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Die hohe Kunst <strong>de</strong>s Helfens<br />
GEO, April 2002, S.126-154<br />
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GEHT DAS: Kin<strong>de</strong>r erziehen ohne Schimpfen, Schreien und Ausrasten?<br />
Ohne sich in eine "endlose" Kette von Konflikten zu verhaken,<br />
wie eine Mutter sagt? Gelassen gar und mit ruhigen Nerven? wegen<br />
dieses Traums o<strong>de</strong>r ist es eine Schimäre? - sitzen sie hier beisammen,<br />
drei Elternpaare und zwei Mütter, in einer Altbauwohnung in<br />
Hamburg, und sie erlernen: positive Erziehung.<br />
Es ist die zweite Stun<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Kurs nennt sich Triple-P - „Positive<br />
Parenting Program", und zunächst einmal schil<strong>de</strong>rn die Teilnehmer<br />
ihren täglichen Frust, diese nagen<strong>de</strong> Hilflosigkeit. Eine Mutter berichtet<br />
von <strong>de</strong>m "völlig verkorksten Nachmittag" heute, als wie<strong>de</strong>r alles<br />
schief ging. Mia wollte einfach nicht aufräumen: "Ich habe sie angebrüllt,<br />
sie war wütend und quengelig, und ich wusste überhaupt nicht<br />
mehr, wie ich da her<strong>aus</strong>komme".<br />
Bild: Um einen Lutscher zanken<strong>de</strong> Kin<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Küche<br />
15 Eltern wie Martina Kiefer müssen je<strong>de</strong>n Tag unzählige Entscheidungen<br />
treffen; be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> und banale. Etwa was zu tun ist, wenn<br />
Tochter Isabelle beim Anziehen trö<strong>de</strong>lt und Mutters Nerven strapaziert.<br />
Gibt es dabei, gibt es in <strong>de</strong>r Erziehung generell einen gol<strong>de</strong>nen<br />
Weg? Ja, sagen Forscher. Bestärkt durch neue Studien, können sie<br />
20 sogar ziemlich genau angeben, wie erfolgreiche Erziehung <strong>aus</strong>sieht.<br />
Und wie Eltern sie erlernen können - um sich zu wappnen für einen<br />
Alltag, <strong>de</strong>r wohl vielerorts so <strong>aus</strong>sieht, wie ihn <strong>Geo</strong>-Fotografen in drei<br />
Familien eingefangen haben.<br />
Eine an<strong>de</strong>re berichtet von ihrem Sohn, <strong>de</strong>r eine Macho-Phase<br />
25 durchmacht. Im Auto schnauzt <strong>de</strong>r mich an, ob ich nicht endlich mal<br />
abbiegen wolle. Zu H<strong>aus</strong>e schimpft er, warum das Essen noch nicht<br />
fertig sei - und das von einem Sechsjährigen" Sie müsse sich so zusammenreißen,<br />
ihm nicht "dauernd eine zu scheuern: ich bin nur<br />
noch auf 180." Aber was, fragt sie schüchtern, könne sie statt<strong>de</strong>ssen<br />
30 tun?<br />
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An<strong>de</strong>re mel<strong>de</strong>n Erfolge. Ein Vater hat sich, angeregt vom Triple-<br />
P-Lernziel, "klare, ruhige Anweisungen" zu geben, davon verabschie<strong>de</strong>t,<br />
seine dreijährige Tochter vorzugsweise in Frageform anzusprechen:<br />
Möchtest du essen, willst du <strong>de</strong>in Zimmer aufräumen, wollen<br />
wir ins Bett gehen? „Anna sagte immer nur nö“, und ich musste auf<br />
sie einre<strong>de</strong>n, was immer in Streit en<strong>de</strong>te!' Dem Vater fiel es nicht<br />
leicht, sich umzustellen auf eine <strong>de</strong>utliche Ansprache an seine Tochter,<br />
weil er das Fragen als „irgendwie <strong>de</strong>mokratischer, nicht so autoritär"<br />
empfand. Doch jetzt, erzählt er, funktioniere es tatsächlich besser.<br />
„Eigentlich ganz einfach."<br />
Eine Mutter hat "positive Bestärkung" erprobt. Eine Woche lang<br />
hat sie ganz gezielt nach Möglichkeiten gesucht, ihren Sohn zu loben<br />
- auch für das, was sonst nie Beachtung fin<strong>de</strong>t, etwa wenn er ganz<br />
ruhig im Kin<strong>de</strong>rzimmer spielt o<strong>de</strong>r "ohne "Manschen" isst. "Es war<br />
unglaublich, wie Paul vom Lob regelrecht in Begeisterung geriet - und<br />
wie positiv ich plötzlich war." Sie hat eine Liste geführt, wie oft es<br />
noch zum Streit gekommen ist. Die Kurve zeigt <strong>de</strong>utlich nach unten.<br />
Dann legt die Trainerin eine neue Folie auf <strong>de</strong>n Projektor. Sitzung<br />
Nr. 2: För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r kindlichen Entwicklung" und "Strategien“ für eine<br />
positive Beziehung zum Kind". Die schwierige Kunst <strong>de</strong>s Erziehens -<br />
als Strichliste. Die Teilnehmer zücken Block und Bleistift.<br />
KANN MAN ES so lernen? O<strong>de</strong>r ist Triple-P nur die jüngste von<br />
immer neuen Mo<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>m Erziehungsmarkt? Nur ein weiteres flott<br />
formuliertes pädagogisches Konzept, das in ein paar Jahren vom<br />
nächsten Trend abgelöst und bald darauf vergessen sein wird?<br />
Nicht zu erwarten. Denn was so trügerisch einfach daher kommt,<br />
beruht nicht auf <strong>de</strong>n Eingebungen eines selbst ernannten Therapeuten<br />
o<strong>de</strong>r Erziehungsberaters, son<strong>de</strong>rn ist einer <strong>de</strong>r wenigen Elternkurse,<br />
<strong>de</strong>ren Erfolg wissenschaftlich belegt ist.<br />
60 Bild: Mutter und Luca im Flurgespräch - Vater tröstet Luca<br />
FAMILIE HÖRMANN/EGGERT/Stuttgart: Nur selten muss Angela<br />
Hörmann, 44, bei ihrem neunjährigen Sohn Luca energisch wer<strong>de</strong>n.<br />
Aber wenn er länger als die vereinbarte Stun<strong>de</strong> pro Tag am<br />
Computer spielen will, bleibt sie hart und trägt <strong>de</strong>n Konflikt im H<strong>aus</strong>-<br />
65 flur <strong>aus</strong>. „Luca soll sich vom PC o<strong>de</strong>r Fernseher nicht nur berieseln<br />
lassen. Oft biete ich ihm dann eine Alternative an, zum Beispiel ein<br />
Brettspiel.“ Beim Fußball im Höhenpark Kittesberg tröstet Tom Eggert,<br />
35, seinen Sohn, <strong>de</strong>m ein Ball ins Gesicht geprallt ist: "Luca<br />
kann immer zu uns kommen. Er weiß, dass wir für ihn da sind.“<br />
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Dass Tripie-P an<strong>de</strong>rs ist, lässt sich etwa daran erkennen, dass<br />
die Trainerin einen Teil <strong>de</strong>r Sitzung per Vi<strong>de</strong>okamera aufzeichnet; die<br />
Bän<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n später von Wissenschaftlern <strong>aus</strong>gewertet. Auch müssen<br />
sich Kursleiter alle zwei Jahre neu lizenzieren lassen, um das Unterrichtsniveau<br />
zu garantieren. Und: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft<br />
(DFG) finanziert <strong>de</strong>rzeit eine Wirksamkeitsstudie, weil sie<br />
das Training für sehr Erfolg versprechend hält.<br />
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Die Grundlagen zu <strong>de</strong>m Elterntraining wur<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n USA und<br />
Australien gelegt, wo man sich seit längerem ganz pragmatisch <strong>de</strong>r<br />
Frage widmet: Was können Mütter und Väter besser machen?<br />
Antworten gibt es viele, aber erst jetzt verbeißen neue, methodisch<br />
soli<strong>de</strong> Studien sichere Erkenntnisse darüber, ob und wie Eltern<br />
auf ihre Kin<strong>de</strong>r einwirken. Die Daten) sind überraschend ein<strong>de</strong>utig:<br />
• Eltern haben, an<strong>de</strong>rs als vor allem Verhaltensgenetiker in <strong>de</strong>n<br />
vergangenen Jahrzehnten immer wie<strong>de</strong>r behauptet haben, einen<br />
enormen Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kin<strong>de</strong>r.<br />
• Es lässt sich darüber hin<strong>aus</strong> ziemlich genau bestimmen, worin eine<br />
gute, eine effektive Erziehung besteht.<br />
• Und: Eltern können diese effektive Erziehung erlernen.<br />
ALLE DREI ERKENNTNISSE so einleuchtend, so scheinbar banal<br />
sie auch klingen mögen verstehen sich wahrlich nicht von selbst.<br />
Denn seit 40 Jahren herrscht schrille Kakophonie im Erziehungsgewerbe.<br />
Nichts scheint mehr sicher: Wer erzieht wen, Eltern die Kin<strong>de</strong>r<br />
- o<strong>de</strong>r umgekehrt' O<strong>de</strong>r gar, aufgrund intergenerationeller Übertragung,<br />
Großeltern die Enkel? Muss Erziehung überhaupt sein, o<strong>de</strong>r<br />
wäre es besser für alle Leidtragen<strong>de</strong>n, darauf zu verzichten? Und um<br />
wen dreht es sich eigentlich: um kleine Tyrannen und flüchten<strong>de</strong> Väter,<br />
o<strong>de</strong>r um die lieben Kleinen und aufopferungsvolle Mütter?<br />
Je<strong>de</strong>s Menschen- und Weltbild sucht nach einer eigenen Erziehungslehre,<br />
immer neue Prinzipien wer<strong>de</strong>n entworfen: von <strong>de</strong>r subjektiven<br />
Metho<strong>de</strong> über die anlassorientierte zur anti-autoritären - die<br />
keineswegs <strong>aus</strong>gestorben ist. Als "Erziehung ohne Zwang" hat sie erneut,<br />
o<strong>de</strong>r weiterhin, Konjunktur. Und je<strong>de</strong>r re<strong>de</strong>t mit. Die Kanzlergattin<br />
Doris Schrö<strong>de</strong>r-Köpf plädiert - so im Frühjahr 2001 - für mehr<br />
Strenge und klare "Werte", an<strong>de</strong>re warnen vor zu wenig Liebe. Beson<strong>de</strong>rs<br />
populär ist <strong>de</strong>rzeit die pädagogische Endzeitstimmung.<br />
Bild: Luca spielt auf <strong>de</strong>m Teppich<br />
Zum gemütlichen Sonntagmorgen gehört ein <strong>aus</strong>ge<strong>de</strong>hntes<br />
Frühstück - von <strong>de</strong>m sich Luca, noch im Schlafanzug, nach einer Weile<br />
zum Spielen verabschie<strong>de</strong>n darf. „Luca braucht seine Rückzugs-<br />
110 möglichkeiten, und die lassen wir ihm“, sagt Tom Eggert. „Er muss<br />
nur sitzen bleiben, wenn an<strong>de</strong>re Kin<strong>de</strong>r zu Gast sind.“<br />
Tom Eggert arbeitet als selbstständiger Grafiker zu H<strong>aus</strong>e. So<br />
kann sich die Familie auch mal an einem Mittwochnachmittag zum<br />
Kuscheln zusammenfin<strong>de</strong>n „wertvolle Zeit“ nennen Erziehungsexper-<br />
115 ten diese kurzen, aber wichtigen Beweise <strong>de</strong>r Zuneigung.<br />
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Gleich zwei Bestseller alarmierten im Jahr 2001 das beunruhigte<br />
Volk, aber selbst die Pessimisten konnten sich nicht auf eine Untergangsversion<br />
einigen. Die "Erziehungskatastrophe" sei vor allem<br />
durch die hedonistischen 68er und durch arbeiten<strong>de</strong> Mütter über<br />
Deutschland hereingebrochen, schreiben die einen. Der "Erziehungsnotstand"<br />
liege eher an <strong>de</strong>n Medien und am allgemeinen Werteverfall,<br />
so das an<strong>de</strong>re Buch. Soli<strong>de</strong> Belege für bei<strong>de</strong> Thesen aber<br />
fehlten.<br />
Bei <strong>de</strong>n Eltern hat dieser Wi<strong>de</strong>rstreit vor allem zu tief sitzen<strong>de</strong>r<br />
Verwirrung geführt. Mit <strong>de</strong>r Folge, dass Erziehungsratgeber in <strong>de</strong>n<br />
Buchhandlungen mittlerweile etliche Regalmeter füllen. Da gilt "je<strong>de</strong>s<br />
Kind kann schlafen lernen" ebenso wie " Bloß nicht alles richtig machen".<br />
Da hilft <strong>de</strong>r "ultimative Survival-Gui<strong>de</strong> für junge Eltern", wenn<br />
"Kin<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r mobben". Aber nur, wenn Eltern zuvor die" moralische<br />
Intelligenz" ihrer Zöglinge geför<strong>de</strong>rt haben falls diese überhaupt noch<br />
vorhan<strong>de</strong>n sind, <strong>de</strong>nn: "Deutschland frisst seine Kin<strong>de</strong>r".<br />
Und natürlich ist an <strong>de</strong>r verbreiteten Sorge über die Kin<strong>de</strong>r etwas<br />
dran; es wäre auch verwun<strong>de</strong>rlich, wenn <strong>de</strong>r Alltagseindruck von Eltern<br />
mit <strong>de</strong>r Wirklichkeit nichts zu tun hätte. Jugendgewalt, überfor<strong>de</strong>rte<br />
Lehrer, Berichte von chaotischen Montagmorgen in <strong>de</strong>n Schulen,<br />
unkonzentrierte Kin<strong>de</strong>r - sie stehen als Symptome dafür, dass die Erziehung<br />
schwieriger wird o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st auf neue Verhältnisse reagieren<br />
muss.<br />
Nicht alle trauen ihr diesen Schritt zu, zunehmend etwa wird mit<br />
Medikamenten geantwortet und Zehnt<strong>aus</strong>en<strong>de</strong> "hyperaktive" Kin<strong>de</strong>r<br />
wer<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m Psychomedikament Ritalin behan<strong>de</strong>lt.<br />
Die Anfor<strong>de</strong>rungen an die Kleinen, das ist unumstritten, steigen<br />
sprunghaft; zu<strong>de</strong>m sind immer häufiger bei<strong>de</strong> Eltern berufstätig, die
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Kontrolldichte hat zweifelsohne abgenommen. Darüber hin<strong>aus</strong> macht<br />
eine Schar konkurrieren<strong>de</strong>r Erzieher <strong>de</strong>n Eltern <strong>de</strong>ren Rolle streitig:<br />
Fernsehen, Internet, Schule, Gleichaltrigen-Cliquen. Das lässt viele<br />
Mütter und Väter an ihrem Einfluss zweifeln.<br />
Bild: Luca beim Toben und Spagetti Aufgeben<br />
Die Eltern Lassen Luca viele Freiheiten, zum Beispiel wenn er mit<br />
150 einem Freund <strong>aus</strong>nahmsweise im Wohnzimmer toben darf. Zugleich<br />
verlangen sie Eigenständigkeit, etwa, dass sich Luca beim Essen mit<br />
Cousin und Cousine selber seinen Teller auffüllt und später wegräumt.<br />
Sein Vater: "Luca muss lernen, dass es Rechte und Pflichten<br />
gibt - und dass die Pflichten mit <strong>de</strong>m Lebensalter wachsen.“<br />
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Um wie viel problembela<strong>de</strong>ner die heutige Jugend aufwächst als<br />
frühere Generationen, ist allerdings kaum messbar. Historische Vergleiche<br />
sind tückisch und lückenhaft, weil Daten fehlen, und ähnliche<br />
Symptome im Laufe <strong>de</strong>r Zeit unter sehr unterschiedlichen Begriffen<br />
verbucht wur<strong>de</strong>n: Ist beispielsweise die "Hyperaktivität tatsächlich ein<br />
neues Phänomen o<strong>de</strong>r nur ein Mo<strong>de</strong>begriff o<strong>de</strong>r vielleicht gar ein altbekanntes<br />
Symptom, das nur durch Verstädterung und die Zerstörung<br />
kindlicher Bewegungsräume zusätzliche Brisanz erhält' in Deutschland<br />
gelten, je nach Studie, zwischen 17 und 27 Prozent <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r<br />
als verhaltensauffällig. Allerdings: Höchstens die Hälfte <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r,<br />
die in jungen Jahren als" schwierig" gelten, sind dies auch noch als<br />
jugendliche. Die allermeisten Kin<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n nach einem<br />
Stör-Höhepunkt im Alter zwischen zwei und fünf Jahren immer ruhiger,<br />
immer weniger aggressiv.<br />
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Offenbar wächst die Mehrheit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Kin<strong>de</strong>r, min<strong>de</strong>stens<br />
70 bis 80 Prozent, ohne gravieren<strong>de</strong>, dauerhafte Probleme auf, Für<br />
relative Harmonie zwischen <strong>de</strong>n Generationen spricht auch, dass sich<br />
gemäß <strong>de</strong>r "Shell Jugendstudie 2000" zwischen jugendlichen und Eltern<br />
heute weniger Konflikte zeigen als noch vor 20 Jahren. und dass<br />
die Mehrheit <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r angibt, sie wolle <strong>de</strong>reinst ihren eigenen<br />
Nachwuchs weitgehend so erziehen, wie sie selber erzogen wird.<br />
Doch wenn im Kin<strong>de</strong>rzimmer <strong>de</strong>r Streit tobt, helfen die Zahlen<br />
wenig, Eltern suchen klare Strategien für <strong>de</strong>n Alltag, Tipps, die ihnen<br />
das Handwerk <strong>de</strong>s Erziehens erleichtern. Die neuere Forschung kann<br />
solche Ratschläge liefern.<br />
Aber zunächst mussten Entwicklungspsychologen erst einmal einen<br />
Verdacht <strong>aus</strong> <strong>de</strong>r Welt räumen die Vermutung nämlich, dass Eltern<br />
vollkommen unwichtig seien im Leben ihrer Kin<strong>de</strong>r.<br />
Seit rund einer Deka<strong>de</strong> behaupten Verhaltensgenetiker verstärkt,<br />
nicht die Eltern son<strong>de</strong>rn die Gene seien in <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rzimmern die<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Faktoren. Gegen die Macht <strong>de</strong>r Vererbung könne<br />
kein noch so pädagogisch versierter Vater, keine noch so einfühlsame<br />
Mutter anerziehen.<br />
Der einflussreiche amerikanische Psycholinguist Steven Pinker<br />
vom Massachusetts Institute of Technology schätzt die Anteile an <strong>de</strong>r<br />
kindlichen Entwicklung so ein: "Gene machen 50 Prozent <strong>aus</strong>, die<br />
Familie null, und irgen<strong>de</strong>twas an<strong>de</strong>res noch einmal 50 Prozent." Was<br />
aber dieses "an<strong>de</strong>re" sei, habe bislang noch niemand entschlüsselt.<br />
Vielleicht, so seine These, ist dieser Faktor X nichts an<strong>de</strong>res als<br />
<strong>de</strong>r pure Zufall. Möglicherweise sind es aber auch die peergroups, also<br />
die Cliquen von Gleichaltrigen, in <strong>de</strong>nen sich Kin<strong>de</strong>r gegenseitig<br />
prägen, sodass Eltern nur zuschauen können. Das postulierte vor ein<br />
paar Jahren die Amerikanerin Judith Rich Harris in ihrem viel diskutierten<br />
(und weltweit erfolgreichen) Buch "Ist Erziehung sinnlos?"<br />
Extremer können Positionen nicht sein: Hier Verhaltensgenetiker,<br />
die behaupten, Eltern sind überflüssig, Dort Entwicklungspsychologen,<br />
die sagen: Eltern sind entschei<strong>de</strong>nd im kindlichen Leben, und wir<br />
wissen sogar, wie sie beson<strong>de</strong>rs gut erziehen können. Was gilt? Die<br />
Genetiker stützen sich vor allem auf Adoptions- und Zwillingsstudien<br />
<strong>aus</strong> <strong>de</strong>n achtziger Jahren, nach <strong>de</strong>nen Erbanlagen <strong>de</strong>n Menschen<br />
mehr prägen als Umwelteinwirkung. Inzwischen aber liegen neue Untersuchungen<br />
vor, die <strong>de</strong>n Einfluss <strong>de</strong>r Familie rehabilitieren.<br />
Finnische Forscher etwa haben Adoptionskin<strong>de</strong>r untersucht, <strong>de</strong>ren<br />
Eltern an Schizophrenie lei<strong>de</strong>n - einer Krankheit, die zu einem erheblichen<br />
Teil als vererbbar gilt. Wie häufig sie <strong>aus</strong>brach, hing allerdings<br />
vom Umfeld, also <strong>de</strong>n Adoptionsfamilien, ab. Wuchsen Kin<strong>de</strong>r<br />
mit Schizophrenie-Gen in harmonischen Familien auf, erkrankten sie<br />
nicht häufiger als Kin<strong>de</strong>r ohne je<strong>de</strong> Vorbelastung. Nur Adoptierte in<br />
dysfunktionalen Familien litten genau so häufig unter <strong>de</strong>r Krankheit,<br />
wie es das Gen-Risiko vermuten ließ.<br />
Ein ähnliches Bild zeigte eine französische Studie am Beispiel <strong>de</strong>r<br />
ebenfalls hochgradig vererblichen Intelligenz. In <strong>de</strong>r Kindheit missbrauchte<br />
und vernachlässigte Adoptivkin<strong>de</strong>r konnten in harmonischen,<br />
wohlhaben<strong>de</strong>n Familien ihren IQ um 19 Punkte steigern - weit<br />
mehr als Adoptivkin<strong>de</strong>r in dysfunktionalen Familien.<br />
Gene sind <strong>de</strong>mnach kein Schicksal. Zwar bestreiten auch Sozialisationsforscher<br />
nicht mehr, dass Erbanlagen einen erheblichen Einfluss<br />
auf die Kin<strong>de</strong>sentwicklung <strong>aus</strong>üben - Gene prädisponieren beispielsweise<br />
in unterschiedlichern Ausmaß die Fähigkeiten und die<br />
Fertigkeiten von Kin<strong>de</strong>rn, ihre Probleme und Talente. Aber all diese<br />
genetische Risiken und Chancen wirken sich meist erst unter entsprechen<strong>de</strong>n<br />
Erziehungsbedingungen <strong>aus</strong>.<br />
Bild: Lucas Zeugnis wird gelesen<br />
Zeugnistag. Luca muss nicht bange sein vor <strong>de</strong>r väterlichen Reaktion,<br />
er ist ein guter Schüler. „Wir loben die hervorragen<strong>de</strong>n No-<br />
230 ten, aber wir belohnen sie nicht; <strong>de</strong>nn Luca soll die Schule auch ohne<br />
Geschenke Spaß machen.“, sagen die Eltern. Lieber spendieren sie<br />
mal ein Computerspiel zwischendurch.<br />
An<strong>de</strong>rs gesagt: Volles elterliches Engagement wirkt im besten<br />
Falle wie ein Schutzschild gegen Risiken aller Art, nicht nur gegen<br />
235 genetische Armut, heruntergekommene Nachbarschaft, psychische<br />
Probleme, Ehestress, Arbeitslosigkeit, schlechten Einfluss von<br />
Gleichaltrigen - solche Risikofaktoten können die Kin<strong>de</strong>sentwicklung<br />
nachhaltig beeinträchtigen, aber sie wer<strong>de</strong>n durch elterliche Erziehung<br />
"mediatisiert", wie es unter Wissenschaftlern heißt: abgemil<strong>de</strong>rt<br />
240 o<strong>de</strong>r verstärkt.<br />
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FRÜHER WURDE DER elterliche Einfluss zum Teil grotesk überschätzt,<br />
erklärt die bekannte Entwicklungspsychologin Eleanor Maccoby<br />
von <strong>de</strong>r kalifornischen Stanford Universität: "Heute sehen wir<br />
Erziehung weniger als einen schlichten Eltern-Kind-Einfluss, son<strong>de</strong>rn<br />
eher als ein ganzes Set verflochtener Vorgänge, wobei Eltern und<br />
Kin<strong>de</strong>r einan<strong>de</strong>r von Geburt an beeinflussen." Dar<strong>aus</strong> auf die Ohnmacht<br />
<strong>de</strong>r Eltern zu schließen, sei aber falsch. Es besteht kein Zweifel,<br />
dass manche Kin<strong>de</strong>r mit schwierigem Temperament zur Welt<br />
kommen: Sie schreien oft, sind schwer zu beruhigen, weniger aufmerksam.<br />
So sind sie vom ersten Tag an, Eltern tragen daran keine<br />
"Schuld". Aber die meisten Erwachsenen reagieren darauf mit aggressivem<br />
Erziehungsverhalten, was die Probleme nur verschärft und<br />
die Kin<strong>de</strong>r schon früh auf eine ungünstige Entwicklungsbahn bringt.<br />
Lernen Mutter und Vater dagegen ihr eigenes Verhalten genauer zu<br />
beobachten und effektiver zu han<strong>de</strong>ln, können "Problemkin<strong>de</strong>r" so gut<br />
ge<strong>de</strong>ihen wie "normale".<br />
Den wohl beeindruckendsten Beweis elterlicher Be<strong>de</strong>utung hat<br />
Marion Forgatch, eine Wissenschaftlerin am "Social Leaming Center"<br />
in Eugene, im US-Bun<strong>de</strong>sstaat Oregon, unternommen. Ihre "experimentelle<br />
Interventionsstudie" funktioniert im Prinzip wie ein Medikamententest:<br />
Forscher verabreichen einer Gruppe von Eltern eine<br />
"Medizin", in diesem Fall ein systematisches Elterntraining, das ihre<br />
Erziehungskompetenz verbessern soll. Anschließend beobachten sie,<br />
ob sich das Verhalten ihrer Kin<strong>de</strong>r än<strong>de</strong>rt im Vergleich zu Kin<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>ren<br />
Eltern kein Training erhalten haben. Nur so lässt sich die alles<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Frage beantworten, ob Eltern einen k<strong>aus</strong>alen Einfluss<br />
auf ihre Kin<strong>de</strong>r haben.<br />
Bild: Mutter nimmt Tochter <strong>de</strong>n Kopfhörer runter<br />
FAMILIE KÖNIG, Kottewitz bei Dres<strong>de</strong>n Die 13-jährige Etisa<br />
270 schirmt sich, typisch für Teenager, gegen ihre Eltern Rainer, 48, und<br />
Raina, 36, ab mit einer Musikbarriere, die zuweilen handgreiflich ü-<br />
berwun<strong>de</strong>n wird. Wie so oft geht es darum, wann Elisa abends nach<br />
H<strong>aus</strong>e zurückkehren soll. „Normalerweise bin ich kompromissbereit,<br />
doch in diesem Punkt gebe ich nicht nach“, sagt die Mutter<br />
275 Rund zehn Jahre brauchten die Wissenschaftler, ehe sie vor kurzem<br />
die ersten Ergebnisse vorlegen konnten. Viele sind so frisch,<br />
dass sie noch nicht wissenschaftlich publiziert wur<strong>de</strong>n. Doch schon<br />
jetzt loben selbst Verhaltensgenetiker diese Studie als "exzellent". Nie<br />
zuvor habe es einen <strong>de</strong>rartigen Test <strong>de</strong>r "Erziehungshypothese" gegeben.<br />
280<br />
Für ihre "Oregon-Scheidungsstudie" rekrutierte Forgatch 238 Mütter,<br />
eine für solche Untersuchungen große Zahl von Proban<strong>de</strong>n. sie<br />
stammten <strong>aus</strong> allen Schichten und Altersklassen und hatten nur dreierlei<br />
gemein: Sie waren seit kurzem geschie<strong>de</strong>n, lebten ohne Partner<br />
285 und hatten min<strong>de</strong>stens einen Sohn zwischen sechs und zehn Jahren.<br />
Es han<strong>de</strong>lte sich um verzweifelte Frauen, von <strong>de</strong>nen viele in erdrücken<strong>de</strong>r<br />
Armut lebten, Die meisten hatten über <strong>de</strong>n Trennungszwist<br />
die Erziehung vernachlässigt, etliche jungen zeigten bereits Verhaltensauffälligkeiten:<br />
Sie gehorchten selten und schlugen sich häufig.
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Die Mütter wur<strong>de</strong>n per Zufallsverfahren auf zwei Gruppen verteilt:<br />
Die einen, in <strong>de</strong>r so genannten Interventionsgruppe, erhielten dreieinhalb<br />
Monate lang jeweils rund eine Stun<strong>de</strong> pro Woche ein Elterntraining.<br />
Sie erlernten effektivere Erziehungstechniken, übten in Rollenspielen,<br />
wie sie Konflikte mit ihren Söhnen ohne Streit <strong>aus</strong>tragen o<strong>de</strong>r<br />
wie sie die jungen motivieren konnten. Den an<strong>de</strong>ren Müttern in <strong>de</strong>r<br />
Kontrollgruppe sagte man, sie stün<strong>de</strong>n auf einer Warteliste; also blieben<br />
sie zu H<strong>aus</strong>e und machten weiter wie bisher.<br />
Zweieinhalb Jahre später ließen die Ergebnisse keinen Zweifel:<br />
Den Söhnen <strong>de</strong>r trainierten Mütter ging es in allen Belangen besser.<br />
im Vergleich zu <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Kontrollgruppe waren sie weit weniger<br />
aggressiv, verübten weniger Straftaten, waren seltener <strong>de</strong>pressiv,<br />
trieben sich seltener mit an<strong>de</strong>ren Problemkin<strong>de</strong>rn herum, gehorchten<br />
eher, sogar ihre Lesefähigkeit hatte sich verbessert. Auch die Lehrer<br />
bewerteten diese Kin<strong>de</strong>r als positiv verän<strong>de</strong>rt - was bemerkenswert<br />
war, weil die Lehrer nicht wussten, wessen Mütter trainiert wor<strong>de</strong>n<br />
waren.<br />
Auch die Frauen hatten von <strong>de</strong>m kurzen Training profitiert. Sie litten<br />
seltener unter Depressionen, ihr Jahreseinkommen lag nun - ein<br />
verblüffen<strong>de</strong>s Ergebnis - im Schnitt um 2000 Dollar höher als das <strong>de</strong>r<br />
untrainierten Mütter, und sie hatten ihre neuen Partner viel seltener<br />
gewechselt, hatten also entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Risikofaktoren ihres Lebens<br />
reduziert, Nicht nur traten sie ihren Söhnen gegenüber entschie<strong>de</strong>ner<br />
auf, sie gewannen allgemein an Lebenskompetenz.<br />
Die Kontrollgruppe hatte sich dagegen bei allen Indikatoren verschlechtert:<br />
Mutter und Söhne waren aggressiver, <strong>de</strong>pressiver, sie<br />
stritten sich noch häufiger, und die Kin<strong>de</strong>r gehorchten noch wi<strong>de</strong>rwilliger<br />
als zu Beginn <strong>de</strong>r Studie. Sie steckten in <strong>de</strong>r typischen Abwärtsspirale<br />
dysfunktionaler Familien.<br />
Bild: Geschminkter Vater schminkt Tochter<br />
320 Lernen am elterlichen Vorbild. Rainer König arbeitet seit 20 Jahren<br />
als erfolgreicher Pantomime mit eigenem Programm - <strong>de</strong>m die<br />
Kin<strong>de</strong>r nacheifern. Elisa und ihr Bru<strong>de</strong>r Aaron, 5, treten bereits gemeinsam<br />
mit <strong>de</strong>m Vater auf. »Ich freue mich über ihre Begeisterung“,<br />
sagt Rainer König, „aber ich wür<strong>de</strong> sie nie zum Mitmachen zwingen.“<br />
325 "ich war extrem überrascht", sagt Marion Forgatch", dass ein so<br />
kurzes Training einen so großen Unterschied bewirkt!' Beson<strong>de</strong>rs erstaunlich<br />
ist, dass sich interventions- und Kontrollgruppe umso <strong>aus</strong>geprägter<br />
<strong>aus</strong>einan<strong>de</strong>r entwickelten, je länger das Training zurücklag;<br />
als wären sie in Fahrstühle mit verschie<strong>de</strong>nen Richtungen gestiegen,<br />
330 die eine nach unten, die an<strong>de</strong>re nach oben.<br />
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345<br />
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355<br />
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Doch genau das beobachten Forscher immer wie<strong>de</strong>r: Häufig bedarf<br />
es nur eines kleinen Anstoßes, um verborgene Potenziale von Eltern<br />
dauerhaft zu aktivieren.<br />
MAUREEN ROGERS ist eine <strong>de</strong>r Mütter <strong>aus</strong> <strong>de</strong>r Oregon-Trainingsgruppe.<br />
Die lebhafte Frau hatte sich immer für eine<br />
"Muster-Mama gehalten". Bis zur Scheidung. "Da habe ich", berichtet<br />
die 40-ährige, "meine drei Kin<strong>de</strong>r vernachlässigt, nicht mehr zugehört,<br />
war dauernd weg, um Geld zu verdienen. irgendwann haben die Kids<br />
ihre eigene Mama nicht mehr wie<strong>de</strong>r erkannt." Vor allem <strong>de</strong>r jüngste<br />
Sohn, <strong>de</strong>r damals zehnjährige John, verkraftete die Trennungskrise<br />
nicht. Er begann sich zu prügeln, schwänzte <strong>de</strong>n Unterricht, war aufsässig<br />
gegenüber Lehrern und Schulkamera<strong>de</strong>n - und wur<strong>de</strong> immer<br />
einsamer.<br />
"Das Elterntraining", sagt Manreen, "war unsere Rettung." Sie habe<br />
gelernt, ihren Kin<strong>de</strong>rn ganz an<strong>de</strong>rs entgegenzutreten. Ich bin seither<br />
ein<strong>de</strong>utiger, nicht mehr so wischi-waschi, Ich stelle klare Anfor<strong>de</strong>rungen<br />
und achte darauf, dass die Vorgaben erfüllt wer<strong>de</strong>n. Das hilft<br />
uns allen, je<strong>de</strong>r weiß, woran er ist."<br />
Im Schrank von Marion Forgatch lagern die Dokumente <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung:<br />
Vi<strong>de</strong>obän<strong>de</strong>r, die Maureen Rogers vor und nach <strong>de</strong>r Intervention<br />
zeigen. Die erste Aufnahme - die Mutter beklagt sich über<br />
Johns Nachlässigkeit, in <strong>de</strong>r typischen Vagheit ineffizienter Eltern:<br />
"Du tust überhaupt nichts im H<strong>aus</strong>, du lässt Alles rumliegen. Warum<br />
nur bist du so faul und <strong>de</strong>sinteressiert?" John lümmelt im Sessel,<br />
schnei<strong>de</strong>t Grimassen. Maureen re<strong>de</strong>t weiter, sie erklärt ihm langwierig,<br />
warum sich alte an <strong>de</strong>r H<strong>aus</strong>arbeit beteiligen müssten, sie re<strong>de</strong>t<br />
und re<strong>de</strong>t.<br />
Heute verfolgt Maureen Rogers vor <strong>de</strong>m Vi<strong>de</strong>omonitor kopfschüttelnd<br />
<strong>de</strong>n damaligen Monolog: „That's not going anywhere", das bringt<br />
überhaupt nichts. Predigen, das war eine <strong>de</strong>r Lektionen <strong>de</strong>r Schulung,<br />
.ist vollkommen sinnlos".<br />
geo.doc Seite 3 von 7<br />
365<br />
370<br />
Die zweite Aufnahme. Ein Jahr später. Maureen hat die Stühle so<br />
zusammengerückt, dass sie ihrem Sohn frontal gegenübersitzt. John,<br />
hibbel nicht herum, leg die Hän<strong>de</strong> auf die Lehnen und schau mich<br />
an." Dann erklärt sie das Problem: „Du prügelst dich zu oft mit <strong>de</strong>n<br />
Nachbarskin<strong>de</strong>rn. Was können wir gemeinsam tun, damit du das unterlässt?"<br />
John macht die an<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>r verantwortlich, Maureen<br />
bleibt ruhig. Schließlich einigen sich bei<strong>de</strong> auf eine Punktekarte: Für<br />
je<strong>de</strong>n Tag, an <strong>de</strong>m sich John nicht schlägt, bekommt er einen Punkt,<br />
bei zwölf Punkten <strong>de</strong>n Wimpel fürs Fahrrad, <strong>de</strong>n er sich schon seit<br />
langem wünscht.<br />
Bild: Harry-Potter-Lesung und Spagetti <strong>aus</strong> <strong>de</strong>r Hand<br />
Unverzichtbares Familienritual: Allabendlich lesen die Eltern Aaron<br />
Geschichten vor, <strong>de</strong>rzeit verzaubert ihn „Harry Potter“. Den Trick,<br />
375 die Spaghetti mit <strong>de</strong>r Hand zu essen, dul<strong>de</strong>n Vater und Mutter dagegen<br />
nicht. „Wir erziehen autoritativ: Wir för<strong>de</strong>rn die Begabungen, setzen<br />
<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn aber auch klare Grenzen“, sagt Raina König, die als<br />
Psychologie-Stu<strong>de</strong>ntin an <strong>de</strong>r Universität Dres<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Erziehungsforschung<br />
vertraut ist.<br />
380 „Nach drei Wochen war das Problem gelöst, erinnert sich Maureen.<br />
Sie hatte, erklärt Marion Forgatch, <strong>de</strong>n Zwangsprozess <strong>de</strong>s e-<br />
wigen Strafens durch ein Anreizsystem für erwünschtes Verhalten ersetzt.<br />
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Auch von Janet, einer Frau <strong>aus</strong> <strong>de</strong>r untrainierten Kontrollgruppe,<br />
liegen Vi<strong>de</strong>os vor. Dreimal wur<strong>de</strong> aufgezeichnet, wie sie mit ihrem<br />
Sohn umgeht, eine Verän<strong>de</strong>rung ist nicht zu erkennen: Janet predigt,<br />
führt einen end- und kraftlosen Monolog. Nur ihr Sohn verän<strong>de</strong>rt sich<br />
im Laufe <strong>de</strong>r Zeit. Bei <strong>de</strong>r ersten Aufzeichnung wippt er unruhig auf<br />
<strong>de</strong>m Sessel, während <strong>de</strong>r zweiten lässt er gelangweilt die Fingergelenke<br />
knacken, beim dritten Mal, jetzt bereits im Stimmbruch, krächzt<br />
er. sie solle ihn in Ruhe lassen. Kurz zuvor, verzeichnen die Forschungsunterlagen,<br />
ist er erstmals festgenommen wor<strong>de</strong>n. "Ohne das<br />
Training", kommentiert Maureen, "wäre es John gen<strong>aus</strong>o ergangen,<br />
dann wäre er heute im Heim,"<br />
Judith Rich Harris' These, „Eltern sind <strong>aus</strong>t<strong>aus</strong>chbar-, erscheint<br />
nach <strong>de</strong>r Forgarch-Studie fragwürdiger <strong>de</strong>nn je, <strong>de</strong>r k<strong>aus</strong>ale Einfluss<br />
von Eltern eher als belegt.<br />
Auch an<strong>de</strong>re Experimentalstudien untermauern die Be<strong>de</strong>utung<br />
<strong>de</strong>r Eltern. Die Psychologen Carolyn und Philip Cowan von <strong>de</strong>r Universität<br />
im kalifornischen Berkeley lehrten Ehepaare in einem sechsmonatigen<br />
Kurs, miteinan<strong>de</strong>r als auch mit ihren damals etwa vierjährigen<br />
Kin<strong>de</strong>rn effektiver umzugehen. Ergebnis: Die Eltern stritten sich<br />
anschließend seltener, die Kin<strong>de</strong>r verhielten sich weniger aggressiv,<br />
wur<strong>de</strong>n von Gleichaltrigen mehr akzeptiert und brachten bessere<br />
Schulnoten nach H<strong>aus</strong>e als die Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kontrollgruppe.<br />
In einer <strong>de</strong>r umfangreichsten Langzeitstudien überhaupt hat <strong>de</strong>r<br />
franko-kanadische Forscher Richard Tremblay 1161 jungen <strong>aus</strong><br />
Montreal seit 1984 begleitet und ihre Entwicklung mit regelmäßigen<br />
Tests verfolgt. Ein kleiner Teil <strong>de</strong>r Eltern und Kin<strong>de</strong>r war geschult<br />
wor<strong>de</strong>n, besser mit Konflikten umzugehen und aggressive Impulse zu<br />
zügeln - und noch mehr als ein Jahrzehnt später waren die Vorteile<br />
<strong>de</strong>s Trainings nachweisbar; sie entsprechen <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Studien.<br />
"Es gibt inzwischen beeindrucken<strong>de</strong> Belege für die Spätfolgen<br />
von früher Erziehung", fasst Rainer Silbereisen, Professor an <strong>de</strong>r Universität<br />
Jena und Präsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>r Deutschen Gesellschaft für Psychologie,<br />
die Forschungen <strong>de</strong>r vergangenen Jahre zusammen.<br />
AUS DEN STUDIEN erwuchsen weitere wichtige Erkenntnisse.<br />
Denn es wur<strong>de</strong>n ja nicht nur Eltern getestet, son<strong>de</strong>rn auch verschie<strong>de</strong>ne<br />
Angebote von Elterntraining. Die Ergebnisse <strong>de</strong>r Versuche zeigen<br />
also nicht nur, dass Erziehung einen Unterschied macht, son<strong>de</strong>rn<br />
auch: weiche Erziehungstechniken das kindliche Wohl stärker för<strong>de</strong>rn<br />
als an<strong>de</strong>re, Wie also sah das Training <strong>aus</strong>, das Maureen weiterhalf?<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Eltern <strong>de</strong>r kanadischen Kin<strong>de</strong>r? Die Antwort: ziemlich genau<br />
so wie Triple-P.<br />
Elternschulungen wie diese beruhen überwiegend auf einem verhaftenstherapeutischen<br />
Ansatz. Sie suchen nicht -wie die so genannten<br />
kognitiven Therapien -. die Persönlichkeit <strong>de</strong>r Eltern und Kin<strong>de</strong>r zu<br />
ergrün<strong>de</strong>n, und sie unternehmen auch keine langwierigen Gesprächstherapien.<br />
Sie gehen davon <strong>aus</strong>, dass Eltern sich meist ungewollt falsches<br />
Verhalten angewöhnt haben: einen ineffektiven Umgang mit ihren<br />
Kin<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>n es zu korrigieren gilt.<br />
Der große Vorteil dieses Ansatzes: Es ist belegt, dass er wirksam<br />
ist. Eltern können ihr verhalten än<strong>de</strong>rn, die Kin<strong>de</strong>r können davon pro-
Die hohe Kunst <strong>de</strong>s Helfens<br />
GEO, April 2002, S.126-154<br />
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fitieren. Bei kaum einer an<strong>de</strong>ren Therapieform wur<strong>de</strong> ein Erfolg so<br />
<strong>de</strong>utlich nachgewiesen.<br />
Sie beruht in großem Maße auf <strong>de</strong>n Forschungen eines Mannes:<br />
Gerald Patterso n Der 75-Jährige arbeitet wie Marion Forgach am O-<br />
regon Social Learning Center und ist einer <strong>de</strong>r meistzitierten Erziehungsforscher.<br />
Die Frage, mit <strong>de</strong>r er sich seit Jahrzehnten beschäftigt:<br />
Was genau läuft in Familien ab, <strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>r verhaltensauffällig<br />
sind? Dar<strong>aus</strong> konnte er praktische Erziehungstipps für Eltern <strong>de</strong>stillieren.<br />
Bild: Die Clique zu H<strong>aus</strong>e - Ohren zu bei Mutters Ansprache<br />
445 Beim Umgang mit ihrer Tochter haben sich die Königs für große<br />
Offenheit entschie<strong>de</strong>n: „Ich lasse Elisa lieber daheim ihre Freiheiten,<br />
bevor sie sich die woan<strong>de</strong>rs nimmt. und ich sie nicht mehr kontrollieren<br />
kann“, sagt die Mutter. Die Freun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Tochter sind im H<strong>aus</strong><br />
willkommen, sie darf bis 23.30 Uhr mit ihrer Clique unterwegs sein<br />
450 -auch wenn sie die Ermahnungen, ja die Zeit einzuhalten, nicht mehr<br />
hören will<br />
Vor etwa 4o Jahren hat er begonnen, mit "schwierigen-, kriminellen<br />
jungen zu arbeiten, Er stellte rasch fest, dass die Jugendlichen<br />
vor allem ein Problem hatten: Sie hatten offenbar grundlegen<strong>de</strong> soziale<br />
Verhaltensweisen niemals erlernt. Aus <strong>de</strong>r Suche nach <strong>de</strong>n rich-<br />
455<br />
tigen Erziehungsprinzipien wur<strong>de</strong> so die konkrete Frage: Wie lernen<br />
Kin<strong>de</strong>r, wie lehren Eltern?<br />
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Minutiöse Beobachtungen in dysfunktionalen Familien brachten<br />
die Antwort: Eltern von auffälligen Kin<strong>de</strong>rn sind ineffektiv, weil sie ungewollt<br />
genau das Verhalten för<strong>de</strong>rn, das sie eigentlich zu verhin<strong>de</strong>rn<br />
suchen. Sie geben falsche Verhaltensanreize und unterwan<strong>de</strong>rn ihre<br />
eigenen guten Absichten. Sie wissen im wahrsten Sinne nicht, was<br />
sie tun und was sie beim Kind bewirken.<br />
Der Hauptfehler: Statt erwünschtes Kin<strong>de</strong>rverhalten zu för<strong>de</strong>rn,<br />
bemühen sie sich, unerwünschtes <strong>aus</strong>zutreiben - durch Drohungen,<br />
durch Schimpfen, Schreien, Schlagen. Das kann nicht funktionieren,<br />
weil Kin<strong>de</strong>r, weil Menschen so nicht lernen Familien verstricken sich<br />
dabei in "coercion", in Zwangsverhalten: ihre Mitglie<strong>de</strong>r versuchen<br />
einan<strong>de</strong>r nicht durch Belohung und Aufmerksamkeit zu beeinflussen,<br />
son<strong>de</strong>rn durch Bestrafung und Demütigung. Kin<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n so regelrecht<br />
auf Aggression trainiert.<br />
Die unheilvolle Dynamik beginnt mit unverdächtigen Momenten,<br />
mit banalen Situationen. Das Kind wünscht einen Keks. Die Mutter<br />
sagt "nein". Das Kind quengelt, die Mutter ignoriert es. Das Kind beginnt<br />
zu weinen. dann zu brüllen. Die Mutter bleibt hart. Das Kind wirft<br />
sich auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n und steigert sich in einen Wutanfall. Da gibt die<br />
Mutter nach und reicht <strong>de</strong>n Keks, damit endlich dieses ewige Geschrei<br />
aufhört". Sie hat durch ihr Verhalten die Aggression <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />
zugleich angeheizt und belohnt. Das Kind lernt: ich muss nur meine<br />
Aggression eskalieren, um zu bekommen, was ich will.<br />
Zwei stun<strong>de</strong>n später. Das Kind weigert sich, sein Zimmer aufzuräumen.<br />
Erst predigt die Mutter, dann droht sie: "ich zähle bis drei,<br />
und dann ... !" Voller Wut macht sich das Kind an die Arbeit. Diesmal<br />
wird die Mutter für die Eskalation belohnt. Und das Kind lernt: Erst<br />
wenn die Mutter brüllt, meint sie es ernst.<br />
Solche Szenen spielen sich in allen Familien ab, und das ist nicht<br />
weiter dramatisch, solange sie rar bleiben. Erst wenn sie sich ständig<br />
wie<strong>de</strong>rholen. wird <strong>aus</strong> ihnen ein Strukturmuster, wird <strong>de</strong>r Zwang zum<br />
Prinzip.<br />
Fatal am gegenseitigen Zwang ist: Er funktioniert! Das Kind räumt<br />
auf. Die Mutter reicht <strong>de</strong>n Keks, Zwang ist erfolgreich, Aggression<br />
zahlt sich <strong>aus</strong>! Das macht sie für Eltern und Kin<strong>de</strong>r gleichermaßen so<br />
verführerisch, je<strong>de</strong>r profitiert davon. Kurzfristig.<br />
Bild: Morgendlicher Trubel - Frühstücksszene<br />
495 Isabelle und Joshua. 8, zu versorgen - <strong>de</strong>r FamilienalItag macht<br />
niemals P<strong>aus</strong>e: „Irgen<strong>de</strong>iner hat immer schlechte Laune, aber ich versuche,<br />
das zu ertragen. Schließlich müssen die Kin<strong>de</strong>r auch meine<br />
Stimmungen <strong>aus</strong>halten.“<br />
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Dass Aggression für Kin<strong>de</strong>r tatsächlich zum Erfolg führt, wies Patterson<br />
anhand von Interaktions-Analysen nach. Er wertete <strong>aus</strong>, wie<br />
oft Kin<strong>de</strong>r ihre Eltern davon abbringen, sie weiter mit einem Anliegen<br />
zu „behelligen". In kooperativen Familien erreichen sie es in rund 90<br />
Prozent <strong>de</strong>r Fälle - durch Gehorsam: Sie erledigen, was ihnen aufgetragen<br />
wird. In Zwangs-Familien erzielen Kin<strong>de</strong>r die gleiche Quote -<br />
aber durch Wutanfälle, Trotzattacken, zuweilen durch Zurückschlagen:<br />
Sie schaffen es, ihre Eltern zur Aufgabe zu zwingen. "je<strong>de</strong>s Mal,<br />
wenn ich mit ihm streite, weiß mein Sohn, dass er gewonnen hat, sagt<br />
ein frustrierter Vater.<br />
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Gehorsam und Aggression sind gleichsam alternative Strategien<br />
von Kin<strong>de</strong>rn. Aufweiche die Kleinen - unbewusst -zurückgreifen,<br />
hängt entschei<strong>de</strong>nd vom Verhalten <strong>de</strong>r Eltern ab. für Patterson ist<br />
mangeln<strong>de</strong> Folgsamkeit <strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Indikator dafür, ob in Familien<br />
etwas schief läuft. "Gehorsam ist die Kernfähigkeit, die ein Kind<br />
erlernen muss, Folgt ein Zweijähriger nicht, hat das dramatische<br />
Auswirkungen: Er wird notwendiges Sozialverhalten erst sehr viel<br />
später erlernen." Arretierte Entwicklung heißt dieses Phänomen, das<br />
vor allem Schulen belastet: Siebenjährige, die sich wie Kleinkin<strong>de</strong>r<br />
benehmen,<br />
Beobachtungen in zwölf Kulturen, von Kenya über Japan bis zu<br />
<strong>de</strong>n USA, ergaben, dass Mütter und Väter überall auf einem ähnlich<br />
hohen Maß an Folgsamkeit bestehen: je nach Alter müssen Kin<strong>de</strong>r7o<br />
bis 85 Prozent <strong>de</strong>r elterlichen Anweisungen nachkommen. Auch eine<br />
neue Umfrage im Auftrag von GEO bestätigt dieses Bild.<br />
ZWANGSPROZESSE ABER sabotieren <strong>de</strong>n Gehorsam. Denn<br />
Coercion funktioniert nur vorübergehend. Langfristig wirkt sie verheerend.<br />
Stetig mehr Aggression ist nötig, um sich durchzusetzen, die<br />
Familien tappen in die Eskalationsfalle. In manchen H<strong>aus</strong>halten<br />
kommt es alle fünf Minuten zum Streit, in Extremfällen sogar je<strong>de</strong> Minute.<br />
Kin<strong>de</strong>r, die in solchen Verhältnissen groß wer<strong>de</strong>n, haben buchstäblich<br />
Zehnt<strong>aus</strong>en<strong>de</strong> von Nahkämpfen hinter sich, bevor sie in <strong>de</strong>n<br />
Kin<strong>de</strong>rgarten o<strong>de</strong>r die Schule kommen - Veteranen <strong>de</strong>r Familienfront.<br />
Vor allem aber üben diese Kin<strong>de</strong>r ein Verhalten ein, das außerhalb<br />
<strong>de</strong>r Familie nicht toleriert wird, son<strong>de</strong>rn als das gilt, was es ist: als a-<br />
sozial.<br />
Es führen viele Wege in die Coercion. Sogar falsch eingesetztes<br />
Lob und wahllose Liebe können kindliches Zwangsverhalten för<strong>de</strong>rn.<br />
Die Forscher fan<strong>de</strong>n vielerlei Abstufungen <strong>de</strong>r Fehlverstärkung und<br />
stellten ein kleines Kompendium elterlicher Zwangtypen zusammen.<br />
Da sind die „überschwänglichen Lober". Susanne K. gehört zu<br />
diesem Typus. Ihr dreijähriger Sohn Moritz hat seiner Schwester ein<br />
Kuchenstück geklaut. Die Mutter fährt dazwischen, will ihm das Stuck<br />
entwin<strong>de</strong>n; dann hat sie Be<strong>de</strong>nken, zu autoritär zu wirken, und lobt<br />
ihn rasch dafür, dass er <strong>de</strong>n Kuchen so geschickt geklaut hat, dass<br />
dieser nicht einmal heruntergefallen ist. Moritz beißt herzhaft zu, er<br />
hat gelernt: Er muss nur raffiniert genug sein, dann kommt er mit vielem<br />
durch.<br />
Da sind die "gleichgültig Lieben<strong>de</strong>n". Sie umarmen ihr Kind, sie<br />
streicheln es, sie lieben es über alles - auch wenn es sich völlig<br />
daneben benimmt. Solche Eltern sind beson<strong>de</strong>rs überrascht, wenn ihr<br />
Kind <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Ru<strong>de</strong>r läuft; doch die Schwelle für Aufsässigkeit liegt<br />
sogar beson<strong>de</strong>rs niedrig, weil die Eltern kaum Grenzen setzen: "Das<br />
Problem dabei ist nicht ein Übermaß an Liebe", kommentiert Gerald<br />
Patterson, "son<strong>de</strong>rn die Verstärkung für unrichtiges Verhalten."<br />
Da sind die "Sphinx-Eltern". Aus Angst, ihr Kind zu verzärteln, loben<br />
o<strong>de</strong>r belohnen sie es so selten wie möglich. Gisela M. hat in einem<br />
Vertrag, <strong>de</strong>tailliert festgelegt, welche Aufgaben ihr "schwieriger"<br />
zehnjähriger Sohn im H<strong>aus</strong>halt erledigen muss. Erfüllt er alle Pflichten,<br />
verkneift sie sich je<strong>de</strong> Anerkennung, <strong>de</strong>nn: "Regeln sind dazu da,<br />
eingehalten zu wer<strong>de</strong>n, dafür darf es keine Belohnung geben." Sie<br />
missachtet das oberste Gebot <strong>de</strong>r Lerntheorie: Man lernt vor allem<br />
durch Belohnung, durch positive Verstärkung.<br />
Da sind die För<strong>de</strong>rer <strong>de</strong>r Hilflosigkeit, Sie treten oft im Team auf.<br />
Eva Kleine* macht alles für ihren siebenjährigen Sohn Luka. Er kann<br />
sich ohne ihre Hilfe morgens nicht anziehen - Luka hat sie durch etliche<br />
Wutanfälle erzogen, ihm alles abzunehmen. Die Mutter wie<strong>de</strong>rum<br />
hat ihn durch ihr Entgegenkommen auf Hilflosigkeit trainiert. Der Vater<br />
rastet regelmäßig <strong>aus</strong>, wenn er seinen hilflosen Sohn sieht, nennt ihn<br />
einen ,Versager" - allmorgendlich liegt <strong>de</strong>r Familienfrie<strong>de</strong>n in Scherben.<br />
570 Bild: Vater und Sohn putzen das Motorrad<br />
Während Isabelle das Faschingskostüm vorführt, machen Joshua<br />
und Vater Daniel Kiefer, 34, ihr „Männerding“: Motorrad putzen. reparieren,<br />
fahren Momente <strong>de</strong>r Innigkeit zwischen Sohn und Vater , <strong>de</strong>r<br />
als Gastronom selten zu H<strong>aus</strong>e ist.<br />
575 Schließlich sind da noch die „eisernen Bestrafer". Sie glauben,<br />
Kin<strong>de</strong>r wür<strong>de</strong>n nur durch Bestrafen lernen, manchmal auch nur durch<br />
Schmerz Diese Taktik aber hat einen hohen Preis: Wer straft, wird<br />
selber bestraft. Auszählungen von Familienkonflikten ergaben, dass<br />
Kin<strong>de</strong>r auf jene Elternteile, die am häufigsten strafen, am häufigsten
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durch Verweigerung, Aggression o<strong>de</strong>r Wutanfälle reagieren. Mütter,<br />
die viel brüllen, haben Kin<strong>de</strong>r, die das Gleiche tun, Vater, die <strong>de</strong>mütigen,<br />
wer<strong>de</strong>n ge<strong>de</strong>mütigt.<br />
Der Mechanismus von Geben und Nehmen zeigt sich auch in allen<br />
an<strong>de</strong>ren Familienangelegenheiten. Eltern, die häufiger belohnen,<br />
wer<strong>de</strong>n von ihren Kin<strong>de</strong>rn häufiger durch gutes Verhalten bestärkt - in<br />
Familien herrscht eine strenge Form <strong>de</strong>r Gegenseitigkeit. Dar<strong>aus</strong> ergibt<br />
sich im Umkehrschluss eines <strong>de</strong>r wesentlichen Prinzipien <strong>de</strong>r Erziehung,<br />
vielleicht je<strong>de</strong>n menschlichen Zusammenlebens: Was man<br />
bekommen will, das muss man geben.<br />
Nach Pattersons Ansatz reduziert sich Erziehung auf einen<br />
schmucklosen, nüchternen Kern. Er lautet: Effektive Erziehung ist <strong>de</strong>r<br />
richtige Umgang mit Verhaltensverstärkungen. Wer von Kin<strong>de</strong>rn ein<br />
bestimmtes Benehmen erwartet, muss es positiv bekräftigen durch<br />
Lob, Belohnungen, Aufmerksamkeit. Und unerwünschtes Betragen<br />
sollte so wenig wie möglich verstärkt wer<strong>de</strong>n - das ist <strong>de</strong>r schwierige<br />
Part. Die üblichen elterlichen Sanktionen wie Drohen und Schimpfen<br />
sind riskant, weil auch sie bestärken und allzu leicht in <strong>de</strong>n Zwang<br />
führen. Die hohe Kunst <strong>de</strong>r Nicht-Verstärkung erfor<strong>de</strong>rt beson<strong>de</strong>re<br />
Techniken wie "absichtliches Ignorieren o<strong>de</strong>r "Stiller Stuhl", die im Elterntraining<br />
gelehrt wer<strong>de</strong>n.<br />
BEWUSSTHEIT, Gegenseitigkeit, Konsequenz und positive Unterstützung<br />
- viele Mütter und Väter folgen intuitiv diesen Prinzipien.<br />
Doch auch in diesem Normalbereich mühen sich die meisten Eltern<br />
damit, die verschie<strong>de</strong>nen Erziehungsanteile <strong>aus</strong>zubalancieren: Soll<br />
ich liebevoller o<strong>de</strong>r strenger sein, das Kind eher führen o<strong>de</strong>r es <strong>aus</strong>probieren<br />
lassen, eng überwachen o<strong>de</strong>r die lange Leine geben?<br />
Bild: Kin<strong>de</strong>r beim Spiel und vor <strong>de</strong>m TV<br />
Die Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kiefers stoßen an wenige Grenzen, auch beim<br />
Fernsehkonsum; in einem Kin<strong>de</strong>rzimmer steht ein TV „damit sie nicht<br />
610 im Wohnzimmer Nintendo spielen“, erklärt die Mutter. "Die Kin<strong>de</strong>r sollen<br />
höchstens eine Stun<strong>de</strong> am Tag fernsehen, doch ich muss höllisch<br />
aufpassen, dass sie sich nicht je<strong>de</strong>n Augenblick vor die Glotze hocken.“<br />
Der Konflikt ist so alt wie die Erziehung selbst. Auch die Ratgeberliteratur<br />
schwankt zwischen <strong>de</strong>n Extremen: Die berühmte „Famili-<br />
615<br />
enkonferenz" von Thomas Gordon <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Jahre 1970 setzt vor allem<br />
auf Re<strong>de</strong>n und Verständnis, Jan-Uwe Rogges hun<strong>de</strong>rtt<strong>aus</strong>endfach<br />
verkaufte Bücher wie "Kin<strong>de</strong>r brauchen Grenzen" betonen dagegen<br />
die strikte Einhaltung von vereinbarten Limits.<br />
620 Dabei ist die Frage nach <strong>de</strong>m optimalen Mix längst beantwortet.<br />
625<br />
Forscher haben dieses Rätsel gelöst, in<strong>de</strong>m sie Familien von<br />
Glückskin<strong>de</strong>rn beobachteten: Machen Eltern, <strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>rs<br />
zufrie<strong>de</strong>n, schulisch erfolgreich und sozial akzeptiert sind, irgen<strong>de</strong>twas<br />
an<strong>de</strong>rs als Eltern, <strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>rn es weniger gut geht? Diese so<br />
genannte Erziehungsstilforschung hat weitweit ungezählte Studien<br />
hervorgebracht, kaum ein an<strong>de</strong>res psychologisches Problem ist so intensiv<br />
durchleuchtet wor<strong>de</strong>n. Und alle Untersuchungen weisen in die<br />
gleiche Richtung.<br />
Bild: Geschwister bedrohen sich gegenseitig mit <strong>de</strong>r Spiel-<br />
630 zeugpistole - einer weint, einer lacht<br />
Geschwisterliebe: Zu Fasching erproben die Söhne mit- und aneinan<strong>de</strong>r<br />
ihr Arsenal, Wenn Raphael dagegen Tränen vergießt, weil<br />
er nicht zur Schule möchte, kümmert das Joshua überhaupt nicht<br />
Eltern „prosozialer" Kin<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>n sich von an<strong>de</strong>ren nicht dadurch.<br />
dass sie liebevoller o<strong>de</strong>r strenger o<strong>de</strong>r motivieren<strong>de</strong>r sind. Sie<br />
635<br />
erziehen an<strong>de</strong>rs, weil sie all dies gleichzeitig sind: zugeneigter und<br />
strikter und för<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>r. Sie wirken als Maximalisten, sie machen weniger<br />
Kompromisse und verstehen es, die drei entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Dimensionen<br />
<strong>de</strong>r Erziehung miteinan<strong>de</strong>r zu vereinen: Sie schenken viel<br />
640 Liebe; sie setzen klare Regeln und bestehen konsequent auf <strong>de</strong>ren<br />
Einhaltung; und sie för<strong>de</strong>rn die Persönlichkeit, die Kreativität ihres<br />
Kin<strong>de</strong>s.<br />
645<br />
650<br />
Bild: Sohn zeigt wütend die Zunge<br />
Zum familiären Brettspiel bei Kiefers gehört auch: Dampfablassen<br />
655 mit her<strong>aus</strong>gestreckter Zunge.<br />
Man hat diesen Stil "autoritativ" genannt - "ein fürchterliches Wort 715<br />
für ein wun<strong>de</strong>rbares Konzept, sagt Laurence Steinberg von <strong>de</strong>r<br />
Temple University in Phila<strong>de</strong>lphia, einer <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n Experten auf<br />
<strong>de</strong>m Gebiet. Der Stil umfasst ein ganzes Bün<strong>de</strong>l von Tugen<strong>de</strong>n. Zu<br />
ihnen zählen: Warmherzigkeit, Aufmerksamkeit, Gespür für <strong>de</strong>n jeweiligen<br />
Entwicklungsstand <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, aber auch so praktische Dinge<br />
Der vernachlässigen<strong>de</strong> Stil erklärt sich von selbst: Ihn praktizieren<br />
720 Eltern, die sich weitgehend <strong>aus</strong> <strong>de</strong>r Erziehung zurückziehen, ihren<br />
wie monitoring - also das Wissen darum, was ein Kind anstellt, wenn<br />
Kin<strong>de</strong>rn wenig Führung, aber auch wenig Aufmerksamkeit schenken.<br />
es nicht zu H<strong>aus</strong>e ist, wie seine Freun<strong>de</strong> heißen, wo es nach <strong>de</strong>r<br />
Erziehung per Autopilot. Solche Minimalpflege scha<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn<br />
Schule spielt. Das ist keineswegs selbstverständlich, manche Eltern<br />
weit mehr als zu viel Autorität o<strong>de</strong>r zu viel Toleranz.<br />
nehmen kaum Anteil am außerfamiliären Leben ihrer Kin<strong>de</strong>r.<br />
geo.doc Seite 5 von 7<br />
660<br />
665<br />
670<br />
Autoritative Mütter und Väter sind keine Übereltern. Sie re<strong>de</strong>n viel<br />
und ermuntern zum Re<strong>de</strong>n. Sie unterschei<strong>de</strong>n streng zwischen Verhalten<br />
und Persönlichkeit, nie beantworten sie schlechtes Benehmen<br />
mit Angriffen auf die Person: "Du Trottel, du Versager" gehört nicht in<br />
ihren Wortschatz. Zugleich verlangen sie von ihren Kin<strong>de</strong>rn ein hohes<br />
Maß an Kooperation und angemessenen sozialen Umgangsformen.<br />
Es ist offenbar diese Mischung <strong>aus</strong> Anspruch und Anteilnahme,<br />
die autoritativ erzogene Kin<strong>de</strong>r lebenstüchtiger macht. Sie verfügen<br />
meist über größeres Selbstbewusstsein, sind seltener <strong>de</strong>pressiv,<br />
ängstlich o<strong>de</strong>r aggressiv, sie absolvieren die Schule meist ohne Probleme<br />
und konsumieren weniger Drogen. Meines Erachtens gibt es<br />
keine einzige Studie weltweit, die ergeben hätte, dass ein an<strong>de</strong>rer Erziehungsstil<br />
effektiver ist als <strong>de</strong>r autoritative", meint Laurence Steinberg,<br />
Und er zieht dar<strong>aus</strong> <strong>de</strong>n kühnen Schluss: "Wir wissen damit,<br />
welche Form von Erziehung Kin<strong>de</strong>r am besten för<strong>de</strong>rt."<br />
In einer repräsentativen Umfrage hat GEO Eltern nach<br />
ihrem Erziehungsverhalten befragt - und nach <strong>de</strong>m, was sie<br />
in Erziehungsfragen von an<strong>de</strong>ren Eltern erwarten. Das<br />
stimmt nicht immer überein: So erzieht eine knappe Mehr-<br />
675 heit <strong>de</strong>r Eitern ihre eigenen Kin<strong>de</strong>r wenig bis gar nicht autoritär:<br />
aber etwa die gleiche Anzahl von Müttern und Vätern<br />
wünscht, dass an<strong>de</strong>re Kin<strong>de</strong>r strenger erzogen wer<strong>de</strong>n. in<br />
<strong>de</strong>n östlichen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn ist die Ten<strong>de</strong>nz zur Strenge alles<br />
in allem <strong>de</strong>utlicher <strong>aus</strong>geprägt. Insgesamt wur<strong>de</strong>n 1045<br />
680 Eltern mit min<strong>de</strong>stens einem Kind im Alter bis 14 Jahre befragt,<br />
jeweils zur Hälfte Mütter und Väter.<br />
LIEBE, STRENGE, Unterstützung - das mag wie eine pädagogische<br />
Binsenweisheit klingen. und <strong>de</strong>swegen hat Judith Rich Harris<br />
<strong>de</strong>n autoritativen Stil als just right verspottet, als "genau richtig": Er<br />
685 sei, was weiße Mitteleuropäer und Amerikaner <strong>de</strong>r Mittelschicht für<br />
die richtige Erziehung hielten, ein Kulturprodukt, nichts weiter. Da<br />
auch Wissenschaftler von diesem I<strong>de</strong>al geprägt seien, fän<strong>de</strong>n sie es<br />
stets bestätigt.<br />
690<br />
695<br />
700<br />
705<br />
710<br />
Das wäre eine einleuchten<strong>de</strong> Kritik, wenn die Forschung nicht das<br />
Gegenteil belegt hätte: Der autoritative Stil ist auch in an<strong>de</strong>ren Kulturkreisen<br />
wirksam. Ganz gleich, welche Werte damit vermittelt wer<strong>de</strong>n,<br />
egal, ob westliche o<strong>de</strong>r nicht-westliche Forscher fahn<strong>de</strong>n, einerlei, ob<br />
in China, Schottland, Pakistan, Australien o<strong>de</strong>r Deutschland untersucht<br />
wird - die autoritative Erziehung erweist sich überall als überlegen.<br />
Offenbar ist sie keine westliche Erfindung, son<strong>de</strong>rn eine Art universales<br />
Rezept, das die Lernfähigkeit von Kin<strong>de</strong>rn beson<strong>de</strong>rs gut unterstützt.<br />
Das wird <strong>de</strong>utlich im Vergleich mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Erziehungsstrategien,<br />
Insgesamt unterschei<strong>de</strong>n die Forscher vier Stile: <strong>de</strong>n autoritativen,<br />
<strong>de</strong>n autoritären, <strong>de</strong>n permissiven und <strong>de</strong>n vernachlässigen<strong>de</strong>n.<br />
Noch einmal: Je<strong>de</strong>r dieser Stile bewegt sich im breiten Normbereich,<br />
hat <strong>de</strong>nnoch seine ganz eigene Charakteristik - und erzeugt bei Kin<strong>de</strong>rn<br />
ein jeweils typisches Verhaltensprofil.<br />
Autoritäre Eltern setzen klare Regeln und verlangen strikte Einhaltung,<br />
darin sind sie <strong>de</strong>n autoritativen gleich. Doch zugleich gehen<br />
sie wenig auf die kindlichen Belange ein, erklären ihre Vorgaben selten,<br />
können sich kaum auf die Welt <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s einlassen. Ihr Wort ist<br />
Gesetz. Die Zöglinge haben meist keine Probleme in <strong>de</strong>r Schule,<br />
auch von Drogen und Jugendgangs halten sie sich fern aber ihr<br />
Selbstbewusstsein ist gering, sie trauen sich weniger zu und sind<br />
leichter zu erschüttern.<br />
Permissiv, also erlaubend erzogene Kin<strong>de</strong>r wirken wie das Spiegelbild<br />
dazu: Sie haben Probleme, Schuldisziplin zu üben o<strong>de</strong>r sich<br />
von Drogen fern zu halten, sie neigen zu emotionalen Ausbrüchen,<br />
weil ihre "Selbstregulation" gering ist; aber sie gehen mit kräftigem<br />
Ego in die Welt. Ihre Eltern haben ihnen selten Grenzen gesetzt, Konflikte<br />
meist vermie<strong>de</strong>n, kaum Mitarbeit im H<strong>aus</strong>halt verlangt, aber immer<br />
begeistert die Unabhängigkeit ihrer Kin<strong>de</strong>r geför<strong>de</strong>rt.
Die hohe Kunst <strong>de</strong>s Helfens<br />
GEO, April 2002, S.126-154<br />
725<br />
730<br />
735<br />
Es gibt Hinweise - aber keine gesicherten Daten -, dass unter<br />
<strong>de</strong>utschen Dächern <strong>de</strong>r permissive Stil beson<strong>de</strong>rs populär ist. Eltern<br />
räumen hierzulan<strong>de</strong> ihren Kin<strong>de</strong>r erhebliche Freiheiten ein und<br />
scheuen sich, klare Grenzen zu ziehen, In <strong>de</strong>r <strong>Geo</strong>-Umfrage sprach<br />
sich rund die Hälfte <strong>de</strong>r Eltern gegen eine autoritäre Erziehung <strong>aus</strong>,<br />
zugleich for<strong>de</strong>rte fast zwei Drittel, Kin<strong>de</strong>r allgemein in Deutschland<br />
strenger anzufassen. Ein Wi<strong>de</strong>rspruch, <strong>de</strong>r auch die öffentliche Debatte<br />
prägt.<br />
Auch unter Lehrern ist das Laissez-faire verbreitet. Bei einer <strong>de</strong>taillierten<br />
Befragung wusste knapp die Hälfte <strong>de</strong>r Pädagogen nicht,<br />
wie sie regieren sollte, wenn etwa ein Mädchen ein an<strong>de</strong>res auf <strong>de</strong>m<br />
Schulhof boxt. Die meisten entschie<strong>de</strong>n sich fürs Räsonieren, also für<br />
langwierige Erklärungen gepaart mit vagen An<strong>de</strong>utungen möglicher<br />
Strafen. Das sind die mo<strong>de</strong>rnen Erziehungsprobleme: Unsicherheit,<br />
Hilflosigkeit. Auf <strong>de</strong>n Schulhöfen und in <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rzimmern.<br />
WOMIT HABEN SIE BEI DER ERZIEHUNG DIE MEISTEN<br />
740 SCHWIERIGKEITEN?<br />
• 31% konsequent zu bleiben<br />
• 15% für mich selber Freiräume zu schaffen<br />
• 13% <strong>de</strong>m Kind Grenzen zu setzen<br />
• 9% auch mal hart durchzugreifen<br />
745 • 8% Gehorsam zu erzielen<br />
• 4% <strong>de</strong>m Kind Freiräume zu geben<br />
• 3% <strong>de</strong>m Kind aufmerksam zuzuhören<br />
• 1% das Kind zu belohnen<br />
• 13% mit nichts davon<br />
750 Die autoritative Balance wäre die Antwort darauf, sie ist <strong>de</strong>r Königsweg<br />
<strong>de</strong>r Erziehung - darin sind sich Experten einig. Auch Tripie-P<br />
hat sich diesem Ziel verschrieben, die acht Hamburger Eltern streben<br />
ihn an.<br />
755<br />
760<br />
765<br />
770<br />
775<br />
780<br />
785<br />
Die "Prinzipien <strong>de</strong>s Positive Parenting Program sind so einfach,<br />
dass sie je<strong>de</strong>r Fünfjährige verstehen kann", sagt Professor Kurt Hahlwe<br />
von <strong>de</strong>r TU Braunschweig, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Initiator <strong>de</strong>s Programms.<br />
Was beabsichtigt ist: Schließlich sind Kin<strong>de</strong>r auch die Zielgruppe <strong>de</strong>r<br />
Eltern.<br />
Der erste Schritt je<strong>de</strong>r Erziehungs-Verän<strong>de</strong>rung lautet: beobachten<br />
und zählen. Ganz konkret. Was tut mein Kind tatsächlich, welches<br />
(un-)erwünschte Verhalten legt es an <strong>de</strong>n Tag - und wie oft? Gera<strong>de</strong><br />
in Familien bleibt vieles schwammig: „lrgendwie ärgert die mich nur,<br />
irgendwie streitet <strong>de</strong>r immer."<br />
Beobachten und zählen ist ein Wirklichkeitstest, <strong>de</strong>r Eltern zu erfassen<br />
zwingt, was ihr Kind tatsächlich tut. Der Aha-Effekt, <strong>de</strong>r dabei<br />
üblicherweise eintritt, verrät, wie sehr ein ungeprüfter Eindruck täuschen<br />
kann.<br />
Zu<strong>de</strong>m gehört zum Beobachten auch die Selbstbeobachtung. "ich<br />
habe mich durch die Übung gefragt: Was ist eigentlich meine Beziehung<br />
zu meinem Kind?", erzählt eine Mutter. "Und festgestellt, dass<br />
es viel mehr schöne Momente zwischen uns gibt, als ich gedacht hatte."<br />
Der zweite Schritt ist stets: Verhalten benennen, das die Kin<strong>de</strong>r<br />
verän<strong>de</strong>rn sollen. Familienregeln aufstellen. Und wie<strong>de</strong>r: ganz konkret.<br />
Nicht: Paul soll sich anständig benehmen. Son<strong>de</strong>rn: Er soll aufhören,<br />
seine Schwester zu kneifen. Schon bei diesem Schritt verdampfen<br />
viele Probleme, entschärft sich die Konfliktfront. 111 das<br />
Verhalten wirklich so schlimm, dass ich es än<strong>de</strong>rn möchte; und mit<br />
welcher Begründung?<br />
Der Verän<strong>de</strong>rung dienen viele Strategien, vom "beiläufigen Lernen"<br />
bis zur "Fragen-Sagen-Tun-Metho<strong>de</strong>". Aber es gehört dazu beispielsweise<br />
auch eine effektive Art, Kin<strong>de</strong>r anzusprechen. Das geht<br />
so: auf Augenhöhe mit <strong>de</strong>m Kind, wofür man sich hinknien sollte; im<br />
Abstand von etwa einer Armeslänge, weil Kin<strong>de</strong>r sich sonst nicht angesprochen<br />
fühlen; in klaren Worten und ganz ruhig.<br />
Eltern, die diese scheinbar banale Technik zum erstenmal <strong>aus</strong>probieren,<br />
nach<strong>de</strong>m sie sonst ihre Wünsche im Vorbeigehen irgendwie<br />
Richtung Kind adressiert hatten, berichten von regelrechten Erweckungserlebnissen.<br />
Eine Mutter schwärmt: "Es funktioniert sensationell,<br />
855 Auch wenn Mutter und Vater nicht gemeinsam für Konse-<br />
Und es ist so einfach. Warum bin ich nicht selbst darauf ge-<br />
790<br />
quenz einstehen. können Verhaltensprobleme auftreten.<br />
kommen?"<br />
geo.doc Seite 6 von 7<br />
795<br />
800<br />
805<br />
Viele Empfehlungen in Elternkursen wirken irritierend simpel. Das<br />
ist gewollt. je einfacher, <strong>de</strong>sto leichter lassen sie sich umsetzen. Viele<br />
Eltern wun<strong>de</strong>rn sich, wo eigentlich das Problem liege, wenn Erziehung<br />
sich auf so einfache Prinzipien reduzieren lässt.<br />
Die Antwort: in <strong>de</strong>r Praxis: „Die neuen Erkenntnisse immer wie<strong>de</strong>r<br />
umzusetzen, und zwar täglich in vielen unterschiedlichen Situationen,<br />
ohne in alte Routinen zurückzufallen - das ist das Schwierigste", sagt<br />
die Hamburger Triple-P-Trainerin Gabriele Steentjes.<br />
Der dritte Schritt: das Kind loben, belohnen. Gewünschtes Verhalten<br />
för<strong>de</strong>rn, nicht überschwänglich, aber konsequent. Das ist erstaunlich<br />
schwer, hat Kurt Hahlweg beobachtet: "Es ist überraschend, wie<br />
selten Eltern mit positiver Bestärkung arbeiten." Dabei gilt das gleichsam<br />
als erzieherisches Zaubermittel. Dass in <strong>de</strong>r <strong>Geo</strong>-Umfrage nur<br />
rund ein Prozent <strong>de</strong>r Eltern angibt, ihnen falle das Loben schwer, wi<strong>de</strong>rspricht<br />
diesem Befund nicht: Die meisten haben kein Problem mit<br />
Belohnung. aber sie setzen sie selten bewusst ein und meist nur bei<br />
beson<strong>de</strong>ren Anlässen.<br />
DIE HÄUFIGSTEN ERZIEHUNGSFEHLER<br />
810 UNGEWOLLTE BELOHNUNG: Wenn Eltern einem Kind Spielzeug<br />
o<strong>de</strong>r Süßigkeiten geben, um es von einem Fehlverhalten<br />
abzubringen, wird <strong>de</strong>ssen Verhalten vielmehr belohnt - und<br />
tritt wahrscheinlich häufiger auf. Auch Schimpfen o<strong>de</strong>r Langes<br />
Diskutieren schenken Aufmerksamkeit und verstärken e-<br />
815 her das Verhaften, das verhin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n soll.<br />
ESKALATIONSFALLEN: Kin<strong>de</strong>r lernen schnell, dass ihnen<br />
durch Steigerung eines Verhaltens ein Wunsch eher erfüllt<br />
wird. Der Sohn for<strong>de</strong>rt kurz vor <strong>de</strong>m Mittagessen immer lauter<br />
Süßigkeiten; gibt die Mutter irgendwann nach, wird das<br />
820 Kind für die Eskalation seiner Ansprüche belohnt. Ähnlich<br />
falsch wäre es, wenn Eltern sich angewöhnen. immer aggressiver<br />
zu wer<strong>de</strong>n, um ihr Kind zu einem bestimmten Verhalten<br />
zu bewegen.<br />
IGNORIEREN VON ERWÜNSCHTEM VERHALTEN: Einige Kin<strong>de</strong>r<br />
825 haben wenig o<strong>de</strong>r gar nichts davon, wenn sie sich gut benehmen.<br />
Im Gegenteil: Angemessenes Verhalten fin<strong>de</strong>t meist viel<br />
weniger Beachtung als schlechtes. Wenn Kin<strong>de</strong>r bei gutem Betragen<br />
ignoriert wer<strong>de</strong>n, lernen sie, dass sie nur durch Krawall<br />
auf sich aufmerksam machen können,<br />
830 INEFFEKTIVER UMGANG MIT ANWEISUNGEN: Ob Kin<strong>de</strong>r eine<br />
Anweisung befolgen, hängt stark davon ab, wie Eltern sie geben.<br />
Die häufigsten Probleme dabei:<br />
• zu viele Anweisungen auf einmal, sodass Kin<strong>de</strong>r das Gefühl<br />
bekommen, es ihren Eltern überhaupt nicht recht machen<br />
835 zu können.<br />
• Überfor<strong>de</strong>rung. Ein dreijähriges Kind. das sein Zimmer allein<br />
aufräumen soll, ist schlicht zu jung für die Aufgabe,<br />
• Anweisungen zur falschen Zeit. Das Kind sieht sich einen<br />
Film an, die Mutter ruft ihm im Vorbeigehen einen Auftrag<br />
840 zu so wird Streit programmiert, weil das Kind die Auffor<strong>de</strong>rung<br />
wahrscheinlich nicht einmal gehört hat.<br />
• Ungenaue Anweisungen. Kin<strong>de</strong>r sind nicht in <strong>de</strong>r Lage, vage<br />
o<strong>de</strong>r abstrakte Or<strong>de</strong>r zu entschlüsseln, etwa: ..Sei nicht albern",<br />
o<strong>de</strong>r: „Benimm dich or<strong>de</strong>ntlich",. Kin<strong>de</strong>r müssen genau<br />
und Schritt für Schritt erfahren, was von ihnen ver-<br />
845<br />
langt wird.<br />
WIRKUNGSLOSER EINSATZ VON STRAFE:<br />
• Strafe wird angedroht, aber nicht <strong>aus</strong>geführt. Auch wenn<br />
Drohungen zunächst wirken, wer<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>r schnell Lernen,<br />
850 sie zu ignorieren, wenn Eltern keine Taten folgen lassen.<br />
• Im Zorn erteilte Strafe. Dabei besteht immer das Risiko,<br />
dass Eltern die Kontrolle verlieren und <strong>de</strong>m Kind weh tun.<br />
• Inkonsequente Strafanwendung macht es für Kin<strong>de</strong>r nahezu<br />
unmöglich, einzuschätzen, was von ihnen erwartet wird.
Die hohe Kunst <strong>de</strong>s Helfens<br />
GEO, April 2002, S.126-154<br />
EMOTIONALE MITTEILUNGEN: Demütigen<strong>de</strong> Äußerungen wie;<br />
„Du bist einfach nur dumm" schwächen das Selbstwertgefühl<br />
<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s und lösen Wi<strong>de</strong>rstand und Wut <strong>aus</strong>. Es muss für<br />
860 Eltern immer darum gehen, Verhalten zu regulieren, nicht die<br />
Persönlichkeit <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s anzugreifen.<br />
Diese und weitere Hinweise fin<strong>de</strong>n Sie unter an<strong>de</strong>rem beim<br />
-Positive Parenting Program". lnformationen im Internet unter<br />
www.triplep.<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Triple-P Deutschland, PAG In-<br />
865 stitut für Psychologie, Hoyastraße 1 a. 48147 Münster; Tel.<br />
0251/518941<br />
Gabriele Steentjes vermutet, dass die Vergangenheit vielen Eltern<br />
im Weg steht: "Wir sind oft in strafen<strong>de</strong>r Atmosphäre aufgewachsen<br />
und daher gewohnt, alles über negative Äußerungen zu regulieren,<br />
870 durch Verbote und Maßregelungen."<br />
875<br />
880<br />
885<br />
Das Ziel von Triple-P dagegen: Zwangsprozesse in Belohnungssysteme<br />
zu verwan<strong>de</strong>ln. Manche Eltern müssen Zuspruch regelrecht<br />
üben. In einem Rollenspiel in einer an<strong>de</strong>ren Gruppe sollte ein Vater<br />
seinem Sohn ein Lob zollen; er dachte einige Momente nach und bellte<br />
dann her<strong>aus</strong>: "Schön, dass du endlich mal tust, was ich dir dauernd<br />
sage. „Da wird verständlich, warum zum Training auch konkrete Formulierübungen<br />
für „beschreiben<strong>de</strong>s Lob" gehören.<br />
Elternkurse folgen meist einem strengen Schema, die einzelnen<br />
Sitzungen sind minutiös durchstrukturiert. Das for<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>n Protest vieler<br />
Teilnehmer her<strong>aus</strong>: Man dürfe nicht alle Familien auf eine Linie<br />
programmieren, je<strong>de</strong> habe an<strong>de</strong>re Bedürfnisse. Das ist richtig, doch<br />
die Erfahrung zeigt, dass Familien durch Training nicht normiert wer<strong>de</strong>n:<br />
Eltern suchen sich jeweils das her<strong>aus</strong>, was bei ihnen funktioniert,<br />
und sie bestärken Verhalten, das sie für sinnvoll halten - und das ist<br />
in je<strong>de</strong>m H<strong>aus</strong>halt ein an<strong>de</strong>res.<br />
WENN SIE WÄHLEN KÖNNTEN: WIE LANGE WÜRDEN SIE<br />
GERN "URLAUB VOM KIND" MACHEN?<br />
• 1 Woche im Jahr: Männer 31% - Frauen 43%<br />
• 2 bis 3 Wochen: Männer 17% - Frauen 21%<br />
890 • länger als 4 Wochen: Männer 3% - Frauen 4%<br />
• nie: Männer 44% - Frauen 28%<br />
Beson<strong>de</strong>rs heikel ist <strong>de</strong>r vierte Schritt: Strategien im Umgang mit<br />
Problemverhalten. Darunter auch solche, die oft entschie<strong>de</strong>nen Wi<strong>de</strong>rstand<br />
hervorrufen. Etwa <strong>de</strong>r Vorschlag, auf Drohungen zu verzichten.<br />
„Wenn ... dann..."-Sätze sind vermutlich die beliebtesten im Kin-<br />
895<br />
<strong>de</strong>rzimmer, Strafverheißung ist Mamis letzte Waffe - die fast immer in<br />
Geschrei en<strong>de</strong>t.<br />
Tripie-P empfiehlt statt<strong>de</strong>ssen logische Konsequenzen - weil Kin<strong>de</strong>r<br />
nicht durch Worte lernen.<br />
900 Max will morgens nicht die Hose anziehen? Gut, dann geht er im<br />
Schlafanzug in <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rgarten. Paula und Franziska streiten sich<br />
lauthals. welcher Vi<strong>de</strong>ofilm laufen soll - also bleibt <strong>de</strong>r Fernsehapparat<br />
eine Viertelstun<strong>de</strong> lang <strong>aus</strong>.<br />
Nicht re<strong>de</strong>n han<strong>de</strong>ln.<br />
905 Bild: Prügeln<strong>de</strong> Kin<strong>de</strong>r im H<strong>aus</strong>flur<br />
Geschwisterzwist: Ein ganz normaler Streit, <strong>de</strong>r nach wenigen<br />
Minuten vergessen ist. “Ich gehe meist erst dazwischen, wenn es zu<br />
Handgreiflichkeiten kommt“, sagt Martina Kiefer. „Die Kin<strong>de</strong>r müssen<br />
lernen, ihre Konflikte untereinan<strong>de</strong>r <strong>aus</strong>zutragen.“<br />
910 Der Vorteil für Eltern ist Sie können ganz ruhig bleiben. Doch gera<strong>de</strong><br />
das fällt vielen schwer, weil sie sich in diesen Situationen gewissermaßen<br />
selbst abschaffen: Nicht sie, son<strong>de</strong>rn die Konsequenzen<br />
sprechen. Das er erleben Eltern in Zeiten. in <strong>de</strong>nen "Re<strong>de</strong>n" als<br />
höchste Erziehungstugend gilt, als narzisstische Kränkung.<br />
915<br />
920<br />
Noch umstrittener sind nur noch „Stiller Stuhl" und „Auszeit“, Sie<br />
bil<strong>de</strong>n die äußersten Mittel <strong>de</strong>r positiven Erziehung Kin<strong>de</strong>r, die sich<br />
partout nicht beruhigen. müssen je nach Alter für zwei bis zehn Minuten<br />
in eine Ruhezone zum Abkühlen. Diese „Strafe" soll Brüllen und<br />
Schlagen ersetzen. Aber viele <strong>de</strong>r Eltern empfin<strong>de</strong>n sie nur als Variante<br />
von "ab in <strong>de</strong>n Kohlenkeller.“<br />
925<br />
930<br />
935<br />
940<br />
Doch um die Auszeit haben die Forscher ein ganzes Kompendium<br />
von Empfehlungen gebaut, um sie auf ihren Kern zu fokussieren<br />
die Vermeidung von Verstärkung, Reizarmut. Getreu Gerald Patter-<br />
geo.doc Seite 7 von 7<br />
sons Erkenntnis: Nur Nicht-Verstärken schwächt Verhalten. Es ist,<br />
ohne Zweifel, das schwierigste Element <strong>de</strong>s Elterntrainings.<br />
DIE FRÜHERE LEHRERIN Gabriele Steentjes war skeptisch, als<br />
sie vor wenigen Jahren zum ersten Mal davon hörte. Bis sie die<br />
Techniken ihrer damaligen Grundschulklasse einführte, "Ich habe danach<br />
nur noch einmal brüllen müssen, ansonsten haben die Kin<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>n Stillen Stuhl problemlos „akzeptiert" Nach einer Weile hat sich<br />
das Rauhbein <strong>de</strong>r Klasse bei Regelverstößen sogar freiwillig auf <strong>de</strong>n<br />
Stuhl zurückgezogen Diese Erfahrung hat Steentjes <strong>de</strong>rart überzeugt,<br />
dass sie ich zur Triple-P-Trainerin <strong>aus</strong>bil<strong>de</strong>n ließ.<br />
Rund 70 Prozent <strong>de</strong>r Eltern verän<strong>de</strong>rn nach einem guten Training<br />
dauerhaft ihr Verhalten. Forscher halten die Wirksamkeit von Eltern<strong>aus</strong>bildung<br />
für inzwischen so hinreichend belegt, dass sie vorschlagen,<br />
in Zukunft solche Kurse bereits an Schulen anzubieten, spätestens<br />
aber wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Eltern während <strong>de</strong>r Schwangerschaft. Das<br />
konnte langfristig Verhaltensstärkungen, Kriminalität und Schulproblemen<br />
vorbeugen.<br />
"Wir wissen nicht alles über Erziehung", sagt Gerald Patterson,<br />
"aber wir wissen genug, um Eltern und Kin<strong>de</strong>rn zu helfen - und damit<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft."<br />
FRAGT MAN EXPERTEN, WEICHE REGELN ELTERN AUF<br />
945 KEINEN FALL MISSACHTEN SOLLTEN, SO HERRSCHT<br />
ERSTAUNLICHE EINIGKEIT. DREI STRATEGIEN BILDEN<br />
DEMNACH DIE GRUNDLAGE DER EFFEKTIVEN ERZIEHUNG:<br />
950<br />
955<br />
• AUFMERKSAMKEIT UND „WERTVOLLE ZEIT":<br />
Ohne ein positives Verhältnis zum Kind sind alte Erziehungsanstrengungen<br />
vergeblich. Dazu gehört, mit <strong>de</strong>m<br />
Kind zu re<strong>de</strong>n, ihm mit Interesse zuzuhören, Zuneigung<br />
zu zeigen, vor allem auch körperliche. Als „wertvolle Zeit<br />
bezeichnen Forscher über <strong>de</strong>n Tag verteilte kurze Zeitspannen<br />
-es reichen ein bis zwei Minuten -, in <strong>de</strong>nen Sie<br />
<strong>de</strong>m Kind , ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken.<br />
Viele solcher „Inseln“ <strong>de</strong>r Beachtung durch die Eltern<br />
sind wichtiger für das Kind und die häusliche Harmonie,<br />
als einmal am Tag eine ganze Stun<strong>de</strong> Zuwendung.<br />
• FAMILIENREGELN UND -DIREKTES ANSPRECHEN:<br />
960 Familien sollten sich wenige wichtige Regeln geben, die<br />
für alle Mitglie<strong>de</strong>r gelten, etwa: Es wird am Tisch gegessen.<br />
O<strong>de</strong>r: Wir schlagen nicht und schreien uns nicht an<br />
- was auch für die Geschwister untereinan<strong>de</strong>r gilt. Entschei<strong>de</strong>nd<br />
ist: Wird eine dieser Grundregeln verletzt,<br />
965 müssen Eltern sofort einschreiten und auf <strong>de</strong>r Einhaltung<br />
beharren (direktes Ansprechen). Nur so lernen<br />
Kin<strong>de</strong>r die Verbindlichkeit von Übereinkünften.<br />
• KLARE ANWEISUNGEN UND ..LOGISCHE<br />
KONSE0UENZEN:<br />
970 Viele Konflikte in Familien resultieren <strong>aus</strong> mangelhafter<br />
Kommunikation. Eltern geben beiläufige o<strong>de</strong>r unklare<br />
Anweisungen, Kin<strong>de</strong>r wissen nicht was sie tun sollen<br />
Wenn Mütter und Väter etwas von ihrem Kind verlangen,<br />
sollten sie <strong>de</strong>ssen Aufmerksamkeit gewinnen, genau<br />
975 sagen was sie von ihm erwarten, ihm Zeit geben, <strong>de</strong>r<br />
Auffor<strong>de</strong>rung nachzukommen - und es anschließend loben.<br />
Weigert sich das Kind, sollten logische Konsequenzen<br />
folgen. Beispiele: Kin<strong>de</strong>r streiten sich lauthals über<br />
das Fernsehprogramm, also wird das TV-Gerät ohne Debatte<br />
für zehn Minuten abgeschaltet. O<strong>de</strong>r ein Sohn will<br />
980<br />
<strong>de</strong>n Fahrradhelm nicht aufsetzen, also wird das Fahrrad<br />
für eine halbe Stun<strong>de</strong> weggestellt. Wichtig: Eltern, die<br />
nicht bereit sind, eine Konsequenz durchzusetzen, sollten<br />
ein Problemverhalten erst gar nicht ansprechen.<br />
985 Ta<strong>de</strong>ln und Drohen ohne Folgen führen nur zu Streit.