, die eine Erklärung erwarten lassen, und der<br />
Beschuldigte eine solche auch ohne weiteres abgeben könnte.<br />
44 Gestaltet sich die Beweislage jedoch als derart schwach,<br />
dass eine solche Erklärung des Beschuldigten nicht ohne<br />
weiteres zu erwarten sei, könne sich das Schweigen auch<br />
nicht zum Nachteil des Betroffenen auswirken. 45 Gleichwohl<br />
müssten im Fall von zulässigerweise 46 gezogenen Schlussfolgerungen<br />
diese von gesundem Menschenverstand bestimmt<br />
sein sowie der freien Würdigung unterliegen, damit das Verfahren<br />
nicht als unfair anzusehen sei. 47 Der EGMR stützt<br />
seine Argumentation auf bekannte Muster: zweifelhafte Beweismittel<br />
sind demnach immer dann zulässig, wenn diese<br />
nicht die alleinige oder die hauptsächliche Grundlage der<br />
strafrechtlichen Verurteilung darstellen. 48<br />
Anders hingegen der Menschenrechtsausschuss der Vereinten<br />
Nationen als Kontrollorgan des IPbpR. In seinen Abschließenden<br />
Bemerkungen hat er 1995 gegenüber Großbritannien<br />
und Nordirland festgestellt, dass deren nationale<br />
Regelungen, nach denen nachteilige Schlussfolgerungen aus<br />
dem Schweigen eines Beschuldigten gezogen werden können,<br />
„gegen mehrere Vorschriften des Art. 14 IPbpR verstoßen“.<br />
49<br />
3. Zusammenfassung<br />
Dieser kurze Überblick verdeutlicht eine gewisse Diskrepanz<br />
zwischen der nationalen Rechtsprechung und den europäischen<br />
Menschenrechtsvorgaben. Während der EGMR den<br />
Grund des Schweigerechts in der grundsätzlichen Anerkennung<br />
der menschlichen Entscheidungsfreiheit sieht, folgt der<br />
BGH einem deutlich engeren Konzept, indem er mit Blick<br />
auf § 136a StPO auf die Freiheit von Zwang als Substrat des<br />
Schweigerechts abstellt. 50 Uneinheitlich wird außerdem der<br />
Umgang mit den Folgen des Schweigens gesehen. Hier fällt<br />
das englische Recht aus dem Rahmen, da es negative Schlüsse<br />
auf die Schuld des Beschuldigten zulässt und damit vom<br />
EGMR jedenfalls partiell Rückendeckung erhält.<br />
43 EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I,<br />
Rn. 47. Diese Grundsätze bestätigte er in Averill ./. Vereinigtes<br />
Königreich, Reports 2000-VI, Rn. 44 f. Einigkeit dahingehend<br />
besteht allerdings nicht, wie die abweichenden Meinungen<br />
im Anschluss an das Urteil Murray schon zeigen, vgl.<br />
Partly Dissenting Opinion of Judge Pettiti, joined by Judge<br />
Valticos und Partly Dissenting Opinion of Judge Walsh,<br />
joined by Judges Makarczyk and Lohmus. Siehe dazu auch<br />
Berger, Colum. J. Eur. L. 12 (2006), 339 (380 f.).<br />
44 EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports 1996-I,<br />
Rn. 47.<br />
45 So der EGMR in der Sache Telfner ./. Österreich, Urt. v.<br />
20.3.2001, Rn. 17 f. Siehe auch Jacobs/White (Fn. 37),<br />
S. 176, mit Hinweis darauf, dass ansonsten in einem solchen<br />
Fall die Beweislast auf den Beschuldigten bzw. Angeklagten<br />
verschoben würde.<br />
46 Nicht mehr zulässig wäre dem EGMR zufolge die Ausübung<br />
„unzulässigen Zwangs“ auf den Beschuldigten. Dieses<br />
Kriterium kommt zum Tragen im Hinblick auf eine – erforderliche<br />
– Belehrung darüber, dass unter Umständen nachteilige<br />
Schlussfolgerungen aus dem Schweigen des Beschuldigten<br />
gezogen werden dürfen und dem hierdurch ausgeübten<br />
indirekten Zwang seitens der Strafverfolgungsbehörden;<br />
ausführlich hierzu Esser (Fn. 39), S. 522 ff.<br />
47 Der EGMR führt hier das Kriterium des „common sense“<br />
ein (EGMR, Murray ./. Vereinigtes Königreich, Reports<br />
1996-I, Rn. 51, 54), welches aber wenig hilfreich scheint.<br />
Kritisch hierzu Esser (Fn. 39), S. 524 f. und Kühne, EuGRZ<br />
1996, 571 (572). Butler, C.L.F. 11 (2000), 461 (497) bezeichnet<br />
diese Formulierung als „potentielles Sprungbrett für<br />
spätere Ausnahmen zu diesem Recht“ („potential springboard<br />
for later exceptions to the right“).<br />
III. Internationales Strafverfahrensrecht<br />
Begibt man sich auf die Ebene des internationalen Strafrechts,<br />
genauer des Völkerstrafprozessrechts 51 , so findet man<br />
48 Eine parallele Argumentation findet sich etwa in den Fällen<br />
der Verdeckten Ermittler; vgl. dazu in Gegenüberstellung zur<br />
Rspr. des BGH: Safferling, NStZ 2006, 75.<br />
49 CCPR/C/79/Add. 55, 27.7.1995: „The Committee notes<br />
with concern that the provisions of the Criminal Justice and<br />
Public Order Act of 1994, […] whereby inferences may be<br />
drawn from the silence of persons accused of crimes, violates<br />
various provisions in article 14 of the Covenant […].“<br />
50 Vgl. BGHSt 42, 139 (153). Einen Unterschied im Hinblick<br />
auf die durch den EGMR zugestandene Reichweite dieses<br />
Grundsatzes und die restriktivere Handhabung durch das<br />
deutsche Bundesgericht sieht der BGH in einer späteren Entscheidung<br />
selber, vgl. BGH NJW 2007, 3138 (3140). Der<br />
nemo tenetur-Grundsatz habe nicht den Schutz der allgemeinen<br />
Entschließungsfreiheit zum <strong>Inhalt</strong>, sondern es solle eine<br />
Selbstüberführung aufgrund von Zwangsausübung verhindert<br />
werden. Andernfalls würde die Freiheit der Entscheidung<br />
durch jede Täuschung oder List, die von Einfluss auf die<br />
Äußerung des Beschuldigten ist, verletzt. Dem kann u. E. so<br />
allerdings nicht zugestimmt werden. Siehe dazu auch Ransiek<br />
(Fn. 1), S. 47 ff. Relevanz erlangt diese Unterscheidung insbesondere<br />
dann, wenn es um heimliche Ermittlungsmethoden<br />
und die Frage geht, ob diese gegen die Selbstbelastungsfreiheit<br />
verstoßen. Siehe dazu Weßlau, ZStW 110 (1998), 1 (14,<br />
22 ff.).<br />
51 Zum Begriff s. Safferling, in: Renzikowski (Hrsg.), Die<br />
EMRK im Zivil-, Straf- und Öffentlichen Recht, 2003, S. 123.<br />
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788<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen<br />
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auch in den Vorschriften der internationalen Strafgerichtshöfe<br />
dieses überaus relevante Verfahrensrecht verankert.<br />
1. Die UN-Tribunale<br />
a) Der rechtliche Rahmen<br />
Für die Ad Hoc-Tribunale der Vereinten Nationen 52 beinhalten<br />
die Art. 21 Abs. 4 lit. g JStGH-St. und Art. 20 Abs. 4<br />
lit. g RStGH-St. die Freiheit von Selbstbelastung mit ergänzenden<br />
Regelungen in den Regeln 42 (A) (iii), 55 (A) und 63<br />
JStGH-VBO. 53 Während in den Statuten der Tribunale die<br />
Selbstbelastungsfreiheit lediglich dem Angeklagten zugesprochen<br />
wird, gewährt Regel 42 (A) (iii) JStGH-VBO das<br />
Recht zu schweigen auch für den Beschuldigten 54 – quasi als<br />
Gegenstück zu der in Art. 18 Abs. 2 JStGH-St., Art. 17<br />
Abs. 2 RStGH-St. geregelten Befugnis des Anklägers, Beschuldigte<br />
zu befragen. In Anlehnung an die Begriffsbestimmung,<br />
die die Verfahrens- und Beweismittelordnungen des<br />
JStGH und des RStGH in Regel 2 (A) VBO enthalten, wird<br />
der Beschuldigte in dem Moment zum Angeklagten, in dem<br />
die Anklageschrift durch einen Richter des Tribunals bestätigt<br />
wurde. 55 Insofern lässt sich eine klare Trennlinie zwischen<br />
dem Geltungsbereich von Regelung für den Beschuldigten<br />
in Regel 42 (A) (iii) JStGH-VBO einerseits und der<br />
Regelung für den Angeklagten in Art. 21 Abs. 4 lit. g JStGH-<br />
St., Art. 20 Abs. 4 lit. g RStGH-St., Regeln 55 (A), 63<br />
JStGH-VBO andererseits, erkennen.<br />
Vom Gewährleistungsgehalt und auch vom Verständnis<br />
her beschreibt das „right to remain silent“ in Regel 42 (A)<br />
(iii) JStGH-VBO das Schweigerecht, wie es auch im Sinne<br />
52 Die Kriegsverbrechertribunale für das ehemalige Jugoslawien,<br />
„JStGH“ (International Criminal Tribunal for the Former<br />
Yugoslavia, ICTY) sowie für Ruanda, „RStGH“ (International<br />
Criminal Tribunal for Rwanda, ICTR).<br />
53 Im Folgenden wird lediglich nach der Verfahrens- und<br />
Beweismittelordnung, „VBO“ (Rules of Procedure and Evidence,<br />
RPE) des JStGH zitiert, da diejenige des RStGH dieser<br />
entspricht.<br />
54 Die JStGH-VBO enthielten in ihrer ursprünglichen Fassung<br />
von 1994 das Schweigerecht des Beschuldigten noch<br />
nicht. Dieses wurde erst später durch eine Regeländerung<br />
vom 30.1.1995 und die Einfügung von Regel 42 (A) (iii)<br />
JStGH-VBO aufgenommen. Gleichwohl hätte es auch ohne<br />
ausdrückliche Regelung hergeleitet werden können. Siehe<br />
dazu Nsereko, C.L.F 5 (1994), 507, 524 unter Verweis auf<br />
Art. 21 Abs. 4 lit. g JStGH-St. und dem Argument, dass ein<br />
Schweigerecht lediglich für den Angeklagten wenig Sinn<br />
ergeben würde, da die für den Ausgang des Verfahrens relevante<br />
Phase diejenige der Vernehmungen im Vorfeld sei.<br />
Ebenso der Report des Generalsekretärs der VN, Report of<br />
the Secretary-General pursuant to Paragraph 2 of Security<br />
Council Resolution 808 (1993), U.N. Doc. S/25704 & Add. 1<br />
(1993), der in Rn. 106 darauf hinweist, dass das Tribunal<br />
international anerkannte Standards betreffend der Rechte von<br />
Angeklagten auf allen Ebenen des Verfahrens zu beachten<br />
habe und hierfür im speziellen auf Art. 14 IPbpR verweist.<br />
55 Dazu auch Regel 47 (H) (ii) JStGH-VBO.<br />
der EMRK bzw. der Rechtsprechung des EGMR und des<br />
IPbpR zu verstehen ist. 56 Zunächst ist der Beschuldigte vor<br />
der anstehenden Vernehmung über sein Schweigerecht zu<br />
belehren und darüber in Kenntnis zu setzen, dass jede Aussage<br />
seinerseits aufgenommen wird (dazu Regel 43 JStGH-<br />
VBO) und als Beweis gegen ihn verwendet werden kann. Auf<br />
den Schutz durch diese Vorschrift kann der Beschuldigte<br />
zwar verzichten, allerdings muss dieser Verzicht bewusst,<br />
freiwillig und frei von jeglicher Art der Einflussnahme oder<br />
Zwang sein. 57 Die Belehrung hat so zu erfolgen, dass der<br />
Beschuldigte in einer ihm verständlichen Sprache über die<br />
ihm zustehenden Rechte aufgeklärt wird. Einer weiter reichenden<br />
Verpflichtung zur Aufklärung unterliegt der Ankläger<br />
hingegen nicht. Insbesondere müssen dem Beschuldigten<br />
keine detaillierten Auswirkungen und Folgen der Regel 42<br />
JStGH-VBO dargelegt werden. 58 Kritisch angemerkt wird in<br />
dieser Hinsicht, dass sich Regel 42 JStGH-VBO (ebenso wie<br />
Regel 63 JStGH-VBO für den Angeklagten) lediglich auf die<br />
Befragung durch den „Ankläger“ bezieht. So bestünde die<br />
Gefahr, dass die Gewährleistungen nicht zur Geltung kämen,<br />
sofern der Beschuldigte durch andere Angehörige der Strafverfolgungsbehörde<br />
befragt werde. 59 Allerdings muss in<br />
diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass<br />
Regel 37 (B) JStGH-VBO ausdrücklich vorsieht, dass die<br />
Befugnisse und Verpflichtungen des Anklägers auch auf<br />
dessen Mitarbeiter übertragen werden können. Zu diesen<br />
Verpflichtungen gehört auch die Belehrung des Beschuldigten<br />
vor einer anstehenden Vernehmung über dessen Rechte<br />
aus Regel 42 JStGH-VBO, so dass sich hiermit die eben<br />
genannten Bedenken erübrigen würden.<br />
Für den Fall einer Aussage des Beschuldigten verdeutlicht<br />
das Zusammenspiel von Regel 42 und Regel 95 JStGH-VBO<br />
die Verteilung der Beweislast im Hinblick auf die Freiwilligkeit<br />
der Aussage. Diesbezüglich gilt, dass Aussagen, die<br />
56 Die Einführung dieser Vorschrift basiert auf dem Gedanken,<br />
dass der Beschuldigte, festgenommen und sich den Ermittlungsbehörden<br />
gegenüber stehend sehend, eine verletzliche<br />
Rolle innehat, die ihn zu unüberlegten Äußerungen veranlassen<br />
und zu Missbrauch seitens der Behörden führen<br />
kann, siehe Bagosora (ICTR-98-41), Trial Chamber, Decision<br />
on the Prosecutor’s Motion for the Admission of Certain<br />
Materials under Rule 89 (c), 14.10.2004, Rn. 16.<br />
57 Delalić et al. (IT-96-21), Trial Chamber, Decision on Hazim<br />
Delić’s Motions Pursuant to Rule 73, 1.9.1997, Rn. 18:<br />
„A person’s conscious, uncoerced and voluntary exercise of<br />
his rights cannot, within our jurisprudence, be regarded as<br />
involuntary.“<br />
58 Delalić et al. (IT-96-21), Appeals Chamber, Judgement, 20.<br />
Februar 2001, Rn. 552: „[…] there is no duty incumbent on<br />
an investigator to explain in greater depth the implications of<br />
Rule 42, the duty is only to interpret to the suspect the rules<br />
in a language he or she understands‘.“<br />
59 So Creta, Houst. J. Int’l L. 20 (1998), 381 (405) und Falvey,<br />
Fordham Int’l L. J. 19 (1995), 475 (492), die sich dafür<br />
aussprechen, die Vorschrift auch auf „agents of the Prosecutor“<br />
zu erstrecken, um mögliche Lücken in der Geltung der<br />
Rechte des Beschuldigten zu schließen.<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
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Christoph Safferling/Alena Hartwig<br />
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unter Zwang getätigt wurden, gemäß Regel 95 JStGH-VBO<br />
als unzulässig anzusehen sind, und dass die Beweislast für<br />
die Freiwilligkeit der Aussage bei der Anklagebehörde<br />
liegt. 60 Der Beschuldigte darf demnach, sofern er auf seinem<br />
Schweigerecht beharrt, nicht dazu veranlasst werden, als<br />
Beweismittel gegen sich selbst zu wirken. 61 Insofern wird den<br />
menschenrechtlichen Vorgaben Rechnung getragen und<br />
durch Einführung bestimmter Schutzvorrichtungen das Recht<br />
zu schweigen in seinem Kernbestand geschützt. Damit wird<br />
auch der Zusammenhang zur in Art. 21 Abs. 3 JStGH-St.,<br />
Art. 20 Abs. 3 RStGH-St. verankerten Unschuldsvermutung<br />
erkennbar.<br />
b) Nachteilige Schlussfolgerungen aus dem Schweigen<br />
Was die schon an anderer Stelle problematisierten nachteiligen<br />
Schlussfolgerungen anbelangt, sehen zwar weder die<br />
Statuten noch die Verfahrens- und Beweismittelordnungen<br />
eine ausdrückliche Regelung vor. 62 Allerdings besteht Einigkeit<br />
unter den Kammern des JStGH und RStGH, dass aus<br />
dem Gebrauch des Schweigerechts durch den Beschuldigten<br />
oder Angeklagten keine Rückschlüsse auf dessen Schuld<br />
gezogen werden dürfen. 63 Dies gilt ausnahmslos, so dass die<br />
60 Delalić et al. (IT-96-21), Trial Chamber, Decision on<br />
Zdravko Mucić’s Motion for the Exclusion of Evidence,<br />
2.9.1997, Rn. 41 f. und Bagosora (Fn. 56), Rn. 21 im Zusammenhang<br />
mit dem Recht auf den Beistand eines Verteidigers,<br />
welches wiederum eng mit dem Recht zu schweigen<br />
verknüpft ist. Anderes gilt für den Fall der Abgabe eines<br />
Geständnisses. Hierfür regelt Regel 92 JStGH-VBO, dass<br />
grundsätzlich die Freiwilligkeit eines solchen Geständnisses<br />
vermutet wird und dass aus diesem Grund die Beweislast<br />
(Nachweis der Unfreiwilligkeit bzw. der Anwendung von<br />
Zwang) in einem solchen Fall beim Angeklagten liegt.<br />
61 Dies wird auch deutlich in Tadić (IT-94-1), Trial Chamber,<br />
Separate Opinion of Judge Stephen on Prosecution Motion<br />
for Production of Defence Witness Statements, 27.11.1997.<br />
In diesem Zusammenhang unterstreicht die Berufungskammer<br />
in Boškoski & Tarčulovski (IT-04-82), Appeals Chamber,<br />
Decision on Johan Tarčulovski’s Interlocutary Appeal on<br />
Provisional Release, 4.10.2005, dass ein vor dem Tribunal<br />
Angeklagter nicht dazu verpflichtet ist, die Anklagebehörde<br />
bei der Beweisführung gegen sich selbst zu unterstützen. Dies<br />
muss ebenso für den Beschuldigten gelten.<br />
62 Calvo-Goller, The Trial Proceedings of the International<br />
Criminal Court, 2006, S. 63. Dies wird zu Recht kritisiert von<br />
Wladimiroff, in McDonald/Swaak-Goldman (Hrsg.), Substantive<br />
and Procedural Aspects of International Criminal Law,<br />
2000, S. 415 (447) und Creta, Houst. J. Int’l L 20 (1998), 381<br />
(405).<br />
63 Delalić et al. (IT-96-21), Trial Chamber, Decision on the<br />
Prosecution’s Oral Request for the Admission of Exhibit 155<br />
into Evidence and for an Order to Compel the Accused,<br />
Zdravko Mucić, to Provide a Handwriting Sample, 19.1.<br />
1998, Rn. 46, 50; Kupreškić et al. (IT-95-16), Trial Chamber,<br />
Judgement, 14.1.2000, Rn. 339; Brñanin (IT-99-36), Trial<br />
Chamber, Judgement, 1.1.2004, Rn. 24; Niyitegeka (ICTR-<br />
96-14-T), Trial Chamber, Judgement and Sentence, 16.5.2003,<br />
Tribunale diesbezüglich einen weiterreichenden Schutz postulieren<br />
als – wie oben gesehen – der EGMR.<br />
c) Transnationale Kooperation<br />
Im Hinblick auf das Zusammenspiel von nationalem Recht<br />
und dem Recht der Tribunale gilt zunächst, dass während des<br />
Aufenthaltes des Beschuldigten im Gewahrsamsstaat nur das<br />
nationale Recht mit den dortigen Gewährleistungen gilt. An<br />
dieses Recht sind die Verfahrenskammern der Tribunale nicht<br />
gebunden, Regel 89 (A) JStGH-VBO. Für den Fall, dass die<br />
nationalen Vorschriften ihrem Gewährleistungsgehalt zufolge<br />
hinter denen des JStGH bzw. RStGH zurückbleiben und<br />
dabei Rechte des Beschuldigten, die ihm internationalen<br />
Standards zufolge zustehen würden, verletzt oder missachtet<br />
werden, gibt es die Möglichkeit, derart erlangte Aussagen als<br />
unzulässig zu erachten. Grundsätzliches Kriterium sind nach<br />
Regel 5 (C) JStGH-VBO die „fundamental principles of<br />
fairness“. Bezogen auf das Schweigerecht sind die nationalen<br />
Vorschriften im Zusammenhang mit Art. 18 JStGH-St.<br />
(Art. 17 RStGH-St.) und den Regeln 42, 95 JStGH-VBO zu<br />
betrachten und deren Geltungsbereich als „Test“ für die Zulassung<br />
anzusehen. Davon ausgehend ist zu prüfen, ob das<br />
nationale Recht die „fundamental principles of fairness“<br />
unterschreitet bzw. hinter diesen zurückfällt und dadurch eine<br />
Zulassung der Aussage im grundsätzlichen Widerspruch zur<br />
Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens stehen und dieser schweren<br />
Schaden zufügen würde. 64 Mit anderen Worten, die Relevanz<br />
und der Beweiswert der erlangten Beweise fließt als<br />
„Abwägungskriterium“ in die Entscheidung mit ein, diese<br />
zuzulassen. 65<br />
d) Zusammenfassung<br />
Durch eine Zusammenschau der Statuten und Verfahrensund<br />
Beweismittelordnungen ist folglich ein ausgeprägter<br />
Schutz des Schweigerechts an den Ad Hoc-Tribunalen der<br />
Vereinten Nationen verankert. Dieses schützt den Beschul-<br />
Rn. 46. Zur Ausdehnung dieser Praxis auf die Phase der Festlegung<br />
des Strafmaßes siehe Delalić et al. (IT-96-21), Appeals<br />
Chamber, Judgement, 20.2.2001, Rn. 783, die das Verbot<br />
nachteiliger Schlussfolgerungen damit begründet, dass<br />
sich andernfalls eine ausdrückliche Regelung mit angemessenen<br />
Schutzvorkehrungen im Statut finden ließe. Siehe auch<br />
Nsereko, C.L.F. 5 (1994), 507 (540); Creta, Houst. J. Int’l L.<br />
20 (1998), 381 (405); Schabas, The UN International Criminal<br />
Tribunals, 2000, S. 358; Jones/Powles, International<br />
Criminal Practice, 3. Aufl. 2003, 8.5.94.<br />
64 Delalić et al. (Fn. 60), 2.9.1997, Rn. 55: „This is because<br />
though the rules relating to silence and confession are contradictory<br />
to the relevant rules in Rule 42, they do not fall below<br />
fundamental fairness and such as to render admission antithetical<br />
to or to seriously damage the integrity of the proceedings.“<br />
Als Schwelle, die es für die Folge der Unzulässigkeit<br />
zu unterschreiten gilt, wird demnach sowohl Regel 5 (C)<br />
JStGH-VBO als auch Regel 95 JStGH-VBO herangezogen.<br />
65 Hierzu auch Rastan, Leiden J. Int’l L. 21 (2008), 431 (452<br />
und Fn. 82) m.w.N.<br />
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790<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen<br />
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digten, ebenso wie den Angeklagten, angemessen vor jeglichem<br />
Zwang zur Selbstbelastung. Im Vergleich zu dem in<br />
menschenrechtlichen Übereinkommen garantierten Standard,<br />
gewähren die Vorschriften an den Tribunalen ein mindestens<br />
ebenso hohes bzw. bedenkt man das konsequente Verbot,<br />
nachteilige Schlussfolgerungen aus dem Schweigen zu ziehen,<br />
sogar ein höheres Schutzniveau.<br />
2. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH)<br />
a) Rechtlicher Rahmen<br />
Das Statut des IStGH enthält die modernste Formulierung<br />
von Rechten der verdächtigen Person während des gesamten<br />
Strafverfahrens. Der rechtliche Rahmen gewinnt seine Komplexität<br />
durch den Versuch, die Rechte des Beschuldigten<br />
(Art. 55 IStGH-St.) von den Rechten des Angeklagten<br />
(Art. 67 IStGH-St.) zu differieren. 66 Entsprechend wird im<br />
Folgenden unterschieden.<br />
aa) Zunächst soll näher auf die Beschuldigtenrechte in<br />
Art. 55 IStGH-St. eingegangen werden. Diese Vorschrift<br />
enthält für den Beschuldigten in doppelter Hinsicht einen<br />
Schutz vor Selbstbelastung. Zum einen ist in Absatz 1 festgelegt,<br />
dass allgemein Personen während der Ermittlungen<br />
nicht gezwungen werden dürfen, sich selbst zu belasten oder<br />
sich schuldig zu bekennen. Lit. a enthält somit eine direkte<br />
Ausprägung des nemo tenetur-Grundsatzes aus Art. 14 Abs. 3<br />
lit. g IPbpR. Zum anderen umfasst Art. 55 Abs. 2 lit. b<br />
IStGH-St. speziell mit Bezug auf seine Vernehmung das<br />
Recht des Beschuldigten zu schweigen. 67 Dieses fließt als<br />
Komponente der Unschuldsvermutung und der Selbstbelastungsfreiheit<br />
in den Katalog von Rechten mit ein, die in Absatz<br />
2 speziell dem Beschuldigten in Anbetracht einer anstehenden<br />
Vernehmung zugestanden werden. 68<br />
Zunächst ist der ermittelnden Institution die Pflicht zur<br />
Belehrung über die Rechte in Art. 55 IStGH-St. auferlegt.<br />
Während sich diese Pflicht für Abs. 2 ausdrücklich aus dem<br />
Wortlaut der Vorschrift ergibt, bedarf es für die Rechte des<br />
Abs. 1 einer darüber hinausgehenden Herleitung, da sich in<br />
66 Safferling (Fn. 51), S. 123.<br />
67 Ausführlich zur Abgrenzung und zur unterschiedlichen<br />
ratio dieser beiden Vorschriften siehe Zappalá, Human<br />
Rights in International Criminal Proceedings, 2003, S. 78 f.<br />
68 Die Unterscheidung des Geltungsbereichs von Absatz 1<br />
und 2 gestaltet sich im Hinblick auf die Person des „suspect“<br />
(in der Literatur wird dieser Begriff verwendet, obwohl er<br />
sich nicht im Statut des IStGH findet) etwas schwierig. Eine<br />
Abgrenzung könnte derart getroffen werden, dass Personen<br />
nach Abs. 1, die nicht als Zeugen gelten und auf die sich die<br />
strafrechtlichen Ermittlungen fokussieren, mit dem im deutschen<br />
Strafprozessrecht geläufigen Begriff des „Verdächtigen“<br />
übersetzt werden und in Absatz 2 der Beschuldigte<br />
bezeichnet ist. Als „Person während der Ermittlungen“ kann<br />
der Betreffende zwar verdächtig sein. Dies bedeutet aber<br />
nicht zugleich, dass der Ankläger speziell gegen den Betreffenden<br />
ermittelt, er mithin Beschuldigter nach Absatz 2 ist.<br />
Siehe dazu Edwards, Yale J. Int’l L. 26 (2001), 323 (345<br />
Fn. 76).<br />
dessen Wortlaut kein Hinweis auf eine dahingehende Belehrungspflicht<br />
findet. 69 So ist zum einen darauf hinzuweisen,<br />
dass diese Rechte nur dann effektiven Schutz bieten können,<br />
wenn eine Wahrnehmung durch die betreffende Person überhaupt<br />
möglich ist. Zum anderen ist Regel 111 Abs. 2 IStGH-<br />
VBO heranzuziehen. Danach haben der Ankläger und die<br />
staatlichen Behörden während der Ermittlungen die Gewährleistungen<br />
des Art. 55 IStGH-St. zu achten. 70 Für den Ankläger<br />
regelt Art. 54 Abs. 1 lit. c IStGH-St. außerdem ausdrücklich,<br />
dass er im Hinblick auf laufende Ermittlungen die Rechte<br />
der Personen, die sich aus dem Statut ergeben, uneingeschränkt<br />
zu achten habe.<br />
bb) Während Art. 55 IStGH-St. die Rechte des Beschuldigten<br />
im Ermittlungsverfahren enthält, birgt Art. 67 IStGH-<br />
St. die Rechte des Angeklagten. Das Schweigerecht findet<br />
sich in Art. 67 Abs. 1 lit. g IStGH-St. und beruht terminologisch<br />
auf Art. 14 Abs. 3 lit. g IPbpR. Hier geht das IStGH-St.<br />
wie schon in Art. 55 Abs. 2 lit. b IStGH-St. insofern über den<br />
Text der Menschenrechtskonvention hinaus, als auch für den<br />
Angeklagten die Gewährleistung auf das Verbot nachteiliger<br />
Schlussfolgerungen erstreckt wird. Dabei vereint Art. 67 Abs.<br />
1 lit. g IStGH-St. den Wortlaut des Art. 55 Abs. 1 lit. a, Abs.<br />
2 lit. b IStGH-St. mit dem einzigen Unterschied, dass der<br />
Beschuldigte nicht gezwungen werden darf, sich selbst zu<br />
belasten 71 , wohingegen der Angeklagte nicht gezwungen<br />
werden darf, als Zeuge auszusagen. 72 Art. 67 Abs. 1 lit. g<br />
IStGH-St. gilt nicht erst ab dem Zeitpunkt, zu dem die betreffende<br />
Person formell „Angeklagter“ ist, sondern – wie Regel<br />
121 Abs. 1 IStGH-VBO belegt – bereits zum Zeitpunkt der<br />
ersten Anhörung nach der Überstellung der Person an den<br />
Gerichtshof nach Art. 60 IStGH-St. Im Übrigen sei auf die<br />
69 In Bezug auf die Freiheit des Zwangs zur Selbstbelastung<br />
enthielt zwar Art. 26 Abs. 6 ILC Draft Statute (1994) eine<br />
solche Belehrungspflicht. Allerdings wurde dort dieses Recht<br />
als das Recht eines Beschuldigten konzipiert (dazu auch<br />
Kommentar 6), über die auch nach dem heutigen Art. 55<br />
Abs. 2 IStGH-St. belehrt werden muss. Insofern besteht in<br />
dieser Hinsicht keine Vergleichbarkeit der damaligen Fassung<br />
zu dem aktuellen Art. 55 Abs. 1 IStGH-St.<br />
70 Dazu Hall, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome<br />
Statute of the International Criminal Court, 2. Aufl. 2008,<br />
Art. 55 Rn. 4.<br />
71 Art. 55 Abs. 1 lit. a IStGH-St.: „Shall not be compelled to<br />
incriminate himself or herself or to confess guilt“.<br />
72 Art. 67 Abs. 1 lit. g IStGH-St.: „Not to be compelled to<br />
testify or to confess guilt […]“. Der Passus „against himself“,<br />
der sich im IPbpR findet, wurde für das IStGH-St. nicht ü-<br />
bernommen, so dass es dem Angeklagten grundsätzlich freisteht,<br />
sich zu äußern, und nicht nur dann, wenn entsprechende<br />
Beweise gegen ihn vorliegen, vgl. Schabas, in: Triffterer<br />
(Fn. 70), Art. 67 Rn. 46. Die deutsche Übersetzung des Römischen<br />
Statuts scheint insofern nicht ganz richtig, als es dort<br />
heißt, dass der Angeklagte nicht gezwungen werden dürfe<br />
„[…] gegen sich selbst als Zeuge auszusagen […]“. Hierdurch<br />
erfolgt eine Beschränkung der Freiheit von Zwang zur<br />
Selbstbelastung auf Befragungen oder ähnliches, die einen<br />
Kontext zum Angeklagten aufweisen.<br />
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791
Christoph Safferling/Alena Hartwig<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
obigen Ausführungen zu Art. 55 IStGH-St. verwiesen. Hinzuweisen<br />
ist lediglich noch auf den Umstand, dass Art. 67<br />
Abs. 1 lit. i IStGH-St. den Angeklagten vor jeglicher Beweislastumkehr<br />
oder Widerlegungspflicht schützt. Dies wird dann<br />
relevant, wenn man sich die Rechtslage an den Ad Hoc-<br />
Tribunalen vergegenwärtigt, der zufolge ein Geständnis des<br />
Angeklagten als freiwillig und ohne Zwang abgegeben gilt,<br />
sofern nicht das Gegenteil bewiesen wird (Regel 92 JStGH-<br />
VBO). In einem solchen Fall liegt die Beweislast für das<br />
Vorliegen von Zwang nicht, wie von der Unschuldsvermutung<br />
grundsätzlich vorgesehen, beim Ankläger, sondern beim<br />
Angeklagten. Vor einer solchen Umkehr der Beweislast<br />
schützt Art. 67 Abs. 1 lit. i IStGH-St. 73<br />
cc) Die dritte Vorschrift, auf die in diesem Zusammenhang<br />
noch hinzuweisen ist, ist Art. 66 IStGH-St. Dieser beinhaltet<br />
die Unschuldsvermutung und steht damit in direktem<br />
Zusammenhang zu Art. 67 Abs. 1 lit. g, lit. i IStGH-St. Im<br />
Schweigerecht des Angeklagten manifestiert sich die Unschuldsvermutung<br />
als universelles Rechtsprinzip. Als zentraler<br />
Pfeiler eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens verkörpert<br />
dieses Prinzip einen Schutz vor Vorverurteilungen und<br />
Schuldzuweisungen im Vorfeld der gerichtlichen Feststellung<br />
und sichert demnach die Grundlage für Gerechtigkeit und<br />
Fairness in strafrechtlichen Verfahren. 74 Art. 66 Abs. 1<br />
IStGH-St. beinhaltet die generelle Aussage, dass jeder bis<br />
zum Nachweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten hat.<br />
Ferner legt Art. 66 IStGH-St. im zweiten und dritten Absatz<br />
dar, dass die Beweislast für den Nachweis dieser Schuld der<br />
Ankläger zu tragen hat, und dass eine Verurteilung nur für<br />
den Fall möglich ist, dass keine vernünftigen Zweifel an der<br />
Schuld des Angeklagten bestehen. Neben der Beweislastverteilung<br />
wird somit zugleich auch das Beweismaß festgelegt.<br />
Die Unschuldsvermutung sticht im Römischen Statut zum<br />
einen durch ihre regulative Eigenständigkeit, da sie nicht<br />
zwischen den Rechten des Angeklagten eingestellt ist, sondern<br />
in einer eigenen Vorschrift den Angeklagtenrechten<br />
vorgeht, und zum anderen durch ihre Ausführlichkeit deutlich<br />
hervor. Auf diese Art und Weise sollte der höchstmögliche<br />
Standard für den Schutz der fundamentalen Rechte des Angeklagten<br />
sichergestellt werden. 75 Es besteht außerdem Ei-<br />
73 Dazu auch May/Wierda, International Criminal Evidence,<br />
2002, S. 292 und Zappalá (Fn. 67), S. 94, welcher die auf die<br />
zuvor hingewiesene Beweislastumkehr an den Tribunalen<br />
nach Regel 92 JStGH-VBO stark kritisiert („This [Art. 67<br />
Abs. 1 lit. i IStGH-St., Anm. d. Verf.] is a major breakthrough<br />
because in the system of the ad hoc Tribunals there<br />
are reversals that virtually require a probatio diabolica.“).<br />
74 Cassese, International Criminal Law, 2. Aufl. 2008, S. 390;<br />
Bassiouni, Introduction to International Criminal Law, 2003,<br />
S. 603; Calvo-Gollar (Fn. 62), S. 227; Zappalá, in: Cassese/<br />
Gaeta/Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International<br />
Criminal Court, Bd. 2, 2002, S. 1340 ff. Zur Unschuldsvermutung<br />
in menschenrechtlichen Übereinkommen s. Nowak<br />
(Fn. 37), Art. 14 Rn. 33; Trechsel (Fn. 39), S. 154 ff.<br />
75 Zappalá (Fn. 67), S. 84. Zur geschichtlichen Entwicklung<br />
dieses Artikels s. Schabas (Fn. 72), Art. 66 Rn. 3 ff. und<br />
Baum, Wisc. Int’l L. J. 19 (2001), 197 (203 f.).<br />
nigkeit dahingehend, dass die Unschuldsvermutung trotz<br />
ihrer systematischen Stellung und trotz ihres Wortlautes nicht<br />
bloß für den Angeklagten, sondern bereits zu einem früheren<br />
Zeitpunkt auch für den Beschuldigten Geltung beansprucht. 76<br />
So ist neben Art. 67 Abs. 1 lit. a IStGH-St. auch Art. 55<br />
Abs. 2 lit. b IStGH-St. mit dem Verbot, nachteilige Schlussfolgerungen<br />
aus dem Schweigen des Beschuldigten zu ziehen,<br />
direkter Ausfluss der Unschuldsvermutung und der dort<br />
niedergelegten Beweislastverteilung.<br />
b) Negative Schlussfolgerungen aus dem Schweigen<br />
Ein weiterer Unterschied ergibt sich im Hinblick auf den<br />
Umfang der Gewährleistung des Schweigerechts. Der Wortlaut<br />
des Art. 55 Abs. 2 lit. b IStGH-St. besagt ausdrücklich,<br />
dass das Schweigen des Beschuldigten bei der Feststellung<br />
von Schuld oder Unschuld nicht in Betracht gezogen wird.<br />
Hiermit trifft die Vorschrift eine Anordnung, die über sämtliche<br />
Regelungen, einschließlich der menschenrechtlichen<br />
Standards, hinausgeht. Eine Diskussion über die Zulässigkeit<br />
nachteiliger Schlussfolgerungen aus dem Schweigen wird<br />
dadurch obsolet: durch eine solche Formulierung verdeutlicht<br />
der Wortlaut unmissverständlich, dass nachteilige Schlussfolgerungen<br />
aus dem Schweigen nicht gezogen werden dürfen.<br />
Dieses Schutzniveau wird durch die „Unvollständigkeit“<br />
der Regelung relativiert. Im Vergleich zu den Regelungen an<br />
den Tribunalen fehle der Hinweis, dass jegliche Aussage als<br />
Beweis gegen den Beschuldigten verwendet werden könne. 77<br />
Sofern anfangs die Hoffnung bestand, dass dies in der Verfahrens-<br />
und Beweismittelordnung oder den “Regulations“<br />
nachgeholt werden würde, bleibt lediglich festzustellen, dass<br />
dies bis dato nicht der Fall ist. Trotz dieses Umstandes fällt<br />
das Schweigerecht nicht hinter den Standard zurück, den<br />
menschenrechtliche Übereinkommen vorsehen.<br />
c) Transnationale Kooperation<br />
In Bezug auf den Adressaten dieser Verpflichtung ist das<br />
IStGH-Statut zumindest umfassender als die Verfahrens- und<br />
Beweismittelordnung des JStGH, welche sich lediglich auf<br />
eine Befragung durch den Ankläger beziehen und demzufolge<br />
nur diesen mit einer Belehrungspflicht versehen. 78 Hingegen<br />
nimmt Art. 55 Abs. 2 IStGH-St. neben dem Ankläger<br />
auch einzelstaatliche Behörden und deren Mitarbeiter in die<br />
Pflicht. Was die Bindung einzelner Staaten anbelangt, so<br />
wird durch den in Art. 55 Abs. 2 IStGH-St. gewählten Wortlaut<br />
deutlich, dass die Gewährleistungen dieser Vorschrift in<br />
den Vertragsstaaten zu berücksichtigen sind, sofern deren<br />
Behörden auf der Grundlage eines Ersuchens um Zusammenarbeit<br />
nach Teil 9 des Statuts bei den Ermittlungen behilflich<br />
sind, wobei idealerweise im Vorfeld eine Umsetzung der<br />
76 Cryer/Friman, An Introduction to International Criminal<br />
Law and Procedure, 2008, S. 356; Cassese (Fn. 74), S. 390;<br />
Schabas (Fn. 63), S. 203 mit Verweis auf Bassiouni, Cornell<br />
Int’l L. J. 32 (1999), 443 (454).<br />
77 Safferling (Fn. 36), S. 124; Hall (Fn. 70), Art. 55 Rn. 12.<br />
78 Siehe zu der diesbezüglich geäußerten Kritik oben, S. 64.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
792<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Das Recht zu schweigen und seine Konsequenzen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Regelung in nationales Recht hätte erfolgt sein sollen. 79 Hierdurch<br />
soll ein zusätzlicher Schutz geschaffen werden, da der<br />
IStGH in erheblicher Art und Weise auf die Kooperation der<br />
Staaten und deren Durchsetzungsmechanismen angewiesen<br />
ist. 80 Sofern diese Rechte durch die staatlichen Behörden oder<br />
den Ankläger verletzt werden, sind hierdurch erlangte Beweismittel<br />
nach Art. 69 Abs. 7 IStGH-St. nicht zulässig. 81<br />
Eine gewisse Parallelität besteht diesbezüglich zu den obigen<br />
Ausführungen betreffend den JStGH (sowie den RStGH),<br />
wobei dort die Regeln 42, 95 JStGH-VBO staatliche Behörden<br />
nicht in demselben Umfang binden wie Art. 55 IStGH-<br />
St. die Vertragsstaaten des Römischen Statuts. Es wird demzufolge<br />
insofern ein Unterschied deutlich, als nach dem<br />
Recht an den Tribunalen die nationalen Rechtsordnungen<br />
unbeeinflusst durch die Statuten und Verfahrens- und Beweismittelordnungen<br />
bleiben, wohingegen die Vorschriften<br />
des Römischen Statuts als Bestandteil der vertraglichen Verpflichtung<br />
auch in den Unterzeichnerstaaten gelten sollen.<br />
Für den Fall einer Verletzung der dem Beschuldigten zugestandenen<br />
Rechte (Maßstab sind hier die in den Statuten oder<br />
Verfahrens- und Beweismittelordnungen verankerten Gewährleistungen)<br />
kommt es in der Gestalt eines „gemeinsamen<br />
Nenners“ an diesen internationalen Gerichtshöfen zumindest<br />
auch darauf an, ob die Zulassung der auf diese Weise erlangten<br />
Beweismittel in einem grundsätzlichen Widerspruch zur<br />
Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens steht und dieser schweren<br />
Schaden zufügen würde.<br />
d) Zusammenfassung<br />
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Garantie des Art. 55<br />
Abs. 2 lit. b IStGH-St. in Teilen über den Maßstab hinausgeht,<br />
der in anderen Rechtsordnungen vorhanden ist. Was die<br />
Menschenrechte anbelangt, so garantiert diese Vorschrift den<br />
79 Amnesty International: „International Criminal Court: The<br />
failure of states to enact effective implementing legislation“,<br />
1.9.2004, AI Index: IOR 40/019/2004, S. 33, unter Hinweis<br />
auf eine eher mangelhafte Umsetzung in das nationale Recht<br />
der Staaten. Zu dem Bedürfnis einer solchen Umsetzung<br />
siehe Oosterveld/Perry/McManus, Fordham Int’l L. J. 25<br />
(2002), 767 (787 ff.); Triffterer, in: Kreß/Lattanzi (Hrsg.),<br />
The Rome Statute and Domestic Legal Orders, Bd. 1, 2000,<br />
S. 1, 12 f.<br />
80 May/Wierda (Fn. 73), S. 278; Terracino, J.I.C.J. 5 (2007),<br />
421 (422). In den Worten des Anklägers am IStGH, Luis<br />
Moreno-Ocampo: „[T]here seems to be a paradox: the ICC is<br />
independent and interdependent at the same time. It cannot<br />
act alone. It will achieve efficiency only if it works closely<br />
with other members of the international community.“ (Statement<br />
made at the ceremony for the solemn undertaking of the<br />
Chief Prosecutor of the ICC, 16.6.2003).<br />
81 Rastan, Leiden J. Int’l L. 21 (2008), 431 (452), der auf die<br />
Ähnlichkeit dieser Vorschrift zu Regel 95 JStGH-VBO und<br />
zugleich auf den Umstand hinweist, dass Art. 69 Abs. 7<br />
IStGH-St. deutlicher formuliert ist und daher entsprechend<br />
erlangte Beweise – anders als das Gegenstück in der JStGH-<br />
VBO – eindeutig von der Zulassung ausschließt (sofern die<br />
Verletzung von ausreichender Schwere ist).<br />
konventionellen Mindeststandard und übertrifft diesen in<br />
mancherlei Hinsicht. Gleiches gilt für die in Art. 55 Abs. 1<br />
lit. a IStGH-St. verankerte Freiheit von Zwang zur Selbstbelastung.<br />
Allein schon der Umstand, dass Art. 55 IStGH-St.<br />
dieses Recht in doppelter Hinsicht gewährleistet, verdeutlicht<br />
die Fortschrittlichkeit der Vorschrift und den derart postulierten<br />
Schutz. Flankiert wird die Regelung der Beschuldigtenrechte<br />
durch die Angeklagtenrechte des Art. 67 IStGH-St.<br />
und Art. 66 IStGH-St. als die Zentralnorm der Unschuldsvermutung.<br />
IV. Ausblick<br />
Strafprozessrecht steht im Spannungsfeld zwischen Effizienz<br />
und Fairness. Das zeigt sich auch an dem Umgang mit dem<br />
Recht zu Schweigen, das in diesem Spannungsfeld eine ambivalente<br />
Rolle einnimmt. Während es einerseits die Arbeit<br />
der Ermittlungsbehörden zu behindern scheint, garantiert es<br />
zugleich die Güte der Wahrheitsfindung, da der Wahrheitsgehalt<br />
einer unter Druck getätigten Aussage des Angeklagten<br />
sehr zweifelhaft ist. Das Recht zu schweigen ist daher nicht<br />
nur eine menschenrechtliche Garantie der Verfahrensfairness<br />
gegenüber dem Angeklagten, sondern zugleich ein wichtiges<br />
Grundelement der rechtsstaatlichen Wahrheitsfindung. Die<br />
seit einiger Zeit zu beobachtende Erosion kategorischer<br />
Rechte im Strafverfahren droht auch das Schweigerecht in<br />
nationalen Rechtssystemen zu beeinträchtigen. In dieser<br />
Situation wird die Rechtsposition des Angeklagten durch<br />
Entwicklungen im internationalen Strafverfahrensrecht gestärkt.<br />
Zwar hat das Völkerstrafprozessrecht keinen unmittelbaren<br />
Einfluss auf nationale Rechtssysteme; wenigstens mittelbar<br />
könnte und sollte das Römische Statut des Internationalen<br />
Strafgerichtshofs allerdings Vorbildcharakter entwickeln.<br />
Eine weitere Besonderheit des Strafverfahrensrechts im<br />
21. Jahrhundert wird hierbei deutlich. Trotz des immer wieder<br />
betonten, grundsätzlich nationalen Charakters des Strafprozesses<br />
82 , ist Strafverfahrensrecht nicht mehr nur eindimensional<br />
zu betrachten. Verschiedene Spruchkörper auf<br />
europäischer, aber auch auf internationaler Ebene beeinflussen<br />
die Entwicklung des Strafprozesses. Es entstehen Überschneidungen<br />
und Spannungen. In dieser dynamischen und<br />
facettenreichen Evolution ist es besonders wichtig, sich auf<br />
die Funktion des rechtsstaatlichen, aufgeklärten Strafverfahrens<br />
überhaupt zu besinnen und die traditionellen Errungenschaften<br />
immer neu zu begründen. Das gilt auch für die Integration<br />
der Rechtsprechung des EGMR. Wegen seiner<br />
Natur als supranationales Organ zur Implementierung der<br />
EMRK bedürfen seine Entscheidungen – wie auch das<br />
BVerfG in seinem sehr umstrittenen Beschluss in der Sache<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
82<br />
EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Urt. v. 11.7.2006 –<br />
54810/00, in: NJW 2006, 3117 Rn. 94, mit Verweis auf<br />
Schenk ./. Schweiz, Serie A Nr. 140 Rn. 45 f.; Teixera de<br />
Castro ./. Portugal, Slg. 1998-IV, S. 1462 Rn. 34; vgl. Safferling,<br />
Jura 2008, 100 (103); ebenso der EuGH in ständiger<br />
Rspr. vgl. etwa EuGH C-176/03 vom 13.9.2005, Kommission<br />
./. Rat, Rn. 47.<br />
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793
Christoph Safferling/Alena Hartwig<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Görgülü festgestellt hat 83 – genauer Analyse hinsichtlich der<br />
systematischen Integration in das nationale Recht. Nicht<br />
alles, was vom EGMR hinsichtlich anderer Rechtsordnungen<br />
für menschenrechtskonform erachtet wird, wie etwa negative<br />
Schlussfolgerungen aus dem Schweigen nach englischem<br />
Recht 84 , kann im innerstaatlichen Recht zulässig sein. Ebenso<br />
kann, was bzgl. einer anderen Prozessordnung für menschenrechtswidrig<br />
erachtet wurde, sich im deutschen Strafverfahrensrecht<br />
als menschenrechtskonform erweisen, weil Fairness<br />
strukturell anders hergestellt wird. 85<br />
Angesichts dieser Dilemmata zeigt diese Untersuchung,<br />
dass hinsichtlich des Schweigerechts auf mehreren Ebenen<br />
eine erfreulich weitgehende Übereinstimmung zu verzeichnen<br />
ist. Das ist umso begrüßenswerter, als eine Harmonisierung<br />
des rechtsstaatlichen Standards hinsichtlich der weiteren<br />
Entwicklung des europäischen wie des internationalen Strafrechts<br />
dringend erforderlich ist.<br />
83 BVerfGE 111, 307. Dazu auch Sachs, JuS 2005, 164;<br />
Breuer, NVwZ 2005, 412; Klein, JZ 2004, 1176; Meyer-<br />
Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15; Hartwig, German Law<br />
Journal 6 (2005), 869; Safferling, Jura 2008, 100 (107).<br />
84 S.o. bei Fn. 23.<br />
85 Das kann etwa im Fall der verdeckten Ermittler und Lockspitzel<br />
gelten, wenn vom BGH das Heil in einer Rechtsfolgen-<br />
bzw. Vollstreckungslösung gesucht wird. Hierzu BGH,<br />
Urt. v. 18.11.1999 – BGHSt 45, 321; NJW 2000, 1123. Freilich<br />
steht eine Bewertung durch den EGMR selbst für das<br />
deutsche Strafprozessrecht noch aus.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
794<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Die Obstruktion der Konstruktion<br />
Über die Bremswirkung gewohnter Denkmuster im Strafrecht*<br />
Von Prof. Dr. Bernhard Hardtung, Rostock<br />
I. Konstruktion und Obstruktion<br />
1. Die Konstruktion<br />
Ein Igel geht niemals über eine Straße. Das ist sozusagen der<br />
erste Hauptsatz des Konstruktivismus. Ein Igel geht, in seiner<br />
Igelwelt, niemals über eine Straße. Er geht über einen langen,<br />
flachen und stinkenden Stein. Und dass auf diesem Stein oft<br />
schnelle, harte und schwere Dinge („Autos“) sind, dafür hat<br />
er keinen Sinn.<br />
Ich möchte über das, was man „Konstruktivismus“ nennt,<br />
nicht philosophisch sprechen und nicht allgemein erkenntnistheoretisch.<br />
Ich möchte nur aufgreifen die erste und ganz<br />
schlichte, geradezu banale Einsicht des Konstruktivismus,<br />
dass wir die Welt nicht so sehen, wie sie ist, sondern immer<br />
nur so, wie wir sie sehen. Wir machen uns ein Bild von der<br />
Welt. Wir konstruieren uns unsere Welt. Unsere Konstruktionen<br />
sind Urteile über die Welt. Und sie hängen ab von unseren<br />
Konstruktionsmöglichkeiten.<br />
Unser Bild von der physischen Welt wird geprägt von unseren<br />
fünf Sinnen. Hätten wir andere Sinne, wäre unser Weltbild<br />
anders. Der Grubenotter zum Beispiel besitzt zwischen<br />
Augen und Nasenlöchern zwei grubenförmige kleine Organe,<br />
die auf Infrarotstrahlung reagieren. Damit kann er eine warme<br />
Maus sogar im Dunkeln so gut „sehen“, dass er sie fangen<br />
und fressen kann. Oder etwa der Hai hat mehrere spezielle<br />
Sinnesorgane, unter anderem das Seitenlinienorgan, mit dem<br />
er Druckschwankungen registrieren kann. Damit ist er in der<br />
Lage, in einer uns Menschen fremden Weise zu spüren, wo<br />
sich etwas im Wasser bewegt. Wären also unsere Sinne anders,<br />
wäre auch unser Weltbild anders.<br />
Aber auch unser Bild von der nicht physischen Welt ist<br />
geprägt von unseren Möglichkeiten. Hätten wir unsere<br />
menschlichen Sinneswahrnehmungen, im Übrigen aber das<br />
Gehirn eines Igels, dann hätten auch wir keinen Sinn für die<br />
Bedeutung eines langen, flachen und stinkenden Steines.<br />
Dann würde auch uns „ums Verrecken“ nicht in den Sinn<br />
kommen, dass auf dem Stein, den Menschen „Straße“ nennen,<br />
etwas kommen könnte, was Menschen „Auto“ nennen.<br />
Und auch in der Welt des Sollens und der Normen gibt es<br />
Konstruktionen: Was man soll und warum man es soll; moralische<br />
Konstruktionen, rechtliche Konstruktionen.<br />
Vor allem die Wissenschaft, die nach Systemen sucht,<br />
konstruiert gern, auch die Rechtswissenschaft. Die Rechtspraxis<br />
tut es weniger. Sie sucht die rechtliche Lösung des<br />
Einzelfalles. Natürlich greift sie dafür zurück auf vorhandene<br />
Konstruktionen. Gibt es aber für einen Fall noch keine Konstruktion,<br />
muss die Rechtsprechung sich ein neues Bild von<br />
* Der Beitrag ist die Schriftfassung meiner Antrittsvorlesung,<br />
die ich am 20.1.2004 an der Rostocker Juristischen Fakultät<br />
gehalten habe (Form und <strong>Inhalt</strong> habe ich etwas geändert),<br />
sowie die aktualisierte Fassung der Erstveröffentlichung in:<br />
Harald Koch (Hrsg.), Recht zwischen Verfahren und materieller<br />
Wertung, Berliner Wissenschaftsverlag (www.bwvverlag.de),<br />
Berlin 2005, S. 33 ff.<br />
der Rechtslage machen. Das tut sie oft intuitiv; man beruft<br />
sich auf das „geschulte Judiz“. Das hat Vorteile (dazu gleich<br />
unter 2.), aber auch Nachteile. Denn entweder (selten) beruht<br />
dieses „Judiz“ in der Tat auf keinerlei Konstruktionen; dann<br />
beruht die Entscheidung allein auf Belieben und Tagesstimmung,<br />
also auf Einflüssen, die wir lieber aus rechtlichen<br />
Entscheidungen herausgehalten sähen. Oder (so ist es meist)<br />
hinter diesem „geschulten Judiz“ stecken in Wahrheit durchaus<br />
Konstruktionen, aber unbewusste oder kaum reflektierte.<br />
Und aber auch dann können sie die Entscheidung nur wenig<br />
gegenüber sachfremden Einflüssen stabilisieren; die Entscheidung<br />
kann nicht richtig begründet werden, eben weil der<br />
Richter über seine Gründe selber nicht ganz im Bilde ist; und<br />
wegen der Begründungsschwäche können andere die Entscheidung<br />
nicht zutreffend nachvollziehen.<br />
Die Vorteile sorgfältig durchdachter Konstruktionen sind<br />
damit deutlich: Sie beruhen auf einer Durchdringung der<br />
Sache, sie verschaffen uns ein klares Bilder davon, sie leiten<br />
unser Verhalten kraftvoll an und sie machen es anderen verständlich.<br />
2. Die Obstruktion<br />
Aber unsere Konstruktionen haben auch Nachteile. Ihr größter<br />
ist: ihre Hartnäckigkeit.<br />
Machen wir uns zunächst dieses klar: Unser Bild von der<br />
Welt kann falsch sein. Ein Kind etwa lebt zunächst mit der<br />
Konstruktion, dass eine Herdplatte ein hartes kühles Ding ist,<br />
wie es im familiären Haushalt viele gibt: Fußbodenfliesen,<br />
Teller, Frisbee-Scheiben ... Es hat sowenig einen Sinn für die<br />
Herdplatte wie der Igel für die Straße. Aber irgendwann wird<br />
es ganz wörtlich be-„greifen“, dass Herdplatten etwas besonders<br />
sind.<br />
Das Kind zeigt uns damit: Konstruktionen können „richtig“<br />
sein oder eben nicht. Allerdings ist „richtig“ ein riskantes<br />
Wort. Denn wenn unsere Sicht auf die Welt nur eine von<br />
mehreren möglichen ist, dann kann nicht unsere Sicht „richtig“<br />
und die des Pottwals „falsch“ sein. Besser ist die Rede<br />
von „nützlichen“ Konstruktionen. Eine Konstruktion ist<br />
„nützlich“, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt, und das heißt:<br />
wenn sie uns dabei hilft, dass wir uns in der Welt zurechtfinden.<br />
Unsere Bilder, unsere Konstruktionen, unsere Urteile sind<br />
also in Wahrheit Vor-Urteile. Und ich meine das ohne negativen<br />
Klang: Unsere Konstruktionen sind immer nur vorläufige<br />
Urteile. Jederzeit kann es sein, dass eine andere Konstruktion<br />
nützlicher ist. Darauf müssen wir immer gefasst<br />
sein. Und wenn wir uns in der Welt immer besser zurechtfinden<br />
wollen, müssen wir auch bereit sein, uns von einem unserer<br />
Vor-Urteile zu lösen und uns ein neues zu bilden. Das<br />
Streben nach einem solchen immer besseren Bild von der<br />
Welt ist das Streben insbesondere der Wissenschaft.<br />
Aber die Konstruktionen sind hartnäckig: Wer sich einmal<br />
eine Meinung gebildet hat, wird sie kaum wieder los.<br />
Unser gewohntes Welt-„bild“ mögen wir ungern aufgeben.<br />
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795
Bernhard Hardtung<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Wir haben unsere Vor-Urteile lieb. Unsere Konstruktionen<br />
ruhen tief in uns. Und aus der Physik weiß man: Ruhende<br />
Körper neigen dazu, weiter zu ruhen.<br />
Dies wissenschaftlich zu erklären, ist die Gehirnforschung<br />
mittlerweile in der Lage. Die Bahnen, in denen sich unser<br />
Denken vollzieht, sind wirkliche Bahnen, auf denen elektrische<br />
Impulse durch unser Gehirn jagen (wobei ich mir darüber<br />
im Klaren bin, dass diese Aussage zwischen grober Vereinfachung<br />
und bildhafter Vorstellung oszilliert). Die Bahnen<br />
werden, irgendwann, angelegt, durch Erlebnisse, durch Nachdenken,<br />
durch Einüben (denken Sie an das Lernen des Fahrradfahrens<br />
oder an das Erlernen eines Musikinstrumentes).<br />
Sind sie da, benutzen wir sie auch. oder würden Sie, um von<br />
Rostock nach Schwerin zu kommen, die Autobahn meiden<br />
und über die Äcker fahren?<br />
Fehl-Konstruktionen der physischen Welt halten sich oft<br />
nicht gut, denn sie können der Wirklichkeit nichts entgegensetzen.<br />
Ein Beispiel: Vor fünf Millionen Jahren hatte ein<br />
schielender Gibbon das Vor-Urteil vor Augen, dass dort in<br />
zwei Meter Entfernung ein Ast hinge. Als er sprang, stellte<br />
sich sein Welt-„bild“ als wenig nützlich heraus. So funktioniert<br />
Evolution: Ausmerzung von Fehl-Konstruktionen durch<br />
Ausmerzung ihrer Konstrukteure. Dasselbe passiert heute den<br />
Igeln auf der Straße. Ihre Fehl-Konstruktion lautet: Wenn auf<br />
einem langen, flachen und stinkenden Stein die Sinnesorgane<br />
etwas wahrnehmen, wovon das Signal „Gefahr!“ ausgelöst<br />
wird, dann ist die richtige Reaktion darauf immer dieselbe,<br />
nämlich Einigeln. Nützlicher wäre ein Aus-der-Gefahr-Herausigeln,<br />
aber das kann der Igel nicht verstehen.<br />
Fehl-Konstruktionen der physischen Welt halten sich aber<br />
dann gut, wenn sie einen Umstand betreffen, der für das Sichzurecht-Finden<br />
in der Welt belanglos ist. Dass die Erde eine<br />
Scheibe sei, war gewiss eine Fehl-Konstruktion. Aber sie<br />
schadete Jahrhunderte lang nicht und bewies deshalb erstaunliche<br />
Lebenskraft.<br />
Deshalb halten sich Fehl-Konstruktionen der nicht physischen<br />
Welt besonders gut. Und normative Fehl-Konstruktionen<br />
halten sich am besten. Denn sie sind das, was man „enttäuschungsfest“<br />
nennt. Sie sind nicht „widerlegbar“. Ihre Konstrukteure<br />
und Anhänger haben logisch und psycho-logisch<br />
die Möglichkeit, ihren Fehl-Konstruktionen treu zu bleiben<br />
und sie konsequent in Ehren zu halten. Als Juristen etwa<br />
erklären sie dann ihre Konstruktionen und deren Konsequenzen<br />
für „gerecht“ oder jedenfalls für „Recht“, also „normativ<br />
richtig“.<br />
Wer hingegen nicht so sehr an seinen Konstruktionen<br />
hängt, kann eher zu neuen Ansichten und Einsichten kommen.<br />
Das gilt zum Beispiel für die Rechtsprechung. Sie hat es<br />
manchmal leichter, moderner zu sein als die Wissenschaft,<br />
weil sie eher bereit ist, auf die konstruktive Abstützung einer<br />
für „richtig“ gehaltenen Entscheidung zu verzichten als auf<br />
die „richtige“ Entscheidung selbst. Aber auch junge Menschen,<br />
darunter auch die jungen Juristen, die sich zum ersten<br />
Mal mit einem Stoff befassen, werden von der Hartnäckigkeit<br />
der bestehenden Konstruktionen nicht so sehr gefährdet.<br />
Denn sie selber haben noch keine Konstruktion verinnerlicht,<br />
von der sie sich erst mühsam lösen müssten. Sie wählen unbefangen<br />
und frei aus den konkurrierenden Konstruktionen<br />
die „bessere“, „passendere“, „einleuchtendere“ – eben die<br />
„nützliche“, die „richtige“ aus. Vielleicht ist auch das mit ein<br />
Grund für den gelegentlich aufgestellten 1 Satz, dass es im<br />
Mittel dreißig Jahre dauert von der ersten Äußerung einer<br />
neuen Idee bis zu ihrer Anerkennung: Das Aus-„bilden“ einer<br />
Anschauung in den Köpfen der Jüngeren ist leichter als das<br />
Um-„bilden“ bei den Älteren.<br />
Über diese Klemme will ich sprechen: Darüber, dass Verbesserungen<br />
des Weltbildes häufig eine Änderung der gewohnten<br />
Konstruktionen brauchen. Und dass eben dies nicht<br />
nur Igeln schwer fällt, sondern auch Strafrechtlern. Die alten<br />
Konstruktionen behindern den Fortschritt; sie hemmen uns,<br />
sie leisten Widerstand, sie sind nicht konstruktiv, sondern im<br />
Gegenteil obstruktiv. Dafür will ich Beispiele nennen: Für die<br />
Obstruktion der Konstruktion, für die Bremswirkung gewohnter<br />
Denkmuster im Strafrecht.<br />
II. Obstruktive Konstruktionen im Strafrecht<br />
Drei Bemerkungen vorab. Erstens: Ich möchte nicht in den<br />
Tiefen des Strafrechts schürfen, sondern in die Höhen fliegen,<br />
nämlich hinauf in die Meta-Ebene der Wissenschaftstheorie<br />
und der Argumentationstheorie oder auch der „Erkenntnissoziologie“.<br />
Ich werde deshalb manche strafrechtlichen<br />
Details unerwähnt lassen; denn ich brauche sie nicht für<br />
mein Thema. Zweitens: Weil ich über strafrechtliche Konstruktionen<br />
in unseren Köpfen sprechen will, möchte ich<br />
diese Konstruktionen sichtbar und anschaubar machen und<br />
benutze deshalb mehrere Bilder und Schemas 2 . Drittens: Ich<br />
befasse uns nur mit zwei strafrechtlichen Konstruktionen. Es<br />
sind sehr „Grund legende“, und ich will sie an diesem Fall<br />
zum Vorschein bringen.<br />
Fall 1: Täter T schlägt sein Opfer O mit Absicht schmerzhaft<br />
zu Boden. T tut das, weil er leichtsinnigerweise denkt, O hole<br />
gerade mit dem Fuß aus, um T zu treten. O holt wirklich<br />
gerade mit dem Fuß aus, aber nur, um eine Coladose wegzukicken.<br />
T hat einen Straftatbestand verwirklicht, nämlich den der<br />
vollendeten einfachen vorsätzlichen Körperverletzung nach<br />
§ 223 Abs. 1 StGB. Er war auch nicht aus Notwehr (§ 32<br />
StGB) gerechtfertigt, weil er von O nicht angegriffen wurde.<br />
Er dachte aber, er werde angegriffen und verteidige sich im<br />
Rahmen des Erforderlichen und Gebotenen. Er nahm also<br />
Umstände an, die ihm die Körperverletzung erlaubt hätten. Er<br />
befand sich im so genannten Erlaubnisumstandsirrtum. 3<br />
1 So insb. von Dayson, zitiert nach Kitaigorodski, Unwahrscheinliches<br />
– möglich oder unmöglich?, 2. Aufl. 1977, S. 144.<br />
2 Um schon hier eine alte und eine neue Konstruktion zu<br />
bringen, aber zur Sprache: Die im Text gewählte Mehrzahl<br />
von „Schema“ ist nach neuer deutscher Rechtschreibung<br />
korrekt. Aber wer sie immer in der älteren (und noch zulässigen)<br />
Form der „Schemata“ ge-„bildet“ hat, wird die „Schemas“<br />
nicht mögen. – Übrigens auch die „Paragrafen“ nicht.<br />
3 Gängiger ist die Bezeichnung „Erlaubnistatbestandsirrtum“,<br />
ebenso wie der in § 16 Abs. 1 S. 1 StGB geregelte Irrtum<br />
über Tatumstände nur selten „Tatumstandsirrtum“ und meist<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
796<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Die Obstruktion der Konstruktion<br />
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Zur rechtlichen Beurteilung gibt es etwa zehn Lösungen,<br />
wenn man auf die Details blickt. Für unsere Überlegungen<br />
genügt eine grobe Gruppierung. In der üblichen Sprache des<br />
Strafrechts stellt sich der Streit der Meinungen über die rechtliche<br />
Behandlung dieses Falles so dar, dass im älteren Lager<br />
der Lösungen festgestellt wird, T habe zwar das Unrecht<br />
einer vollendeten vorsätzlichen Körperverletzung verwirklicht,<br />
aber ohne Schuld gehandelt, wohingegen im neueren<br />
Lager vertreten wird, T habe schon nicht das Unrecht einer<br />
vollendeten vorsätzlichen Körperverletzung begangen. Ich<br />
nenne die erste Ansicht die „Schuldlösung“ und die zweite<br />
die „Unrechtslösung“. Sie halte ich für sachlich richtig. Aber<br />
darüber sage ich hier nichts. 4 Denn ich will mit Betonung<br />
nicht strafrechtsdogmatisch werden, sondern nur über die<br />
gestaltende und beharrende Kraft von gedanklichen Bildern<br />
und Denkmustern sprechen. Ich will zeigen, dass die Schuldlösung<br />
(auch) auf zwei konservativen Konstruktionen beruht<br />
und dass diese Konstruktionen es uns Strafjuristen schwerer<br />
machen als nötig, den Weg zur Unrechtslösung zu finden. Ich<br />
will zeigen, dass man sich von diesen Konstruktionen lösen<br />
sollte, wenn man die Unrechtslösung für richtig hält, und wie<br />
eine neue Konstruktion aussehen sollte.<br />
1. Zwei konservative Konstruktionen<br />
Die ältere Schuldlösung ruht auf zwei konservativen Konstruktionen.<br />
Die erste ist die vom traditionellen dreistufigen<br />
Deliktsaufbau (sogleich unter a). Für die zweite gibt es keine<br />
gängige Kurzbezeichnung. Ich nenne sie in diesem Beitrag<br />
die Konstruktion von der Unteilbarkeit des Unrechts, weil das<br />
für den weiteren Gedankengang die nützlichste Kurzbezeichnung<br />
ist, und erkläre später (unter b), was ich damit meine.<br />
a) Der traditionelle dreistufige Deliktsaufbau<br />
Die traditionelle Lehre (oder in unserer Terminologie: die<br />
traditionelle Konstruktion) vom dreistufigen Deliktsaufbau<br />
besagt, dass eine Straftat aus drei Elementen bestehe und<br />
diese drei Elemente in einer bestimmten Reihenfolge zu prüfen<br />
seien (sie ist also zugleich eine Lehre von der Deliktsprüfung).<br />
Sie besagt: Das den Grund legende Element ist der<br />
„Tatbestand“, was ein verkürzter Ausdruck für „Straftatbe-<br />
„Tatbestandsirrtum“ genannt wird. Die Rede vom Irrtum über<br />
den (Straf- oder Erlaubnis-) „Tatbestand“ ist aber ungenauer<br />
als die von den „Umständen“. Denn wer beispielsweise einen<br />
anderen Menschen aus Versehen tötet, verkennt ja nicht den<br />
in § 16 Abs. 1 S. 1 StGB erwähnten „Tatbestand“ des Totschlags<br />
(§ 212 Abs. 1 StGB) – er weiß doch, dass vorsätzliche<br />
Tötungen strafbar sind! Er verkennt vielmehr den ebenfalls<br />
in § 16 Abs. 1 S. 1 StGB erwähnten tatsächlichen „Umstand“,<br />
dass er in diesem Moment einen Menschen tötet.<br />
Genauer und deshalb besser ist also die Rede vom Irrtum<br />
über die „Umstände“.<br />
4 Nachzulesen sind die Gründe etwa bei den in Fn. 53 Genannten.<br />
standlichkeit“ ist 5 und meint: Die unterste und erste Stufe<br />
bildet die Feststellung, dass das Verhalten einer Person die<br />
Voraussetzungen eines Straftatbestandes erfüllt, also einer<br />
Vorschrift, die als Rechtsfolge Strafe androht. Auf der zweiten<br />
Stufe findet sich die „Rechtswidrigkeit“, wo entschieden<br />
wird, ob die Person rechtmäßig oder rechtswidrig gehandelt,<br />
ob sie Recht oder Unrecht getan hat. 6 Auf der dritten Stufe<br />
prüft man in der „Schuld“, terminologisch genauer: der<br />
„Schuldhaftigkeit“, ob die rechtswidrig handelnde Person<br />
(mit den Worten des § 20 StGB) in der Lage war, das Unrecht<br />
der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.<br />
Bild (siehe Bild 1 unten auf S. 810) und Prüfschema sind<br />
schlicht:<br />
I. Straftatbestand<br />
II. Rechtswidrigkeit<br />
III. Schuld<br />
Prüfschema 1: Der traditionelle dreistufige Deliktsaufbau<br />
So machen es fast alle, 7 und vor allem der Bundesgerichtshof<br />
sah nie Veranlassung, davon abzurücken. So hat etwa im<br />
Jahre 1952 der Große Senat für Strafsachen dargelegt, dass<br />
„die Verwirklichung des Tatbestandes nicht [...] rechtswidrig<br />
ist [...], wenn die tatbestandsmäßige Handlung nach einer<br />
gestattenden Gegennorm [...] erlaubt ist.“ 8 Und so sieht er es<br />
zum Beispiel in einer Entscheidung aus dem Jahr 1999 noch<br />
immer. 9 Zu den Gründen für diese Festigkeit später (unter 2.<br />
b] und d]).<br />
5 Ich verwende hier die Worte „Tatbestand“ und „Straftatbestand“<br />
mit derselben Bedeutung, weil das im Strafrecht so<br />
üblich ist. S. auch Fn. 11.<br />
6 Die Begriffe „Rechtswidrigkeit“ und „Unrecht“ sind oft<br />
austauschbar. Aber ein Unterschied besteht: Beispielsweise<br />
ein Mord und eine Sachbeschädigung sind gleichermaßen<br />
„rechtswidrig“ (seltener auch: „widerrechtlich“); aber das<br />
„Unrecht“ des Mordes ist größer als das der Sachbeschädigung.<br />
7 Aus der Lit. Gropp, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl.<br />
2005, § 6 Rn. 1-20; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2.<br />
Aufl. 1993, 6/54-58; Jescheck/Weigend, Strafrecht, Allgemeiner<br />
Teil, 5. Aufl. 1996, S. 248 ff.; Kühl, Strafrecht, Allgemeiner<br />
Teil, 6. Aufl. 2008, § 6 Rn 1-8; Lackner/Kühl,<br />
Strafgesetzbuch, Kommentar, 26. Aufl. 2007, Vor § 13 Rn. 17;<br />
Rönnau, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, Strafgesetzbuch,<br />
Leipziger Kommentar, Bd. 2, Vor § 32 Rn. 5-19;<br />
Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006,<br />
§ 10 Rn 13-26; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder,<br />
Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2006, Vor § 13 Rn.<br />
18; Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (a.a.O.),<br />
§ 15 Rn. 35; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze,<br />
Kommentar, 56. Aufl. 2009, Vor § 13 Rn. 46; Wessels/Beulke,<br />
Strafrecht, Allgemeiner Teil, 39. Aufl. 2009, Rn 123-129.<br />
8 BGHSt 2, 194 (195).<br />
9 BGH NStZ 2000, 87 (88), wo die Frage behandelt wird, ob<br />
der Angeklagte „bei der mittels Sprühen von Reizgas zum<br />
Nachteil des Zeugen S begangenen gefährlichen Körperver-<br />
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797
Bernhard Hardtung<br />
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b) Die Unteilbarkeit des Unrechts<br />
Die zweite konservative Konstruktion, um die es mir geht<br />
und die ich hier sehr verkürzt die „Unteilbarkeit des Unrechts“<br />
nenne, bedeutet dies: Alle Tatbestände und alle<br />
Rechtfertigungsgründe enthalten mehrere Voraussetzungen.<br />
Häufig sind diese Voraussetzungen zum einen Teil objektiver<br />
und zum anderen Teil subjektiver Art. Den Straftatbestand<br />
einer vollendeten vorsätzlichen Körperverletzung verwirklicht<br />
gemäß §§ 223 Abs. 1, 15 StGB nur, wer (objektiv) eine<br />
andere Person körperlich misshandelt und dies (subjektiv)<br />
vorsätzlich tut. Die Schmerzen des Opfers (das Erfolgsunrecht)<br />
und das Fehlverhalten des Täters (das Verhaltensunrecht)<br />
machen dabei das objektive Unrecht aus; sein böser<br />
Vorsatz (das Vorstellungsunrecht) bildet das subjektive Unrecht.<br />
10 Und umgekehrt: Den Rechtfertigungsgrund des Notstandes<br />
erfüllt gemäß § 34 StGB nur, wer (objektiv) bei wesentlichem<br />
Überwiegen des geschützten Interesses gegenüber<br />
dem beeinträchtigten und in angemessener Weise eine nicht<br />
anders abwendbare Gefahr für ein Rechtsgut von sich oder<br />
einem anderen abwendet und (subjektiv) dies tut, „um“ die<br />
Gefahr abzuwenden. Dass der Täter ein größeres Interesse<br />
schützt als beeinträchtigt, beseitigt das (nach Bejahung des<br />
Tatbestandes vermutete) Erfolgsunrecht. Dass er das größere<br />
Interesse auf zulässige Weise schützt, beseitigt das (nach<br />
Bejahung des Tatbestandes vermutete) Verhaltensunrecht.<br />
Beides zusammen gehört auch hier zum objektiven Unrecht.<br />
Dass er das objektiv Gute und Richtige vorsätzlich tut, beseitigt<br />
das (nach Bejahung des Tatbestandes vermutete) Vorstellungsunrecht,<br />
also das subjektive Unrecht.<br />
Um das Verhältnis dieser objektiven und subjektiven Teile<br />
in den Straftatbeständen und den Rechtfertigungsgründen<br />
geht es, um das Verhältnis von objektivem und subjektivem<br />
Unrecht. Die Anschauung von der Unteilbarkeit des Unrechts<br />
besagt, dass diese Teile untrennbare Voraussetzungsbündel<br />
bilden. Es ist ein Alles-oder-nichts-Denken: Der Tatbestand<br />
ist entweder erfüllt oder nicht, und ebenso ist ein Rechtfertigungsgrund<br />
entweder erfüllt oder nicht; ein Denken in einzelnen<br />
Tatbestandsteilen oder einzelnen Komponenten eines<br />
Rechtfertigungsgrundes kommt nicht vor. Ist der (Straf-)<br />
Tatbestand nicht komplett erfüllt, gibt es kein (strafbares) 11<br />
letzung durch Einwilligung des Tatopfers gerechtfertigt gewesen“<br />
sei.<br />
10 Üblicherweise werden nur die Termini „Erfolgsunrecht“<br />
und „Handlungsunrecht“ verwendet, wobei mit „Handlungsunrecht“<br />
manchmal das „Verhaltensunrecht“, manchmal das<br />
„Vorstellungsunrecht“ und manchmal beides gemeint ist; s.<br />
stellvertretend für viele Wessels/Beulke (Fn. 7), Rn. 15 f.<br />
Wegen seiner Uneindeutigkeit verwende ich diesen Terminus<br />
nicht. – „Verhaltens-“ Unrecht (und nicht „Handlungs-“ Unrecht)<br />
sage ich, weil das Verhalten nicht nur eine Handlung,<br />
sondern auch eine Unterlassung sein kann. „Vorstellungs-“<br />
Unrecht (und nicht „Vorsatz-“ Unrecht) sage ich, weil die<br />
Vorstellung nicht nur richtig, also „Vorsatz“ (§ 16 StGB),<br />
sondern auch falsch, also bloße „Vorstellung“ (§ 22 StGB)<br />
sein kann.<br />
11 An anderer Stelle der Rechtsordnung kann das Verhalten<br />
dennoch „Unrecht“ sein, zum Beispiel im Ordnungswidrig-<br />
Unrecht. Ist der Tatbestand komplett erfüllt, liegt aber auch<br />
ein Rechtfertigungsgrund komplett vor, so fehlt das nach<br />
Bejahung des Tatbestandes vermutete strafbare Unrecht. Ist<br />
der Tatbestand vollständig erfüllt und liegt kein Rechtfertigungsgrund<br />
komplett vor (er mag gar nicht oder eben nur<br />
zum Teil erfüllt sein), so ist das nach Bejahung des Tatbestandes<br />
vermutete strafbare Unrecht gegeben (die Strafbarkeit<br />
des Täters hängt dann von seiner Schuld ab).<br />
Es gibt allerdings Vorschriften, in denen entweder nur objektive<br />
oder nur subjektive Umstände beschrieben sind. Das<br />
sind zunächst die Fahrlässigkeitsdelikte. Den Straftatbestand<br />
einer fahrlässigen Körperverletzung erfüllt gemäß § 229<br />
StGB, wer (objektiv) durch Fahrlässigkeit (also durch Nichtbeachtung<br />
der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, vgl. § 276<br />
Abs. 2 BGB) die Körperverletzung einer anderen Person<br />
verursacht. Hier stellt sich nicht die Frage nach der Teilbarkeit<br />
oder Unteilbarkeit objektiver und subjektiver Umstände.<br />
Man ist sich (natürlich) darin einig, dass die objektiven Umstände<br />
den Fahrlässigkeitstatbestand erfüllen und seine<br />
Rechtsfolge auslösen. Umgekehrt beim Versuchsdelikt: Den<br />
Straftatbestand eines Körperverletzungsversuches erfüllt gemäß<br />
§§ 223 Abs. 1, 22 StGB, wer (subjektiv) nach seiner<br />
Vorstellung unmittelbar dazu ansetzt, eine andere Person<br />
körperlich zu misshandeln. 12 Hier besteht dieselbe Einigkeit,<br />
dass die subjektiven Umstände genügen.<br />
Solche „einteiligen“ Vorschriften finden sich aber nur bei<br />
den Straftatbeständen. Für die Rechtfertigungsgründe besteht<br />
nahezu Einigkeit 13 darüber, dass sie alle neben den objektiven<br />
Voraussetzungen immer auch die subjektive Voraussetzung<br />
keitenrecht (etwa ein Rotlichtverstoß ohne Gefährdung anderer)<br />
oder im Zivilrecht (etwa die strafrechtlich nicht erfassten<br />
Formen verbotener Eigenmacht, § 858 BGB). In diesem<br />
Beitrag geht es nur um das strafbare Unrecht, auch wenn ich<br />
es ab jetzt nicht immer dazusage. Siehe auch Fn. 5.<br />
12 Gewiss kann man das unmittelbare Ansetzen als etwas<br />
Objektives ansehen, weil es ein äußerliches Verhalten (Tun<br />
oder Unterlassen) ist. Das unmittelbare Ansetzen hat aber nur<br />
die Funktion, den Täter nicht allein für seinen bösen Willen,<br />
sondern erst für dessen Betätigung zu bestrafen. Diese notwendige<br />
Manifestation des subjektiven Unrechts ist aber kein<br />
für den Versuch notwendiges objektives Unrecht. Denn mit<br />
der Betätigung des subjektiven Unrechts kann objektives<br />
Unrecht einhergehen, muss es aber nicht. Denn auch der<br />
vollkommen untaugliche Versuch ist gemäß § 22 StGB strafbar,<br />
etwa wenn der Täter in Tötungsabsicht eine Waffe auf<br />
einen Menschen richtet und abdrückt, die Waffe aber ungeladen<br />
und der Mensch schon tot ist (objektiv gewiss kein Fehlverhalten).<br />
Das von § 22 StGB tatbestandlich eingefangene<br />
Unrecht des Versuchs besteht demnach allein in der (freilich<br />
betätigten) bösen Vorstellung des Täters, also in reinem subjektiven<br />
Unrecht.<br />
13 Zur älteren Ansicht, es seien gar keine subjektiven rechtfertigenden<br />
Umstände erforderlich, s. Rönnau/Hohn, in:<br />
Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Fn. 7), § 32 Rn.<br />
262. Für diese Ansicht stellt sich unser Problem einer nur<br />
teilweisen Rechtfertigung nicht. Diese Ansicht blende ich für<br />
das Weitere aus.<br />
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798<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Die Obstruktion der Konstruktion<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
enthalten, dass der Handelnde die objektiven Rechtfertigungsumstände<br />
kennt, 14 einerlei ob das schon im Normtext<br />
angelegt ist (wie im oben erwähnten § 34 StGB) oder nicht<br />
(wie zum Beispiel bei der Notwehr, § 32 StGB 15 ). Und vor<br />
allem hier wirkt sich die Konstruktion von der Unteilbarkeit<br />
des Unrechts besonders aus (gleich unter c] zu unserem<br />
Fall 1).<br />
Mit der Unteilbarkeits-Konstruktion geht einher die Anschauung,<br />
dass Straftatbestand und Rechtfertigungsgrund<br />
sich zueinander verhalten wie Norm und Gegennorm. Auf der<br />
ersten Deliktsstufe, im „Tatbestand“, ist die Verwirklichung<br />
des untersuchten Straftatbestandes positiv festzustellen. Auf<br />
der zweiten Deliktsstufe, der „Rechtswidrigkeit“, ist aber<br />
prozedural nicht die positive Feststellung der Rechtswidrigkeit,<br />
sondern die negative Feststellung der Abwesenheit aller<br />
Rechtfertigungsgründe zu leisten. 16<br />
Wieder wollen wir uns die Sachgedanken in Bild und<br />
Prüfschema veranschaulichen (siehe Bild 2 unten auf S. 810).<br />
Der Straftatbestand führt ins strafbare Unrecht, in die<br />
strafbare Rechtswidrigkeit hinein, aber nur bei Vorliegen all<br />
seiner Voraussetzungen. Der Rechtfertigungsgrund führt dort<br />
wieder heraus, aber ebenfalls nur bei Vorliegen all seiner<br />
Voraussetzungen.<br />
Welche Strafjuristen dieses Bild im Kopf haben, ist<br />
schwer auszumachen. Denn viele, die im Fall 1 die Rechtswidrigkeit<br />
bejahen, und das heißt: so denken, wie es Bild 2<br />
veranschaulicht, viele von ihnen lösen vergleichbare Fälle<br />
anders und haben dabei offenbar andere Bilder im Kopf; dazu<br />
aber erst später unter 3. Jedenfalls darf man sagen, dass das<br />
Bild von der Unteilbarkeit des Unrechts in früheren Jahrzehnten<br />
recht fest und unangefochten in den Köpfen der Strafjuristen<br />
saß.<br />
Füllt man im dreistufigen Deliktsaufbau (Prüfschema 1)<br />
die Stufen „Tatbestand“ und „Rechtswidrigkeit“ mit den<br />
objektiven und subjektiven Unrechtskomponenten an und hat<br />
dabei das Bild von der Unteilbarkeit des Unrechts vor Augen,<br />
so gelangt man für das vollendete Vorsatzdelikt zu folgender<br />
Verfeinerung:<br />
I. Straftatbestand<br />
= Vorliegen aller Straftatbestandsumstände<br />
1. Objektiver Tatbestand<br />
= Vorliegen aller objektiven Straftatbestandsumstände<br />
2. Subjektiver Tatbestand<br />
= Vorliegen aller subjektiven Straftatbestandsumstände<br />
II. Rechtswidrigkeit<br />
= Vorliegen keines Rechtfertigungsgrundes<br />
1. Nichtvorliegen des Rechtfertigungsgrundes 1<br />
(Für diese Feststellung „Umkehrung der Prüfrichtung“:)<br />
a) Vorliegen aller objektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />
1<br />
b) Vorliegen aller subjektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />
1<br />
2. Nichtvorliegen des Rechtfertigungsgrundes 2<br />
...<br />
III. Schuld<br />
Prüfschema 2: Tatbestand und Rechtswidrigkeit bei Unteilbarkeit<br />
des Unrechts<br />
Das Wichtigste steckt hier unter II. 1. a) und b). Was dort im<br />
Prüfschema nicht so deutlich zu erkennen ist wie im Bild und<br />
deshalb dort als Anmerkung steht, ist die Umkehrung der<br />
Prüfrichtung auf der Stufe der Rechtswidrigkeit: Man prüft<br />
nicht, ob die Rechtswidrigkeit, sondern ob ein Rechtfertigungsgrund<br />
gegeben ist; damit der Rechtfertigungsgrund als<br />
„Gegennorm“ seine rechtfertigende Wirkung entfalten kann,<br />
muss er komplett mit all seinen (objektiven und subjektiven)<br />
Voraussetzungen vorliegen.<br />
Dieses Denk- und Prüfschema ist so verbreitet und uns so<br />
gewohnt, dass der Strafrechtler mit allen anderen und von<br />
allen anderen auf dieser Bahn geradezu weiter gezogen wird.<br />
Sogar diejenigen, die das Bild von der Unteilbarkeit des Unrechts<br />
gar nicht mehr im Kopf, sondern schon durch neue<br />
Bilder ersetzt haben, arbeiten trotzdem fast immer mit dem<br />
Prüfschema 2. Darauf komme ich später (unter 3. e) zurück.<br />
14 Umstritten ist nur, ob dieser Rechtfertigungsvorsatz genügt<br />
oder ob zur Rechtfertigung ein (noch stärkerer) Wille gehört,<br />
etwa bei Notwehr und Notstand eine echte Rettungsabsicht.<br />
Darauf brauche ich hier nicht einzugehen.<br />
15 Dort steht das „um [...] zu“ in einem anderen grammatischen<br />
Kontext als bei § 34 StGB. Bezeichnet es beim Notstand<br />
in der Tat einen Rettungswillen, bezeichnet es bei der<br />
Notwehr nur das objektiv Erforderliche, „um“ den Angriff<br />
abzuwenden. Das wird gelegentlich verkannt, zum Beispiel<br />
von Duttge, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar<br />
zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2003, § 15 Rn. 197.<br />
16 Es gibt nur höchst wenige Ausnahmen. So ist bei der Nötigung<br />
und der einfachen Erpressung für die Bejahung der<br />
Rechtswidrigkeit die Verwerflichkeit der Tat positiv festzustellen<br />
(§§ 240 Abs. 2, 253 Abs. 2 StGB). Aber das ändert<br />
nichts an der ganz üblichen Anschauung, dass auch dort zuerst<br />
das Nichtvorliegen eines jeden Rechtfertigungsgrundes<br />
festzustellen ist.<br />
c) Konstruktive Konsequenzen für Fall<br />
Wir haben zwei Konstruktionen betrachtet: den traditionellen<br />
dreistufigen Deliktsaufbau (Bild 1) und die Unteilbarkeit des<br />
Unrechts (Bild 2). Aus ihnen ist das übliche Prüfschema 2<br />
hervorgegangen. Wendet man es auf unseren Fall 1 an, um<br />
die Strafbarkeit des T aus § 223 Abs. 1 StGB zu untersuchen,<br />
dann gelangt man zu dem Befund, dass alle objektiven und<br />
subjektiven Umstände, die von § 223 Abs. 1 StGB vorausgesetzt<br />
werden, gegeben sind und dass kein einziger Rechtfertigungsgrund<br />
mit all seinen Voraussetzungen vorliegt, denn<br />
immer fehlen die objektiven Umstände einer Rechtfertigung:<br />
O hat T nicht angegriffen (also keine Notwehr), O hat nicht<br />
in seine Verletzung eingewilligt (also keine Einwilligung)<br />
usw. Ts Vorstellung, dass die objektiven Notwehrumstände<br />
vorlägen, also das Vorliegen allein des subjektiven Notwehrumstandes,<br />
kann nichts ändern am Befund „rechtswidrig!“<br />
und allenfalls bei der Schuld bedeutsam werden.<br />
Die Konstruktionen führen im Fall 1 also zur Schuldlösung.<br />
Wer zur Unrechtslösung kommen will, muss das Prüf-<br />
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Bernhard Hardtung<br />
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schema ändern. Grund dafür kann ihm sein, dass er sich von<br />
der ersten Konstruktion löst, vom traditionellen dreistufigen<br />
Deliktsaufbau, oder von der zweiten, der Unteilbarkeit des<br />
Unrechts. Über solche Gegenkonstruktionen und ihre Chancen,<br />
sich durchzusetzen, will ich im Folgenden sprechen.<br />
2. Gegenkonstruktionen zum traditionellen dreistufigen Deliktsaufbau<br />
a) Der rechtstheoretische Deliktsaufbau<br />
Wenden wir uns wieder dem „dreistufigen Deliktsaufbau“ zu.<br />
Wie ist es dazu gekommen? Ein „rechtstheoretischer“ Deliktsaufbau<br />
sieht anders aus. Er beginnt bei den allgemeinen<br />
Voraussetzungen und endet mit den besonderen: Für die<br />
Bestrafung eines Menschen ist zunächst nötig, dass er sich<br />
falsch verhalten hat, in der Sprache des Rechts: sich rechtswidrig<br />
verhalten, Unrecht begangen hat. Ein rechtswidriges<br />
Verhalten kann viele verschiedene rechtliche Konsequenzen<br />
haben. Für die bekanntesten, nämlich Schadenersatz (§ 823<br />
Abs. 1 BGB) und Strafe, genügt ein rechtswidriges Verhalten<br />
aber noch nicht. Das Fehlverhalten muss dem Handelnden<br />
auch noch persönlich vorwerfbar sein, in der Sprache des<br />
Strafrechts: schuldhaft sein. Ein schuldhaftes rechtswidriges<br />
Verhalten kann wiederum viele verschiedene rechtliche Konsequenzen<br />
haben, zum Beispiel Schadenersatz (§ 823 Abs. 1<br />
BGB) oder Geldbuße (§ 1 OWiG). Speziell für eine Bestrafung<br />
muss das Verhalten auch noch mit Strafe bedroht sein;<br />
es muss in einem Straftatbestand beschrieben sein. – Weil<br />
man mit jeder zusätzlichen Voraussetzung die Menge der<br />
erfassten Fälle verringert, 17 lassen sich die Voraussetzungen<br />
in sich verengenden Stufen veranschaulichen (siehe Bild 3<br />
unten auf S. 810).<br />
Dieses Bild ist eindeutig „richtiger“ als Bild 1 zum traditionellen<br />
Deliktsaufbau, und zwar „richtiger“ in dem Sinne,<br />
dass sich nur hier im Bild 3 eine wirkliche Stufenfolge findet,<br />
die man hinauf schreiten kann. Der traditionelle dreistufige<br />
Deliktsaufbau hingegen verdient seinen Namen nicht. Das<br />
erkennt man aber erst, wenn man ihn so veranschaulicht, wie<br />
es ihm gebührt (siehe Bild 4 unten auf S. 810).<br />
Warum stellen wir Strafjuristen die Dinge derart auf den<br />
Kopf und fühlen uns auch noch wohl dabei? Die Antwort ist<br />
so einfach wie menschlich: Weil es praktischer ist. Bild 4<br />
mag wackelig aussehen, aber wir prüfen die Strafbarkeit von<br />
Personen nicht in Bildern, sondern in Prüfschemas, denen<br />
unser Deliktsaufbau zu Grunde liegt. Fragen wir uns also, zu<br />
welchem Prüfschema der „rechtstheoretische“ Deliktsaufbau<br />
führt, und wenden wir es auf Fall 1 an!<br />
Eine daran orientierte Lösung von Fall 1 sähe so aus:<br />
I. Rechtswidrigkeit: Ts Verhalten war objektiv rechtswidrig.<br />
Um das zu begründen, muss man nun aber doch wieder<br />
zunächst eine Verbotsnorm nennen. Das muss keine strafrechtliche<br />
sein (es ginge auch zum Beispiel § 823 Abs. 1<br />
BGB); aber am deutlichsten wird das Verhalten des T nun<br />
einmal von § 223 Abs. 1 StGB verboten. Erst nach dem Greifen<br />
der Verbotsnorm kann man feststellen, dass das Verbot<br />
auch nicht von einer spezielleren Erlaubnis komplett aufgehoben<br />
wurde.<br />
II. Schuld: T hat die Situation leichtsinnigerweise verkannt,<br />
hätte also seinen Irrtum und damit das Unrecht seines<br />
Verhaltens erkennen und sich danach richten können.<br />
III. Straftatbestand: T hat den Straftatbestand des § 223<br />
Abs. 1 StGB verwirklicht, denn er hat vorsätzlich eine andere<br />
Person körperlich misshandelt.<br />
Wir kämen zur Verneinung weder der Rechtswidrigkeit<br />
(Unrechtslösung) noch der Schuld (Schuldlösung), sondern<br />
zu Ts Strafbarkeit. Das muss uns jedenfalls zu denken geben.<br />
Ich will nicht behaupten, das Prüfschema sei falsch oder<br />
schwer verständlich. Denn wahrscheinlich würde ich damit<br />
nur offenbaren, dass auch ich dem gewohnten Denkmuster so<br />
verhaftet bin, dass mir das Umdenken Mühe bereitet. Was<br />
man aber guten Gewissens sagen darf, ist dies: Erstens gibt es<br />
offenbar im traditionellen Prüfschema 2 auf den Stufen der<br />
Rechtswidrigkeit und Schuld Verfeinerungen und Rückbezüge<br />
zum Straftatbestand, die erst die Unrechts- und die<br />
Schuldlösung ermöglichen. Diese Überlegungen müssten<br />
auch im „rechtstheoretischen“ Prüfschema 3 unterzubringen<br />
sein. Das könnte zwar schwierig werden, weil der Bezugspunkt<br />
„Tatbestand“ erst am Ende der Prüfung steht, scheint<br />
mir aber ein eher „technisches“ Problem zu sein. Ich halte es<br />
für lösbar, denke allerdings, dass es die Mühe nicht lohnt.<br />
Denn zweitens ist das „rechtstheoretische“ Prüfschema wenig<br />
zupackend und führt deshalb oft zu müßiger Mühe. Zum<br />
einen haben wir bei Prüfung der Rechtswidrigkeit gesehen,<br />
dass man entweder schon auf den Straftatbestand vorgreifen<br />
(und ihn dann später erneut nennen) oder aber ihn zwanghaft<br />
heraushalten muss. Zum anderen: Was müsste man in den<br />
vielen Fällen rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens<br />
machen, für die es keinen Straftatbestand gibt? Man müsste<br />
zwei Prüfungsstufen erklimmen, oft gewiss auch mit schwierigen<br />
Überlegungen zu Rechtswidrigkeit und Schuld, um erst<br />
am Ende festzustellen, dass das Verhalten zwar rechtswidrig<br />
und schuldhaft, aber von keinem Straftatbestand erfasst ist.<br />
Ein inakzeptabel langwieriges Verfahren, wenn nur nach der<br />
Strafbarkeit gefragt ist.<br />
I. Rechtswidrigkeit<br />
II. Schuld<br />
III. Straftatbestand<br />
Prüfschema 3: Der „rechtstheoretische“ Deliktsaufbau<br />
17 Zum Verhältnis von Rechtswidrigkeit und Straftatbestandlichkeit<br />
sagt das StGB selber, dass diese nur eine Teilmenge<br />
von jener ist (in § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB).<br />
b) Der traditionelle dreistufige Deliktsaufbau als pragmatisch<br />
nützliche Konstruktion für einfache Fälle<br />
Deshalb hat sich der übliche dreistufige Deliktsaufbau durchgesetzt.<br />
Er beginnt zupackend mit der engsten Voraussetzung,<br />
nämlich der Straftatbestandlichkeit, und konzentriert<br />
sich damit sogleich auf dasjenige, was für die gestellte Frage<br />
(Strafbarkeit?) von Belang ist. Erst nach Bejahung dieser<br />
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Die Obstruktion der Konstruktion<br />
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Frage erörtert man zweitens, ob das Verhalten auch rechtswidrig,<br />
und drittens, ob es auch schuldhaft ist. 18<br />
Das ist denn auch ein wichtiger Grund für den Vorzug des<br />
herkömmlichen dreistufigen Aufbaus gegenüber dem rechtstheoretischen:<br />
Er ist pragmatisch. Er ist effektiver. Alles läuft<br />
durch das Nadelöhr des Straftatbestandes; andere Rechtswidrigkeiten<br />
(Ordnungswidrigkeiten, Zivilrechtswidrigkeiten) interessieren<br />
von vornherein nicht. Der traditionelle dreistufige<br />
Deliktsaufbau lebt nicht von den normtheoretischen Stufenverhältnissen,<br />
sondern vom faktischen Regel-Ausnahme-<br />
Verhältnis: Wer einen Straftatbestand verwirklicht, handelt in<br />
der statistischen Regel rechtswidrig; das Eingreifen eines<br />
Rechtsfertigungsgrundes ist die Ausnahme. – Das ist der eine<br />
Grund. Zu einem anderen komme ich später (unter d).<br />
c) Der zweistufige Deliktsaufbau<br />
Nähern wir uns aber erst einer weiteren Alternative zum<br />
traditionellen dreistufigen Deliktsaufbau, dem zweistufigen.<br />
Er lebt von der Einsicht, dass die traditionelle erste Stufe<br />
„Tatbestand“ noch keine abschließende rechtlich relevante<br />
Bewertung enthält. Nach Bejahung des Tatbestandes ist alles<br />
noch offen und steht unter dem Vorbehalt der weiteren Prüfung.<br />
Die im Tatbestand formulierte Rechtsfolge „wird [...]<br />
bestraft“ gilt ja eben nicht schon für den, der eine andere<br />
Person körperlich misshandelt, sondern nur für den, der es<br />
rechtswidrig und schuldhaft tut. Die erste materielle Aussage<br />
ist deshalb erst mit dem Erklimmen der traditionell zweiten<br />
Stufe „Rechtswidrigkeit“ getroffen. Deshalb kann man die<br />
traditionell ersten zwei Stufen zusammenfassen zu einer<br />
Stufe, dem „Strafunrecht“. Darauf liegt dann nur noch die<br />
Stufe der „Schuld“ (siehe Bild 5 unten auf S. 811). 19<br />
Füllen wir auch den zweistufigen Deliktsaufbau mit den<br />
objektiven und subjektiven Unrechtskomponenten an, so<br />
gelangen wir für das vollendete Vorsatzdelikt zum Beispiel<br />
zu folgendem Prüfschema:<br />
I. Unrechtstatbestand<br />
= Vorliegen aller Unrechtstatbestandsumstände<br />
1. Objektives Unrecht<br />
a) Positive objektive Unrechtstatbestandsumstände<br />
= Vorliegen aller objektiven Straftatbestandsumstände<br />
b) Negative objektive Unrechtstatbestandsumstände<br />
= Vorliegen keiner objektiven Rechtfertigungsumstände<br />
aa) Keine objektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />
1<br />
bb) ...<br />
2. Subjektives Unrecht<br />
a) Positive subjektive Unrechtstatbestandsumstände<br />
= Vorliegen aller subjektiven Straftatbestandsumstände<br />
b) negative subjektive Unrechtstatbestandsumstände<br />
= Vorliegen keiner subjektiven Rechtfertigungsumstände<br />
aa) Keine subjektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />
1<br />
bb) ...<br />
II. Schuld<br />
Prüfschema 4: Der zweistufige Deliktsaufbau<br />
Mit dieser Sicht- und Prüfweise geht an zwei Stellen ein<br />
Umdenken einher. Erstens werden die Straftatbestände und<br />
die Rechtfertigungsgründe nicht mehr als Norm und Gegennorm<br />
verstanden, sondern so miteinander verschmolzen, dass<br />
ein alles umfassender Unrechtstatbestand entsteht, der ins<br />
(strafbare) Unrecht führt. Er muss dann zwangsläufig als<br />
„negatives“ Merkmal das Nichtvorliegen der rechtfertigenden<br />
Umstände enthalten. Negative Tatbestandsmerkmale sind<br />
nichts Besonderes. 20 Das Besondere an dieser Lehre ist nur,<br />
dass sie die Abwesenheit von Rechtfertigungsgründen konsequent<br />
zu negativen Unrechtstatbestandsmerkmalen macht<br />
(„ohne Einwilligung, ohne Notwehr, ohne Notstand usw.“);<br />
deshalb nennt man sie auch die „Lehre von den negativen<br />
Tatbestandsmerkmalen“. Zweitens behält diese Lehre die aus<br />
dem Straftatbestand bekannte Trennung objektiver und subjektiver<br />
Unrechtsvoraussetzungen konsequent bei und kommt<br />
18 Die Reihenfolge des zweiten und des dritten Schrittes kann<br />
man nicht umkehren: Weil Schuld die Fähigkeit ist, das Unrecht<br />
des Verhaltens einzusehen und nach dieser Einsicht zu<br />
handeln (vgl. § 20 StGB), kann man die Schuld nicht prüfen,<br />
bevor das Unrecht bejaht ist.<br />
19 Einen zweistufigen Deliktsaufbau vertreten (in verschiedenen<br />
Spielarten) beispielsweise Schlehofer, in: Joecks/Miebach<br />
(Fn. 15), Vor § 32 Rn. 33-46; Rinck, Der zweistufige Deliktsaufbau,<br />
2000; Schroth, in: Haft (Hrsg.), Strafgerechtigkeit,<br />
Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, 1993, S<br />
595 (S. 596-601); Schünemann, GA 1985, 341 (347-351).<br />
20 Beispiele: „ohne Amtsträger zu sein“ (§ 11 Abs. 1 Nr. 4<br />
StGB); „ohne Befugnis“ (§ 123 Abs. 1 StGB); „ohne von<br />
diesem hierzu aufgefordert zu sein“ (§ 184 Abs. 1 Nr. 6<br />
StGB); „ohne [...] schriftliche Feststellung eines Arztes“<br />
(§ 218b Abs. 1 S. 1 StGB); „ohne der Frau Gelegenheit gegeben<br />
zu haben [...]“ (§ 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB); „ohne die<br />
Schwangere [...] beraten zu haben“ (§ 218c Abs. 1 Nr. 2<br />
StGB); „ohne sich [...] überzeugt zu haben“ (§ 218c Abs. 1<br />
Nr. 3 StGB); „ohne dessen Angehöriger zu sein“ (§ 235 Abs. 1<br />
Nr. 2 StGB), „gegen den Willen des Berechtigten“ (§ 248b<br />
Abs. 1 StGB); „nicht bestimmt“ zur Energieentnahme (§ 248c<br />
Abs. 1 StGB); „ohne marktmäßige Gegenleistung“ (§ 264<br />
Abs. 7 Nr. 1 lit. a und Nr. 2 StGB); „ohne Wissen des Reeders“<br />
(§ 297 Abs. 1 StGB); „ohne erhebliche eigene Gefahr<br />
und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten“ (§ 323c<br />
StGB).<br />
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gerade dadurch zu einer Teilung der „negativen“ Unrechtsvoraussetzungen,<br />
also der Abwesenheit von Rechtfertigungsgründen,<br />
in objektive und subjektive Umstände.<br />
Das schlägt auf die Lösung im Fall 1 durch: T hat zwar<br />
das objektive Unrecht des § 223 Abs. 1 StGB verwirklicht,<br />
denn es liegen alle positiven objektiven Unrechtstatbestandsumstände<br />
vor (also: die objektiven Straftatbestandsumstände)<br />
und auch die negativen (also: es fehlen die objektiven Rechtfertigungsumstände).<br />
Das subjektive Unrecht jedoch ist nicht<br />
gegeben: Es liegen zwar die positiven subjektiven Unrechtstatbestandumstände<br />
vor (also: der auf die objektiven Straftatbestandsumstände<br />
bezogene „Vorsatz“), aber es fehlt der<br />
negative subjektive Unrechttatbestandsumstand, nämlich die<br />
Nichtvorstellung objektiver Rechtfertigungsumstände. T hat<br />
danach also nicht das Unrecht einer vollendeten vorsätzlichen<br />
Körperverletzung begangen.<br />
d) Die Chancen der neuen Konstruktionen<br />
Den „rechtstheoretischen“ Deliktsaufbau vertritt niemand,<br />
wenn ich richtig sehe. Den zweistufigen vertraten immer nur<br />
wenige, und auch jetzt ist nicht zu sehen, dass er an Boden<br />
gewinnt. 21 Es gibt noch weitere Konstruktionen zum Deliktsaufbau,<br />
auf die ich hier nicht eingehe; 22 aber auch sie<br />
ändern nichts an der Vorherrschaft des traditionellen dreistufigen<br />
Deliktsaufbaus. Warum ist das so? Den ersten Grund<br />
habe ich schon oben (unter b) genannt: Pragmatismus. Der<br />
traditionelle dreistufige Aufbau ist praktischer als der „rechtstheoretische“.<br />
Auch gegenüber dem zweistufigen hat er<br />
pragmatische Vorteile. 23 Er ist „einfacher“. In der Stilkunde<br />
ist nicht unbekannt, dass doppelte Verneinungen ungeeignet<br />
sind, die Unverständlichkeit von Texten zu verringern – besser:<br />
man weiß, dass sie schwer verständlich sind. Diese Erschwerung<br />
enthält auch der zweistufige Deliktsaufbau: Die<br />
Abwesenheit „positiver“ Umstände (etwa eines Angriffs)<br />
wird umformuliert und umgedacht in die Anwesenheit „negativer“<br />
Umstände (dem Fehlen eines Angriffs). Das bereitet<br />
größere Lern- und Anwendungsprobleme als die „Umkehrung<br />
der Prüfrichtung“ bei der traditionellen Rechtswidrigkeitsprüfung.<br />
Natürlich gibt es auch Sachgründe. Die meisten Juristen<br />
finden, dass sich unserem Strafgesetzbuch an mehreren Stellen<br />
entnehmen lässt, dass es von einem dreistufigen Deliktsaufbau<br />
ausgeht (etwa §§ 11 Abs. 1 Nr. 5, 228, 240 Abs. 2<br />
StGB) und dass deshalb mit „Tatbestand“ in § 16 Abs. 1 S. 1<br />
StGB nur der „Straftatbestand“ im Sinne des dreistufigen<br />
Deliktsaufbaus gemeint sei, nicht der „Unrechtstatbestand“<br />
im Sinne des zweistufigen. Das halte auch ich für zutreffend.<br />
Und wenn wir das deutsche Strafrecht so verstehen, dass es<br />
auf einem dreistufigen Deliktsaufbau beruht, dann gibt es<br />
dort eine dem Rechtsanwender vorgegebene normative Konstruktion,<br />
die wir als rechtsanwendende Juristen akzeptieren<br />
müssen. Aber ich will, wie eingangs gesagt, nicht dogmatisch<br />
werden.<br />
Ich nenne deshalb einen zweiten Grund für die hartnäckige<br />
Unverrückbarkeit des traditionellen Aufbaus: Gewöhnung.<br />
Lesen wir, was Haft dazu geschrieben hat:<br />
„So ist es kein Widerspruch, dass derselbe Liszt, der die<br />
moderne Schule anführte, ein dogmatisches Strafrechtssystem<br />
entwickelte, welches später als ‚klassischer Verbrechensbegriff‘<br />
bezeichnet wurde. Da er dieser Dogmatik nur<br />
einen bescheidenen Rang einräumte, sie eigentlich nur als<br />
Hilfsmittel bei der ‚pädagogischen‘ Aufgabe ansah, ‚der<br />
lernbegierigen juristischen Jugend‘ die Rechtssätze zu vermitteln,<br />
schuf er ein bestechend einfaches und klares System,<br />
welches dann natürlich überaus erfolgreich war. Generationen<br />
von Juristen haben nach diesem System gelernt, die<br />
Straftat in die Bestandteile Tatbestand, Rechtswidrigkeit und<br />
Schuld zu zerlegen. Auch heute noch beherrscht dieses System<br />
[...] Theorie und Praxis des Strafrechts.“ 24<br />
Nur zu wahr. Das Prüfschema des traditionellen dreistufigen<br />
Deliktsaufbaus hat sich nicht nur praktisch bewährt,<br />
sondern auch in unseren Köpfen festgesetzt. Er ist im Strafrecht<br />
einer der am häufigsten beschrittenen Denkwege und<br />
deshalb eine so breite und bequeme Bahn mit so stabilen<br />
Leitplanken, dass es geradezu Mühe bereitet, von dieser Bahn<br />
abzukommen.<br />
Einfachheit gepaart mit wohliger Gewöhnung – das hat in<br />
der Welt des Denkens und der Bilder große beharrende Kraft.<br />
Ich stelle deshalb die „wissenschaftssoziologische“ These<br />
auf, dass sich die Konstruktion des traditionellen dreistufigen<br />
Deliktsaufbaus auf unabsehbare Zeit als stabil erweisen wird.<br />
Daran knüpfe ich einen Rat: Wer im Fall 1 die Unrechtslösung<br />
für richtig hält (aus sachlichen Erwägungen natürlich),<br />
der rüttle dennoch nicht am traditionellen Aufbau! Denn der<br />
wird davon nicht ins Wanken geraten. Ich empfehle statt<br />
eines Neubaus den Umbau der zweiten Stufe „Rechtswidrigkeit“.<br />
Damit komme ich zur zweiten Hauptkonstruktion, der<br />
Unteilbarkeit des Unrechts.<br />
21 Nachweise in Fn. 19.<br />
22 Erwähnt sei vor allem das von Freund, Strafrecht, Allgemeiner<br />
Teil, 2. Aufl. 2008, S. 457-459, vorgestellte und so<br />
genannte „grundlagenorientierte Gliederungsschema“.<br />
23 So auch Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.),<br />
Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, Vor § 13<br />
Rn. 8. Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, Allgemeinter Teil,<br />
Bd. 1, 5. Aufl. 2004, § 7 Rn. 10-13. – Sehr klar und zutreffend<br />
unterscheidet Puppe (a.a.O.), Rn. 16 zwischen dem<br />
Delikts-Aufbau, der nur die zwei Stufen „Unrecht“ und<br />
„Schuld“ hat, und dem Prüfungs-Aufbau, der aus pragmatischen<br />
Gründen die drei Stufen „Tatbestand“, „Rechtswidrigkeit“<br />
und „Schuld“ haben solle.<br />
3. Die Gegenkonstruktion zur Unteilbarkeit des Unrechts: die<br />
Teilbarkeit des Unrechts<br />
a) Der Angriff auf mehrere Rechtsgüter – das Beispiel des<br />
Diebstahls<br />
Beginnen wir für das, was ich sagen will, bei einem Straftatbestand,<br />
in dem der Angriff auf zwei Rechtsgüter unter Strafe<br />
gestellt ist: beim Straftatbestand des Diebstahl (§ 242 Abs. 1<br />
StGB). Er lautet verkürzt: „Wer eine fremde Sache einem<br />
24 Haft, Aus der Waagschale der Justitia, eine Reise durch<br />
4000 Jahre Rechtsgeschichte, zitiert nach der 2. Aufl. 1990,<br />
S. 192.<br />
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anderen in der Absicht rechtswidriger Zueignung wegnimmt,<br />
wird bestraft.“ Hier geht es zum einen um einen Angriff auf<br />
den Gewahrsam desjenigen, der die Sache bei sich hat und<br />
dem der Täter sie „wegnimmt“. Zum anderen geht es um<br />
einen Angriff auf das Eigentum, denn der Täter muss die<br />
„fremde Sache“ sich rechtswidrig zueignen wollen. Hier ist<br />
anerkannt, dass man das Unrecht in diese beiden Unrechtskomponenten<br />
teilen kann und auch teilen muss.<br />
Was bedeutet das für die Frage, wann das Unrecht des<br />
Diebstahls vorliegt? Die allgemeine Antwort darauf lautet:<br />
Erst dann, wenn beide Unrechtskomponenten vorliegen, denn<br />
erst dann ist das Diebstahlsunrecht komplett. Sobald die<br />
Gewahrsamsverletzung fehlt oder die Eigentumsverletzung,<br />
ist das Diebstahlsunrecht nicht gegeben. Das bedeutet zunächst,<br />
dass die Sache „fremd“ sein und der Täter sie in der<br />
Absicht rechtswidriger Zueignung „wegnehmen“ muss. Es<br />
bedeutet aber auch, dass weder Gewahrsamsinhaber noch<br />
Eigentümer dem Geschehen zugestimmt haben dürfen. Gemeinhin<br />
sieht man es so, dass die Zustimmung des Gewahrsamsinhabers<br />
das Merkmal „Wegnahme“ unerfüllt sein lässt<br />
und die Zustimmung des Eigentümers die beabsichtigte Zueignung<br />
nicht rechtswidrig sein lässt. 25 Unabhängig von der<br />
Platzierung im Deliktsaufbau ist beiden Zustimmungen gemeinsam,<br />
dass jede für sich das für einen Diebstahl nötige<br />
Unrecht nicht zustande kommen lässt (siehe Bild 6 unten auf<br />
S. 811).<br />
fahrlässigen Erfolgsdelikt wie der fahrlässigen Körperverletzung<br />
(§ 229 StGB) muss der Täter einen Unrechtserfolg<br />
verursachen („Erfolgsunrecht“), und er muss es durch ein<br />
Fehlverhalten tun, nämlich „durch Fahrlässigkeit“ („Verhaltensunrecht“).<br />
Der Täter muss das Unrecht, das er verwirklicht,<br />
sich nicht vorstellen (es ist kein „Vorsatz“ nötig). Im<br />
Fall 2 liegt bei M dieses objektive Unrecht vor. Seine Tat<br />
finden wir im Bild 7 im Bereich „fahrlässige Vollendung“,<br />
und allein die objektiven Tatbestandsumstände (fahrlässige<br />
Verursachung von Schmerzen) haben ihn dorthin gebracht.<br />
Fall 3: Herr B versucht, den X zu schlagen, schlägt jedoch<br />
daneben.<br />
Beim Versuchsdelikt geht es um die Bestrafung allein subjektiven<br />
Unrechts (auch dazu schon unter 1. b): Beim Versuch<br />
(§ 22 StGB) eines Erfolgsdelikts wie der vorsätzlichen Körperverletzung<br />
(§ 223 Abs. 1 StGB) muss der Täter sich nur<br />
vorstellen, einen Unrechtserfolg durch ein Fehlverhalten 26 zu<br />
verursachen (und er muss gemäß § 22 StGB zur Verwirklichung<br />
des vorgestellten Tuns unmittelbar ansetzen). Aber der<br />
Täter muss das Unrecht, dass er sich vorstellt, nicht verwirklichen.<br />
Im Fall 3 liegt bei B das nötige subjektive Unrecht<br />
vor. Seine Tat finden wir im Bild 7 im Bereich „Versuch“,<br />
und allein die subjektiven Tatbestandsumstände haben das<br />
bewirkt.<br />
b) Die Teilung von objektivem und subjektivem Unrecht auf<br />
der Stufe des Tatbestandes<br />
Dieser eigentlich ganz schlichte Gedanke der Teilbarkeit der<br />
Unrechtskomponenten lässt sich auch beim Zusammenspiel<br />
anderer Unrechtskomponenten teilweise im Gesetz vorfinden.<br />
Für unsere Zwecke am Wichtigsten ist die Teilung von objektiven<br />
und subjektiven Unrechtskomponenten.<br />
Gesetzlicher Anhaltspunkt und Ausgangspunkt sind die<br />
schon oben (unter 1. b) erwähnten Fahrlässigkeits- und Versuchsdelikte,<br />
die auf Tatbestandsebene nur eine (entweder<br />
objektive oder subjektive) Unrechtskomponente voraussetzen,<br />
sowie die vollendeten Vorsatzdelikte, die mehr sind als<br />
das bloß gleichzeitige Zusammentreffen von objektivem<br />
Unrecht (Erfolgs- und Verhaltensunwert) und subjektivem<br />
Unrecht (Vorstellungsunwert), nämlich deren Verknüpfung.<br />
Diese drei Deliktstypen und die dafür tatbestandlich erforderlichen<br />
Unrechtskomponenten lassen sich so darstellen (siehe<br />
Bild 7 unten auf S. 811).<br />
Dazu die folgenden drei Fälle.<br />
Fall 2: Bei einem Einkaufsbummel dreht Herr M sich plötzlich<br />
mit gestrecktem Arm um, weil er seiner Frau ein neues<br />
Geschäft zeigen will. Dabei schlägt seine Hand schmerzhaft<br />
gegen die Nase des Passanten P.<br />
Beim Fahrlässigkeitsdelikt geht es um die Bestrafung allein<br />
objektiven Unrechts (dazu schon vorne unter 1. b): Bei einem<br />
25 Siehe nur Eser, in: Schönke/Schröder (Fn. 7), § 242 Rn. 35<br />
und 59; Schmitz, in: Joecks/Miebach (Fn. 15), Bd. 3, § 242<br />
Rn. 74 und 144.<br />
Fall 4: Täter T schlägt sein Opfer O grundlos mit Absicht<br />
schmerzhaft zu Boden.<br />
Beim vollendeten Vorsatzdelikt geht es um die Bestrafung<br />
von objektivem und subjektivem Unrecht im Verbund: Bei<br />
einem vollendeten Vorsatzdelikt wie der einfachen Körperverletzung<br />
(§ 223 Abs. 1 StGB) muss der Täter durch ein<br />
unrechtes Verhalten einen Unrechtserfolg verursachen (objektives<br />
Unrecht), und er muss sich auch zutreffend vorstellen,<br />
dies zu tun, das heißt: vorsätzlich handeln, §§ 15 und 16<br />
StGB (subjektives Unrecht). Im Fall 4 liegt bei T sowohl das<br />
objektive als auch das subjektive Unrecht vor. Seine Tat<br />
finden wir im Bild 7 im Bereich „vorsätzliche Vollendung“,<br />
und nur der Verbund von objektivem und subjektivem Unrecht<br />
hat dorthin geführt.<br />
26 Beim Vorsatzdelikt kleidet man die Voraussetzung, dass<br />
der Täter den Erfolg durch ein Fehlverhalten verursachen<br />
muss, üblicherweise in die Worte, der Erfolg müsse ihm „objektiv<br />
zurechenbar“ sein, was voraussetze, dass der Täter eine<br />
„unerlaubte Gefahr schaffe“, die sich „im Erfolg verwirkliche“.<br />
Das ist in der Sache dasselbe wie beim Fahrlässigkeitsdelikt<br />
(was freilich umstritten ist), denn auch hier muss der<br />
Täter den Erfolg durch ein Fehlverhalten verursachen. Nur<br />
die Terminologie ist üblicherweise eine andere. Hier sagt<br />
man (meist), der Täter müsse eine „objektive Sorgfaltspflichtverletzung“<br />
begangen haben und der Erfolg müsse mit ihr in<br />
einem „Pflichtwidrigkeitszusammenhang“ stehen. Etwas<br />
ausführlicher dazu Hardtung, in: Joecks/Miebach (Fn. 15),<br />
Bd. 3, 2003, § 222 Rn. 1-3 mit weiteren Nachweisen.<br />
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c) Die entsprechende Teilung von objektivem und subjektivem<br />
Unrecht auf der Stufe der Rechtswidrigkeit<br />
Wenn man diese im Gesetz auf Tatbestandsebene fest fundierte<br />
Teilung von objektivem und subjektivem Unrecht<br />
konsequent beibehält, dann nimmt man sie auch auf der Stufe<br />
der Rechtswidrigkeit vor. Ergänzen wir also unser Bild 7 um<br />
die „rechtfertigenden“ Pfeile, die den Täter aus dem jeweiligen<br />
Unrecht wieder hinausführen (siehe Bild 8 unten auf<br />
S. 812).<br />
Auch dazu zunächst drei Fälle.<br />
Fall 5: Wie Fall 2. Aber Herr H trifft die Nase des Taschendiebes<br />
T, der sich gerade angeschickt hat, ihm das Portmonee<br />
aus der Gesäßtasche zu ziehen.<br />
Im Fall 5 hat H (wie im Fall 2) den Tatbestand der fahrlässigen<br />
Körperverletzung (§ 229 StGB) verwirklicht, das heißt:<br />
Allein objektives Unrecht steht als Vorwurf im Raum. Im<br />
Fall 5 liegen aber (anders als im Fall 2) auch die objektiven<br />
Umstände eines Rechtfertigungsgrundes vor, nämlich die der<br />
Notwehr (§ 32 StGB): H hat den gegenwärtigen rechtswidrigen<br />
Angriff des T mit der erforderlichen Verteidigung in<br />
gebotener Weise von sich abgewendet. 27 Diese objektiven<br />
Rechtfertigungsumstände führen den H aus dem Unrecht des<br />
Fahrlässigkeitsdelikts wieder heraus (s. Bild 8). Er ist vollständig<br />
„gerechtfertigt“, wie wir zu sagen pflegen. Und diese<br />
Rechtfertigung beruht allein auf den objektiven Umständen<br />
des Rechtfertigungsgrundes.<br />
Fall 6: Wie Fall 3. Aber Herr B tut das, weil er irrtümlich<br />
denkt, X seinerseits wolle ihn schlagen.<br />
Im Fall 6 hat B (wie im Fall 3) den Tatbestand des Körperverletzungsversuchs<br />
(§§ 223 Abs. 1, 22 StGB) verwirklicht,<br />
das heißt: Allein subjektives Unrecht steht als Vorwurf im<br />
Raum. Im Fall 6 liegen aber (anders als im Fall 3) auch die<br />
subjektiven Umstände eines Rechtfertigungsgrundes vor,<br />
nämlich die der Notwehr: B hat sich vorgestellt, einen gegenwärtigen<br />
rechtswidrigen Angriff des X mit der erforderlichen<br />
Verteidigung in gebotenen Weise von sich abzuwenden.<br />
Diese subjektiven Rechtfertigungsumstände führen den B aus<br />
dem Unrecht des Versuchs wieder heraus (s. Bild 8). Auch er<br />
ist komplett „gerechtfertigt“, und zwar allein wegen der subjektiven<br />
Rechtfertigungsumstände.<br />
Fall 7: Wie Fall 4. Aber T schlägt den O nieder, weil der ihn<br />
würgen will.<br />
Im Fall 7 hat T (wie im Fall 4) den Tatbestand der vorsätzlichen<br />
Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) verwirklicht,<br />
also steht der Verbund von objektivem und subjektivem Unrecht<br />
als Vorwurf im Raum. Im Fall 7 liegen aber (anders als<br />
im Fall 4) auch die objektiven und die subjektiven Umstände<br />
der Notwehr vor: T hat den gegenwärtigen rechtswidrigen<br />
Angriff des O mit der erforderlichen Verteidigung in gebotener<br />
Weise von sich abgewendet und sich das alles auch zutreffend<br />
vorgestellt. Die objektiven Rechtfertigungsumstände<br />
führen den T aus dem objektiven Unrecht heraus, die subjektiven<br />
Rechtfertigungsumstände führen ihn aus dem subjektiven.<br />
So ist auch er komplett gerechtfertigt.<br />
Das Besondere dieser Sichtweise kommt uns erst bei den<br />
nächsten zwei Fällen vor Augen (auch wenn wir uns schon<br />
jetzt denken können, wohin die Reise geht). Bei einer Deliktsprüfung<br />
interessiert uns ja nicht, ob jemand komplett<br />
gerechtfertigt ist, sondern ob er das Unrecht der gerade untersuchten<br />
Straftat komplett verwirklicht hat. Das nötige Unrecht<br />
fehlt aber nicht erst dann, wenn der Täter komplett gerechtfertigt<br />
ist, sondern schon dann, wenn er nur teilweise gerechtfertigt<br />
ist. Hier gibt es zwei Varianten.<br />
In der ersten ist der Täter objektiv gerechtfertigt, er weiß<br />
das aber nicht.<br />
Fall 8: In einer Disco schüttet Girlie G dem Macho M eine<br />
Flasche Rigo ins Gesicht, weil sie ihn ätzend findet. Ohne es<br />
zu wissen, verhindert sie nur so eine sexuelle Belästigung, zu<br />
der M gerade angesetzt hat.<br />
Nehmen wir an, das Überschütten sei eine vollendete vorsätzliche<br />
Körperverletzung. Dann ist G objektiv aus Notwehr<br />
gerechtfertigt, weiß das aber nicht. Das Rechtsproblem ist<br />
den Strafrechtler bekannt unter dem Namen „Verkennung<br />
rechtfertigender Umstände“ oder auch als umgekehrter Erlaubnisumstandsirrtum.<br />
Zum Unrecht einer vorsätzlichen<br />
vollendeten Körperverletzung fehlt das objektive Unrecht. Es<br />
bleibt Gs betätigter böser Wille, also das subjektive Unrecht;<br />
und das macht das Unrecht einer Versuchsstrafbarkeit aus. Im<br />
Bild 8 würden wir sagen, dass die objektiven Tatbestandsumstände<br />
die G in das objektive Unrecht hinein- und die objektiven<br />
Rechtfertigungsumstände sie dort wieder herausgeführt<br />
haben, und außerdem, dass ihr subjektiver Tatbestandsumstand<br />
(ihr Vorsatz) sie in das subjektive Unrecht hinein- und<br />
nichts sie dort wieder herausgeführt hat.<br />
Die zweite Variante ist unser Fall 1: der Erlaubnisumstandsirrtum:<br />
Der Täter T ist nicht gerechtfertigt, er stellt sich<br />
aber rechtfertigende Umstände vor. Hier liegt es genau umgekehrt<br />
wie beim Girlie G. Zum Unrecht einer vorsätzlichen<br />
vollendeten Körperverletzung fehlt das subjektive Unrecht.<br />
Es bleibt das von T begangene objektive Unrecht; und das<br />
macht das Unrecht des Fahrlässigkeitsdeliktes aus.<br />
d) Der Umbau im Prüfschema und Konsequenzen für Fall 1<br />
Wenn man diese Bilder und ihre Konsequenzen für richtig<br />
hält, stellt sich die Frage, wo und wie sich diese Konstruktion<br />
im Deliktsaufbau und im Prüfungsgang niederschlägt. Die<br />
Antwort darauf sieht so aus:<br />
27 So ist Fall 5 gemeint. Wer ihn anders versteht, möge das<br />
Geschehen so verändern, dass auch er es so beurteilt, wie wir<br />
es für den weiteren Gedankengang brauchen. Das gilt auch<br />
für die anderen Fälle.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
804<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Die Obstruktion der Konstruktion<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
I. Straftatbestand<br />
= Vorliegen aller Straftatbestandsumstände<br />
1. Objektiver Tatbestand<br />
= Vorliegen aller objektiven Straftatbestandsumstände<br />
2. Subjektiver Tatbestand<br />
= Vorliegen aller subjektiven Straftatbestandsumstände<br />
II. Rechtswidrigkeit<br />
= Vorliegen aller Rechtswidrigkeitsumstände<br />
1. Objektive Rechtswidrigkeit<br />
= Vorliegen keiner objektiven Rechtfertigungsumstände<br />
a) Keine objektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />
1<br />
b) ...<br />
2. Subjektive Rechtswidrigkeit<br />
= Vorliegen keiner subjektiven Rechtfertigungsumstände<br />
a) Keine subjektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />
1<br />
b) ...<br />
III. Schuld<br />
Prüfschema 5: Tatbestand und Rechtswidrigkeit bei konsequenter<br />
Teilung des Unrechts<br />
Nach diesem Prüfschema ist die traditionelle Frage auf der<br />
Stufe der Rechtswidrigkeit falsch gestellt. Man darf nicht<br />
fragen (wie im Prüfschema 2): „Ist das für dieses Delikt nötige<br />
Unrecht komplett beseitigt? = Ist ein Rechtfertigungsgrund<br />
vollständig gegeben?“ Man muss vielmehr umgekehrt<br />
fragen: „Ist das für dieses Delikt nötige Unrecht komplett<br />
vorhanden? = Ist ein Rechtfertigungsgrund nicht einmal zum<br />
Teil gegeben?“<br />
Im Ausgangsbeispiel, dem Fall 1, fehlt bei der Prüfung<br />
einer Strafbarkeit aus § 223 Abs. 1 StGB die „subjektive<br />
Rechtswidrigkeit“ (Prüfungspunkt II. 2.), und damit ist das<br />
für eine vollendete vorsätzliche Körperverletzung nötige<br />
Unrecht zu verneinen. Es liegt nur eine „kleinere“ Rechtwidrigkeit<br />
vor, ein kleineres Unrecht, nämlich das einer fahrlässigen<br />
Körperverletzung, weil T bei Beachtung der im Verkehr<br />
erforderlichen Sorgfalt (vgl. § 276 Abs. 2 BGB) seinen<br />
Irrtum und damit auch seine Handlung hätte vermeiden können.<br />
e) Die Chancen der neuen Konstruktionen<br />
Welches Bild steckt in den Köpfen der Strafjuristen? Das alte<br />
von der Unteilbarkeit des Unrechts (Bild 2) oder das neue<br />
von der Teilbarkeit in objektive und subjektive Komponenten<br />
(Bild 8)? Das ist schwer auszumachen, denn wir Juristen<br />
argumentieren kaum in Bildern, sondern legen sie meist still<br />
unseren Argumenten zugrunde. Wohl aber kann man aus den<br />
Lösungen, die ein Jurist in den fraglichen Fällen vertritt,<br />
rückschließen auf seine An-„sichten“, seine Bilder. Einfacher<br />
ist zu beantworten, welches Prüfschema ein Jurist anwendet.<br />
Denn dazu muss man nur seinen expliziten Aufbaumustern<br />
oder seinem Prüfungs- und Argumentationsgang folgen.<br />
Wir wollen unterscheiden. Auf der Stufe des Straftatbestandes<br />
ist das Denken in Unrechtsteilen ohnehin seit langer<br />
Zeit üblich; dazu passen das alte (Bild 2) und das neue Bild<br />
(Bild 8) ebenso wie das alte (Prüfschema 2) und das neue<br />
Prüfschema (Prüfschema 5). Hingegen auf der Stufe der<br />
Rechtswidrigkeit, und nur darum geht es im Folgenden, liegen<br />
die Dinge verwickelter. Wir werden sehen, dass hier die<br />
Bilder überwiegend die neuen, die Prüfschemas aber überwiegend<br />
die alten sind. Wir betrachten dazu nacheinander<br />
Fahrlässigkeits-, Versuchs- und vollendetes Vorsatzdelikt.<br />
aa) Beim Fahrlässigkeitsdelikt<br />
Beim Fahrlässigkeitsdelikt (Fall 5) ist auf der Stufe der<br />
Rechtswidrigkeit das neue Bild von der Teilbarkeit des Unrechts<br />
fast allgemein anerkannt.<br />
(1) Nur noch wenige folgen dem alten Bild 2 und prüfen<br />
wie im Prüfschema 2. 28 Ihr Prüfungsaufbau für das Fahrlässigkeitsdelikt<br />
sieht so aus:<br />
I. Straftatbestand<br />
= Vorliegen aller objektiven Straftatbestandsumstände<br />
II. Rechtswidrigkeit<br />
= Vorliegen keines Rechtfertigungsgrundes<br />
1. Nichtvorliegen des Rechtfertigungsgrundes 1.<br />
a) Vorliegen aller objektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />
1<br />
b) Vorliegen aller subjektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />
1<br />
2. ...<br />
III. Schuld<br />
Prüfschema 6: Das Fahrlässigkeitsdelikt bei Unteilbarkeit<br />
des Unrechts<br />
Wer so vorgeht, muss im Fall 5 feststellen, dass kein Rechtfertigungsgrund<br />
komplett vorliegt, also die fahrlässige Körperverletzung<br />
des H rechtswidrig ist. An der Schuld besteht<br />
auch kein Zweifel, sodass im Ergebnis die Strafbarkeit aus<br />
§ 229 StGB festzustellen ist. Diejenigen, die dieses Prüfschema<br />
verwenden, sind aber mit ihrem Ergebnis nicht recht<br />
zufrieden, denn sie fühlen, was sie nicht sehen: dass eigentlich<br />
Straflosigkeit angebracht wäre. Das führt zu Notbremsungen<br />
wie dieser:<br />
„Wegen der aus dem Vorliegen der objektiven Rechtfertigungsmerkmale<br />
folgenden Unrechtsminderung greift eine<br />
Strafmilderung nach dem Milderungsschlüssel des § 49 I<br />
StGB ein. Beim fahrlässigen Delikt kann diese im konkreten<br />
Fall zur Unterschreitung der Grenze strafrechtlich relevanten<br />
Fahrlässigkeitsunrechts und damit zur Straflosigkeit führen.“<br />
29<br />
(2) Andere haben zwar das neue Bild 8 vor Augen, scheuen<br />
sich aber, dies so konsequent wie im Prüfschema 7 umzusetzen.<br />
Sie sagen, auch bei Fahrlässigkeitstaten sei für die<br />
Rechtfertigung ein subjektives Rechtfertigungselement nötig,<br />
die Tat sei aber wegen der objektiven Rechtfertigungsumstände<br />
objektiv erlaubt und der verbleibende „Handlungsun-<br />
28 Zum Beispiel Alwart, GA 1983, 433 (455).<br />
29 Hirsch, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch,<br />
Leipziger Kommentar, Bd. 1, 11. Aufl. 2003, Vor § 32<br />
Rn. 59.<br />
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Bernhard Hardtung<br />
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wert“ 30 sei mangels Strafbarkeit des fahrlässigen Versuchs<br />
straflos. 31 Sie verwenden also zwar das Prüfschema 6, prüfen<br />
darin unter II. 1. b) das Vorliegen des subjektiven Rechtfertigungsumstandes<br />
und stellen sein Fehlen fest, erklären dann<br />
jedoch, dass es darauf für das Unrecht des untersuchten Delikts<br />
aber auch gar nicht ankomme.<br />
(3) Nur wenige gehen noch einen Schritt weiter und haben<br />
neben dem neuen Bild 8 auch einen neuen Prüfungsaufbau<br />
im Kopf. Sie lassen für die Verneinung der Rechtswidrigkeit<br />
sogleich genügen, dass die objektiven Rechtfertigungsumstände<br />
vorliegen. 32 Ihr Fahrlässigkeitsaufbau sieht<br />
so aus:<br />
I. Straftatbestand<br />
= Vorliegen aller objektiven Straftatbestandsumstände<br />
II. Rechtswidrigkeit<br />
= Vorliegen keiner objektiven Rechtfertigungsumstände<br />
1. Keine objektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />
1<br />
2. ...<br />
III. Schuld<br />
Prüfschema 7: Das Fahrlässigkeitsdelikt bei Teilung des Unrechts<br />
Die Begründung dafür ergibt sich aus dem bislang Gesagten:<br />
Es liegt kein tatbestandlich eingefangener böser Wille vor,<br />
der auf der Stufe der Rechtswidrigkeit von einem guten Wille<br />
ausgeglichen werden müsste, sondern nur objektives Unrecht,<br />
für dessen Ausgleich objektive Rechtfertigungsumstände<br />
genügen. Auch der Bundesgerichtshof hat in einer Entscheidung<br />
aus dem Jahr 2001 gesagt:<br />
„Kommt bei objektiv gegebener Notwehrlage der Angreifer<br />
durch Fahrlässigkeit des Abwehrenden zu Schaden, so ist<br />
in den Grenzen dessen, was als Abwehrhandlung objektiv<br />
erforderlich gewesen wäre, die Herbeiführung eines deliktischen<br />
Erfolgs auch dann gerechtfertigt, wenn er konkret vom<br />
Abwehrenden nicht gewollt war [...]“ 33<br />
30 Damit ist hier gemeint, dass der Täter sich mit Blick allein<br />
auf die Tatbestandsverwirklichung (also unter Ausblendung<br />
der rechtfertigenden Umstände) unaufmerksam („fahrlässig“)<br />
verhält.<br />
31 So etwa Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht,<br />
Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 16 Rn. 69 f.; Ebert, Strafrecht,<br />
Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2001, S. 168; Gropp (Fn. 7),<br />
§ 12 Rn. 99-102; Jakobs (Fn. 7), 11/30; Jescheck/Weigend<br />
(Fn. 7), S. 589; Duttge (Fn. 15), § 15 Rn. 197 f.; Otto,<br />
Grundkurs Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2004, § 10<br />
Rn. 29; Roxin (Fn. 7), § 24 Rn. 103.<br />
32 Zum Beispiel Schlehofer (Fn. 19), Vor § 32 Rn. 91; Hardtung<br />
(Fn. 26), § 222 Rn 54-58; Lenckner/Eisele (Fn. 7), Vor<br />
§ 32 Rn. 99; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 23), § 15 Rn. 42.<br />
33 BGH NStZ 2001, 591 (592). Das Zitat ist gekürzt, um eine<br />
Besonderheit herauszuhalten, die für den Gedankengang<br />
keine Rolle spielt.<br />
bb) Beim Versuchsdelikt<br />
Die Rechtsprechung hat sich, soweit ich sehe, zur Rechtfertigung<br />
beim Versuchsdelikt, also zu Konstellationen wie in<br />
Fall 6, noch nicht geäußert.<br />
(1) Die meisten im Schrifttum behaupten, die Rechtswidrigkeit<br />
sei beim Versuch genauso zu behandeln wie beim<br />
vollendeten Delikt. 34 Sie würden also prüfen wie im Prüfschema<br />
2, das heißt hier:<br />
I. Straftatbestand<br />
= Vorliegen aller subjektiven Straftatbestandsumstände<br />
II. Rechtswidrigkeit<br />
= Vorliegen keines Rechtfertigungsgrundes<br />
1. Nichtvorliegen des Rechtfertigungsgrundes 1.<br />
a) Vorliegen aller objektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />
1<br />
b) Vorliegen aller subjektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />
1<br />
2. ...<br />
III. Schuld<br />
Prüfschema 8: Das Versuchsdelikt bei Unteilbarkeit des<br />
Unrechts<br />
In den knappen Verweisen auf das vollendete Delikt ist aber<br />
nicht zu erkennen, ob die Autoren die Frage nach der Teilbarkeit<br />
des Unrechts gesehen und sich für die Unteilbarkeit<br />
(Bild 2) entschieden haben oder ob sie die Frage gar nicht<br />
bedacht haben.<br />
(2) Nur manche Autoren haben sich diese Frage erkennbar<br />
gestellt. Wer das getan hat, beantwortet sie so, dass er für<br />
die Rechtfertigung der Versuchstat die subjektiven rechtfertigenden<br />
Umstände genügen lässt. 35 Ihr Deliktsaufbau:<br />
I. Straftatbestand<br />
= Vorliegen aller subjektiven Straftatbestandsumstände<br />
II. Rechtswidrigkeit<br />
= Vorliegen keiner subjektiven Rechtfertigungsumstände<br />
1. Keine subjektiven Umstände des Rechtfertigungsgrundes<br />
1<br />
2. ...<br />
III. Schuld<br />
Prüfschema 9: Das Versuchsdelikts bei Teilung des Unrechts<br />
Die Begründung dafür lautet sachgemäß genau umgekehrt<br />
wie beim Fahrlässigkeitsdelikt: Tatbestandlich wird nur sub-<br />
34 Als Auswahl siehe nur Gropp (Fn. 7), S. 319; Haft, Strafrecht,<br />
Allgemeiner Teil, 9. Aufl. 2004, S. 225; von Heintschel-<br />
Heinegg, Prüfungstraining Strafrecht, Bd. 1, 1992, Rn. 899;<br />
Wessels/Beulke (Fn. 7), Rn. 610, 874.<br />
35 Arzt, Die Strafrechtsklausur, 7. Aufl. 2006, S. 196; Mitsch<br />
(Fn. 31), 10. Aufl. 1995, § 26 Rn 21 Fn. 57 (diese Stellungnahme<br />
fehlt in der 11. Aufl. 2003); Lampe, JuS 1967, 564<br />
(568 Fn. 6); Hillenkamp, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/<br />
Tiedemann (Fn. 7), § 22 Rn. 177; Herzberg, in: Joecks/Miebach<br />
(Fn. 15), § 22 Rn. 178-180.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
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<strong>ZIS</strong> 13/2009
Die Obstruktion der Konstruktion<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
jektives Unrecht eingefangen, nämlich der betätigte böse<br />
Wille; also muss auf der Stufe der Rechtswidrigkeit auch nur<br />
dieser böse Wille von einem guten ausgeglichen werden.<br />
cc) Beim vollendeten Vorsatzdelikt<br />
(1) Bei Vorliegen nur der objektiven Rechtfertigungsumstände<br />
(umgekehrter Erlaubnisumstandsirrtum), wie in unserem<br />
Fall 8, vertreten nur noch sehr wenige die Ansicht, das Delikt<br />
sei vollendet. 36 Bemerkenswerterweise berufen sie sich dafür<br />
insbesondere auf den „Boden der Realität“:<br />
„Gegen eine Bestrafung wegen Versuchs anstatt Vollendung<br />
spricht [...], dass man dabei den Boden der Realität<br />
verlässt. Denn der tatbestandsmäßige Erfolg ist eingetreten.<br />
Wer beispielsweise vorsätzlich einen anderen Menschen<br />
tötet, vollendet einen Totschlag und versucht ihn nicht nur.<br />
Auch gehört zum Wesen des Versuchs, dass man etwas verwirklichen<br />
will, ohne dass dies erreicht wird, während es sich<br />
hier hinsichtlich der objektiven Rechtfertigungsmerkmale<br />
gerade umgekehrt darum handelt, dass die Merkmale zwar<br />
objektiv gegeben sind, eine entsprechende subjektive Beziehung<br />
aber fehlt. Diese Sachgesichtspunkte lassen sich<br />
schwerlich als nur formal bezeichnen und auch nicht durch<br />
den Hinweis verdrängen, es gehe nur um Analogie.“ 37<br />
Gehen wir die Sätze durch. Zweiter Satz: Ja, der „tatbestandsmäßige<br />
Erfolg“ ist im Fall 8 eingetreten, aber eben<br />
nicht der „Unrechtserfolg“, weil das objektive Unrecht fehlt:<br />
M hat das Getränk mit Recht ins Gesicht bekommen. Dritter<br />
Satz: Dasselbe; gewiss hat G einen Totschlag tatbestandlich<br />
vollendet, aber damit ist eben noch nichts über die Vollendung<br />
des Unrechts gesagt. Vierter Satz: Fast schon ein Sophismus,<br />
denn umgekehrt wird ein Schuh daraus – G wollte<br />
eine ungerechtfertigte Körperverletzung verwirklichen und<br />
hat das nicht erreicht, das trifft voll und ganz das beschriebene<br />
„Wesen des Versuchs“. Erster und sechster Satz: Ich sehe<br />
in solchen Äußerungen einen deutlichen Beleg dafür, wie<br />
sehr wir Menschen dazu neigen, den Boden der Realität mit<br />
unserem Bild von der Realität zu verwechseln. Sobald wir es<br />
aber schaffen, den eigenen Standpunkt zu ändern und vom<br />
neuen Standpunkt aus die Sache aus einem neuen Blickwinkel<br />
zu betrachten, ändert sich auch unser Bild, das wir uns<br />
von der Sache machen.<br />
Viele haben hier diese Veränderung des Blickwinkels<br />
vollbracht und bestrafen in Konstellationen wie in Fall 8 nur<br />
wegen Versuchs. 38 Die meisten von ihnen wenden dabei die<br />
Versuchregeln nur analog an, 39 und zwar deswegen, weil es<br />
im Regelfall des Versuchs schon zu keinem tatbestandsmäßi-<br />
36 Alwart, GA 1983, 433 (454 f.); Haft (Fn. 34), S. 70 ff.;<br />
Hirsch (Fn. 29), Vor § 32 Rn. 59.<br />
37 Hirsch (Fn. 29), Vor § 32 Rn. 61.<br />
38 Jakobs (Fn. 7), 11/22-23a; Joecks, Strafgesetzbuch, Studienkommentar,<br />
8. Aufl. 2009, Vor § 32 Rn. 12; Jescheck/<br />
Weigend (Fn. 7), S. 330; Kühl (Fn. 7), § 6 Rn. 14-16; Schlehofer<br />
(Fn. 19), Vor § 32 Rn. 91; Roxin (Fn 7), § 14 Rn. 101<br />
f.; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 23), § 9 Rn. 151-154; Fischer<br />
(Fn. 7), § 32 Rn. 27; Wessels/Beulke (Fn. 7), Rn. 279.<br />
39 Z.B. Jakobs, Jescheck/Weigend, Kühl, Stratenwerth/Kuhlen,<br />
Wessels/Beulke (alle Nachweise in Fn. 38).<br />
gen Erfolg komme, während die hier behandelte Konstellation<br />
sich dadurch auszeichne, dass erst das Erfolgsunrecht<br />
fehle. Damit sei „eine Lage gegeben, die ebenso wie der<br />
Versuch einer Straftat zu bewerten ist: in beiden Fällen will<br />
der Täter Unrecht begehen, der Erfolg bleibt aber aus bzw. er<br />
kann nicht als Unrechtserfolg angesehen werden.“ 40 Dieses<br />
Denken beruht auf einem weiteren gängigen Bild: dass zum<br />
„Wesen“ des Versuchs das Ausbleiben der Vollendung gehöre.<br />
Wer es so sieht, kann § 22 StGB in der Tat nur analog<br />
anwenden. Aber ich halte das für unnötig. § 22 StGB ist (laut<br />
seiner gesetzlichen Überschrift) eine „Begriffsbestimmung“,<br />
und in ihr ist nicht enthalten, dass zum Versuch das Ausbleiben<br />
der Vollendung gehöre. 41 Die Versuchsregeln können<br />
also im Fall 8 direkt angewendet werden.<br />
Zum Prüfungsaufbau in diesen Fällen äußern sich nur<br />
wenige. Kühl meint, einer förmlichen Versuchsprüfung bedürfe<br />
es nicht mehr; 42 Joecks sagt, die Prüfung des Versuchs<br />
dürfe im Hinblick auf die bereits durchgeführte Prüfung des<br />
subjektiven Tatbestandes sehr kurz ausfallen. 43 Das zweite<br />
halte ich für „sauberer“. Denn für strafrechtliche Fallgutachten<br />
gilt die Regel, dass man innerhalb einer Deliktsprüfung<br />
sich nur mit dem in der Überschrift genannten Delikt befassen<br />
und am Ende nur zu diesem Delikt die Antwort geben<br />
soll, ob der Täter daraus strafbar ist oder nicht; hingegen soll<br />
man nicht in einer Deliktsprüfung auf ein anderes Delikt<br />
„umsteigen“. Das dient der Klarheit des Gutachtens und führt<br />
dem Leser die Ergebnisse deutlicher vor Augen. Im Fall 8<br />
wäre also zunächst eine vollendete vorsätzliche Körperverletzung<br />
zu prüfen und wegen der objektiven Rechtfertigungslage<br />
(also wegen des Fehlens der objektiven Rechtswidrigkeit)<br />
zu verneinen (Prüfschema 5); sodann wäre eine versuchte<br />
Körperverletzung zu prüfen (Prüfschema 9) und in all ihren<br />
Voraussetzungen direkt (und nicht nur analog) zu bejahen: G<br />
stellte sich die körperliche Misshandlung einer anderen Person<br />
vor, hat dazu unmittelbar angesetzt und sich dabei keine<br />
rechtfertigenden Umstände vorgestellt.<br />
Für unser Thema sind die Antworten der Rechtsprechung<br />
auf die hier behandelte Frage interessant. Der Bundesgerichtshof<br />
ist im Jahr 1952 noch der Vollendungslösung gefolgt.<br />
44 Erstmals im Jahr 1975 ist die Versuchslösung gerichtlich<br />
vertreten worden, nämlich vom Kammergericht Berlin. 45<br />
Aus dem Jahr 1991 stammt die erste Entscheidung des Bundesgerichtshofes,<br />
worin auch er nur wegen Versuchs bestraft.<br />
Zu einer Konstellation des § 218a Abs. 2 StGB (Schwangerschaftsabbruch<br />
mit Einwilligung der Schwangeren) schreibt er:<br />
„Wer als Arzt die Indikationslage nicht oder nur unsorgfältig<br />
prüft, wird – weil er nicht ‚nach ärztlicher Erkenntnis’<br />
40 Jescheck/Weigend (Fn. 7), S. 330.<br />
41 Ausführlicher dazu meine Darlegungen „Gegen die Vorprüfung<br />
beim Versuch“, Jura 1996, 293.<br />
42 Kühl (Fn. 7), § 6 Rn. 16.<br />
43 Joecks (Fn. 38), Vor § 32 Rn. 13.<br />
44 BGHSt 2, 111 (115): „Die Strafkammer hat [...] mit Recht<br />
angenommen, dass sich der Beschwerdeführer schon wegen<br />
des Fehlens dieses ‚subjektiven Rechtfertigungselements’<br />
nicht auf [...] Notstand berufen könne.“<br />
45 KG GA 1975, 213 (215).<br />
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gehandelt hat – regelmäßig nach § 218 I StGB bestraft. Lässt<br />
sich freilich [...] feststellen, dass, wenn er sorgfältig geprüft<br />
hätte, der sich ergebende Sachverhalt objektiv eine Indikation<br />
ergeben hätte, so ist nur Bestrafung wegen Versuchs gerechtfertigt.“<br />
46<br />
Der Fall lag kompliziert. Reduziert man die Überlegungen<br />
des Gerichtes auf das, was für unsere Zwecke nötig ist,<br />
so lautet die Feststellung: Der Arzt hatte tatbestandlich einen<br />
Schwangerschaftsabbruch begangen (§ 218 Abs. 1 StGB).<br />
Die objektiven Rechtfertigungsumstände des § 218a Abs. 2<br />
StGB (Einwilligung der Schwangeren nebst objektiver Prognose,<br />
dass der Abbruch zur Abwendung einer näher bezeichneten<br />
Gefahr für die Schwangere angezeigt war) lagen aber<br />
vor, sodass der Arzt objektiv rechtmäßig handelte, sodass<br />
weiterhin eine Vollendungsstrafbarkeit ausschied. Weil der<br />
Arzt aber nicht sorgfältig geprüft hatte, wusste er nichts vom<br />
Vorliegen der objektiven Rechtfertigungsumstände, sah sich<br />
also nicht gerechtfertigt und war deshalb für seinen betätigten<br />
bösen Willen wegen Versuchs zu bestrafen. – Ich erinnere an<br />
dieser Stelle an den eingangs referierten Satz, dass es im<br />
Mittel dreißig Jahre dauert von der ersten Äußerung einer<br />
neuen Idee bis zu ihrer Anerkennung. 47<br />
(2) Das Vorliegen nur der subjektiven Rechtfertigungsumstände<br />
ist die letzte Konstellation, mit der wir uns befassen,<br />
und zugleich diejenige, mit der wir begonnen haben. Es ist<br />
die Situation des Erlaubnisumstandsirrtums. Der Täter ist<br />
objektiv nicht gerechtfertigt, stellt sich aber rechtfertigende<br />
Umstände vor (Fall 1). Hier haben die Strafrichter schon<br />
lange das neue Bild von der Teilbarkeit des Unrechts auch<br />
auf der Stufe der Rechtswidrigkeit vor Augen. Schon aus<br />
dem Jahr 1952 stammt eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes,<br />
deren Leitsatz lautet:<br />
„Die irrige Annahme eines zur Züchtigung an sich berechtigenden<br />
Sachverhalts, aus dem der Täter auf seine Züchtigungsbefugnis<br />
in diesem Falle schließt, ist als Tatirrtum<br />
nach § 59 StGB (heute: § 16 I 1 StGB) zu behandeln.“ 48<br />
Das ist, soweit ersichtlich, das erste Urteil des Bundesgerichtshofes,<br />
das diese Rechtsansicht so klar ausspricht. In ihm<br />
ist deutlich gesagt, dass ein Stück Vorsatz fehlt (denn allein<br />
dies ist die Rechtsfolge, die die genannten Vorschriften an<br />
den „Tatirrtum“ knüpfen) und also schon das Unrecht der<br />
vollendeten Vorsatztat nicht gegeben ist. Nicht klar ist nur,<br />
ob die „Behandlung“ als „Tatirrtum“ eine direkte oder analoge<br />
Anwendung der Vorschrift über den Tatumstandsirrtum<br />
war. Mittlerweile darf aber die Haltung des Bundesgerichtshofes<br />
als klar gelten. Es finden sich zwar immer noch Formulierungen,<br />
die nicht erkennen lassen, ob § 16 Abs. 1 S. 1 StGB<br />
direkt oder analog angewendet worden ist. 49 Immer wieder<br />
46 BGHSt 38, 144 (155).<br />
47 Siehe dazu bei Fn. 1.<br />
48 BGHSt 3, 105; Klammerzusatz von mir.<br />
49 BGHSt 31, 264 (286 f.): „Die Annahme eines rechtfertigenden<br />
Sachverhalts schließt Strafbarkeit wegen vorsätzlicher<br />
Tat auch aus, wenn die Annahme nicht zutrifft. Ein<br />
solcher Irrtum ist wie ein den Vorsatz ausschließender Irrtum<br />
über Tatumstände nach § 16 I 1 StGB zu bewerten.“ –<br />
BGHSt 45, 378 (384): „Die irrige Annahme eines rechtfertiaber<br />
gibt es auch deutliche Stellungnahmen für eine direkte<br />
Anwendung, zum Beispiel:<br />
„Vergeblich wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision<br />
dagegen, dass das Landgericht seinen Irrtum nicht als<br />
einen nach § 16 I StGB zu behandelnden Erlaubnistatbestandsirrtum<br />
bewertet hat [...] Der Irrtum ist nur dann nach<br />
§ 16 I StGB beachtlich, wenn [...].“ 50<br />
Oder noch deutlicher:<br />
„Damit war dem Angeklagten nicht bewusst, dass ihm<br />
weniger gefährliche Abwehrmittel in dieser Situation zur<br />
Verfügung standen. Im Verkennen dieses Sachverhalts liegt<br />
ein Erlaubnistatbestandsirrtum, der gemäß § 16 I 1 StGB die<br />
Strafbarkeit wegen vorsätzlichen Handelns entfallen lässt.“ 51<br />
In der Strafrechtslehre aber ist die Behandlung des Erlaubnisumstandsirrtum<br />
noch sehr umstritten. Nur die wenigstens<br />
verwenden den zweistufigen Deliktsaufbau, mit dem sie<br />
zur Verneinung des Unrechts kommen; das soll hier nicht<br />
mehr interessieren. 52 Von denjenigen, die einen dreistufigen<br />
Deliktsaufbau verwenden, kommen mittlerweile viele (wie<br />
die Gerichte) zur Verneinung des Unrechts; sie teilen also auf<br />
der Stufe der Rechtswidrigkeit das Unrecht in eine objektive<br />
und eine subjektive Komponente (Prüfschema 5). 53 Die<br />
Schuldlösungen tun das nicht, bejahen also die Rechtswidrigkeit<br />
und lassen (allenfalls) die Schuld entfallen (Prüfschema<br />
2). 54 Manche Anhänger der Schuldlösung behaupten übrigens<br />
zu Unrecht, auch der Bundesgerichtshof lasse bei einem<br />
Erlaubnisumstandsirrtum erst die Schuld entfallen. Sie berufen<br />
sich dafür auf diejenigen Entscheidungen, die offen formuliert<br />
sind, und lassen die eindeutigen beiseite. 55 Hier sehen<br />
genden Sachverhalts wäre wie ein den Vorsatz ausschließender<br />
Irrtum über Tatumstände nach § 16 I 1 StGB zu bewerten<br />
[...], sodass der Vorwurf (vorsätzlicher) Körperverletzung [...]<br />
entfiele.“<br />
50 BGH NJW 1996, 1604 (1605).<br />
51 BGH NStZ 2001, 530.<br />
52 Dazu schon oben unter 2. c).<br />
53 Lackner/Kühl (Fn. 7), § 17 Rn. 14; Puppe (Fn. 23), § 16<br />
Rn. 137 f.; Lenckner/Eisele (Fn. 7), Vor § 13 Rn. 19; Cramer/Sternberg-Lieben<br />
(Fn. 7), § 15 Rn. 35, § 16 Rn. 18; Rudolphi,<br />
in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar<br />
zum Strafgesetzbuch, 37. Lfg., Stand: Oktober 2002, § 16<br />
Rn. 10; Kühl (Fn. 7), § 13 Rn. 71 f. und 77; Roxin (Fn. 7),<br />
§ 14 Rn. 64-78, insb. Rn. 64.<br />
54 Siehe nur Gropp (Fn. 7), § 13 Rn. 110-116; Haft (Fn. 34),<br />
S. 257 ff.; Wessels/Beulke (Fn. 7), Rn. 478 f.<br />
55 Nur zwei Beispiele: Gropp (Fn. 7), § 13 Rn. 112, beruft sich<br />
auf BGHSt 31, 264 (286 f.); die Textpassage ist in Fn. 49<br />
wiedergegeben. Wessels/Beulke (Fn. 7), Rn. 479, berufen sich<br />
ebenfalls darauf und auf BGHSt 45, 378 (384), ebenfalls in<br />
Fn. 49 wiedergegeben; noch dazu wird das Verständnis in die<br />
gewünschte Richtung „gedrückt“, indem es beispielsweise<br />
über BGHSt 31, 264 (286 f.) heißt, dass danach ein Erlaubnisumstandsirrtum<br />
„(lediglich) wie ein Irrtum im Sinne des §<br />
16 Abs. 1 S. 1 StGB zu bewerten ist und (nur) die Strafbarkeit<br />
wegen vorsätzlicher Tat ausschließt“ – weder die Klammerzusätze<br />
noch die Hervorhebungen finden sich in der Ge-<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
808<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Die Obstruktion der Konstruktion<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
wir, wie ich finde, erneut ein obstruktives Charakteristikum<br />
der Konstruktionen: Wer sein Weltbild hat („Schuldlösung!“),<br />
kann oft nicht anders, als die Welt genau so zu sehen.<br />
Wahrnehmungen, zu denen die eigene Sicht nicht passt,<br />
werden ignoriert oder in einer Weise „für wahr genommen“,<br />
dass sie sich ins eigene Weltbild fügen. So verfährt man auch<br />
mit dem, was man von anderen mitgeteilt bekommt; auch die<br />
Äußerungen anderer werden selektiv oder gefärbt wahrgenommen<br />
– und wiedergegeben.<br />
dd) Alles in allem<br />
Die Konstruktion von der Unteilbarkeit des Unrechts auf der<br />
Stufe der Rechtswidrigkeit ist längst nicht so stabil wie die<br />
des traditionellen dreistufigen Deliktsaufbaus. Das liegt daran,<br />
dass auf der Stufe des Tatbestandes die Teilbarkeit in<br />
objektive und subjektive Unrechtselemente vom Gesetz vorgegeben<br />
ist; daraus erwächst die Neigung, nach dem Grundriss<br />
dieses Erdgeschosses auch die zweite Etage zu bauen<br />
(und das ist Sachlogik und Psychologik zugleich). Die Neukonstruktion<br />
ist beim Fahrlässigkeitsdelikt nahezu vollzogen,<br />
beim Versuchsdelikt in den Anfängen und beim vollendeten<br />
Vorsatzdelikt mittendrin; die hinter allem stehenden Bilder<br />
sind dabei weiter entwickelt als die Prüfschemas.<br />
III. Instruktion statt Obstruktion<br />
Erinnern wir uns: Ein Igel geht niemals über eine Straße. Wir<br />
Strafrechtler sind kaum anders. Und der zweistufige Deliktsaufbau<br />
ist wahrscheinlich tatsächlich eine Straße, über<br />
die wir bei der gegenwärtigen Gesetzeslage nie gehen werden.<br />
Wir werden auf dem Weg des dreistufigen Deliktsaufbaus<br />
bleiben. Er steckt so tief im Gesetz oder jedenfalls in<br />
den Köpfen der Strafrechtler, dass eine Abkehr von ihm<br />
höchst unwahrscheinlich ist. Ein Igel geht niemals über eine<br />
Straße.<br />
Aber neue Wege können Igel gehen. Und auch wir Strafrechtler<br />
müssen nicht auf dem Weg bleiben, den uns das<br />
traditionelle Prüfschema durch die Rechtswidrigkeit weist.<br />
Wir können uns dort lösen vom Bild der Unteilbarkeit des<br />
Unrechts, bei dem es nur ein „Alles oder nichts“ gibt. Wir<br />
haben diesen Weg in manchen Dickichten schon vor über<br />
fünfzig Jahren verlassen und haben den neuen Weg beschritten,<br />
der uns zur getrennten Betrachtung von objektivem und<br />
subjektivem Unrecht führt. In anderem Gestrüpp aber halten<br />
wir uns auf dem alten Weg und gehen so vorbei an den neuen<br />
Einsichten.<br />
Einen wichtigen Grund für die Langsamkeit der Entwicklung<br />
sehe ich darin, dass auch diejenigen, die die neuen Lösungen<br />
vertreten, am traditionellen Prüfschema bei der<br />
Rechtswidrigkeit festhalten. Die neuen Bilder haben die<br />
meisten wohl schon im Kopf, auch wenn sie sich vielleicht<br />
andere Bilder machen als gerade meine Vektorenrechnung.<br />
Aber im Gutachten prüft man keine Bilder, sondern den Deliktsaufbau.<br />
Und weil hier bislang der Umbau ausgeblieben<br />
ist, entfaltet die traditionelle Konstruktion vom Prüfungsaufbau<br />
ihre enorme obstruktive Kraft. Das gängige Prüfschema<br />
in der Rechtswidrigkeit hindert viele und behindert alle, der<br />
Teilbarkeit von objektivem und subjektivem Unrecht Rechnung<br />
zu tragen. Die Sachgründe, die für diese Teilung sprechen,<br />
halte ich für stark. Wer in der Sache nicht meiner Meinung<br />
ist, wird das Prüfschema gewiss so lassen, wie es ist.<br />
Wer aber meiner Meinung ist, wird mit mir bedauern, dass<br />
die neuen Sacheinsichten sich in Jahrzehnten erst so wenig<br />
durchsetzen konnten.<br />
Wir können es den Sacheinsichten leichter machen, wenn<br />
wir entschieden und konsequent im Deliktsaufbau die Prüfung<br />
der Rechtswidrigkeit umstellen:<br />
Wir dürfen auf der Stufe der Rechtswidrigkeit nicht mehr<br />
fragen, ob das Unrecht des geprüften Delikts komplett beseitigt<br />
ist, sondern müssen umgekehrt fragen, ob das Unrecht<br />
komplett vorliegt.<br />
Mit anderen Worten:<br />
Wir dürfen nicht mehr fragen, ob der Täter komplett gerechtfertigt<br />
ist, sondern müssen fragen, ob er nicht einmal<br />
zum Teil gerechtfertigt ist.<br />
Dann sagen wir wieder, was wir denken. Dann geben wir<br />
denjenigen, die noch die anderen Bilder vor Augen haben,<br />
deutlicher zu verstehen, wo und wie wir anders denken. Dann<br />
geben wir den jungen Juristen eine Konstruktion, die die<br />
Sacheinsichten, die wir für richtig halten, befördert und nicht<br />
behindert. Dann sind unsere Konstruktionen nicht mehr obstruktiv,<br />
sondern instruktiv. Dann werden die Strafrechtler auf<br />
dem neuen Weg besser vorankommen. Aber natürlich auch<br />
dann auf Igelart: Immer schön langsam.<br />
richtsentscheidung! – Im Übrigen bleibt in diesen Entscheidungen<br />
ohnehin nur die Frage einer direkten oder analogen<br />
Anwendung des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB offen, nicht aber die<br />
mit beiden Anwendungsarten eintretende Rechtsfolge dieser<br />
Vorschrift: „[...] handelt nicht vorsätzlich“.<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
809
Bernhard Hardtung<br />
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Anhang<br />
Bild 1: Der traditionelle dreistufige Deliktsaufbau im üblichen Bild<br />
Schuld<br />
Rechtswidrigkeit<br />
Tatbestand<br />
Bild 2: Tatbestand und Rechtswidrigkeit bei Unteilbarkeit des Unrechts<br />
kein strafbares Unrecht<br />
strafbares Unrecht<br />
Alle (obj. und subj.) Rfg-Umstände<br />
Alle (obj. und subj.) Tb-Umstände<br />
Bild 3: Der „rechtstheoretische“ Deliktsaufbau<br />
Tatbestand<br />
Schuld<br />
Rechtswidrigkeit<br />
Bild 4: Der traditionelle „dreistufige“ Deliktsaufbau im richtigen Bild<br />
Schuld<br />
Rechtswidrigkeit<br />
Tatbestand<br />
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810<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Die Obstruktion der Konstruktion<br />
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Bild 5: Der zweistufige Deliktsaufbau<br />
Schuld<br />
Unrecht<br />
Bild 6: Teilung des Unrechts, hier: zwei Rechtsgüter<br />
2. Rechtsgut:<br />
Eigentum<br />
Unrecht<br />
Tatobjekt: fremde Sache<br />
Zustimmung des<br />
Eigentümers<br />
Wegnahme<br />
Zustimmung des Gewahrsamsinhabers<br />
1. Rechtsgut: Gewahrsam<br />
(Besitz)<br />
Bild 7: Teilung des Unrechts, hier: objektives und subjektives Unrecht im Tatbestand<br />
subjektives<br />
Unrecht<br />
Versuch<br />
vorsätzliche<br />
Vollendung<br />
subjektive Tb-Umstände<br />
objektive Tb-Umstände<br />
fahrlässige<br />
Vollendung<br />
objektives Unrecht<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
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Bernhard Hardtung<br />
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Bild 8: Teilung des Unrechts, hier: objektives und subjektives Unrecht im Tatbestand und in der Rechtswidrigkeit<br />
subjektives<br />
Unrecht<br />
subjektive Tb-Umstände<br />
subj. Rfg-Umstände<br />
Versuch<br />
obj. Rfg-Umstände<br />
objektive Tb-Umstände<br />
vorsätzliche<br />
Vollendung<br />
fahrlässige<br />
Vollendung<br />
objektives Unrecht<br />
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812<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Neue Wege der Vorsatzdogmatik – Eine Auseinandersetzung mit drei neuen Monographien<br />
zum Vorsatzbegriff<br />
Von Wiss. Assistent Dr. Luís Greco, LL.M., München<br />
Zufall oder nicht – in den letzten zwei Jahren erschienen drei<br />
Habilitationsschriften zum Begriff des Vorsatzes. 1 Dabei fällt<br />
auf, dass sie zu dem alten Thema einen neuen Zugang suchen<br />
– sei es durch eine Übertrag der Diskussion in das Völkerstrafrecht<br />
(so Stuckenberg), sei es durch eine im klassischen<br />
Sinne rechtsvergleichende Untersuchung (Safferling) oder<br />
durch einen Anschluss an die Philosophie des Geistes und<br />
der Handlung (Bung) – und dass die Diskussion „klassischer“<br />
Probleme, wie die Unterscheidung von bedingtem<br />
Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit oder die Vorsatzabweichungen,<br />
eine relativ untergeordnete Rolle spielt.<br />
Das ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Erstens wird<br />
durch die monographische Aufarbeitung in der edlen Form<br />
der Habilitationsschrift eine umfassende Diskussion aller<br />
Probleme des Vorsatzbegriffs ermöglicht. Während ein Aufsatz<br />
schon wegen seines beschränkten Umfangs entweder<br />
sektoriell oder abstrakt bleibt, kann allein eine Monographie<br />
und erst Recht eine Habilitation den Anspruch einlösen, den<br />
vielen Facetten einer Problematik in ganz konkreter Weise<br />
gerecht zu werden. Zweitens, und das ist noch wichtiger,<br />
erweitern die von den drei Autoren gewählten neuen Zugänge<br />
zum Vorsatzbegriff die Horizonte einer Diskussion, in der<br />
eine gewisse Ermüdung zu verzeichnen ist, als ob es nichts<br />
Neues mehr zu sagen gäbe. Insofern zeigen die neuen Monographien,<br />
dass die Vorsatzlehre noch nicht fertig geschrieben<br />
ist und liefern ein Beispiel für noch unausgeschöpfte argumentative<br />
Fundgruben, aus denen man langsam anfangen<br />
könnte, sich Einfälle herauszuholen.<br />
Die vorliegende Abhandlung soll die Monographien informativ<br />
zusammenfassen und sich mit einigen der in ihnen<br />
vertretenen Thesen auseinandersetzen.<br />
I. Stuckenbergs Metatheorie des Vorsatzes<br />
1. Die Monographie<br />
Gegenstand der Arbeit von Stuckenberg ist nicht der herkömmliche<br />
strafrechtliche Vorsatzbegriff, sondern der Vorsatz<br />
im Völkerstrafrecht. Er bezeichnet seine beeindruckenden<br />
Überlegungen nur als „Vorstudien“, weil er eine fertig<br />
ausgearbeitete Theorie weder verspricht noch liefert. Ihm<br />
geht es vielmehr darum, eine „Elementarlehre“ bzw. einen<br />
„analytischen Bezugsrahmen“ (S. 1, ferner S. 27 ff.) anzubieten,<br />
um eine fruchtbare Diskussion auf der übernationalen<br />
Ebene zu ermöglichen. Die Arbeit, die sich als ein Beitrag zu<br />
einer „universellen Strafrechtswissenschaft“ (S. 35) versteht,<br />
verarbeitet eine kaum fassbare Fülle von Material (fast<br />
gleichgültig, in welcher Sprache geschrieben wurde!) und<br />
bereichert ihre Reflexionen durch eine ernsthafte Berücksich-<br />
1 Stuckenberg, Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht,<br />
Versuch einer Elementarlehre für eine übernationale<br />
Vorsatzdogmatik, 2007; Safferling, Vorsatz und Schuld.<br />
Subjektive Täterelemente im deutschen und englischen Strafrecht,<br />
2008; Bung, Wissen und Wollen im Strafrecht. Zur<br />
Theorie und Dogmatik des subjektiven Tatbestands, 2009.<br />
tigung des Standes der philosophischen und psychologischen<br />
Forschung.<br />
Ausgangspunkt soll dabei weder ein bestimmter Handlungsbegriff<br />
noch eine für richtig gehaltene Straftheorie sein,<br />
sondern eine Beschreibung (S. 36) von in den einzelnen<br />
Rechtsordnungen vorhandenen in ihrer Funktion vergleichbaren<br />
Instituten (S. 37). Stuckenberg begründet diese von ihm<br />
vorgezogene sog. „funktionale Methodik“ in Auseinandersetzung<br />
mit dem Rückgriff auf die Natur der Sache bzw. auf<br />
sachlogische Strukturen (S. 56 ff.), auf die Allgemeinsprache<br />
(S. 64 ff.) oder auf einzelne empirische Wissenschaften<br />
(S. 66 f.). Er nimmt einen nominalistischen Standpunkt ein,<br />
demzufolge Begriffe keine im Voraus feststehenden Essenzen<br />
hätten (S. 38), sondern nach Zweckmäßigkeitsüberlegungen<br />
zu konstruierende Konventionen seien (etwa S. 49 ff.,<br />
56).<br />
Er wendet sich der Referenz des Wortes Vorsatz, d.h. den<br />
mentalen Zuständen, auf die durch den Gebrauch des Wortes<br />
Bezug genommen wird, zu (S. 68 ff.). Dabei wird die Diskussion<br />
sowohl der Philosophie des Geistes (S. 69-103) als auch<br />
der Psychologie (S. 104-150) umfassend registriert. Er behauptet<br />
immer wieder, dass nicht die Psychologie, sondern<br />
nur die Rechtswissenschaft entscheiden könne, in welchem<br />
Maße fremde Erkenntnisse für sie von Bedeutung sind<br />
(S. 109), wobei sie aber die Einsichten dieser Wissenschaften<br />
nicht völlig ignorieren dürfe (S. 117). Als Teilfazit heißt es:<br />
„Den psychologischen Willensbegriff gibt es nicht“ (S. 149),<br />
so dass „die strafrechtlichen Begriffe sich wohl nur noch als<br />
alltagstheoretische Begriffe begreifen lassen“ (S. 150). Dies<br />
lege die Frage nach dem Verhältnis von Alltagstheorien und<br />
wissenschaftlichen Theorien im Strafrecht nahe (S. 151 ff.).<br />
Stuckenberg stellt fest, dass Alltagstheorien die gängige Deutung<br />
der Welt und das Selbstverständnis der handelnden<br />
Subjekte widerspiegeln, so dass jede juristische Theorie, die<br />
sich in der sozialen Praxis bewähren wolle, grundsätzlich von<br />
diesen Theorien auszugehen habe (S. 157 ff.). Dieser Ausgangspunkt<br />
legt es nahe, dass man sich mit Handlungsbegriffen<br />
näher befasst: Zunächst untersucht Stuckenberg die sog.<br />
naiven Verhaltenstheorien der sozialpsychologischen Attributionsforschung<br />
(S. 168 ff.), dann philosophische Handlungsmodelle,<br />
vor allem das sog. desire-belief-Modell (S. 174 ff.),<br />
und an letzter Stelle rechtliche und strafrechtliche Handlungsbegriffe<br />
(S. 190 ff.). Als Ergebnis wird das Primat des<br />
Begriffs der Zurechnung vor dem Begriff der Handlung festgehalten:<br />
Erst nach Vollendung der Zurechnungslehre könne<br />
ein strafrechtlicher Handlungsbegriff konstruiert werden<br />
(S. 207).<br />
Der weitere Verlauf der Arbeit hat eine Klärung der Alltagskonzepte,<br />
die allgemein als Elemente des Vorsatzes gelten,<br />
zum Gegenstand (S. 210 ff.). Zunächst behandelt Stuckenberg<br />
das volitive Vorsatzelement (S. 211 ff.) und kümmert<br />
sich um die unter Strafrechtlern „erstaunlich selten behandelte<br />
Frage“ (S. 220) nach dem Gegenstand der Absicht<br />
(S. 220 ff.). Hier versucht er, die sprachphilosophische Dis-<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
813
Luís Greco<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
kussion über den Bezugsgegenstand von Intentionen strafrechtlich<br />
fruchtbar zu machen und kommt zu dem Ergebnis,<br />
dass das Problem anhand einer „pragmatischen Semantik“,<br />
also letztlich ohne genaue Kriterien zu lösen ist (S. 231). Es<br />
wird dann genauer beschrieben, wie sich die Absicht zu Routinehandlungen,<br />
unbewussten Motiven, End- und Nebenzwecken,<br />
direkten und indirekten Folgen und künftigen Umständen<br />
verhält (S. 252 ff.). Der Begriff des Motivs wird knapp<br />
untersucht und Stuckenberg schließt sich der verbreiteten<br />
Kritik an, dass Motive auf Kosten der Bestimmtheit eine<br />
Ethisierung fördern (S. 278).<br />
Anschließend wendet er sich dem kognitiven Vorsatzelement<br />
zu (S. 283 ff.). Unter anderem wird behauptet, dass es<br />
bei dem Wissen nie um volle Gewissheit gehe, so dass man<br />
letztlich immer nur Vorstellungen von Möglichkeiten bzw.<br />
von Gefahren oder Risiken haben könne (S. 291). Stuckenberg<br />
entwirft eine Palette möglicher Gegenstände des Wissens<br />
– von deskriptiven und normativen Merkmalen bis zu<br />
gesamttatbewertenden und Blankettmerkmalen, von Tatsachen<br />
bis zu Wertungen (S. 301 ff.), wobei als Ausgangspunkt<br />
wieder seine bereits beim Willenselement entworfene pragmatische<br />
Semantik ausschlaggebend ist (S. 297). Die negative<br />
Seite des Wissens, also der Irrtum, ist das nächste Thema<br />
(S. 318 ff.) und wieder wird eine Karte von möglichen Fehlerquellen<br />
(S. 321 ff.) und von Objekten einer Fehlvorstellung<br />
(S. 325 ff.) gezeichnet und die zwei gängigsten Irrtumskategorisierungen,<br />
nämlich die in Tat- und Rechtsirrtum oder<br />
in Tatbestands- und Verbotsirrtum, werden dargestellt<br />
(S. 327 ff.). Die Behandlung der Vorsatzabweichungen wird<br />
ebenfalls diskutiert (S. 357 ff., 377 ff.), außerdem die von<br />
Irrtümern auf der Rechtswidrigkeits- und der Entschuldigungsebene<br />
(S. 364 ff., 367 ff.). Interessanterweise untersucht<br />
Stuckenberg auch die in verschiedenen Rechtsordnungen<br />
vorgesehenen Möglichkeiten des Vorsatzbeweises, vom<br />
Geständnis über Indizien zu verschiedenen Vermutungen<br />
(S. 384 ff.) und er stellt fest, dass es häufig Wechselwirkungen<br />
zwischen dem materiell-rechtlichen Vorsatzbegriff und<br />
Beweisanforderungen gibt (S. 401 ff.).<br />
Um die Frage nach der Begründung für die strengere Bestrafung<br />
vorsätzlich begangener Straftaten kreist der nächste<br />
Abschnitt (S. 406 ff.). In Anlehnung an viele deutsche Autoren<br />
behauptet er, dass jede Bestimmung des Vorsatzbegriffs<br />
ohne einen Versuch seiner Rückführung auf die Gründe, die<br />
eine Zurechnung rechtfertigen und letztlich auf die Gründe,<br />
die eine Strafe rechtfertigen, sinnlos bleibe (S. 407). Trotzdem,<br />
stellt er fest, werde diese Frage erstaunlich selten aufgeworfen<br />
(S. 407). Man könnte zunächst meinen, der Vorsatz<br />
sei deshalb strafwürdiger, weil die darin verkörperte intentionale<br />
Handlung den Prototyp der menschlichen vollverantwortlichen<br />
Handlung darstelle (S. 408 ff.). Diese Begründung<br />
sei aber nur für ein vergeltendes und moralisierendes Strafrecht<br />
nachvollziehbar, so dass ein präventives Strafrecht auf<br />
andere Überlegungen angewiesen bleibe (S. 415). Auch die<br />
Annahme, dass derartige Handlungen in erhöhter Weise vermeidbar<br />
seien, sei zweifelhaft, denn fahrlässige Wissensfehler<br />
seien ebenfalls vermeidbar (S. 415 f.). Der erhöhte moralische<br />
Unwert der vorsätzlichen Tat lasse die Frage nach dem<br />
Bezug zum Zweck der Strafe unbeantwortet (S. 416 ff.) und<br />
der Verweis darauf, dass der Vorsatz einen Ungehorsam<br />
gegen das Recht verkörpere, sei nur dann tragfähig, wenn der<br />
Vorsatz als dolus malus begriffen werde (S. 419 f.). Dass die<br />
vorsätzliche Tat eine Herabwürdigung des Opfers impliziere,<br />
treffe entweder nur bei Delikten gegen ein Individualrechtsgut<br />
zu oder – wenn „Opfer“ in einem weiten Sinne verstanden<br />
werde, so dass auch die Rechtsordnung als solche darunter<br />
fallen könne – verlange ebenfalls ein Verständnis des<br />
Vorsatzes als dolus malus (S. 421). Gefährlichkeitsbezogene<br />
Begründungen werden an nächster Stelle überprüft: Gegen<br />
die Annahme, die vorsätzliche Tat sei gefährlicher, wird<br />
angeführt, dies sei erstens eine Frage des Einzelfalls, zweitens<br />
sei fahrlässiges Verhalten viel häufiger und deshalb<br />
quantitativ gefährlicher und drittens habe sich aus der ex post<br />
Sicht, also nach Eintritt des Erfolgs, die Gefahr bei Vorsatz<br />
und Fahrlässigkeit als identisch erwiesen (S. 422 f.). Der<br />
Hinweis auf eine erhöhte Gefährlichkeit des Vorsatztäters<br />
könne nicht alle Vorsatzformen erklären (S. 423 ff., 425) und<br />
das Abstellen auf die Inkompetenz des Fahrlässigkeitstäters<br />
in der Verwaltung eigener Angelegenheiten, der sich durch<br />
unaufmerksames Verhalten der Gefahr einer poena naturalis<br />
aussetze, führe zwar um einiges weiter, treffe aber aus mehreren<br />
Gründen nicht zu (S. 425 ff.). Entscheidend für die höhere<br />
Strafwürdigkeit des Vorsatzes ist nach Stuckenberg vielmehr<br />
die unterschiedliche Symbolik vorsätzlicher und fahrlässiger<br />
Taten: Vorsatz bedeute, dass der Täter die Norm<br />
nicht für entscheidungserheblich halte, drücke also einen<br />
größeren Mangel an Normbefolgungsmotivation aus<br />
(S. 428 ff.). Die Fahrlässigkeit habe keinen derartigen eindeutigen<br />
Sinn des Normwiderspruchs (S. 430). Ein besonderer<br />
Vorzug dieser Ansicht sei deren Unabhängigkeit von der<br />
jeweils vertretenen, im Einzelnen immer problematischen<br />
Straftheorie (S. 430 ff.). An letzter Stelle diskutiert Stuckenberg<br />
seine sog. Teleologie der Irrtumslehre, d.h. die Frage,<br />
welche Kenntnis gegeben sein müsse, um eine Vorsatzstrafe<br />
zu rechtfertigen (S. 440 ff.). Es wird eine breite Palette von<br />
Gründen für und wider einen Vorsatzausschluss bei Tat- und<br />
Rechtsirrtümern (S. 442 ff., 450 ff.) dargestellt und diskutiert,<br />
die etwa die praktischen Beweisprobleme (S. 464 f.) und die<br />
Anforderung der/an die Staatsraison (S. 476 ff.) sowie die<br />
einzelnen Straftheorien selbst (S. 486 ff.) umfasst.<br />
Der Haupttext endet mit grundsätzlichen Überlegungen<br />
zum Verhältnis von System und Sachgründen und mit der<br />
Erklärung, dass vor allem im Völkerstrafrecht die Diskussion<br />
unter Ausklammerung von häufig landesspezifischen systematischen<br />
Einordnungen, also allein nach Sachgründen geführt<br />
werden solle (S. 497 ff.). In einem umfassenden Anhang<br />
bietet Stuckenberg eine reichlich belegte Dogmengeschichte<br />
von Vorsatz und Irrtum, die vom Alten Testament<br />
und vom Koran ausgeht, das Gemeine Recht und die Aufklärung<br />
bis zu den Partikularrechten des 18. und 19. Jahrhunderts<br />
und schließlich das Reichstrafgesetzbuch und das<br />
östStGB von 1974 umfasst (S. 501-604).<br />
2. Kritik<br />
Eine kritische Würdigung der Arbeit Stuckenbergs fällt nicht<br />
leicht. Denn seine Vorstudien wollen weniger einzelne Thesen<br />
zu herkömmlichen in Deutschland diskutierten Proble-<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
814<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Neue Wege der Vorsatzdogmatik<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
men formulieren, als vielmehr eine Art Kartographie der<br />
möglichen Konstruktionen eines Vorsatzbegriffs zeichnen. 2<br />
Gemessen an diesem Zweck ist das Werk zweifelsohne als<br />
ein erfolgreiches Unternehmen zu qualifizieren. 3 Stuckenberg<br />
hat eine kaum zu glaubende Masse an Material verarbeitet<br />
und der künftigen Diskussion in verständlicher und geordneter<br />
Form zur Verfügung gestellt. Zwar mag es schwer fallen,<br />
nach Abschluss einer Lektüre von 600 Seiten die Frage zu<br />
unterdrücken, warum keine ausgearbeitete Theorie des Vorsatzes<br />
angeboten wurde. Dennoch soll die Arbeit dafür gelobt<br />
werden, der Versuchung nicht erlegen zu sein, diese Frage<br />
auf einfache Weise zu meiden, nämlich durch eilige, kaum<br />
mehr als auf Intuitionen gegründete Stellungnahmen. Deshalb<br />
sollen an hiesiger Stelle bloß zwei Thesen aus dem Gesamtwerk<br />
besonders diskutiert werden, eine metatheoretische zur<br />
Methodik der dogmatischen Begriffsbildung im Völkerstrafrecht<br />
und eine materielle zur ratio der Vorsatzbestrafung.<br />
Stuckenbergs Einsatz für eine funktionale Methodik ist sicherlich<br />
nicht zu beanstanden und scheint auch dem Stand<br />
der Forschung im Völkerstrafrecht zu entsprechen. 4 Trotzdem<br />
erscheint es unklar, ob dies zu bedeuten hat, dass für die<br />
völkerstrafrechtliche Begriffsbildung eine andere Methodik<br />
als für die allgemein strafrechtsdogmatische gelten solle. 5<br />
Zwar sind die Rechtsquellen im Völkerstrafrecht andere, aber<br />
dies ist auch für das Verhältnis von Deutschland, Spanien<br />
und Italien der Fall, ohne dass ein internationaler Austausch<br />
von Argumenten unmöglich wird. M.E. dürfte diese an sich<br />
erklärungsbedürftige Tatsache bereits mit der Struktur der<br />
praktischen Argumentation zusammenhängen, nämlich mit<br />
dem Universalitätsanspruch von Gründen: 6 Jedes Argument,<br />
das nicht allein exegetischen Charakter aufweist, d.h. dass<br />
sein Gewicht nicht allein daraus ableitet, dass es die Bedeutung<br />
einer Rechtsquelle erschließt, muss grundsätzlich den<br />
Anspruch erheben, auch an anderen Orten und Zeiten Gewicht<br />
zu haben. Der naheliegende Einwand, es gebe so etwas<br />
wie einen nationalen Stil – etwa argumentiere man in<br />
Deutschland häufig aus dem dogmatischen System (z.B.:<br />
„Der Vorsatz ist Teil des Unrechts, also kann er das Unrechtsbewusstsein<br />
nicht voraussetzen“) oder mit Verweis auf<br />
eine bestimmte philosophische Richtung, während in Frankreich<br />
der Gesetzeswortlaut und die Sprüche der Cassation<br />
eine prominente Rolle spielen – trifft zwar als Beschreibung<br />
der dogmatischen Tätigkeit in einigen Länder zu, widerlegt<br />
aber nicht das Behauptete. Denn systematische Argumente<br />
sind bei einem richtig, d.h. nach Sachgesichtspunkten, aufgebauten<br />
System nichts anderes als Abkürzungen für Sachargumente<br />
7 („der Vorsatz ist Teil des Unrechts“ = „der Vorsatz<br />
2 Dem nahestehend die Besprechung von Schroeder, ZStW<br />
120 (2008), 619 (622).<br />
3 Ähnlich die Besprechung von Ambos, JZ 2008, 683 (684).<br />
4 Vgl. nur Ambos, Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts,<br />
2. Aufl. 2004, S. 44 f. m.w.N.<br />
5 In diesem Sinne wird Stuckenberg wohl von Ambos, JZ<br />
2008, 684 verstanden.<br />
6 Etwa Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983,<br />
S. 234 f.<br />
7 Bereits Schünemann/Greco, GA 2007, 777 (791 f.).<br />
weist einen Bezug zur Sozialschädlichkeit der Tat oder bzw.<br />
zu dem, was man für den materiellen Gehalt des Unrechts<br />
hält, auf, und nicht etwa zur persönlichen Vorwerfbarkeit des<br />
Täters“); Argumente, die einer philosophischen Richtung<br />
verpflichtet sind, sind entweder Verschönerungen allgemeiner<br />
Sachargumente oder letztlich schlechte Argumente ab<br />
auctoritate; und exegetische Argumente sind entweder Wiederholungen<br />
der Machtsprüche und insofern keine Argumente<br />
oder eigenständige Fortbildungen, die dann auf zusätzliche<br />
Argumente angewiesen sind. Im Ergebnis sollte Völkerstrafrechtsdogmatik<br />
nicht anders betrieben werden als die interne,<br />
wenn diese so betrieben würde, wie sie betrieben werden<br />
sollte.<br />
Zu der Frage nach der ratio der Vorsatzbestrafung nimmt<br />
Stuckenberg, wie gesehen, ausführlich Stellung. Die Vorsatztat<br />
symbolisiere mangelnde Normbefolgungsbereitschaft. Das<br />
leuchtet aus zwei Gründen aber nicht ein. Erstens bemängelte<br />
Stuckenberg selbst bei der Ansicht, die den Vorsatz als Ausdruck<br />
des Ungehorsams begriff, dass sie nur einen als dolus<br />
malus verstandenen Vorsatz erklären könne. Sein Vorschlag,<br />
dessen Nähe zur Ungehorsamslehre von ihm nicht übersehen<br />
wird, 8 ist für denselben Einwand anfällig. Fehlende Normbefolgungsbereitschaft<br />
kann prototypisch nur derjenige manifestieren,<br />
der die Norm kennt. Kein Wunder, dass andere<br />
Autoren, die die kommunikative Dimension der Straftat in<br />
den Vordergrund rücken und somit eine ähnliche Ansicht<br />
vertreten, zum dolus malus zurückkehren wollen. 9 Zweitens<br />
und wichtiger – denn auf den ersten Einwand könnte Stuckenberg<br />
immer noch replizieren, Vorsatz müsse eben das<br />
Unrechtsbewusstsein umfassen – hat der Rückgriff auf das<br />
Symbolische ein allgemeines Problem, das auch von Stuckenberg<br />
nicht gelöst wird. Denn dadurch werden die nicht<br />
allein symbolischen Dimensionen der Straftat und der Strafe<br />
zu Sekundärerscheinungen erklärt, was nur schwer einleuchtet.<br />
Eine ausführliche Kritik an dem Ansatz würde den hiesigen<br />
Rahmen sprengen, 10 weshalb hier nur behauptet werden<br />
8 Siehe S. 433 Fn. 2337, wo Bindings Ungehorsamslehre<br />
zustimmend zitiert wird.<br />
9 Jakobs, in: Rogall u.a. (Hrsg.), Festschrift für Hans-Joachim<br />
Rudolphi zum 70. Geburtstag, 2004, S. 107 (110); Pawlik, in:<br />
Pawlik u.a. (Hrsg.),Festschrift für Günther Jakobs zum 70.<br />
Geburtstag, 2007, S. 468 ff. (488 f.); am ausführlichsten<br />
Heuchemer, Der Erlaubnistatbestandsirrtum, 2005, S. 292.<br />
10 Greco, GA 2009, 642 f. Ausführlich vor allem Schünemann,<br />
in: Gimbernat/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Internationale<br />
Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte,<br />
1995, S. 49 (50 f.); ders., GA 1995, 201 (217<br />
ff.); ders., in: Schünemann u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus<br />
Roxin zum 70. Geburtstag, 2001, S. 1 ff. (13 ff.); ferner Puppe,<br />
in: Samson u.a. (Hrsg.), Festschrift für Gerald Grünwald<br />
zum 70. Geburtstag, 1999, S. 469 ff.; Hörnle, in: Hefendehl<br />
(Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer<br />
Impetus, 2005, S. 105 (106 f.); Sacher, ZStW 118<br />
(2006), S. 574 ff.; Stratenwerth, in: Pawlik u.a. (Fn. 9),<br />
S. 663 ff.; H. Schneider, Kann die Einübung in Normanerkennung<br />
die Strafrechtsdogmatik leiten? Eine Kritik des<br />
strafrechtlichen Funktionalismus, 2004, S. 84 ff., 143 ff.<br />
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Luís Greco<br />
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soll, dass, wenn die Symbolik tatsächlich das Entscheidende<br />
wäre, es keinen Unterschied zwischen einer wirklich begangenen<br />
und einer nur vorgetäuschten Straftat gäbe, und umgekehrt<br />
wäre eine heimliche Straftat, von der niemand erfährt<br />
und die deshalb nichts symbolisieren kann, eigentlich keine<br />
Straftat.<br />
II. Safferling über Vorsatz und Schuld in Deutschland<br />
und England<br />
1. Die Monographie<br />
Safferling verfährt streng rechtsvergleichend. Gegenstand<br />
seiner Überlegungen ist nicht nur der Vorsatz, sondern auch<br />
die „Schuld“ – also die Gesamtheit der Fragestellungen, die<br />
man üblicherweise mit dem Begriff des „Subjektiven“ umschreibt,<br />
vom Vorsatz bis zur Fahrlässigkeit, vom Tatbestands-<br />
über den Erlaubnistatbestands-, zum Verbotsirrtum,<br />
sowie die Schuldfähigkeit und die actio libera in causa. Safferling<br />
versucht, den Stand dieser Fragen im deutschen und<br />
im englischen Recht zunächst kursorisch darzustellen und die<br />
Ansichten zu diesen Fragen am Ende des Buches miteinander<br />
zu vergleichen. Die Arbeit bekennt sich zur Bescheidenheit:<br />
Sie sei „in dem Bewusstsein geschrieben, dass eine Antwort<br />
auf die Frage, was Schuld sei, auch ihr nicht gelingen wird“<br />
(S. 1).<br />
Im 1. Teil wird das deutsche Strafrecht behandelt. Safferling<br />
holt weit aus: Er fängt nicht erst beim Vorsatz an, sondern<br />
bei den Grundlagen der strafrechtlichen Systembildung<br />
und nicht etwa erst in der Nachkriegszeit, sondern bei Hegel<br />
(S. 7 ff., 11 ff.), den Hegelianern (S. 24 f.) 11 , Binding, Merkel<br />
und Jhering (S. 25, 26, 27 ff.) – also bei der unmittelbaren<br />
Vorgeschichte unseres dreistufigen Verbrechenssystems. Es<br />
erfolgt eine Darstellung der verschiedenen Phasen der Entwicklung<br />
der Verbrechenslehre, vom klassischen System des<br />
Naturalismus (S.29 ff.) zu den heutigen funktionalen Konzepten<br />
(S. 89 ff., 98 ff.). Safferling interessiert sich insbesondere<br />
für die Gestalt, die die subjektive Verbrechensseite nach<br />
jedem dieser Ansätze bekommt.<br />
Nach diesem geschichtlichen Überblick fährt er mit bestimmten<br />
Merkmalen des Verbrechens fort. Zunächst wendet<br />
er sich dem Handlungsbegriff zu, der als „schlanker Handlungsbegriff“<br />
im Sinne eines „willensgetragenen Verhaltens“<br />
verstanden wird (S. 113 ff., 117), an zweiter Stelle behandelt<br />
er den Vorsatz (S. 118 ff.). Dabei untersucht er die objektiven<br />
Strafbarkeitsbedingungen (S. 120 ff.). Diese seien in der Tat<br />
als Unrechtselemente zu verstehen, so dass dem erhöhten<br />
Legitimationsbedarf vor dem letztlich verfassungsrechtlich<br />
fundierten Schuldprinzip nicht ausgewichen werden könne<br />
(S. 123). Sie seien deshalb nur unter der doppelten Voraussetzung<br />
eines extrem hohen Risikos und der Verantwortlichkeit<br />
für diese Risikosituation als Ausnahmen vom Schuldprinzip<br />
legitimierbar (S. 125). Dies sei bei § 231 StGB<br />
11 Wobei anzumerken ist, dass dies einen Anachronismus<br />
darstellt: Hegel wird hier auf 13 Seiten behandelt (S. 11-23),<br />
ihm wird also mehr Relevanz zugeschrieben als den Hegelianern<br />
(S. 24 f.) oder Binding (S. 25 f.), was nur aus der Perspektive<br />
einiger heutiger Autoren sinnvoll erscheint.<br />
grundsätzlich zu bejahen, bei § 323a StGB dagegen nur,<br />
wenn die Begehung der Rauschtat vorhersehbar ist (S. 125).<br />
Er fährt mit der Wissenskomponente des Vorsatzes fort<br />
(S. 125 ff.). Der Gedanke der Parallelwertung in der Laiensphäre<br />
wird abgelehnt, weil er die eigentliche Frage, ob zum<br />
Vorsatz die Vornahme einer Wertung gehöre, verschleiere<br />
(S. 132). Dieser Frage wendet sich Safferling dann ab S. 132<br />
mit dem Ergebnis zu, dass aus der Trennung von Schuld und<br />
Vorsatz die Irrelevanz von rechtlichen Wertungen für den<br />
Vorsatz folge (S. 135). Alle Rechtsirrtümer – auch Irrtümer<br />
über die „Fremdheit“ der Sache i.S.v. § 242 StGB (S. 145,<br />
147 f.) – seien vorsatzirrelevant und nach dem flexiblen Modell<br />
von § 17 StGB zu behandeln (S. 136). Das heiße aber<br />
nicht, dass die Bedeutungskenntnis für den Vorsatz nicht<br />
erforderlich sei: Den sozialen Sinngehalt der Merkmale müsse<br />
der Täter schon verstehen, ihren rechtlichen Sinngehalt<br />
aber nicht (S. 140 ff.: „Schichtenmodell“). Nach der Parallelwertung<br />
werden auch der Begriff des Subsumtionsirrtums<br />
(S. 138) und die Unterscheidung von deskriptiven und normativen<br />
Tatbestandsmerkmalen abgelehnt (S. 139). Letztere<br />
sei ein „Relikt aus naturalistischem Denken“ (S. 139). Safferlings<br />
Modell führe schon nach seiner eigenen Einschätzung<br />
zu einer „Erhöhung der Rechtskenntnispflicht der Bürger“<br />
(S. 149). Zum Tatbestand gehörten somit keine rechtlichen<br />
Wertungen (S. 153).<br />
An nächster Stelle behandelt Safferling den Bezug des<br />
Vorsatzes zu dem Erfolg und dessen Zurechnung (S. 154 ff.).<br />
Dass die Wesentlichkeit von Kausalabweichungen eine Frage<br />
objektiver Zurechnung sei, gelte als „gesichert“ (S. 156).<br />
Nach der Behandlung der Problematik des dolus generalis<br />
und des vorzeitigen Erfolgseintritts, die seiner Ansicht nach<br />
durch die allgemeinen Zurechnungsgrundsätze zu lösen seien<br />
(S. 157 ff.), wendet er sich dem error in persona und der<br />
aberratio ictus zu. Von einer vorsatzausschließenden aberratio<br />
ictus solle man nur dann reden, wenn die sich im Erfolg<br />
verwirklichende Gefahr vom Täter nicht erkannt wurde<br />
(S. 165 f.). Die Rechtswidrigkeit sei – entgegen der Lehre<br />
von den negativen Tatbestandsmerkmalen, meint Safferling –<br />
kein Gegenstand des Vorsatzes (S. 169 f.).<br />
Der Willenskomponente des Vorsatzes widmet sich Safferling<br />
als Nächstes (S. 170 ff.). Er glaubt, auf ein Willenselement<br />
nicht verzichten zu können, verlangt aber bei dessen<br />
Feststellung die Berücksichtigung einer Vielzahl von Umständen<br />
(S. 175). Es wird folgende Vorsatzdefinition angeboten<br />
Vorsatzdefinition: Vorsätzlich handle „derjenige, der die<br />
Umstände der Tat, das Risiko seines Verhaltens erkennt und<br />
sich dennoch für sein Handeln entscheidet“ (S. 178). Die drei<br />
Vorsatzformen werden besprochen und der andauernde Streit<br />
über den bedingten Vorsatz wird als „zutiefst bedauerlich und<br />
nachgerade verstörend“ bezeichnet und mit einem „Vabanque-Spiel“<br />
verglichen (S. 183). Für Safferling liegt bedingter<br />
Vorsatz vor, wenn der Täter das Risiko erkennt und trotzdem<br />
handelt (S. 184). Dieses „Trotzdem Handeln“ sei im Wege<br />
einer Gesamtschau zu ermitteln (S. 185), und für die heißt es:<br />
„Eine eindeutige Erkenntnismöglichkeit […] gibt es nicht<br />
und kann es nicht geben“ (S. 186).<br />
Nach einer kurzen Behandlung des Fahrlässigkeitsbegriffs<br />
(S. 191 ff.) fährt Safferling mit den subjektiven Elementen<br />
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816<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Neue Wege der Vorsatzdogmatik<br />
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auf der Ebene der Rechtswidrigkeit fort (S. 199 ff.). Ein solches<br />
subjektives Rechtfertigungselement müsse zur Kompensation<br />
des subjektiven Handlungsunwertes des Vorsatzes<br />
verlangt werden (S. 201), und genauso wie ein bedingter<br />
Vorsatz zur Begründung dieses Unwertes ausreiche, genüge<br />
ein „bedingter Rechtfertigungswille“ zu dessen Ausschluss<br />
(S. 202 f.). Dementsprechend verlange die Rechtfertigung<br />
fahrlässigen Verhaltens kein subjektives Rechtfertigungselement<br />
(S. 204). Das Problem des Erlaubnistatbestandsirrtums<br />
wird auf knapp vier Seiten gelöst (S. 205-208), und dies im<br />
Sinne des Vorsatzausschlusses, wobei trotz Ablehnung der<br />
rechtsfolgenverweisenden eingeschränkten Schuldtheorie<br />
(S. 208 oben) behauptet wird, dass der Handlungsunwert der<br />
Tat teilnahmefähig bleibe, weil der Vorsatz des Täters zwar<br />
kompensiert, aber nicht eliminiert werde, eine Konsequenz,<br />
die bei einem dreistufigen System sogar „zwingend“ sei<br />
(S. 208). Das Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements<br />
führe dagegen zur Versuchsbestrafung (S. 209).<br />
Bei der Schuld wiederholt Safferling die überwiegende<br />
Meinung zum Verbotsirrtum (S. 213 ff.) und dessen Vermeidbarkeit<br />
(S. 226 ff.) und bzgl. des sog. bedingten Unrechtsbewusstseins<br />
plädiert er für eine Behandlung im Rahmen<br />
des § 17 StGB (S. 218 ff., 221). Das Problem, wie das<br />
Vermeidbarkeitsurteil beim Verbotsirrtum das Vorverhalten<br />
einbeziehen kann, ohne ein Bekenntnis zur Charakterschuld<br />
zu implizieren, wird dadurch gelöst, dass das Bewusstsein<br />
verlangt wird, einer Erkundigungspflicht nicht nachgekommen<br />
zu sein (S. 234). Er meint, die Tatschuld umfasse auch<br />
das Vorverhalten (S. 235), ein Gedanke, durch welchen er<br />
sich auch eine Erklärung der actio libera in causa verspricht<br />
(S. 245 f.). Nach einigen Bemerkungen zur Schuldfähigkeit<br />
(S. 235 ff.), behandelt er § 35 StGB (S. 249 ff.), den er generalpräventiv<br />
deutet (S. 250), und an letzter Stelle besondere<br />
Probleme im Grenzbereich der Entschuldigung (S. 254 ff.).<br />
Im 3. Teil geht es um die Schuld im englischen Recht.<br />
Allgemein betrachtet Safferling sich jetzt eher als Beobachter<br />
einer Diskussion als ein Beteiligter, denn selten nimmt er zu<br />
einem Streit Stellung, er äußert höchstens Kritik. Weil die<br />
vorliegende Zusammenfassung nicht so groß werden soll wie<br />
das Buch selbst, wird man nicht jede von Safferling angesprochene<br />
Frage erwähnen können. Zwar liegt ein Hauptverdienst<br />
des Buches wohl in dieser für den deutschen Leser<br />
zugeschnittenen Darstellung des englischen Rechts, aber<br />
gerade weil in diesem Abschnitt mehr berichtet als argumentiert<br />
wird, muss sich eine Besprechung kürzer fassen. Interessant<br />
ist zunächst die Behauptung, dass es eine systematisierende<br />
Strafrechtswissenschaft in England nicht gebe (S. 271),<br />
was zum einen auch mit der einzelfallbezogenen richterrechtlichen<br />
Tradition des Common Law, zum anderen mit der<br />
Institution des Geschworenengerichts in Verbindung gebracht<br />
wird (S. 286 ff.). Safferling berichtet sogar von manchen<br />
willkürlichen Unterscheidungen, wie die Bestimmung der<br />
strafbarkeitsausschließenden insanity durch den Begriff des<br />
disease of the mind, der wiederum nur dann angenommen<br />
wird, wenn der Umstand auf interne und nicht auf externe<br />
Umstände zurückgeführt werden kann (S. 309). Die Unterscheidung<br />
führt dazu, dass der Diabetiker, der deshalb die<br />
Kontrolle verliert und jemanden niederschlägt, weil er es<br />
vergisst, sich die notwendige Dosis Insulin zu injizieren,<br />
wegen disease of the mind bzw. insanity freigesprochen wird,<br />
denn die Ursache seines Kontrollverlusts war der interne<br />
Umstand der Krankheit, während der Diabetiker, der deshalb<br />
außer Kontrolle gerät, weil er sich zu viel Insulin einspritzt,<br />
bestraft wird, denn die Straftat beruhe jetzt auf einem externen<br />
Umstand, nämlich dem Insulin (S. 309 f.). Auffällig ist<br />
auch, dass es in England neben der Verantwortlichkeit für ein<br />
Verhalten, nämlich für eine Handlung oder Unterlassung,<br />
eine Zustandsverantwortlichkeit in Form der sog. Status- und<br />
Besitzdelikte gibt (S. 333 ff.) und dass zusätzlich zu der intention<br />
und der negligence die recklessness (S. 360 ff.) und<br />
eine Haftung ohne subjektiven Bezug existiert, nämlich die<br />
sog. strict liability (S. 372 ff.). Diese Rechtsfigur wird von<br />
Safferling mit Argumenten kritisiert (S. 377), auf die unten<br />
zurückzukommen ist. Es erstaunt auch, dass die Maxime<br />
ignorantia iuris nocet in England immer noch gilt (S. 386 ff.).<br />
Ein Erlaubnistatbestandsirrtum gebe es in England eigentlich<br />
nicht, denn entscheidend seien dort nicht die objektiven Voraussetzungen<br />
des Rechtfertigungsgrundes, sondern wie sich<br />
der Täter die Lage vorstellt (S. 401 ff.). Das voluntative<br />
Schuldelement der Steuerungsfähigkeit ist im englischen<br />
Strafrecht noch unentdeckt (S. 445), was von Safferling sogar<br />
eine tiefere Deutung erfährt, nämlich als Ausprägung eines<br />
individualistischen, auf Selbstbeherrschung abstellenden<br />
Menschenbildes, das davon ausgeht, bei Kenntnis des Unrechts<br />
könne sich der Täter automatisch selbst beherrschen<br />
(S. 450). Komischerweise ist die Steuerungsfähigkeit aber bei<br />
der sog. diminished responsability, die aus einem Mord einen<br />
Totschlag macht, sonst aber keine Bedeutung hat, relevant<br />
(S. 451 f.).<br />
Die durch die vergleichende Gegenüberstellung der zwei<br />
Regelungssysteme ermöglichte Gesamtbewertung des englischen<br />
Systems ist hart und verdient wörtliche Zitierung: „Das<br />
utilitaristische englische System erweist sich dabei insgesamt<br />
als sehr viel repressiver und punitiver, während das kategoriale<br />
deutsche System deutlich ‚kompromissbereiter’, jedenfalls<br />
darauf bedacht ist, dem Individuum in seiner Gesamtheit<br />
gerecht zu werden (Schuldprinzip)“ (S. 482).<br />
2. Kritik<br />
Das Buch von Safferling erfüllt in Zeiten, wo gefragt wird, ob<br />
die Dogmatik deutschen Stils eine Zukunft in Europa hat,<br />
eine wichtige Besinnungsrolle. 12 Es führt nicht bloß abstrakt<br />
und pauschal, sondern anhand gewisser Einzelfragen anschaulich<br />
vor Augen, wie sehr Systematisierung und wissenschaftliche<br />
Durchdringung Gewähr für eine gut begründete<br />
und insofern nicht willkürliche Rechtsanwendung bieten. Die<br />
Kritik am englischen Recht ist mutig und es ist zu loben, dass<br />
Safferling nicht den Verführungen der political correctness<br />
erlegen ist.<br />
12 Zweifelnd etwa Tiedemann, in: Eser u.a. (Hrsg.), Festschrift<br />
für Theodor Lenckner zum 70. Geburtstag, 1998,<br />
S. 411 ff.; Vogel, GA 1998, 127 ff., 146 ff.; dagegen zu Recht<br />
Schünemann (Fn. 10), S. 8 ff.; Silva Sánchez, GA 2004,<br />
679 ff.<br />
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Luís Greco<br />
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Auf der anderen Seite bringt der sich in die Breite ziehende<br />
rechtsvergleichende Ansatz gewisse unvermeidbare Kosten<br />
mit sich, nämlich dass Safferling sich letztlich mit zu<br />
vielen Themen befassen musste. 13 Dies hat zwei Probleme<br />
zur Folge: Zum einen werden die abgelehnten Meinungen<br />
nicht selten mit kaum mehr als schlagwortartigen Behauptungen<br />
kritisiert, zum anderen bleiben viele der gelegentlich<br />
durchaus interessanten Einfälle Safferlings mindestens stark<br />
ausbaubedürftig.<br />
Einige Beispiele für das erste Problem seien angeführt.<br />
Gegen die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen<br />
wird eingewandt: „Die Unterscheidung zwischen verboten<br />
und erlaubt, zwischen Regel und Ausnahme, ist zu fundamental,<br />
als dass sie durch einen konstruktiven Kniff eingeebnet<br />
werden könnte“ (S. 170). Die Bejahung des Vorsatzes bei<br />
der Konstellation der Tatsachenblindheit wird mit folgender<br />
Begründung abgelehnt: „Damit wäre de facto ein rein objektiver<br />
Unrechtsbegriff eingeführt, was mir aus generalpräventiven<br />
Erwägungen vor allem wegen fehlender Akzeptanzchancen<br />
als ein Irrweg erscheint“ (S. 190). Der individualisierende<br />
Fahrlässigkeitsbegriff „führt meines Erachtens zu<br />
einer zu starken Subjektivierung des Unrechtsbegriffs“<br />
(S. 193); die Erweiterung des Unrechtsbewusstseins zum<br />
Strafbarkeitsbewusstsein „scheint aber zu einer zu weit gehenden<br />
Einengung der Schuld zu führen“ (S. 216). Sogar die<br />
Kritik am englischen Recht wirkt dadurch gelegentlich geschwächt,<br />
etwa wenn die strict liability deshalb zurückgewiesen<br />
wird, weil sie „sicherlich das Ende des traditionellen<br />
Schuldstrafrechts“ bedeute: „Eine reine Erfolgshaftung entspricht<br />
nicht dem modernen Strafrecht“ (S. 377), ein derartig<br />
umfassender strafrechtlicher Rechtsgüterschutz „macht vor<br />
dem Hintergrund der Strafzwecke wenig Sinn“ (S. 377).<br />
Auch im dogmengeschichtlichen Teil findet man Ähnliches:<br />
So soll die Ablösung des Hegelianismus und seiner „Verabsolutierung<br />
des Staates“ durch den Liberalismus einen Zusammenhang<br />
mit der Wende vom Tat- zum Täterstrafrecht<br />
haben (S. 29 f.).<br />
Auch viele der von Safferling vertretenen Lösungen dürften<br />
zweifelhaft oder ausbaubedürftig sein. So sollen alle<br />
rechtlichen Wertungen aus dem Vorsatzbereich generell<br />
ausgeschieden werden (S. 135 ff.). Dies leuchtet nicht ein,<br />
sobald man bedenkt, dass rechtliche Wertungen teilweise<br />
anderen Tatsachen gleich stehen oder sogar Tatsachen sind,<br />
nämlich institutionelle Tatsachen. 14 Bloß der Verweis darauf,<br />
dass sie rechtliche Wertungen sind, reicht als Argument für<br />
eine strengere Behandlung des diese Merkmale nicht kennenden<br />
Täters nicht aus. 15 Ein anderer zweifelhafter Vorschlag<br />
ist, dass bereits ein bedingter Rechtfertigungswille, m.a.W.<br />
13 So auch die Rezension von Roxin, JZ 2008, 988: Die Arbeit<br />
könne „nicht mehr bieten als einen wissenschaftlich<br />
anspruchsvollen Grundriss“.<br />
14 So überzeugend Puppe, zuletzt in : Putzke u.a. (Hrsg.),<br />
Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg zum 70. Geburtstag,<br />
2008, S. 275 ff. (S. 277). Zur Problematik ausführlich Roxin,<br />
in: Sieber u.a. (Hrsg.), Festschrift für Klaus Tiedemann zum<br />
70. Geburtstag, 2008, S. 375 ff.<br />
15 Krit. auch Roxin, JZ 2008, 988.<br />
eine Vorstellung des möglichen Vorliegens der objektiven<br />
Elemente eines Rechtfertigungsgrundes als subjektives<br />
Rechtfertigungselement ausreichen solle (S. 202). Dieses<br />
Kriterium ist aber eigentlich ambivalent: Die Vorstellung, es<br />
sei möglich, dass die objektiven Voraussetzungen eines<br />
Rechtfertigungsgrundes gegeben sind, kann auch beschrieben<br />
werden als die Vorstellung der Möglichkeit des Nichtgegebenseins<br />
dieser Voraussetzungen. Nur die Vorstellung des<br />
sicheren Nichtvorliegens eines Rechtfertigungsgrundes käme<br />
als subjektives Rechtfertigungselement nicht mehr in Betracht.<br />
Somit befände sich jeder über das objektive Vorliegen<br />
eines Rechtfertigungsgrundes zweifelnde Täter in einem<br />
Erlaubnistatbestandsirrtum, was nicht richtig sein kann. 16<br />
Auch die Lösung aller Fälle des sog. bedingten Unrechtsbewusstseins<br />
unter Rückgriff auf § 17 StGB (S. 221) legt die<br />
Frage nahe, ob den Besonderheiten dieser kaum erforschten<br />
Problematik hinreichend Rechnung getragen wird. 17<br />
III. Die „kognitive Willenstheorie“ Bungs<br />
1. Die Monographie<br />
Bung beginnt seine Habilitationsschrift über „Wissen und<br />
Wollen im Strafrecht“ mit einer Kampferklärung gegen die<br />
objektive Zurechnungslehre. Die von ihr betriebene Schwerpunktverlagerung<br />
vom Subjektiven ins Objektive sei etwas,<br />
das rückgängig gemacht werden sollte. Die objektive Zurechnung<br />
mache die Sorgfaltspflichtverletzung zum Kern des<br />
Unrechts, was Hand in Hand mit einer Tendenz zu Vorverlagerungen<br />
gehe (S. 1 f.). Erkläre man dagegen den Vorsatz<br />
zum „Dreh- und Angelpunkt des strafrechtlichen Systems“<br />
(S. V), berge das ein „Potential zu einer Reliberalisierung“<br />
des Strafrechts (S. 2). Als Beispiel nennt Bung die Entscheidung<br />
des BGH im Fall Kanther/Weyrauch, in dem der Vorsatz<br />
benutzt wurde, um die durch die Figur der schadensgleichen<br />
Vermögensgefährdung ermöglichte Strafbarkeitsausweitung<br />
rückgängig zu machen (S. 2).<br />
Bung befasst sich mit vielen für eine strafrechtsdogmatische<br />
Arbeit zum Vorsatz untypischen Fragen. Zunächst geht<br />
es ihm um die Folgen der neueren von der Neurowissenschaft<br />
propagierten Revision des Menschenbildes für das Strafrecht<br />
im Allgemeinen (S. 5 ff.). Er bestreitet die humanisierende<br />
Tendenz dieser Ansätze, erblickt in ihnen vielmehr „das<br />
Prinzip der Polizei“ (S. 14) und bemüht ein transzendentales<br />
Argument, nämlich das, wonach eine solche Diskussion nicht<br />
bloß das Strafrecht, sondern sogar sich selbst in Frage stellt:<br />
Diskutieren impliziere die Übernahme von Verantwortung,<br />
deshalb könne man keine Diskussion führen, um abzulehnen,<br />
dass es so etwas wie Verantwortung gebe (S. 17, 30). Bung<br />
stellt sich dann die Frage, ob die Unterteilung in objektiven<br />
und subjektiven Tatbestand nicht das Pendant einer überholten<br />
Sicht des Geistigen, die das Mentale als eine Substanz<br />
oder Seele begreift, darstelle (S. 60). Er behandelt das sog.<br />
Problem der mentalen Verursachung, also die Frage, wie<br />
etwas Nichtphysisches Physisches bewirken könne, wenn die<br />
16 Zum Problem Schünemann/Greco, GA 2007, 784.<br />
17 Vgl. die differenzierteren Überlegungen von Roxin, Strafrecht,<br />
Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 21 Rn. 29 ff.<br />
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<strong>ZIS</strong> 13/2009
Neue Wege der Vorsatzdogmatik<br />
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physische Welt geschlossen sei (S. 68, 69). Eine Lösung<br />
erblickt Bung im Rückgriff auf Davidsons Gedanken, nach<br />
dem es auch Kausalbeziehungen ohne Naturgesetze gebe, den<br />
sog. anomalen Monismus (S. 80). Da dies nicht mehr als eine<br />
Anwendung der condicio-Formel bedeute, sieht Bung in dem<br />
Beitrag dieser Formel zur Lösung des Problems der mentalen<br />
Verursachung eine Vindikation dieser von der Literatur<br />
überwiegend kritisierten dogmatischen Figur (S. 80, 82 ff.).<br />
Die in der Einleitung angekündigte Kritik an der objektiven<br />
Zurechnung wird ab S. 99 vertieft. Diese Lehre verkörpere<br />
eine „Tendenz der Externalisierung und Normativierung<br />
der Verantwortungszuschreibung“ (S. 107) bzw. eine „Entprivilegierung<br />
des Subjekts“ (S. 108) und sei dogmatisch<br />
entbehrlich (S. 105). Das Gegenmodell, das den Schwerpunkt<br />
auf das Subjektive hin verlagert, wird gegen den naheliegenden<br />
Einwand des Gesinnungsstrafrechts bzw. der Illiberalität<br />
mit dem Argument in Schutz genommen, es sei liberaler, das<br />
von der Person Gewollte für maßgeblich zu halten, als das,<br />
was sie hätte wollen müssen (S. 112 f., auch S. 120 f.). Vor<br />
allem auch aus diesem Grund bestehe bei einer Subjektivierung<br />
ebenfalls keine Gefahr der Ausdehnung des Strafrechts<br />
auf das Vorfeld (S. 117 ff.).<br />
Bung kümmert sich dann um die philosophisch umstrittene<br />
These des sog. privilegierten Zugangs zu eigenen geistigen<br />
Zuständen (S. 121 ff.) – konkret also um die Frage, ob die<br />
Behauptung „ich habe Kopfschmerzen“ ceteris paribus besser<br />
begründet ist als der Satz „er hat Kopfschmerzen“ (mein<br />
eigenes Beispiel, L.G.) – und kommt zu dem Ergebnis, an<br />
einer solchen Autorität der ersten Person bezüglich eigener<br />
mentaler Zustände sei nicht zu zweifeln (S. 127), woraus<br />
gleichzeitig die Erforderlichkeit der Berücksichtigung des<br />
Wissens und des Wollens bei der Deutung eines Verhaltens<br />
folge (S. 127 ff.). Er knüpft an Davidsons Handlungstheorie<br />
an, die davon ausgeht, man könne ein Verhalten nur als solches<br />
verstehen, wenn man ihm diese Struktur des Wissens<br />
und Wollens zuschreibt (S. 128 ff.). Dieses Konzept der<br />
Handlung wird anhand des praktischen Syllogismus in Auseinandersetzung<br />
mit den Philosophen Anscombe und v.<br />
Wright näher verdeutlicht (S. 136 ff., 140 ff., 144 ff., 163 ff.).<br />
Dieser Syllogismus habe immer als Prämissen zumindest<br />
einen Wunsch, also eine volitive Prämisse („A beabsichtigt<br />
Y“), und eine Vorstellung über die Welt („A glaubt, X sei der<br />
Fall“), die beide die Handlung As als die eines Vernünftigen<br />
deutbar machen (S. 163 ff.). Wichtig sei dabei vor allem, dass<br />
„der praktische Syllogismus keine ontologische Struktur<br />
repräsentiert, sondern Ausdruck einer Deutung“ sei (S. 165):<br />
Wissen und Wollen werden demnach nicht als mentale Substanzen<br />
begriffen, sondern als Zuschreibungen des Beobachters,<br />
der das Verhalten zu interpretieren sucht. Darin liege das<br />
„Wesen des Vorsatzes“ (S. 166 f.): „Wer eine Handlung<br />
verstehen möchte, muss unterstellen, dass der Handelnde<br />
rational ist: Dass er richtige Mittel zur Verwirklichung eines<br />
bestimmten Wunsches gewählt hat und dass er das Mittel<br />
ohne das Entgegenstehen eines stärkeren Wunsches nicht<br />
zum Einsatz gebracht hätte“ (S. 166 f.). „Das Wesen des<br />
Vorsatzes liegt in der Entscheidung für die Handlung“<br />
(S. 168). Diese Struktur passe auch auf den bedingten Vorsatz:<br />
Dieser liege nämlich vor, wenn man lieber wolle, dass<br />
der eigene Plan gelinge und dabei gewisse schwere Folgen<br />
eintreten, als vom Ganzen abzusehen (S. 172, 184). Beim<br />
bedingten Vorsatz gehe es also um ein „komparatives Wollen“<br />
(S. 184, ferner 208, 269). Bung setzt sich mit Schmidhäuser,<br />
Kindhäuser, Puppe und Jakobs auseinander<br />
(S. 171 ff., 179 ff., 185 ff., 193 ff.), womit auch der Gehalt<br />
seiner Gedanken um vieles klarer wird. Hier wird der Leser<br />
an mehreren Punkten überrascht, und dies aus Gründen, die<br />
zur Vermeidung von Wiederholungen erst unter III. 2. darzustellen<br />
sind. Am Ende dieses Kapitels wendet sich Bung einer<br />
weiteren philosophischen Frage zu, nämlich dem Problem der<br />
sog. Willensschwäche – also dem Problem, wie es möglich<br />
ist, dass jemand X tut, obwohl er eigentlich Gründe hat, X zu<br />
unterlassen (S. 198 ff.).<br />
Im letzten Kapitel wird auf die dogmatische Struktur des<br />
Vorsatzes näher eingegangen, vor allem auf die Grenzen<br />
zwischen Absicht, dolus directus 2. Grades und dolus eventualis<br />
(S. 207 ff.). Trotz der Unterschiede wird immer betont,<br />
dass das Gemeinsame aller Vorsatzformen überwiege<br />
(S. 219, 263). Anschließend wird insbesondere über den<br />
<strong>Inhalt</strong> des Absichtsbegriffs im Besonderen Teil reflektiert<br />
(S. 224 ff.). Am Ende der Monographie wird betont, dass<br />
„die Formel von Wissen und Wollen […] ein normatives<br />
Konstrukt“ sei (S. 270).<br />
2. Kritik<br />
Das Buch von Bung enthält eine Reihe von Gedanken und<br />
Anregungen. Es empfiehlt sich deshalb, die kritischen Bemerkungen<br />
auf zwei Ebenen zu entwickeln, zunächst auf<br />
einer methodischen und anschließend einer inhaltlichen.<br />
Auf der methodischen Ebene ist die Interdisziplinarität<br />
ein Hauptzug der Monographie. Strafrechtliche Fragen werden<br />
durch einen Rückgriff auf philosophische Theorien und<br />
Konzepte entweder gelöst oder neu gestellt. Dies ist zwar<br />
interessant und im Einzelnen sogar weiterführend, nur reizt<br />
die konkrete Vorgehensweise Bungs zu einiger Kritik. Gelegentlich<br />
werden philosophische Fragen aufgegriffen, die eine<br />
eher entfernte strafrechtliche Relevanz haben dürften: Man<br />
denke an die Erörterung des Problems der Willensschwäche.<br />
Ferner werden Anleihen bei philosophischen Theorien gemacht,<br />
ohne über deren Geschichte und vor allem die an der<br />
jeweiligen Theorie geübten Kritik zu berichten. Das gilt nicht<br />
nur für die in der Monographie eine zentrale Stellung einnehmende<br />
Handlungstheorie von Davidson, sondern auch bei<br />
anderen Fragen, wie etwa bei dem Verweis auf die sog.<br />
Gebrauchstheorie des Personalpronomens der ersten Person<br />
Singular, um die These des dezentralen Ichs zu widerlegen<br />
(S. 45 ff.). Drittens hat der Leser nicht selten den Eindruck,<br />
dass in der Arbeit die Philosophie gewissermaßen zum wissenschaftlichen<br />
Oberstgericht erhoben wird, das als Superrevisionsinstanz<br />
die Autorität habe, bezüglich rechtlicher Fragen<br />
das letzte Wort zu sprechen. Vorsatz sei Wille, weil nach<br />
Davidsons Handlungstheorie Handlungen einen Willen voraussetzten.<br />
Es gebe nichts Bedenkliches an der condicio-sinequa-non-Formel,<br />
weil ihr Verzicht auf Kausalgesetze sich mit<br />
Davidsons anomalem Monismus decke.<br />
Auch der Schreibstil des Buches verdient besondere Hervorhebung.<br />
Die Schreibweise ist elegant und fließend, so dass<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
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Luís Greco<br />
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selbst ein Fremdsprachler die Erörterungen von Bung mit<br />
Genuss lesen kann. Nicht immer dürften die belletristischen<br />
Ansprüche des Werkes für die Genauigkeit oder Sachlichkeit<br />
der Diskussion förderlich sein. Vom sozialen Handlungsbegriff<br />
heißt es etwa, er sei „überhaupt kein Handlungsbegriff<br />
mehr, sondern die sich als Handlungsbegriff tarnende Verlegenheitsauskunft,<br />
dass Handlung alles sozialerhebliche Verhalten<br />
sei“ (S. 71), ferner dass „[…] solche ungreifbaren<br />
Institute wie der soziale Handlungsbegriff Anzeichen des<br />
grenzenlosen Strafrechts sind“ (S. 99). Zum systematisch<br />
bedeutsamen Streit, ob Vorsatz und Fahrlässigkeit sich als<br />
plus-minus oder aliud zueinander verhalten, nimmt Bung<br />
dadurch Stellung, dass er eine unklare Metapher des Verhältnisses<br />
vom Blues zum Jazz heranzieht (S. 186 f.). Das Prinzip<br />
der Eigenverantwortlichkeit wird als „besonders anschauliches<br />
Beispiel für nutzlose Dogmatik“ bezeichnet (S. 102).<br />
Trotzdem dürfte es seinem farbigen Stil zu verdanken sein,<br />
dass es Bung gelingt, schwierige philosophische Fragen verständlich<br />
und reizvoll zu präsentieren.<br />
<strong>Inhalt</strong>lich verdienen viele Thesen eine nähere Betrachtung.<br />
Die Rehabilitierung der in der Rechtsprechung und<br />
juristischen Ausbildung kaum bestrittenen, in der Wissenschaft<br />
aber überwiegend verpönten condicio-sine-qua-non<br />
Formel dürfte im Ergebnis weitgehend zustimmungswürdig<br />
sein, was im vorliegenden Rahmen nicht begründet werden<br />
kann. In der jetzigen Abhandlung soll die Aufmerksamkeit<br />
eher zwei anderen Fragen gelten, nämlich dem Plädoyer<br />
Bungs für eine Schwerpunktverlagerung zum subjektiven<br />
Tatbestand und der genaueren Rolle des Willens in seiner<br />
Theorie des Vorsatzes.<br />
Wie gesagt erwartet Bung von einer Stärkung des subjektiven<br />
Tatbestands einen Widerstand gegen das unbegrenzte<br />
Strafrecht. Das dürfte m.E. nicht nur dogmatisch, sondern<br />
auch rechtspolitisch zweifelhaft sein. Dass sich dogmatische<br />
Konstellationen, wie die Risikoverringerung oder die Kausalabweichung,<br />
„genauso gut oder besser im Rahmen des Vorsatzes<br />
erörtern lassen“ (S. 105), wird behauptet, aber kaum<br />
mehr als mit einem Verweis auf die finalistische Kritik begründet.<br />
Und rechtspolitisch dürfte eine Verlagerung des<br />
Schwerpunkts auf den objektiven Tatbestand, wie sie durch<br />
die objektive Zurechnung durchgeführt wurde, dem liberalen<br />
Tatprinzip besser entsprechen als eine Ansicht, die die<br />
Reichweite strafrechtlicher Verbote anhand des Willens (und<br />
nicht nur der Kenntnisse 18 ) des Täters bestimmen will. Dies<br />
vor allem, wenn es stimmt, dass – mit den Worten Bungs –<br />
„die politische Auseinandersetzung um die Freiheit […]<br />
wesentlich ein Kampf gegen die Durchleuchtung und Besichtung<br />
des Internums durch die zuständigen Agenturen des<br />
Staates“ (S. 123) ist, dann ist die von der objektiven Zurechnung<br />
in der Tat geförderte „Externalisierung und Normativierung<br />
der Verantwortungszuschreibung“ (S. 107) zu begrüßen<br />
und vor allem auf der individualisierenden Ebene der Schuld<br />
von möglichen Unbilligkeiten zu bereinigen.<br />
Bung verspricht nicht nur eine Verteidigung des subjektiven<br />
Tatbestands, sondern vor allem auch eine Verteidigung<br />
der Willenstheorie des Vorsatzes. Nur ist es mir unklar, ob<br />
18 Hierzu Greco, ZStW 117 (2005), 519.<br />
die von ihm vorgeschlagene Version der Willenstheorie noch<br />
eine Willenstheorie im herkömmlichen Sinne ist. Denn Wille<br />
wird nicht, wie von der herrschenden Meinung, als der reelle<br />
mentale Zustand verstanden, von dem die Alltagspsychologie<br />
des strafrechtlichen Vorsatzes ausgeht, sondern als interpretativer<br />
Rahmen, als Zuschreibung, die es dem Beobachter eines<br />
Verhaltens ermöglicht, dieses als etwas Vernünftiges zu verstehen.<br />
Die Willenstheorie von Bung ist also genauso oder<br />
genauso wenig volitiv wie die kognitive Theorie von Puppe,<br />
weil er den Willensbegriff vollständig normativiert. Im Falle<br />
des sog. dolus directus oder der auf ein Zwischenziel bezogenen<br />
Absicht „muss der Täter diesen Erfolg zwangsläufig auch<br />
wollen, wenn er ein rational handelndes Wesen ist“ (S. 164).<br />
Mit Berufung auf Puppe wird behauptet, „wer in dem Bewusstsein<br />
handelt, den Weg zu einem bestimmten Ziel zu<br />
beschreiten, der billigt diesen Weg (sonst würde er ihn wahrscheinlich<br />
nicht gehen)“ (S. 169; s. auch S. 219, S. 267 f., wo<br />
Gemeinsamkeiten mit Puppe ausgearbeitet werden). Er<br />
stimmt dem Kognitionstheoretiker Hruschka zu, wenn dieser<br />
sagt: „Wer tötet und weiß, daß er tötet, der will auch töten“<br />
(S. 173). Aufschlussreich ist vor allem Bungs Auseinandersetzung<br />
mit Puppe. Letztlich meint er, die herrschende Auffassung<br />
vertrete kein „derart psychologistisches Verständnis<br />
vom Vorsatz, wie es Puppe unterstellt“ (S. 190). Er sei mit<br />
Puppes Kriterium der vernünftigen Tatbestandsverwirklichungsmethode<br />
„völlig einverstanden“ (S. 191) und erwäge<br />
sogar, auf die Dreiteilung des Vorsatzes zu verzichten<br />
(S. 192). Zwar heißt es später, „die Auffassung, dass Wollen<br />
Wissen ist, ist unverständlich“ (S. 207); aber gleichzeitig<br />
wird immer wieder beteuert, mit einem Wissen liege gleichzeitig<br />
auch ein Wollen vor (S. 217). Positive oder negative<br />
Stimmungen und Gefühle seien völlig irrelevant (S. 220). Die<br />
kognitivistischen Vorsatztheorien werden bei dolus directus<br />
2. Grades vor allem deshalb kritisiert, weil sie einen zu langen<br />
und deshalb „unplausiblen“ „begrifflichen Umweg“<br />
postulieren (S. 223), also gerade nicht, weil sie auf einen<br />
Willen verzichten. „Wer ein Wollen als notwendig erkennt,<br />
muss notwendigerweise wollen, wenn es um das geht, für<br />
welches das Wollen als notwendig erkannt wurde“ (S. 224) –<br />
das Wollen-Müssen Bungs erinnert an das Billigen im<br />
Rechtssinne des BGH im Lederriemenfall (BGHSt 7, 363)<br />
und ist ebenso wenig wie dieses ein psychologischer Zustand.<br />
Bungs Bemühungen sind als Pyrrhussieg der Willenstheorie<br />
anzusehen.<br />
Die Normativierung macht aber nicht bei der Willenskomponente<br />
halt, sondern betrifft auch die Wissenskomponente,<br />
was in einer Arbeit, die sich als Plädoyer für den subjektiven<br />
Tatbestand versteht, überrascht. Das wird in der<br />
Auseinandersetzung mit Jakobs’ Theorie der Tatsachenblindheit<br />
deutlich: „Das in einer solch drastischen Form des Desinteresses<br />
zum Ausdruck kommende Nichtwissenwollen ist<br />
dem bedingten Wollen des tatbestandlichen Erfolges mit<br />
guten Gründen gleichzustellen“ (S. 198).<br />
IV. Schluss<br />
Ein Gesamtfazit kann man aus Überlegungen zu drei so verschiedenen<br />
Monographien nicht ziehen. Ich erlaube mir deshalb<br />
nur zwei Anmerkungen. Zunächst ist es zu begrüßen,<br />
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<strong>ZIS</strong> 13/2009
Neue Wege der Vorsatzdogmatik<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
dass versucht wird, eine teilweise als stagniert empfundene<br />
Diskussion, in der die Willenstheorie sich sowohl auf das<br />
träge Gewicht einer gefestigten Rspr. als auch auf die Intuitionen<br />
der deutschen Sprachgemeinschaft stützen kann, durch<br />
eine Öffnung für das Völkerstrafrecht, die Rechtsvergleichung<br />
oder die Philosophie in Bewegung zu bringen. Trotzdem<br />
wird dieser neu erschaffene Freiraum eigentlich nur von<br />
Stuckenberg dazu genutzt, das mindestens seit Engisch 19 als<br />
Urfrage erkannte Problem nach der ratio der Vorsatzbestrafung<br />
zu stellen. Auch wenn man Stuckenbergs kommunikationstheoretisch<br />
verpflichtete Antwort nicht akzeptiert, muss<br />
man die Akribie bewundern, mit der er sich um das Problem<br />
gekümmert hat. Hätte er die Frage für das Willens- und das<br />
Wissenselement getrennt gestellt, wäre es vielleicht ersichtlicher<br />
geworden, dass die Begründung der erhöhten Strafwürdigkeit<br />
des Willens in einem nicht moralisierenden Strafrecht<br />
nicht so einfach ist. 20 Schünemanns Bemerkung, wonach<br />
„überraschenderweise […] diese eigentlich zentrale Frage im<br />
Schrifttum immer nur ganz knapp und selbst in dickleibigen<br />
Monographien nur auf wenigen Seiten abgehandelt“ werde, 21<br />
behält also auch nach zehn Jahren ihren Mahnungsgehalt in<br />
Bezug auf künftige Beiträge zur Vorsatzdiskussion.<br />
19 Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit<br />
im Strafrecht, 1930, etwa S. 52; vorbildhaft auch Roxin, JuS<br />
1964, 54 (58); Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 31 ff.<br />
(34); Schünemann, in: Weigend u.a. (Hrsg.),Festschrift für<br />
Hans Joachim Hirsch zum 70. Geburtstag, 1999, S. 363 ff.<br />
(371).<br />
20 Ausf. Greco, Liber Amicorum Sousa e Brito, Lisabon,<br />
2009, S. 885 ff. (897 ff.) mit entschiedener Stellungnahme für<br />
eine kognitive und gegen jede volitive Vorsatzlehre.<br />
21 Schünemann (Fn. ), S. 371 Fn. 28.<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
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Pfefferkorn, Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit im französischen und deutschen Recht<br />
Heger/Pohlreich<br />
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B u c h r e z e n s i o n<br />
Fabian Pfefferkorn, Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit im<br />
französischen und deutschen Recht, (Kölner Kriminalwissenschaftliche<br />
Schriften, Bd. 49), Verlag Duncker & Humblot,<br />
Berlin 2006, 314 S., € 98,-<br />
Die Auseinandersetzung mit zumeist kriminalpolitisch motivierten<br />
Forderungen gewinnt dann an Plastizität, wenn auf<br />
Erfahrungen aus kulturell ähnlich verfassten Strafrechtsordnungen<br />
zurückgegriffen werden kann, in denen die Forderungen<br />
längst die Zustimmung des Gesetzgebers gefunden haben.<br />
So erscheint es nur selbstverständlich, dass Pfefferkorn<br />
mit dem hier zu besprechenden Werk eine grundlegende<br />
Debatte des deutschen Strafrechtskreises, nämlich die Debatte<br />
um die Entkriminalisierung leichter Fahrlässigkeit, im<br />
Lichte jüngerer Rechtsentwicklungen aus Frankreich bereichert<br />
und hinterfragt. Denn im Rahmen zweier Reformen aus<br />
den Jahren 1996 und 2000 reduzierte der französische Strafgesetzgeber<br />
die Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens in bestimmten<br />
Bereichen. Pfefferkorn durchleuchtet diese Reformen<br />
und ihre Folgen in der Rechtswirklichkeit kritisch, was<br />
freilich nicht allein für denjenigen von Interesse sein wird,<br />
welcher der Rechtsvergleichung schon um ihrer selbst willen<br />
in besonderem Maße zugetan ist. Vielmehr nutzt er die bei<br />
der kritischen Durchleuchtung gewonnenen Erkenntnisse<br />
geschickt zu einer Überprüfung der gebotenen Grenzen strafbarer<br />
Fahrlässigkeit im deutschen Recht und macht seine<br />
Arbeit auf diese Weise auch für denjenigen wertvoll, der sich<br />
für die Kernfragen des deutschen Fahrlässigkeitsstrafrechts<br />
interessiert. Die Umsetzung des Anliegens des Autors, ausgehend<br />
von den französischen Reformen der strafbaren Fahrlässigkeit<br />
die Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit im deutschen<br />
Strafrecht zu bestimmen, ist ihm dabei ungeachtet aller Widrigkeiten<br />
auf bemerkenswerte Weise gelungen. Denn zum<br />
einen spiegeln die französischen Reformen, wie Pfefferkorn<br />
selbst einräumt, das Ergebnis „spezifischer, auf deutsche<br />
Verhältnisse kaum übertragbarer rechtspolitischer Beweggründe<br />
des französischen Gesetzgebers“ wider (S. 170). Der<br />
französische Gesetzgeber reduzierte nämlich nicht etwa die<br />
Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens im Bereich der Arzthaftung<br />
oder des Straßenverkehrs, sondern nahezu ausschließlich<br />
zugunsten öffentlicher Entscheidungsträger (S. 22). Zum<br />
anderen beschreibt Pfefferkorn – völlig zu Recht – die französische<br />
Strafrechtsprechung als „im Zuge ihrer kriminalpolitisch<br />
orientierten Herangehensweise pragmatisch und ergebnisbezogen“<br />
(S. 94) und beklagt an anderer Stelle das Fehlen<br />
einer einheitlichen Terminologie zur Fahrlässigkeit im französischen<br />
Strafrecht (S. 35 f.). Nichtsdestoweniger vermag<br />
Pfefferkorn jenseits dieser nur augenscheinlich gegen einen<br />
Blick auf das französische Fahrlässigkeitsstrafrecht sprechenden<br />
Widrigkeiten aus seinen Beobachtungen Schlüsse<br />
für die Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit zu ziehen, die nur<br />
Zustimmung verdienen.<br />
Wenn Pfefferkorn im Titel seiner Untersuchung von den<br />
„Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit“ spricht, geht es ihm trotz<br />
der Offenheit des Begriffs „Grenzen“ wohl um die Frage<br />
nach der Reichweite der Straflosigkeit im Bereich leichter<br />
Fahrlässigkeit. Gleichwohl kann schon der erste Teil der<br />
Untersuchung (S. 27 ff.), in dem Pfefferkorn über die historische<br />
Entwicklung, die Grundlagen sowie die Besonderheiten<br />
der französischen Fahrlässigkeitsdogmatik aufklärt, die hiesige<br />
Diskussion um die Ausweitung der Strafbarkeit fahrlässigen<br />
Verhaltens befruchten. Hier beobachtet Pfefferkorn kritisch<br />
die Tendenz der französischen Strafrechtsprechung zu<br />
einer Erweiterung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit. Eine von<br />
ihr anerkannte Beweiserleichterung hinsichtlich des Nachweises<br />
des Kausalverlaufs betrifft Fälle, die Pfefferkorn<br />
„fahrlässiger Mittäterschaft“ zuordnet. Hat nachweislich<br />
jeder Beteiligte einer Gruppe ein möglicherweise erfolgsursächliches<br />
Risiko geschaffen, ohne dass sich feststellen ließe,<br />
welche dieser Pflichtverletzungen für den Erfolg ursächlich<br />
geworden ist, bejaht die französische Rechtsprechung die<br />
Strafbarkeit jedes Beteiligten, sofern er sich an einer gefährlichen<br />
Handlung beteiligt und gemeinsam ein schweres Risiko<br />
verursacht hat (S. 66 f.). Pfefferkorn schließt sich der Kritik<br />
der französischen Lehre an dieser Entwicklung an und weist<br />
darauf hin, dass die Rechtsprechung auf diesem Wege fahrlässige<br />
Erfolgsdelikte zu konkreten Gefährdungsdelikten<br />
umdeute (S. 69 f.).<br />
Im zweiten Teil beschreibt der Autor die Reformen der<br />
Fahrlässigkeitsstrafbarkeit aus den Jahren 1996 und 2000<br />
einschließlich ihrer Auswirkungen. Was die Reform vom<br />
13.5.1996 angeht, setzt er sich zunächst mit der Entstehungsgeschichte<br />
(S. 95 ff.) und der Reichweite (S. 101 f.) der damals<br />
eingeführten Privilegierung für öffentliche Entscheidungsträger<br />
in Art. 121-3 Abs. 3 Code pénal (CP) auseinander.<br />
Dieser Vorschrift zufolge liegt keine strafbare Fahrlässigkeit<br />
vor, wenn der Betreffende die gewöhnliche Sorgfalt<br />
eingehalten hat, und zwar unter Berücksichtigung der Natur<br />
seiner im konkreten Einzelfall bestehenden Aufgaben, Funktionen,<br />
Kompetenzen sowie der Befugnisse und Mittel, über<br />
die er verfügte. Anhand eines Vergleich mit der vorherigen<br />
Strafrechtsprechung (S. 105 ff.) bezweifelt der Autor das<br />
Ausmaß der gegen öffentliche Entscheidungsträger gerichteten<br />
Strafverfolgung, das den Reformgesetzgeber von 1996<br />
zur Einführung des dritten Absatzes in Art. 121-3 Abs. 3 CP<br />
bewog (S. 107). Im Zuge eines Abrisses der Reform in der<br />
Rechtswirklichkeit (S. 110 ff.) zeigt Pfefferkorn auf, dass die<br />
Rechtsprechung teilweise das gesetzgeberische Ziel einer<br />
Privilegierung öffentlicher Entscheidungsträger teilweise<br />
völlig verdrehe (S. 113 f.).<br />
Sein Entkriminalisierungsanliegen verfolgte der französische<br />
Gesetzgeber mit der Reform vom 10.7.2000 weiter.<br />
Gemäß Art. 121-3 Abs. 4 CP unterliegen im Fall des vorangehenden<br />
Absatzes solche Personen erhöhten Strafbarkeitsanforderungen,<br />
die einen Schaden durch aktives Handeln oder<br />
durch unterlassene Verhinderungsmaßnahmen indirekt verursacht<br />
haben, sofern sie entweder auf offensichtlich bewusste<br />
Weise eine besondere, durch Gesetz oder Rechtsverordnung<br />
geregelte Sorgfalts- oder Sicherheitspflicht verletzt haben,<br />
oder sie ein gesteigertes Fehlverhalten („faute caractérisée“,<br />
dazu S. 140 ff., 220 ff.) begangen haben, durch die eine andere<br />
Person einem besonders schweren Risiko ausgesetzt wurde,<br />
das sie nicht übersehen konnten. Unter die zweite Alternative<br />
fallen vor allem öffentliche Entscheidungsträger und<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
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<strong>ZIS</strong> 13/2009
Pfefferkorn, Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit im französischen und deutschen Recht<br />
Heger/Pohlreich<br />
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die für die Einhaltung von Sicherheitsvorschriften zuständigen<br />
Betriebsleiter. Nach einer umfassenden Auseinandersetzung<br />
mit den einschlägigen Lehrmeinungen (S. 123 ff.) und<br />
der Darstellung der in diesem Zusammenhang eher kasuistischen<br />
Rechtsprechung (S. 127 ff.) konstatiert Pfefferkorn,<br />
dass sich bislang kein einheitliches Konzept zur Abgrenzung<br />
von direkter und indirekter Kausalität herausgebildet habe<br />
und dass nicht nur Personen mit garantenähnlichen Schutzund<br />
Überwachungsaufgaben der neuen Vorschrift unterfielen,<br />
sondern teilweise auch Falschparker, Automechaniker und<br />
Retter (S. 139).<br />
Dass weder die Rechtsprechung noch die Literatur bei der<br />
Auslegung der beiden qualifizierten Fahrlässigkeitsmodalitäten<br />
in Art. 121-3 Abs. 4 CP versucht hätten, sich dogmatisch<br />
mit deren Voraussetzungen auseinanderzusetzen (S. 159),<br />
folgert Pfefferkorn wiederum aus der – von ihm breit dargestellten<br />
– Diskussion um die von Art. 121-3 Abs. 4 CP erfasste<br />
bewusste Sondernormverletzung und die besondere<br />
Pflichtverletzung (S. 139 ff.).<br />
Im dritten Teil der Arbeit untersucht Pfefferkorn Art. 121-<br />
3 Abs. 4 CP aus rechtsvergleichender Sicht und diskutiert<br />
anhand einer Auseinandersetzung mit der dortigen Abstufung<br />
des Fahrlässigkeitsmaßstabes die Grenzen der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit<br />
im deutschen Recht. Auf eine rechtsvergleichende<br />
Untersuchung unter dem Gesichtspunkt des Art. 121-<br />
3 Abs. 3 CP verzichtet der Autor demgegenüber, weil die<br />
dahinter stehenden rechtspolitischen Beweggründe des Gesetzgebers<br />
keinen Aufschluss über die Grenzen strafbarer<br />
Fahrlässigkeit im deutschen Recht ermöglichten (S. 170).<br />
Überhaupt wendet sich Pfefferkorns Blick nunmehr von der<br />
strafrechtlichen Fahrlässigkeitshaftung von Amtsträgern ab<br />
(S. 171) und hiervon losgelöst den Tatbestandsmerkmalen<br />
des Art. 121-3 Abs. 4 CP zu.<br />
Zuvor diskutiert er aber die Notwendigkeit der hierzulande<br />
vielfach geforderten Entkriminalisierung leichter Fahrlässigkeit<br />
und beschäftigt sich hierzu zunächst mit den an das<br />
Schuldprinzip anknüpfenden sowie kriminalpolitischen Ansätzen<br />
mit ihren jeweiligen Begründungen (S. 176 ff.). Da die<br />
Forderung nach „Entkriminalisierung“ bestimmter Fahrlässigkeitsgrade<br />
auch von der inhaltlichen Bestimmung des<br />
Begriffs strafrechtlicher Fahrlässigkeit abhänge (S. 190),<br />
erörtert Pfefferkorn umfassend die Fahrlässigkeitsmodelle<br />
Kindhäusers, Zielinskis, Struensees und Koriaths (S. 191 ff.),<br />
denen er entweder inhaltliche Unschärfe oder eine übermäßige<br />
Weite vorwirft (S. 201). Duttges Fahrlässigkeitsmodell<br />
(S. 201 ff.) erachtet Pfefferkorn dagegen zwar unter anderem<br />
deshalb als kritikwürdig, als es mathematisch genaue, vom<br />
Einzelfall losgelöste Ergebnisse zu fördern scheine (S. 205);<br />
Pfefferkorn schließt sich aber Duttges Modell insoweit an, als<br />
es den Fahrlässigkeitsbegriff „auf einen wesentlichen Kern in<br />
Gestalt des ‚triftigen Anlasses’“ zurückführe und damit die<br />
Unbeachtlichkeit einer abstrakten „Denkbarkeit“ entsprechender<br />
Risiken herausstelle, deren Schaffung mangels Erfolgsvorhersehbarkeit<br />
keine Missachtung fremder Rechtsgüter<br />
darstelle (S. 209). Die Gefahrindikatoren der Anschaulichkeit,<br />
Zugänglichkeit, Kodierung, Regelmäßigkeit, zeitlichen<br />
Präsenz, der signalisierten Gefährdungswahrscheinlichkeit<br />
und Schadensfolge, der Abhängigkeit der Wahrnehmbarkeit<br />
von dritten Personen sowie der Dauer der Vorwarnzeit,<br />
auf die es bei Duttges Fahrlässigkeitsmodell ankommt, überzeugen<br />
auch Pfefferkorn, auch wenn er sich vor allem wegen<br />
des oben genannten Grundes Duttges Auffassung nicht voll<br />
anschließen will (S. 209 f.). Hiervon ausgehend meint Pfefferkorn,<br />
dass es keiner die Strafwürdigkeit unbewusster oder<br />
leichter Fahrlässigkeit eigenständig problematisierender<br />
Strafzweckdiskussion bedürfe (S. 210). Gehe man mit Duttge<br />
von einem restriktiven, an besonderen Gefahrindikatoren<br />
orientierten Fahrlässigkeitsbegriff des Strafrechts aus, dann<br />
könne der verbleibende Bereich „leichter“ und dennoch zugleich<br />
strafbarer Fahrlässigkeit nur noch im Rahmen des<br />
Opportunitätsprinzips oder bei der Strafzumessung berücksichtigt<br />
werden (S. 211).<br />
Hierauf diskutiert Pfefferkorn, ob die Fahrlässigkeitskriterien<br />
des Art. 121-3 Abs. 4 CP aus Sicht eines materiell restriktiven<br />
Straftatbegriffs die notwendige Grenze strafbarer<br />
Fahrlässigkeit markieren bzw. markieren sollten. Zur abstrakt-regelbezogenen<br />
Bestimmung der Grenzen der Fahrlässigkeit<br />
erscheinen Pfefferkorn sowohl die Modalität der bewussten<br />
Gefährdung in Art. 121-3 Abs. 2 CP (S. 212 ff.) als<br />
auch die Modalität der gesteigerten Fahrlässigkeit in<br />
Art. 121-3 Abs. 4 CP (S. 220 ff.) ungeeignet. Anhand des<br />
präziseren Kriteriums der Erkennbarkeit eines Risikos skizziert<br />
Pfefferkorn eine mögliche Struktur des strafbaren Fahrlässigkeitsunrechts<br />
(S. 222 ff.). Das Kriterium des „Risikos<br />
von besonderer Schwere“ in Art. 121-3 Abs. 4 CP strukturiere<br />
vor dem Hintergrund eines straftatbestandlich restriktiven<br />
Fahrlässigkeitsbegriffs als Fundament einer generalisierenden<br />
Bewertungsnorm jedes strafbare Fahrlässigkeitsunrecht. Zu<br />
bestimmen sei es aus der ex-ante-Perspektive eines Beobachters<br />
mit (quasi-)idealem Sachverhaltswissen, wobei diesbezügliche<br />
Defizite des Handelnden auf subjektiver Unrechtsebene<br />
Berücksichtigung finden müssten. Dies entspreche<br />
sachlich dem Tatbestandsmerkmal des Nicht-Übersehen-<br />
Könnens in Art. 121-3 Abs. 4 CP (S. 229) und stehe im Übrigen<br />
Duttges Fahrlässigkeitsmodell nahe (S. 230 ff.). Damit<br />
identifiziert Pfefferkorn in der zweiten Fahrlässigkeitsmodalität<br />
des Art. 121-3 Abs. 4 CP „eine Umschreibung der Grundvoraussetzungen<br />
erfolgsstraftatbestandlicher Fahrlässigkeit“,<br />
was die Forderungen nach einer Entkriminalisierung leichter<br />
Fahrlässigkeit methodisch betrachtet entbehrlich erscheinen<br />
lasse (S. 232).<br />
Eine Einschränkung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit bei<br />
indirekt verursachten Erfolgen (S. 233 ff.) lehnt Pfefferkorn<br />
dagegen überzeugend mit Blick auf die stets wertungsgebundene<br />
Abgrenzung zwischen direkter und indirekter Kausalität<br />
ab (S. 244). Dies bestätigt die nachfolgende Untersuchung<br />
der normativen Tragweite des Unmittelbarkeitskriteriums<br />
(S. 244 ff.).<br />
Schließlich erwägt Pfefferkorn die Gebotenheit einer Privilegierung<br />
in Fällen mittelbarer Kausalität aufgrund des<br />
Eigenverantwortungsgrundsatzes (S. 251 ff.). Das deliktische<br />
Anschlussverhalten Dritter begründe keine pauschale Einschränkung<br />
(S. 263 f.). In Fällen vorwerfbar-unbewussten<br />
Fehlverhaltens des Opfers (S. 264 ff.) erscheine aufgrund des<br />
Selbstschutzprinzips eine Einschränkung geboten; die jeder<br />
Fahrlässigkeitsbewertung notwendig innewohnende Unbe-<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
823
Pfefferkorn, Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit im französischen und deutschen Recht<br />
Heger/Pohlreich<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
stimmtheit sei hier nicht überdehnt. Der Unbestimmtheit<br />
könne durch hohe Anforderungen an Gefahrenindikatoren,<br />
etwa der Sachkompetenz des Erstverursachers, begegnet<br />
werden (S. 272).<br />
Das durchweg deutlich werdende Engagement des Autors<br />
um einen restriktiven, aber zugleich auch greifbaren und<br />
möglichst objektiv nachvollziehbaren Fahrlässigkeitsbegriff<br />
ist schon aus rechtsstaatlichen Erwägungen zu begrüßen.<br />
Lässt sich das Engagement einiger Strafrechtswissenschaftler<br />
um eine Begrenzung der Bestrafung leichter Fahrlässigkeit<br />
kriminalpolitisch durchaus nachvollziehen, so darf das Gebot<br />
vorhersehbaren Strafens nicht aus dem Blick verloren werden.<br />
Eingedenk dessen bleibt Pfefferkorn zu wünschen, dass<br />
seine Gedanken in der hiesigen Debatte um die Grenzen<br />
strafbarer Fahrlässigkeit Gehör und Zustimmung finden.<br />
Prof. Dr. Martin Heger/Dr. Erol Rudolf Pohlreich, Humboldt-Universität<br />
zu Berlin<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
824<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Perdomo-Torres, Garantenpflichten aus Vertrautheit<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
B u c h r e z e n s i o n<br />
Jorge F. Perdomo-Torres, Garantenpflichten aus Vertrautheit,<br />
Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2006, 254 S., € 76,-<br />
Für Delikte, die nach ihrer gesetzlichen Tatbestandsfassung<br />
nicht ohnehin nur durch eine Unterlassung verwirklicht werden<br />
können, trifft § 13 Abs. 1 StGB eine doppelte Regelung:<br />
Zum einen wird ausdrücklich klargestellt, dass auch solche<br />
Tatbestände, die ihrer Formulierung nach lediglich Begehungsdelikte<br />
zu betreffen scheinen, die Handlungsform<br />
schlichten Unterlassens mit zu umfassen vermögen. Die phänomenologische<br />
Differenz von Energieaufwand (aktives Tun)<br />
und Unterlassen bleibt dann für die Bewertung des fraglichen<br />
Sachverhalts grundsätzlich irrelevant. Zum anderen wird<br />
diese Gleichstellung jedoch auch an einige einschränkende<br />
Bedingungen geknüpft. Insbesondere muss der etwas Unterlassende<br />
„rechtlich dafür einzustehen“ haben, dass der tatbestandliche<br />
Erfolg nicht eintritt. Unter welchen Voraussetzungen<br />
aber nun jemand „rechtlich“ – genauer noch: strafrechtlich<br />
– das Ausbleiben eines tatbestandlichen Erfolges zu<br />
garantieren hat, lässt das Gesetz bekanntlich offen; die Entwicklung<br />
dogmatisch überzeugender und zugleich praktikabler<br />
Kriterien liegt damit in den Händen von Rechtsprechung<br />
und Strafrechtswissenschaft.<br />
Die dort entwickelte Unterscheidung zwischen Überwachungs-<br />
und Schutzpflichten liefert zunächst nicht mehr als<br />
eine äußere Systematisierung von Fallgruppen, in denen<br />
Garantenverhältnisse im Sinne des § 13 Abs. 1 StGB grundsätzlich<br />
anerkannt sind. Ob zu Recht und aus welchem Grunde,<br />
bleibt unbeantwortet. 1 Auf Günther Jakobs geht der Versuch<br />
einer gleichsam zweispurigen materialen Garantentheorie<br />
zurück: Neben die – gewissermaßen allgemeine – Zuständigkeit<br />
für den eigenen Organisationskreis treten besondere<br />
Verantwortlichkeiten aus bestimmten (scil. rechtlich anerkannten)<br />
„Institutionen“ 2 . Die erstgenannte Zuständigkeit<br />
stellt schlicht die Kehrseite rechtlich zuerkannter Handlungsund<br />
Organisationsfreiheit dar: Wer davon Gebrauch macht,<br />
muss dann eben auch zusehen, dass andere dadurch keinen<br />
Schaden erleiden. Diesem Verbot, den anderen in dem Seinen<br />
zu verletzen, entsprechen – das ist sozusagen die normentheoretische<br />
Pointe jener Theorie – auf der Ebene der strafrechtlichen<br />
Deliktsformen sowohl die Verbote hinter den Begehungstatbeständen,<br />
als auch die Gebote, deren Missachtung<br />
die Handlungsform der (unechten) Unterlassungsdelikte<br />
darstellt. 3 Wer sich einen bissigen Hund hält, darf ihn nicht<br />
von der Leine lassen, wenn sich Passanten nähern; läuft das<br />
Tier bereits frei herum, muss er es wieder einfangen. Der<br />
technisch bedingte Unterschied in der jeweils geforderten<br />
Handlungsform ändert nichts am gemeinsamen Haftungs-<br />
1 Vgl. nur Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2003,<br />
§ 32 Rn. 22; Weigend, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann<br />
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 1,<br />
12. Aufl. 2007, § 13 Rn. 22.<br />
2 Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 29/26 ff.<br />
3 Instruktiv dazu Sánchez-Vera, Pflichtdelikt und Beteiligung,<br />
1999, S. 67 ff., 89 ff.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Popp<br />
grund des Verletzungsverbots. Ebenso indifferent gegenüber<br />
der konkret geforderten Handlungsform ist auch die zweite<br />
Säule der Jakobs’schen Garantenlehre, die strafrechtliche<br />
Haftung wegen besonderer „institutioneller“ Verantwortlichkeit.<br />
Sie zielt nicht lediglich auf ein negativum („Nicht-<br />
Verletzen“), sondern verlangt dem Betreffenden eine positive<br />
Leistung ab: die Übernahme einer spezifischen Rolle (jenseits<br />
der Allerweltsrolle des „Nichtverletzers“), die Entfaltung von<br />
Fürsorge und Schutz. Strafrechtlich sanktioniert wird in diesen<br />
Fällen nicht das allgemeine „neminem laedere“ als<br />
Grundprinzip rechtlich geordneten Miteinanders, sondern<br />
jeweils eine darüber hinausgehende Sonderverpflichtung von<br />
freilich gleichem Rang. Solche besonderen Zuständigkeiten<br />
können sich aus bestimmten familiären Beziehungen, aber<br />
auch aus gewissen öffentlichen Ämtern ergeben; denkbar ist<br />
aber auch, dass jemand eine solche Zuständigkeit freiwillig<br />
übernommen hat und sie – das ist sozusagen der clou dabei –<br />
auch nicht mehr ohne weiteres wieder ablegen kann, weil er<br />
das von ihm mit der Übernahme beanspruchte „besondere<br />
Vertrauen“ auf Schutz und Hilfe eben auch einlösen muss.<br />
All dies vorausgeschickt, lässt sich die bei Günther Jakobs<br />
entstandene Bonner Dissertation von Jorge F. Perdomo-<br />
Torres über „Garantenpflichten aus Vertrautheit“ leicht einordnen:<br />
Es handelt sich um nichts anderes als um eine (freilich<br />
theoretisch aufwändige und anspruchsvolle) Explikation<br />
der Institution „Vertrautheit“, die bei Jakobs noch „besonderes<br />
Vertrauen“ heißt.<br />
Als Ausgangsfall dient Perdomo-Torres die bekannte<br />
Entscheidung BGHSt 48, 301 aus dem Jahre 2003: Die Angeklagte<br />
hatte es unterlassen, ihren Ehemann vor einem nach<br />
ihrer Kenntnis bevorstehenden körperlichen Angriff eines<br />
Dritten zu warnen bzw. diesen von seinem Vorhaben abzuhalten.<br />
In der Tat wurde der Ehemann hierauf von ihm „bis<br />
an die Grenze der Bewusstlosigkeit“ gewürgt und mit der<br />
Faust in den Magen geschlagen. Eine strafbare Beteiligung 4<br />
der Ehefrau hieran setzt voraus, dass sie als Garantin für die<br />
Gesundheit und körperliche Unversehrtheit ihres Gatten zum<br />
Einschreiten verpflichtet war. Zweifelhaft war dies in casu<br />
aber deshalb, weil die hier üblicherweise als Garantieverhältnis<br />
angeführte eheliche Lebensgemeinschaft in tatsächlicher<br />
Hinsicht nicht mehr bestand; die Frau hatte sich nämlich etwa<br />
vier Wochen vor der Tat „von ihrem Ehemann getrennt und<br />
einem anderen Mann zugewandt“. Im Hinblick darauf hat<br />
sich der 3. Strafsenat des BGH gegen eine unmittelbare Verknüpfung<br />
der strafrechtlichen Einstandspflicht mit dem formalen<br />
Bestand einer Ehe (ggf. bis zum Eintritt der Rechtskraft<br />
des Scheidungsurteils) ausgesprochen und auf zahlreiche<br />
denkbare Lebensgestaltungen hingewiesen, in denen<br />
gleichwohl „keiner der beiden Ehegatten tatsächlich darauf<br />
vertraute oder auch nur Anlass hätte, darauf zu vertrauen, der<br />
andere Teil würde ihm zum Schutz seiner Rechtsgüter beistehen“<br />
5 . Erkennt das Gericht hier anstelle der Ehe als solcher<br />
die mit ihr regelmäßig – aber eben nicht immer und auch<br />
4 Der BGH hält eine „Beihilfe durch Unterlassen“ – hier: zur<br />
gefährlichen Körperverletzung – grundsätzlich für möglich.<br />
5 BGHSt 48, 301 (305) – Hervorhebung A. P.<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
825
Perdomo-Torres, Garantenpflichten aus Vertrautheit<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Popp<br />
nicht gerade nur mit ihr – einhergehende besondere Vertrauensbeziehung<br />
als entscheidend für § 13 Abs. 1 StGB an?<br />
Nachdem Perdomo-Torres zunächst das verschiedentliche<br />
Aufblitzen des „Vertrauensgedankens“ in der bisherigen<br />
Diskussion noch einmal zusammengefasst hat (S. 20 ff.),<br />
verschafft er seiner Untersuchung ein breit angelegtes Fundament,<br />
in dem sich neben verschiedenen systemtheoretischen<br />
und institutionentheoretischen Elementen vor allem die<br />
Rechts- und Staatsphilosophie Hegels verarbeitet findet (S. 67-<br />
136). Die damit erreichte Abstraktionshöhe erscheint angesichts<br />
der konkret zur Entscheidung anstehenden Sachprobleme<br />
bemerkenswert, rechtfertigt sich aber aus Perdomo-<br />
Torres‘ Anliegen, einer sich gleichsam von Fall zu Fall hangelnden<br />
Kasuistik ein theoretisch geschlossenes Konzept<br />
entgegenzusetzen, das, wie gesagt, im wesentlichen auf den<br />
Fundamenten der Jakobs’schen Garantenlehre mit ihren beiden<br />
Pfeilern „Organisation“ und „Institution“ ruht. Wie vordem<br />
schon Jakobs 6 lehnt es auch Perdomo-Torres ausdrücklich<br />
ab, der heutigen bürgerlich-rechtlichen Ehe den Charakter<br />
einer „Institution“ im eingangs referierten Sinne zuzuerkennen<br />
(S. 101 ff.), weil ihre Beendigung durch Scheidung –<br />
„wie von Hegel befürchtet“ – inzwischen nur allzu leicht<br />
möglich geworden sei; auch stelle die rechtliche Anerkennung<br />
von gleichgeschlechtlichen Beziehungen (scil.: durch<br />
das LPartG) „das Vertrauen auf die Ehe per se in Frage“<br />
(S. 102; weshalb dies so sein soll, bleibt allerdings unklar).<br />
Stattdessen sollen all diese Lebensgemeinschaften unabhängig<br />
von ihrem familienrechtlichen Status auf eine andere<br />
„Institution“ gestützt werden (die freilich – angesichts der<br />
schon von Jakobs notierten „individualistisch-hedonistischen“<br />
Tendenzen – in ihrem Bestand nicht minder gefährdet sein<br />
dürfte als eine Ehe): eben die in diesen Gemeinschaften bestehende<br />
„Vertrautheit“, die die Beteiligten nicht nur in kognitiver,<br />
sondern auch in normativer Hinsicht zu der Erwartung<br />
berechtigt, der jeweils andere Teil werde die Gemeinschaft<br />
auch in schlechten Zeiten – nämlich dann, wenn den<br />
Rechtsgütern des einen Gefahr droht – Wirklichkeit werden<br />
lassen und sich zu ihrem Schutz bereit finden. Ihre spezifisch<br />
rechtliche Wurzel hat diese Erwartung im (als Rechtsprinzip<br />
allgemein anerkannten) Verbot, sich in Widerspruch zu seinem<br />
bisherigen Verhalten zu setzen (venire contra factum<br />
proprium). 7 Freilich kettet „Vertrautheit“ in diesem normativen<br />
Sinne die Beteiligten nicht für alle Ewigkeit als Garanten<br />
aneinander, sondern nur so lange, wie sie tatsächlich besteht<br />
und gelebt wird, und deshalb erscheint die Lösung des BGH<br />
im Ausgangsfall wohl auch aus Sicht der von Perdomo-<br />
Torres entfalteten Konzeption als im Ergebnis zutreffend.<br />
Auch in weiteren Fallgruppen – neben dem Eltern-Kind-<br />
Verhältnis und anderen familiären Beziehungen etwa auch<br />
besondere Gefahrengemeinschaften – liegen die Lösungen<br />
meist nicht allzu weit entfernt von denen der schon bisher<br />
herrschenden Auffassung. Abweichende Ergebnisse waren<br />
für den Wert (strafrechts-) wissenschaftlicher Beiträge frei-<br />
lich noch nie ausschlaggebend. Die neue Sicht auf ein altbekanntes<br />
Problemfeld, die Perdomo-Torres‘ Monographie hier<br />
liefert, lohnt die Lektüre jedenfalls gewiss nicht nur für<br />
Rechtsphilosophen (seien sie nun, was auch immer das heißen<br />
mag, „Hegelianer“ oder nicht), sondern auch und gerade<br />
für Strafrechtsdogmatiker.<br />
Privatdozent Dr. Andreas Popp, M.A., Passau<br />
6 Jakobs, Die strafrechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen,<br />
1996, S. 34.<br />
7 Jakobs (Fn. 6), S. 34 ff.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
826<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Mintas, Glücksspiele im Internet<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
B u c h r e z e n s i o n<br />
Laila Mintas, Glücksspiele im Internet. Insbesondere Sportwetten<br />
mit festen Gewinnquoten (Oddset-Wetten) unter strafrechtlichen,<br />
verwaltungsrechtlichen und europarechtlichen<br />
Gesichtspunkten, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2009,<br />
329 S., € 72,-<br />
Die sogenannten Oddset-Wetten beschäftigen seit nunmehr<br />
bald zehn Jahren Rechtsprechung wie Schrifttum in Deutschland<br />
und haben jüngst auch den Gesetzgeber nachhaltig auf<br />
den Plan gerufen: Die Sportwettengesetze aller 16 Bundesländer<br />
legen hiervon überaus beredt Zeugnis ab. Im engen<br />
sachlichen Zusammenhang damit steht die mittlerweile fein<br />
ziselierte Judikatur des BVerfG und der obersten Gerichtshöfe<br />
des Bundes. Cum grano salis lässt sich sagen, dass Erste<br />
wie Dritte Gewalt in einem bemerkenswerten (und viel kritisierten!)<br />
Schulterschluss den privaten Wettanbietern und<br />
Wettvermittlern den Kampf angesagt haben; unverdrossen<br />
und marktabgewandt spielen sie das Hohelied des wettveranstaltenden<br />
Staates, wie es von der Exekutive vorgegeben<br />
wurde: Nur er allein sei willens und in der Lage, die grassierende<br />
Spielsucht wirksam einzudämmen. Selbst der EuGH ist<br />
aus dieser „Wettallianz“ bisher nicht ausgeschert und hat erst<br />
jüngst wieder in seiner Liga Portuguesa-Entscheidung vom<br />
8.9.2009 ein mitgliedstaatliches Verbot für Internetglücksspiele<br />
für europarechtskonform erklärt.<br />
Dass die Thematik weiterhin virulent bleibt, ist letztlich<br />
vor allem dem Internet geschuldet, weil hier „(Wett-) Spiele<br />
ohne Grenzen“ Wirklichkeit werden und ein nationalstaatlichen<br />
Agieren von vornherein nur einen begrenzten Effekt<br />
liefern kann.<br />
Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, die<br />
Sportwette gleich auf drei Teilgebieten des Rechts näher zu<br />
untersuchen. Das Unterfangen erscheint überdies ambitioniert,<br />
beschränkt sich doch die Verf. auf nur 280 Seiten Text.<br />
Dabei liegt der Schwerpunkt der Arbeit – wenig überraschend<br />
bei einer von Heinrich betreuten Dissertation der HU Berlin<br />
aus dem SS 2008 – letztlich doch im Strafrecht. Zutreffend<br />
schlüsselt Mintas dessen ungeachtet die Gemengelage der<br />
verschiedenen Rechtsgebiete im deutschen Glücksspielwesen<br />
auf. Dies erscheint auch unerlässlich, weil eine isolierte Betrachtung<br />
kaum einen Erkenntnisgewinn verspräche.<br />
Nach einer Einführung werden im zweiten Teil („Das<br />
Grundprinzip der ‚Oddset-Wette‘“) die Grundlagen der Oddset-Wetten<br />
beleuchtet. Verständlich und ohne unnützes Beiwerk<br />
erläutert Mintas die Sportwette, zeichnet ihre Entwicklung<br />
nach und ordnet sie – mit stimmiger Begründung und<br />
einhergehend mit der überwiegenden Ansicht – rechtlich als<br />
Glücksspiel ein.<br />
Das dritte Kapitel ist dem von den §§ 284 ff. StGB geschützten<br />
Rechtsgut gewidmet. Mintas beschränkt sich dabei<br />
auf die Volksgesundheit (Gefahr der Glücksspielsucht) und<br />
blendet im Einklang mit der Rechtsprechung fiskalische<br />
Interessen des Staates aus. Ebenso werde ein Vermögensschutz<br />
oder die Bekämpfung der organisierten Kriminalität<br />
nicht bezweckt. Letzteres vermag den Rezensenten nicht<br />
recht zu überzeugen, hegt er doch an der Lauterkeit der vielen<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Janz<br />
Wettbürobetreiber in seinem Berliner Wohnumfeld erhebliche<br />
Bedenken.<br />
Das internationale Strafrecht wird dann im vierten Abschnitt<br />
näher ausgeführt, was angesichts von mehr als 1.500<br />
Glücksspielanbietern im Internet allein im karibischen Raum<br />
ohne weiteres einleuchtet. Dieses Kapitel bildet auch und<br />
gerade wegen des innovativen Ansatzes der Verf. einen<br />
Schwerpunkt der Arbeit. Mintas lehnt nach einer knappen<br />
Erläuterung der Grundsätze des Strafanwendungsrechts mit<br />
überzeugender Argumentation einen Handlungsort in Deutschland<br />
bei den vom Ausland aus agierenden Glücksspielveranstaltern<br />
ab. Die Anwendung deutschen Strafrechts scheide<br />
daher aus, und zwar unabhängig davon, ob das Glücksspielangebot<br />
von einem ausländischen oder deutschen Server<br />
erfolge.<br />
Dennoch dürfe man bei abstrakten Gefährdungsdelikten<br />
wie § 284 StGB nicht auf das Erfordernis eines Erfolgsortes<br />
verzichten. Mit stringenter Argumentation wird postuliert,<br />
dass Erfolgsort ein jeder sei, an dem eine abstrakte Gefahr für<br />
das geschützte Rechtsgut vorliege; die bloße Möglichkeit der<br />
Abrufbarkeit der Internetseiten durch den Internetbenutzer<br />
reiche bei Internetstraftaten aus. Allerdings müsse auf ein<br />
„virtuelles Ausland“ rekurriert werden. Danach folge sozusagen<br />
hier der Erfolgsort dem Handlungsort nach. Bei gewerblichen<br />
Internetangeboten komme es immer auf den virtuellen<br />
Ort des Geschäftsbereichs an. Liege der Firmensitz im (realen)<br />
Ausland, komme also weder einer Strafbarkeit des Veranstalters<br />
noch des Spielers nach deutschem Strafrecht in<br />
Betracht. Anders sei die Rechtslage zu beurteilen, wenn der<br />
ausländische Glücksspielveranstalter E-Mails an deutsche<br />
Spieler schicke; in diesem Fall trete der Erfolg, d.h. die abstrakte<br />
Gefahr der Spielsucht, in Deutschland ein, weil der<br />
Spieler dort Kenntnis von der Werbung bekomme. Anhand<br />
von fünf Fällen wird dieser Ansatz auf andere Internetdelikte<br />
mit Erfolg übertragen.<br />
Auch wenn diese Differenzierung etwas gekünstelt anmutet,<br />
kann man sich doch nicht der inneren Logik verschließen.<br />
Ob damit eine klare Remedur des Glücksspielmarktes gelingt,<br />
sei dahingestellt.<br />
Es schließt sich der fünfte Teil „Die Tathandlungen der<br />
§§ 284 ff. StGB“ an. Die einzelnen Tatbestandsmerkmale<br />
werden sauber durchdekliniert. Hinsichtlich der (heftig umstrittenen)<br />
Strafbarkeit des Vermittelns von Oddset-Wetten<br />
wird auf das Bereitstellen von Einrichtungen zum unerlaubten<br />
Glücksspiel gem. § 284 Abs. 1 3. Fall StGB erkannt.<br />
Das „Handeln ohne behördliche Erlaubnis“ bildet den<br />
letzten Teil der Arbeit, am Ende stehen – recht knapp auf gut<br />
fünf Seiten – Ausblick und Zusammenfassung. Angesichts<br />
der Verwaltungsakzessorietät des § 284 StGB sind Fragen<br />
der Genehmigung von eminenter Bedeutung für die Beurteilung<br />
der Strafbarkeit.<br />
Die Verf. schließt sich zunächst der verbreiteten Auffassung<br />
an, wonach die alten DDR-Genehmigungen selbst im<br />
20. Jahr der deutschen Einheit nur auf dem Gebiet der ehemaligen<br />
DDR Anwendung finden. Sodann werden die geltenden<br />
deutschen Regelungen zum Glücksspielwesen als nicht europarechtskonform<br />
erachtet. Sie stellten kein geeignetes Mittel<br />
zur Bekämpfung der Wettgefahren, insbesondere der Spiel-<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik –www.zis-online.com<br />
827
Mintas, Glücksspiele im Internet<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
sucht, dar. Es fehle an einer nennenswerten Eindämmungswirkung.<br />
Zudem sei auch ein reglementiertes Lizenzmodell<br />
denkbar, was nicht zu einem generellen Ausschluss Privater<br />
führe. Zwar sei nationalstaatlich die Messe gesungen, auf<br />
supranationaler Ebene hingegen stehe eine detaillierte und<br />
umfassende Prüfung des deutschen Glücksspielwesens noch<br />
aus.<br />
Insgesamt handelt es sich um eine sehr kenntnisreich und<br />
anschaulich geschriebene Arbeit, die den einschlägig Interessierten<br />
zuverlässig und umfassend mit der Materie vertraut<br />
macht. Auf der Höhe der Zeit stehend weist Mintas einen<br />
plausiblen Weg in die Zukunft des § 284 StGB. Ob dieser<br />
beschritten wird, bleibt wie immer abzuwarten.<br />
Privatdozent Dr. Norbert Janz, Potsdam/Berlin<br />
Janz<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
828<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009
Herz, Menschenhandel<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
B u c h r e z e n s i o n<br />
Annette Louise Herz, Menschenhandel, Eine empirische<br />
Untersuchung zur Strafverfolgungspraxis, Schriftenreihe des<br />
Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales<br />
Strafrecht, Band K 129, Duncker & Humblot, Berlin 2005, €<br />
35,-<br />
Menschenhandel stellt ein wichtiges kriminologisches Phänomen<br />
dar, dessen Immanenz angesichts der Fallzahlen nicht<br />
zu unterschätzen ist. Es handelt sich um einen Kriminalitätsbereich,<br />
der immer wieder in die Schlagzeilen gerät und in<br />
den vergangenen Jahren des öfteren Gegenstand von materiell-<br />
wie auch formellrechtlichen Rechtssetzungsmaßnahmen<br />
sowohl auf nationaler als auch auf europäischer bzw. internationaler<br />
Ebene wurde. Zudem ist Menschenhandel stets sehr<br />
eng mit dem Bereich des Menschenrechtsschutzes verknüpft<br />
und spiegelt regelmäßig weltpolitische Entwicklungen wider.<br />
Nicht zuletzt auch auf Grund der Tatsache, dass mit Menschenhandelsfällen<br />
in der Regel großes menschliches Leid<br />
verbunden ist und sich die Ermittlungen in derartigen Fällen<br />
üblicher Weise besonders schwierig gestalten, woran nicht<br />
selten auch eine effektive Strafverfolgung scheitert, lohnt<br />
sich ein Blick nicht nur auf die rechtlichen Rahmenbedingungen,<br />
sondern – als deren Basis und Folge – auch ein solcher<br />
auf die empirischen Grundlagen und Daten des Phänomens.<br />
Das vorliegende Werk vereint sowohl rechtliche als auch<br />
empirische Aspekte in sich, sodass dessen Lektüre für all<br />
jene, die sich in Praxis und Wissenschaft mit der Thematik<br />
Menschenhandel befassen, besonders lohnenswert ist. Wie<br />
bereits angesichts des Titels unschwer erkennbar, liegt der<br />
Schwerpunkt der Abhandlung auf der Erfassung und der<br />
Analyse empirischer Daten zur Strafverfolgungspraxis in<br />
Bezug auf Menschenhandel in Deutschland, doch kommen<br />
auch rechtliche Aspekte und eine Untersuchung sowohl der<br />
im Zeitpunkt des Erscheinens des Werkes geltenden als auch<br />
der damals schon geplanten zukünftigen (und nunmehr geltenden)<br />
Rechtslage nicht zu kurz. Die Autorin setzt sich im<br />
Zuge ihres Werkes – systematisch geglückt – zunächst mit<br />
den rechtlichen Rahmenbedingungen auf internationaler,<br />
europäischer und nationaler Ebene auseinander und scheut<br />
dabei auch eine kurze historische Aufarbeitung der Rechtslage<br />
nicht. Auch verwandte Tatbestände, wie z.B. jene der<br />
Prostitution, des Einschleusens von Ausländern und der Zuhälterei,<br />
werden thematisiert und in Relation zu den Menschenhandelstatbeständen<br />
gesetzt. Besonders wichtig erscheint<br />
an diesem Punkt zudem die von Herz vorgenommene<br />
Abgrenzung zwischen Menschenhandel und dem Einschleusen<br />
von Ausländern/der Schlepperei, welche nicht nur zum<br />
Verständnis des vorliegenden Werkes, sondern vielmehr für<br />
die Problematik des Menschenhandels an sich von essentieller<br />
Bedeutung ist.<br />
Im nächsten Abschnitt befasst sich Herz mit der registrierten<br />
Menschenhandelskriminalität und stellt diese an<br />
Hand der Polizeilichen Kriminalstatistik und der jährlich vom<br />
Bundeskriminalamt erstellten Lagebilder dar. Besonders<br />
interessant erscheint dabei der Blick auf die Zusammenschau<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Öner<br />
dieser Informationsquellen im Rahmen der Analyse der Entwicklungen<br />
der registrierten Menschenhandelskriminalität im<br />
Zeitraum 1994 bis 2003.<br />
Es folgt sodann die Darstellung der von der Autorin selbst<br />
durchgeführten empirischen Untersuchung, welche zunächst<br />
durch die Schilderung der gewählten Methode (Aktenanalyse,<br />
schriftliche Befragung mit 336 versendeten und davon 216<br />
retournierten Fragebögen, Expertengespräche mit 30 Personen<br />
aus Polizei, Justiz, Rechtsanwaltschaft, Beratungsstellen<br />
und – zur Gewinnung eines zusätzlichen Aspektes besonders<br />
interessant – auch Betreibern bordellartiger Einrichtungen)<br />
eingeleitet wird. In der Folge werden die Ergebnisse dieser<br />
umfassenden Studie eingehend dargestellt, wobei diese in<br />
mehrere Punkte unterteilt werden: Verfahrensmerkmale,<br />
Opfermerkmale und Täter- sowie Tatbegehungsmerkmale<br />
werden eigens und ausführlich analysiert. Angesichts der<br />
Fülle des hier verarbeiteten Materials und der daraus gezogenen<br />
Schlussfolgerungen bleibt an dieser Stelle nur, darauf<br />
hinzuweisen, dass bei der Lektüre der Ergebnisse einige der<br />
gewonnenen Aspekte als besonders interessant und teilweise<br />
sogar überraschend auffielen, was den Wert dieser Untersuchung<br />
verdeutlicht. So erscheint es – als eines von vielen<br />
Beispielen herausgegriffen – im Bereich der Analyse der<br />
Tatbegehungsmerkmale bemerkenswert, dass vor allem ländliche<br />
Regionen in Deutschland zunehmend an Bedeutung für<br />
den Kriminalitätsbereich Menschenhandel gewinnen. Herz<br />
analysiert dabei, dass nur etwa 50% der Menschenhandelsfälle<br />
in Großstädten angesiedelt seien, was einen für den Leser<br />
unerwartet niedrigen Prozentsatz darstellt und zudem weitere<br />
Entwicklungen in diesem Bereich mit Spannung erwarten<br />
lässt.<br />
Besonders interessant erscheint weiters die Erkenntnis,<br />
dass Menschenhandel nicht typischerweise einen Bereich der<br />
organisierten Kriminalität darstellt, sondern vielmehr bloß<br />
einzelne Merkmale dieses Bereichs aufweist. Diese Schlussfolgerung<br />
gewinnt Herz aus der ausführlichen Analyse von<br />
ausgewählten Parametern der Organisierten Kriminalität im<br />
Zuge der von ihr durchgeführten Studie.<br />
Den Abschluss der vorliegenden Arbeit bildet schließlich<br />
eine kritische Auseinandersetzung mit den zum Zeitpunkt der<br />
Fertigstellung des Manuskripts noch nicht in Kraft getretenen<br />
Änderungen der Menschenhandelstatbestände im deutschen<br />
StGB durch das 37. StrRÄG (in Kraft seit 19.2.2005). Herz<br />
lobt dabei in ihren Schlussfolgerungen die Entwicklung der<br />
deutschen Rechtslage hin zu einem effektiveren Rechtsschutz<br />
und einem mehrdimensionalen Ansatz, der nicht nur in strafrechtlichen<br />
und ermittlungstechnischen Maßnahmen bestehe,<br />
sondern vielmehr auch die besonders schwierige Situation<br />
von Menschenhandelsopfern berücksichtige.<br />
Im Anhang zum vorliegenden Werk sind – methodologisch<br />
lohnend – die im Rahmen der Studie von der Autorin<br />
verwendeten Fragebögen abgedruckt, was einen Einblick in<br />
die Vorgangsweise bei der Gewinnung der Untersuchungsergebnisse<br />
zulässt und das Bild des vorliegenden Werkes perfekt<br />
abzurunden vermag.<br />
Zusammenfassend ist hinsichtlich der vorliegenden Studie<br />
– neben den bereits ausführlich dargestellten Punkten – insbesondere<br />
die Fülle an Material, welches verarbeitet und zur<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
829
Herz, Menschenhandel<br />
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Gewinnung informativer Schlussfolgerungen herangezogen<br />
wurde, als äußerst positiv hervorzuheben. Die Tatsache, dass<br />
in der Zwischenzeit in der deutschen Rechtslage massive<br />
Änderungen in Bezug auf die Menschenhandelstatbestände<br />
eingetreten sind, tut der Wichtigkeit des in Rede stehenden<br />
Werkes wie auch dessen Informationsgehalt keinerlei Abbruch,<br />
sind doch – wie die Autorin zu Beginn der Arbeit auch<br />
erläutert – wesentliche Elemente der alten Regelungen in die<br />
neuen Tatbestände übernommen worden. Zudem vermag die<br />
Studie nicht zuletzt auch dazu zu dienen, die Effektivität und<br />
Sinnhaftigkeit der jüngsten Änderungen zu überprüfen und<br />
die Entwicklungen der bestehenden Phänomene zu beobachten.<br />
Das gegenständliche Werk sollte jedenfalls zur Standardlektüre<br />
eines mit dem Bereich des Menschenhandels befassten<br />
Wissenschafters oder Praktikers gehören und stellt – wie<br />
bereits erwähnt – auch für in die Materie eingelesene Personen<br />
neue und interessante Aspekte bereit.<br />
Dr. Stephanie Öner (vormals Reiter), Wien<br />
Öner<br />
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830<br />
<strong>ZIS</strong> 13/2009