Krise, Selbstorganisation und soziale Netze
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KRISE, SELBSTORGANISATION UND SOZIALE NETZE
Bericht einer Bildungs- und Solidaritätsreise
nach Thessaloniki, 28.10.–3.11.2013
IMPRESSUM
KRISE, SELBSTORGANISATION UND SOZIALE NETZE
Bericht einer Bildungs- und Solidaritätsreise nach Thessaloniki, 28.10. – 3.11.2013
Erfurt, Dezember 2013
Herausgeberin:
DGB Jugend Thüringen
Warsbergstraße 1
99092 Erfurt
Kontakt: dgb-jugend-thueringen@dgb.de
Diese Broschüre gibt es auch in elektronischer Form im Internet.
Hier findet Ihr auch weitere Informationen sowie sämtliche Termine von Veranstaltungen:
http://solidaritaet.blogsport.eu
Die Texte dieser Broschüre wurden von den Teilnehmenden der Solidaritäts- und Bildungsreise verfasst.
Deshalb finden sich in dieser Broschüre mehrere Varianten, um eine geschlechtergerechte Schriftsprache
umzusetzen. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass sich die Reisegruppe aus Menschen verschiedener politischer
Hintergründe zusammensetzte. Die Vielfalt der Gruppe findet sich schließlich auch in der
Vielfalt der gewählten Schriftsprache wieder.
Vorwort
Eurokrise und Troika, Jugendarbeitslosigkeit
und Generalstreik, „Pleitegriechen“ und Korruption...
Über den Zustand Griechenlands wurde in den vergangenen
Jahren in der Presse viel geschrieben, doch die
Lebenssituation der Menschen wurde dabei allzu oft
ausgeblendet.
„Wir müssen uns selbst ein Bild von den Auswirkungen
der Krise vor Ort machen“, dies war im November
2012 der spontane Impuls nach einem Vortrag
über die aktuelle Situation in Griechenland, der ein
anschaulicheres Bild der griechischen Verhältnisse
zeigte. Diesem Impuls sind wir nachgegangen. Knapp
ein Jahr später machten sich 17 Aktive aus Thüringen
mit ganz unterschiedlichen politischen Hintergründen
gemeinsam auf den Weg, um Menschen in Griechenland
zu treffen und ihre Lebens- und Arbeitssituation
für eine Woche in den Blick zu nehmen. Wir
wollten wissen, wie die aufoktroyierte Sparpolitik der
Troika die Menschen vor Ort und ihr Leben verändert
und wie die Dinge zusammenhängen. Wir wollten verstehen,
was die Krise mit uns zu tun hat und was wir
politisch bei uns vor Ort tun können.
Was wir gesehen, gehört und erfahren haben,
war widersprüchlich: Einerseits Menschen, die mit den
Straßenhunden um die Abfälle konkurrieren. Chronisch
Kranke, die keine Medikamente mehr erhalten.
Beschäftigte, die ihren Job und jegliches Einkommen
verloren haben. Die Auswirkungen der Krise sind für
viele Menschen drastisch, der tägliche Überlebenskampf
kostet Kraft und ist erschöpfend.
Andererseits haben wir Menschen getroffen,
die trotz aller Schicksalsschläge versuchen, ihr Leben
selbst in die Hand zu nehmen. Die trotz aller Widrigkeiten
versuchen, in der Krise solidarisch zueinander
zu stehen und Widerstand zu leisten, um ihre
Lebensqualität zu verteidigen und ihre Lebenslust
zu behalten: Baustoffarbeiter, die ihre Fabrik besetzt
halten und die Produktion unter eigener Regie wieder
aufgenommen haben. Bedienstete des staatlichen
Rundfunks, die seit Monaten autonom weitersenden,
obwohl der Sender quasi über Nacht geschlossen worden
ist. Hunderte von Freiwilligen, die eine selbstorganisierte
Krankenstation betreiben, in der Menschen
ohne Krankenversicherung behandelt werden. Sie
haben oft viel verloren, aber auch etwas gewonnen:
Die der Not entsprungene Erfahrung, gemeinsam mit
anderen etwas Neues geschaffen zu haben, selbstbestimmt
und in Würde. Unterstützung fanden sie bei
Gruppen, die bereits länger aktiv sind, wie dem sozialen
Zentrum Mikropolis, das als unsere Partnerorganisation
fungierte. Und es entstanden neue Allianzen,
die unterschiedliche Kämpfe zusammenbringen. So
waren fast alle von uns besuchten Gruppen am Widerstand
gegen den Goldtagebau in Chalkidiki beteiligt,
der eine blühende Region in eine tote Schutthalde zu
verwandeln droht.
Von unseren Gesprächspartner_innen wurden
wir freundlich empfangen. So unterschiedlich die
Menschen und Projekte, die wir getroffen haben, auch
waren, eines wurde uns von fast allen mit auf den Weg
gegeben: Wir wollen kein Mitleid und keine Almosen
von euch, aber berichtet den Menschen in Deutschland,
was hier passiert.
Deshalb könnt Ihr unsere Eindrücke, die wir
mitgebracht haben, in dieser Broschüre nachlesen.
„The future is unwritten“ – Die Zukunft ist noch
ungeschrieben. Niemand kann absehen, ob Griechenland
und seine Menschen an der aktuellen Situation
zerbrechen werden oder ob der Kampf der Menschen
für ein besseres Leben und gegen eine falsche Politik
Erfolg haben wird. Doch das entscheidet sich nicht
(nur) in Griechenland, sondern auch in Deutschland
und den anderen europäischen Staaten. Durch die
Reise ist die Krise, die wir hier oft wenig spüren, dichter
an uns herangekommen. Ebenso die Notwendigkeit
zum politischen Handeln. Wir müssen unseren
Beitrag zu einer europäischen Solidaritätsbewegung
leisten, die nicht ein Europa der Märkte, sondern der
Menschen in den Mittelpunkt stellt.
In diesem Sinne danken wir allen, die ihr Wissen
und ihre Perspektiven mit uns geteilt haben, und
wünschen Euch eine anregende Lektüre.
Frank Lipschik
DGB-Bildungswerk e.V.
Jenny Zimmermann
DGB Jugend Thüringen
Bernd Löffler
Rosa Luxemburg Stiftung Thüringen
2
Inhalt
Mikropolis
Vom kollektiven Gestalten politischer,
sozialer und kultureller Ideen ...................................... 4
Stadtrundgang, Thessaloniki ...................................... 7
Gewerkschaftsarbeit in der Krise
Besuch im Arbeiterzentrum der GSEE ...................................... 15
Besuch im Jüdischen Museum ...................................... 19
Freiheit lernen?! ...................................... 22
Vio.Me – eine Fabrik in ArbeiterInnenhand
„Wenn ihr nicht könnt – wir können!“ ...................................... 26
Die „Klinik der Solidarität“ ...................................... 32
Im Clinch mit dem Großkapital
Griechische Gewerkschafter legen sich mit der
Coca Cola Hellenic Bottling Company an ...................................... 36
Zu Gast bei ERT3
„We are freedom TV“ ...................................... 45
!"#"!"$%&'()*)(+$– S.O.S. Chalkidiki!
Goldabbau stoppen, Repression bekämpfen! ...................................... 49
Mikropolis
Vom kollektiven Gestalten politischer, sozialer und kultureller Ideen
Das Mikropolis, ein sozialpolitisch-kulturelles
Zentrum in
der Innenstadt Thessalonikis, wird
von fünf Kollektiven gestaltet. Neben
dem Direkt-Vermarktungsladen
Sintrofia gibt es eine Kinderbetreuung,
einen Copyshop, eine linke
Bibliothek mit kleinem Bücherladen
und das Küchenkollektiv, welches
in der Kneipe des Mikropolis
mittags und abends mehrere Gerichte
sehr preiswert anbietet. Alle
diese selbstverwalteten Kollektive
bestehen aus jeweils größeren
Kreisen von Aktivist*innen. Aus
ihrem Kreis beschäftigen sie für
den täglichen Betrieb jeweils bis zu
sechs Angestellte. Rotierend werden
alle zwei Monate zwei der Beschäftigten
ausgetauscht. Das gewährleistet
zum einen Kontinuität
im täglichen Ablauf, zum anderen
werden mehr Beteiligte, zumindest
vorübergehend, von ökonomischem
Druck entlastet. Da sich die
fünf Kollektive trotz Bemühung
um Einnahmen nicht selbstständig
tragen, betreiben sie gemeinsam
die Kneipe, womit quasi das ganze
Mikropolis inklusive der Löhne der
in den Kollektiven Beschäftigten
finanziert wird. In der, recht großen,
Kneipe finden sehr oft Konzerte
statt, in der Regel kostenfrei.
Einmal wöchentlich treffen sich
alle Kollektive zum großen gemeinsamen
Plenum.
tion für die Behandlung verletzter
Tiere. Tierärzt*innen, Studierende
und andere Interessierte kümmern
sich hier ehrenamtlich um verletzte
Tiere, die zu ihnen gebracht werden.
Zumeist handelt es sich dabei
Vom Acker direkt ins soziale Zentrum: Auslagen im Direktvermarktungsladen
Das Mikropolis versteht um verletzte Wildvögel.
sich als eingebettet in das Netz
der selbstverwalteten Bewegungen
Nun möchten wir etwas
genauer Sintrofia vorstellen, das
und Kollektive in Thessaloniki selbstverwaltete Direkt-Vermark-
und seiner Umgebung. In diesem
Sinne spenden sie einen Teil ihrer
Einnahmen an die Bürgerinitiativen
in Chalkidiki (siehe S. 49ff.).
Außerdem gibt es unter dem Dach
des Mikropolis noch eine Tierstatungskollektiv.
Es arbeitet seit
etwa fünf Jahren und funktioniert
wie oben beschrieben. Der Bioladen
ist täglich von 12 bis 20 Uhr
geöffnet und die Einnahmen reichen
für das Einkommen von vier
4
Das Netzwerk funktioniert: Auch hier werden Vio.Me-Produkte verkauft.
Personen. Es werden vor allem Produkte
kleiner Produzent*innen abgekauft
und versucht, neue Handelsbeziehungen
möglichst ohne
weitere Zwischenhändler*innen zu
knüpfen. Da die Qualität der angebotenen
Waren oft besser als im Supermarkt
ist, besucht eine breitere
Kundschaft den Bioladen. Hier gibt
es auch Produkte der besetzten und
selbstverwalteten Fabrik Vio.Me.
Zum Hintergrund: Griechische
Verbraucher*innen verfügen
durchschnittlich nur noch über
ca. zwei Drittel ihres Einkommens
von vor 2010. Der Mindestlohn
liegt derzeit bei 480€. Die Arbeitslosigkeit
ist enorm hoch. Soziale
Unterstützung, vergleichbar dem
deutschen Hartz IV (SGB II), gibt
es nur für wenige Monate. Gleichzeitig
stiegen insbesondere die
Lebensmittelpreise. Seit Krisenbeginn
geht eine junge Generation
von Enkel*innen zurück auf den
ländlichen Familienbesitz und betreibt
wieder Landwirtschaft. Bewirtschafteten
2008 noch 8% der
griechischen Bevölkerung Land,
waren es 2009 schon 10%. Ca. 80%
dieser Rückkehrer*innen betreiben
Ökolandwirtschaft. Jedoch
haben Konsument*innen kein Geld
für teure Produkte. Viele dieser
neuen Landwirt*innen versuchen
nun, direkt an Kund*innen zu verkaufen
und den teuren Zwischenhandel
zu umgehen.
Sintrofia ist Teil eines aus
ca. 50 Gruppen bestehenden regionalen
Open Network for direct
Distribution. Dies ist kein explizit
politisches Netzwerk. In ihm sind
jedoch auch Soli- bzw. Politgruppen
aktiv, die versuchen gute und
preiswerte Lebensmittel unter die
Bevölkerung zu bringen. Ihnen ist
wichtig, dass Menschen die von der
Politik verlassenen gesellschaftlichen
Räume besetzen und selbst
gestalten. Direktvermarktung an
sich findet inzwischen, wie auch
wir fast täglich sehen konnten,
großen Nachhall in der Bevölkerung,
aber auch bei Stadtverwaltungen.
Letztere unterstützen teils
mit Räumen, teils mit Geld solche
Initiativen.
Ziel von Kollektiven wie
Sintrofia ist es aber, dass sich
Produzent*innen und Kund*innen
an der Gestaltung der Handelsbeziehungen
und der Qualitätskontrolle
direkt beteiligen. Es geht
ihnen nicht um Absicherung von
Dienstleistungen, sondern um
bessere Formen des Austausches -
auch über die Frage der Selbsthilfe
in Krisenzeiten hinaus. Starten viele
Menschen diese Arbeit anfangs
aus eher unpolitischen Beweggründen,
kommen sie folgerichtig
dann zu konkreten Fragen, wie z.B.
Entscheidungen getroffen werden
sollen und was direkte Demokratie
sein kann. Die Parteien-Linke,
z.B. SYRIZA, praktiziert Reale Demokratie
(Parlamentarische Parteiendemokratie,
Abstimmungsmehrheiten
etc.), das Mikropolis
und Sintrofia hingegen praktizie-
5
en Direkte Demokratie (Basisentscheidungen,
Konsensfindung). In
diesem Kontext fragten sich zehn
Menschen, die sich vorher nicht
kannten und in Thessaloniki eine
Nudelproduktion auf die Beine
stellen wollten, wie sie sich ökonomisch
strukturieren sollten. Die
Lösung war für sie eine Genossenschaftsgründung,
ein durchaus alternativer
Ansatz sozialer und ökonomischer
Vergesellschaftung.
Armenspeisungen werden
wiederum auch durch Stadtverwaltungen,
die Kirche und auch durch
Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte,
neonazistische Partei, im Folgenden
CA) durchgeführt. Der griechischen
Regierung ist es wichtig,
die inzwischen schon revolutionäre
Unzufriedenheit der Menschen
über Armenspeisungen zu kanalisieren,
auch durch CA. Diese kopierte
dafür Aktionsansätze linker
anarchistischer Bewegungen und
pfropfte nationalistische Propaganda
auf: Lebensmittel nur für
Griechen! Parlamentarier*innen
spendeten Geld für Armenspeisungen
an Griech*innen. Der Zustrom
zum Essen umsonst ist, bedingt
durch die ökonomische Lage vieler
Griech*innen, riesig, egal von wem
es angeboten wird. Allerdings wird
insbesondere CA dabei mit großen
Protestbewegungen konfrontiert,
so dass unter starkem Polizeischutz
dann nur wenige die Speisung annehmen.
Konservative Massenmedien
wiederum argumentieren
dann plakativ, dass böse Linke
Armenspeisungen verhindern, z.T.
in Form von Massenpropaganda in
den Hauptnachrichten.
Ziel des Kollektivs Sintrofia
im Sinne direkter Demokratie ist
die möglichst unmittelbare Kontrolle
von Produktionsbedingungen,
verbunden mit der fairen Verteilung
von Lebensmitteln. Deshalb
ist das Kollektiv auch an europäischen
Kontakten und Netzwerkarbeit
zum Erfahrungsaustausch interessiert!
Sylvia, Thomas, Jan
Das Mikropolis im Internet:
micropolis-socialspace.blogspot.de
La otra biblioteca, die etwas andere Bibliothek im Mikropolis
Stadtrundgang,
Thessaloniki
Wie herrlich es ist, aufzuwachen
und festzustellen, dass
man unmittelbar aufs Meer blicken
kann. Am Montag, dem 28. Oktober,
ist unsere Reisegruppe in Thessaloniki
angekommen. Mit Spannung
erkundeten wir am Vorabend beim
ersten Mikropolis-Besuch die hiesigen
Kneipengepflogenheiten. Später
fielen wir dann recht erschöpft,
aber doch voller Vorfreude auf das
Kommende in den Schlaf.
„Guten Morgen Thessaloniki!“
Das Aufstehen fällt ob der
Erwartung an unsere Bildungsreise
leicht. Schnell sind wir aus unseren
Schlafsäcken geschlüpft und nun
schon als „Einkaufs-Crew“ unterwegs
zu den Markthallen. Kleinigkeiten
für ein erstes gemeinsames
Frühstück auf der Dachterrasse
sind alsbald besorgt, sodass wir
die morgendliche Sonne mit Kaffee
genießen können. Das Beisammensein
nutzen wir für ein Plenum, um
gemeinsam zu klären, was für den
Tag geplant ist und dafür entsprechende
Absprachen zu treffen.
Gegen 11 Uhr sind wir mit
unserer Reisebegleitung am verabredeten
Treffpunkt. Unser Stadtrundgang
mit Eindrücken zur anarchistischen
Bewegungsgeschichte
Thessalonikis beginnt auf dem
Aristoteles-Boulevard in der Nähe
der Promenade. Auf dem zentralen
Platz fanden am Vortag die Festivitäten
zum Nationalfeiertag statt
– nun wird aufgeräumt: Der dafür
ausgelegte Fußballrasen wird zusammengerollt,
dennoch spielen
einige Kinder freudig weiter. Wir
schlendern über den Platz, ein Heer
von Tauben wird von uns aufgescheucht,
die ersten Straßenhunde
werden gesichtet, zahlreiche Menschen
sind unterwegs. Thessaloniki
ist nach Athen die zweitgrößte
Stadt Griechenlands. Im Großraum
leben etwa eine Million Menschen.
Es entsteht ein lebhafter Eindruck
des innerstädtischen Lebens.
Zur ersten Orientierung
Sogleich gibt unsere Reisebegleitung,
heute auch Stadtführer,
uns Anhaltspunkte zur Orientierung:
Richtung Süden sehen wir
das Meer mit der Promenade, die
einerseits zum Hafen und andererseits
zum Wahrzeichen der Stadt,
dem „Weißen Turm“, führt. Der
„Weiße Turm“ ist auf nahezu allen
erhältlichen Postkarten der Stadt
abgebildet und hat eine lange Geschichte.
In früher osmanischer
Zeit errichtet, hatte er schon viele
Funktionen inne: Nahrungsmittelund
Waffenlager, Wetterstation,
Knast („Blutturm“ genannt) – heute
beherbergt er ein Museum zur
Stadtgeschichte. Richtung Norden
sehen wir den sich erstreckenden
Aristoteles-Boulevard, dieser führt
bis zur Agora, darüber hinaus gelangt
man in die Altstadt und zur
alten Stadtmauer.
Während wir nun von Süden
nach Norden entlang der prächtigen,
hohen Häuserwände blicken,
welche mit allerhand Balkonen
bestückt sind, erzählt unser Stadtführer
vom großen Brand, der 1917
östlich und westlich vom Boulevard
wütete. In einer Ausdehnung
von etwa einem Quadratkilometer
7
ach ein Großbrand aus, der fast
das ganze südliche Stadtzentrum
zerstörte – vor allem das jüdische
Viertel, das dort angesiedelt war.
In Thessaloniki existierte bis zur
deutschen Besatzung im Zweiten
Weltkrieg die größte jüdische
Gemeinde Griechenlands. Etwa
60.000 Jüdinnen und Juden wurden
dann zwangsinterniert, deportiert
und in Konzentrationslagern
in Zentraleuropa ermordet. Heute
erinnert ein sehr kleines jüdisches
Museum, das in einer Seitenstraße
liegt, an die Gemeinde. Dieses Museum
werden wir am kommenden
Tag besuchen (siehe S. 19ff.).
Unser Weg führt uns weiter
in nördliche Richtung, bis wir links
in die „Irakliou“-Straße einbiegen,
um die Markthallen Thessalonikis
zu erreichen. Leider fehlt uns die
Zeit alles zu erkunden, doch das
duftende Obst und die eingelegten
Oliven helfen darüber hinweg
– Wegproviant wird ergattert. Frischer
Fisch liegt zuckend auf Eis in
den Auslagen, auch die gerade erst
zerteilten Fleischstücke erwecken
nicht bei allen frohe Mienen, sodass
sich wohl einige freuen, dass
es alsbald weitergeht durch das
bunte und laute Gewimmel.
Reaktionen auf die Krise
und deutsche Bewältigungsstrategien
Weiter geht es durch die
Straßen in Richtung Altstadt und
wir bemerken, dass einige Ladenflächen
leer stehen. Wie bereits
vermutet, ist dies eine direkte Auswirkung
der Krise in Griechenland.
Vor allem die Kleinhändler*innen
konnten sich die Mieten für die Ladenflächen
nicht mehr leisten und
mussten schließen – der Leerstand
ist nicht zu übersehen. Daneben
fällt jedoch auch auf, dass es viele
neue Bars und Tavernen gibt – so
verändert sich die Stadt.
Es herrscht reges Treiben
auf den Straßen. Ein Mitreisender
entdeckt unterwegs einen kleinen
Straßenstand mit Holzwaren. Er
guckt sich eine Zwille aus, während
der ältere Herr, der seine Waren
hier feilbietet, erkennt, dass wir
wohl aus Deutschland kommen. Er
erkundigt sich bei unserem Stadtführer
und Übersetzer, warum wir
nach Griechenland gekommen sind
und ein freundliches Gespräch entspinnt
sich. Nachdem wir ihm unser
Reise-Motto „Solidarität und
Selbstorganisation“ kurz umrissen
haben, gibt er uns mit auf den
Weg, Angela Merkel auszurichten,
dass sie die Leute hier in Ruhe lassen
solle. Der ältere Herr und seine
umstehenden Bekannten sind dabei
etwas erregt. Uns wünschen sie
aber neben all der Politik, von welcher
wir uns nicht allzu sehr stressen
lassen sollen, eine wunderbare
Reise. Wir freuen uns über den netten
Austausch und ahnen schon,
dass wir als „Deutsche“ öfter erkannt
und angesprochen werden.
Nun verlassen wir das
Marktviertel mit seinen urigen Passagen
und gelangen ans nördliche
Ende des Boulevards, das durch die
Querung der „Egnatia“, einer großen
Straße, bezeichnet wird. Es ist
viel Verkehr – Taxis, Busse, LKWs
und PKWs sind unterwegs. Der
Stadtführer erläutert uns, dass dies
in früherer Zeit einer der zentralen
Handelswege war, von welchen
Thessaloniki profitierte. Oberhalb
der Straße befindet sich ein großer
Platz mit Park, heutzutage ein
beliebter Startpunkt für Demonstrationen.
Auf dem Platz fällt zunächst
eine kleine Kirche auf, die
unterhalb des Niveaus des restlichen
Platzes liegt. Die Stadt wachse
auf dem Bauschutt vieler Jahre,
wird uns erzählt, weshalb vor allem
manche ältere Bauwerke tiefer
liegen. Die Erklärung bestätigend
treffen wir auf eine Ausgrabungsstätte,
welche eine antike Agora
offenlegt. Von oben blicken wir in
das Areal, das zu früherer Zeit als
Marktplatz, aber auch als Versammlungsort
für seine Bürger*innen
diente und damit eine wichtige
gesellschaftliche Rolle einnahm.
Als in den 1970er-Jahren hier ein
Gerichtsgebäude errichtet werden
sollte, wurden die Ruinen gefunden
und freigelegt. Nun liegt sie
zu Füßen des „Arbeiterzentrums“
(Gewerkschaftshaus), das nördlich
von ihr mit einem riesigen Plakat
auf sich aufmerksam macht.
Erste Begegnungen mit griechischen
Gewerkschaftsvertretern
Auf dem Plakat steht in
etwa „Rote Karte für alle Produkte
von Coca Cola, bis wieder in Thessaloniki
produziert wird – Nein zu
9
ulgarischer Coca Cola!“ Unsere
Reisebegleitung erklärt, dass der
Coca Cola-Standort in Thessaloniki
gerade geschlossen und nach
Bulgarien verlegt wird (siehe S.
36ff.) und merkt in Bezug auf die
Formulierung „bulgarische Coca
Cola“ an, dass auch in der griechischen
Linken häufig patriotisch
bzw. nationalistisch argumentiert
werde. Während einige Reisemitglieder
in das Gewerkschaftshaus
gehen, um Kontakt mit den hiesigen
Gewerkschaften aufzunehmen,
sitzen andere vor dem Haus
in der Sonne und machen Pause.
Dabei entwickelt sich ein etwas
wirres Gespräch mit einem Passanten.
Als dieser hört, dass wir
aus Deutschland kommen, spuckt
er vor uns auf den Boden. „Greece
is a colony of Germany“, ist seine
Einschätzung der aktuellen europäischen
Krisenpolitik - „We must
fight the German state!“. Als einige
erklären, dass die Gruppe u.a. aus
Anarchos, Gewerkschafter*innen,
Antifaschist*innen besteht, winkt
er ab: „We need actions, not words!“
Der Rest der Gruppe ist inzwischen
wieder aus dem Gewerkschaftshaus
gekommen. Der kurze Besuch war
ein Erfolg: Unsere Reisegruppe ist
zu einem Treffen aller nordgriechischen
Arbeiterzentren zur Planung
des Generalstreiks am 06.11.13 eingeladen
und außerdem zu einem
Treffen mit dem Vorsitzenden des
hiesigen Gewerkschaftszentrums.
So wird unser ohnehin schon volles
Programm noch voller – wir haben
uns wirklich einiges vorgenommen
(siehe S. 15ff.)!
Aber vorerst geht es weiter
den Hügel hinauf, wir nähern uns
langsam der Altstadt Thessalonikis.
Dabei werden wir auf das „Terra Incognita“
aufmerksam gemacht.
Das besetzte Haus fungiert in der
anarchistischen und autonomen
Szene als Polit-Zentrum. Leider
sind die Rollläden heruntergelassen,
Aufkleber und Graffiti zeugen
vom soziokulturellen Hintergrund.
Es ist zu bemerken, dass das Straßen-
und Stadtbild Thessalonikis
im Allgemeinen stark geprägt ist
von allerhand „Street Art“ verschiedenster
Art: einerseits klare
politische Parolen und Symboliken,
andererseits auch künstlerisches
Gestalten. Die Stadt wirkt vielleicht
deshalb so lebendig, weil sich der
politische Kampf in den Straßen
in Form von „Streetart“ materialisiert?
Vor allem in den zum Teil engen
Gassen der Altstadt, oberhalb
der Straße „Olympiados“, begegnet
uns dies vermehrt.
Die Altstadt: Niederschlag
der Bewegungsgeschichte
Bis ins zwanzigste Jahrhundert
hinein war die Altstadt
ein türkisches Viertel. Nach dem
Balkankrieg fand 1922 ein Bevölkerungsaustausch
zwischen Griechenland
und der Türkei statt,
sodass in der Altstadt viele griechische
Flüchtlinge aus Kleinasien
angesiedelt wurden. Das Viertel
war danach vor allem durch ein
Arbeitermilieu geprägt. Unsere
Reisebegleitung erzählt vom „Viertel
des Widerstands“, während der
Besatzung im 2. Weltkrieg hatten
Menschen hier die Möglichkeit,
10
sich vor staatlichem Zugriff zu
schützen. Im Jahr 1936 war das
Viertel sogar einige Tage lang anlässlich
eines wilden Streiks von
Tabakarbeiter*innen in Arbeiterhand,
bis der bewaffnete Aufstand
blutig niedergeschlagen wurde.
Heute zeugt oberflächlich nichts
mehr davon, es scheint vor allem
eine ruhige Wohngegend zu sein.
Dieser Eindruck wird mit dem Erfahrungsbericht
unserer Reisebegleitung
konfrontiert, als wir an
einem kleinen zerfallenen Haus
mir verwildertem Grundstück vorbeikommen.
In den 1990er Jahren
fanden in der Altstadt erhebliche
Auseinandersetzungen um die
Aufwertung bzw. Instandhaltung
des alten Viertels statt. Unter anderem
durch Hausbesetzungen
wurde versucht, den Charakter des
Viertels zu bewahren und stadtteilpolitisch
Einfluss zu nehmen,
doch die Anstrengungen scheiterten.
Viele Häuser wurden abgerissen:
Die Hauseigentümer*innen
investierten mit Hilfe der Stadt in
Neubauten, sodass mehrstöckige
Wohnhäuser entstanden. Nur an
wenigen Stellen ist in den Straßen
zu erkennen, was einmal war. An
allerlei Ecken erinnert sich unsere
Reisebegleitung an ehemalige
Besetzungen, Menschen und Erlebnisse.
Bedrückt gehen wir weiter
und zeichnen uns ein Bild von
kleinen einstöckigen Bauten, um
die sich bunte Gärten winden.
Ein weiterer bitterer Eindruck
ereilt uns an der Stadtmauer.
An diese hatten griechische Flüchtlinge
nach dem Bevölkerungsaustausch
Häuser gebaut. Seit Jahren
ist nun ein Prozess im Gange, der
alle Bebauung in unmittelbarer
Nähe zur Stadtmauer zu Gunsten
eines tourismusfreundlicheren Eindrucks
abreißen lässt. Hier bestehen
wohl noch einige individuelle
Besetzungen, um den Abriss zu
verhindern und günstig zu leben.
In einzelnen Ruinen umgeben von
Schutt und Gestrüpp entdecken wir
eine Besetzung durch Roma. Lange
werden sie hier sicherlich nicht
mehr leben dürfen – in diesen
schrecklichen Ruinen.
Auf Seiten der Stadtmauer
die konkreten Auswirkungen von
ökonomischer und sozialer Unterdrückung
erkennend, wenden wir
uns nun dem Panorama zu, welches
sich mit Blick aufs Meer über
die Stadt ergibt. Die Sonne scheint,
in kleinen Grundstücken blühen
Blumen, aufgeplatzte Granatäpfel
schimmern in ihrer Reife und
Straßenkatzen strecken ihre Glieder
genussvoll von sich. Wir gehen
einige Treppen hinab in die Stadt,
vorbei an diesen paradiesischen
(umzäunten!) Gärten und beenden
unseren Rundgang vor dem Gebäude
einer Stadtteilbibliothek, ein
ehemals besetztes Haus, das Ende
der 1990er Jahre geräumt wurde.
Der Stadtrundgang hat uns auch
eine Geschichte des Scheiterns sozialer
Bewegungen und politischen
Kampfes aufgezeigt. Anlässlich der
Eindrücke der nächsten Tage und
der verheerenden Krisenauswirkungen
fragen wir uns: Kann es
noch dringender werden die Veränderung
zu erreichen? Die kommenden
Tage werden zeigen: Der Kampf
geht weiter!
Franzie & Lisa
Als Küstenstadt profitiert Thessaloniki von seinem Hafen.
Heute ist nur noch vereinzelt das ursprüngliche Bild der Altstadt mit ihren kleinen Häusern sichtbar.
Protest an Häuserwänden: Freiheit für Gustavo Quiroga (kolumbianischer Anarchist und Hausbesetzer)
Die KNE ist die Jugendorganisation
der kommunistischen Partei KKE
Die Cafés sind voll, die Geschäfte aber sind verlassen – Thessaloniki in der Krise.
Gewerkschaftsarbeit
in der Krise
Besuch im Arbeiterzentrum der GSEE
Panagiotis Tsaraboulidis,
der Leiter des Arbeiterzentrums,
ist ein freundlicher, ruhiger Mann.
Als wir unangekündigt auftauchten
und um ein Treffen mit ihm
gebeten hatten, hatten wir bereits
am nächsten Tag einen Termin erhalten.
Nun empfängt er uns im
Konferenzsaal im obersten Stock
eines siebengeschossigen Hauses
mitten im Zentrum von Thessaloniki.
Das Arbeiterzentrum ist das
Herzstück der sozialdemokratisch
dominierten Arbeiterbewegung der
Stadt, rund 100.000 abhängig Beschäftigte
wurden vor der Krise von
hier aus vertreten.
Analyse der Krise
Zu Beginn unseres Treffens
erhalten wir eine kurze Analyse der
Krise in Griechenland aus gewerkschaftlicher
Sicht. Tsaraboulidis
betont, dass der Ausgangspunkt
der Krise zu einem Großteil in Griechenland
selbst liege, denn die
Menschen hätten in den vergangenen
20 Jahren versucht, in Sachen
Lebensstandard aufzuholen,
mit der Folge, dass vor allem im
Staatssektor die Beschäftigung mit
Schulden bezahlt worden sei. Auch
sei Geld verschleudert worden und
Klientelwirtschaft sei mit im Spiel
gewesen. Der öffentliche Sektor
habe einen großen Raum bei der
Beschäftigung eingenommen, die
Privatwirtschaft sei international
kaum konkurrenzfähig und zudem
sehr kleinteilig strukturiert, was
die Zahlen eindrücklich zeigen: In
Griechenland existieren bei rund
10 Millionen Einwohner_innen
knapp 1 Million Unternehmen.
Doch die Probleme in Griechenland
seien nicht über Nacht entstanden,
und niemand könne sagen, er habe
die Entwicklung nicht vorausgesehen.
Außerdem sei es logisch, dass
Griechenland zu Schulden genötigt
wurde, um die Importe aus dem
europäischen Ausland (u.a. aus
Deutschland) finanzieren zu können.
Und so sei das, was derzeit
in Griechenland geschehe, historisch
einmalig: Über Nacht sei eine
180°-Wende vollzogen worden, die
Kredite seien gestoppt und stattdessen
ein Spardiktat ohne Beispiel
verordnet worden. Keinem
Land der Welt sei in der Vergangenheit
je zuvor eine solche Rosskur
verschrieben worden.
Folgen der Krise
Die Wirkungen der Sparpolitik,
die Griechenland von der Troika
aufoktroyiert bekommen habe,
seien brutal. Das Land befinde sich
nun das sechste Jahr in Folge in
einer Rezession, insgesamt sei das
Bruttosozialprodukt in dieser Zeit
um 25% gesunken.
Die Folgen zeigten sich vor
allem in einer stark gestiegenen
Arbeitslosenquote, die bisher nicht
gekannte Ausmaße annehme.
Laut offizieller Zahlen betrage die
Arbeitslosigkeit in Griechenland
mittlerweile 30%, unter Jugendlichen
seien es sogar annähernd
70%, also nur ein Drittel der im
Land lebenden jungen Menschen
sei noch in Lohn und Brot. Diese
Zahlen seien dabei noch geschönt,
denn wer z.B. nur zwei Stunden
pro Woche arbeite, gelte gar nicht
als arbeitslos und gehe nicht in die
Statistik ein. Rund 200.000 überwiegend
junge Menschen hätten
15
Das Arbeiterzentrum von außen: Aufruf zum Coca Cola-Boykott
das Land in den letzten Jahren
verlassen. Zusammenfassend könne
man sagen, dass ein Drittel der
Griech_innen arbeite, ein Drittel in
Rente und ein Drittel arbeitslos sei,
letztere jedoch nach einem Jahr
Arbeitslosigkeit keinerlei finanzielle
Unterstützung mehr erhalten.
Die politischen Folgen seien
unübersehbar: Griechenland
sei eine „Geisel der Troika“, die
„Task Force Griechenland“ kontrolliere
das Land und führe sich auf
wie dessen Verwalter. Immer mehr
Menschen fühlten sich deklassiert,
fremdbestimmt und hilflos.
Tsaraboulidis prophezeit, dass es
nach den nächsten Wahlen keine
stabile politische Mehrheit mehr
geben werde. Stattdessen drohe
der Aufstieg der neofaschistischen
„Goldenen Morgenröte“ als eine besorgniserregende
Konsequenz der
Krise.
Die Rolle Deutschlands
Als es um die deutsche
Verantwortung an den Krisenauswirkungen
geht, bleibt Tsaraboulidis
freundlich, aber bestimmt. Er
kennt Deutschland und die Debatte
um „faule Griechen“ aus eigenem
Erleben, denn er war nicht nur als
griechischer Delegierter Gast beim
ver.di-Gründungskongress, sondern
2012 auf Einladung des Bürgermeisters
zu Gast in Detmold,
um über die Situation in Griechenland
zu berichten. Die EU sei keine
wirkliche Union, sondern von der
BRD dominiert. Dabei sei die EU in
erster Linie eine Währungsunion,
von der Deutschland profitiere. Es
müsse einen anderen Blick auf die
Wirtschaftseinheit geben, sonst
16
drohe eine Sackgasse mit fatalen
Folgen, und zwar für alle. Auf die
Nachfragen, was er in dieser Situation
von den deutschen Gewerkschaften
erwarte, antwortet Tsaraboulidis
diplomatisch: Er wisse,
dass die deutschen Gewerkschaften
nicht solidarisch in den Streik
treten könnten. Dennoch müssten
sie die Bevölkerung über die falsche
Krisenpolitik aufklären und
politischen Druck aufbauen.
Gewerkschaft in der Krise
Die griechischen Gewerkschaften
waren in der Vergangenheit
eine starke Kraft in der Gesellschaft
und konnten zahlreiche
Errungenschaften durchsetzen.
Doch aufgrund der Krise befinden
sie sich seit sechs Jahren in einem
Abwehrkampf nach dem nächsten
und die Angriffe auf Arbeitnehmer_innenrechte
werden mit einer
Vehemenz geführt, die zuvor unvorstellbar
erschien. Der Kündigungsschutz
wurde genauso außer Kraft
gesetzt wie Tarifverträge. Statt Kollektivrecht
herrscht in vielen Bereichen
nur noch Individualrecht.
Klassische gewerkschaftliche Vertretungsrechte
wie das Einklagen
von Lohn, werden immer weniger
in Anspruch genommen, weil die
Beschäftigten Angst haben, ihren
Job dann ganz zu verlieren. Und
auch ihre stärkste Waffe, nämlich
der Streik, ist stumpf geworden.
An den letzten Generalstreiks – der
36. wurde gerade während unserer
Anwesenheit für den 6. November
2013 geplant – beteiligten sich
auch diejenigen Menschen nicht
mehr, die das Anliegen grundsätzlich
unterstützen, weil sie sich den
Lohnausfall für einen Tag finanziell
nicht leisten können oder weil
sie in einem eintägigen Streik nur
noch ein hohles Ritual sehen, das
keine Wirkung zeigt.
Die Folgen sind dramatisch:
Die grassierende Arbeitslosigkeit
raubt der Gewerkschaft ihre klassischen
Mitglieder – in den vergangenen
Jahren rund ein Drittel.
Durch die faktischen Lohnsenkungen
sinken die Mitgliedsbeiträge,
derzeit kann die Gewerkschaft teilweise
noch nicht einmal mehr ihre
eigenen Beschäftigten bezahlen.
Die Struktur der Aktiven ist überaltert,
weil vor allem die Jugendlichen
von Arbeitslosigkeit und
Prekariat betroffen sind. Und nicht
zuletzt steckt die Gewerkschaft in
einer Legitimationskrise, weil sie
durch ihre Nähe zur sozialdemokratischen
PASOK selbst mit dem
von vielen als korrupt wahrgenommenen
alten System identifiziert
wird.
Was bleibt?
Am Ende blieb der Eindruck
von Ratlosigkeit. Gewerkschaften
in Griechenland kämpfen nicht nur
gegen den Verlust von Jobs oder
für eine andere Politik, sondern
ums eigene Überleben. Die alte,
an Sozialpartnerschaft und starker
Vertretung im öffentlichen Sektor
orientierte Politik erscheint völlig
hilflos angesichts der aktuellen
Verhältnisse. Der Richtungsstreit
innerhalb der Organisation ist voll
entbrannt. Eine Radikalisierung
ist eine mögliche Antwort. So gewann
die kommunistisch orientierte
PAME bei den letzen internen
Gewerkschaftswahlen rund ein
Viertel aller Stimmen. Aber auch
nationalistische Töne werden laut,
die beispielsweise mit den für uns
irritierenden antibulgarischen Untertönen
der Boykottkampagne gegen
Coca Cola angestimmt werden.
Der Ausgang ist unklar. Klar ist jedoch,
dass die Organisation in der
griechischen Gesellschaft kaum
eine Zukunft haben wird, wenn
es ihr nicht gelingen sollte, auch
die anerkannte Stimme der Arbeitslosen
und der Jugend zu sein.
Doch um die Politik als Ganzes zu
ändern, braucht sie Verbündete
auch und gerade in den Ländern
wie Deutschland, die von der Krise
profitieren. Der Blick vom Dach des
Arbeiterzentrums auf die antiken
Trümmer der Stadt zeigte es sinnbildlich:
Wenn Gewerkschaften in
Europa keine gemeinsamen Strategien
der transnationalen Solidarität
entwickeln und damit eine
Antwort auf die Fragen der Krise
finden, landen sie schneller als sie
denken auf dem Müllhaufen der
Geschichte.
Frank
17
Panagiotis Tsaraboulidis ist Leiter des Arbeiterzentrums in Thessaloniki.
Vom Dach des Arbeiterzentrums kann man die antiken Trümmer der Stadt sehen.
Besuch im
Jüdischen Museum
Das Jüdische Museum in
Thessaloniki befindet sich in der
Agiou Mina-Straße Nr. 13 und
damit im ehemaligen jüdischen
Viertel der Stadt. Über viele Jahrhunderte
stellte Thessaloniki das
Zentrum des sephardischen Judentums
in Europa dar und wurde „das
Jerusalem des Balkans“ genannt.
Der Geschichte und dem Schicksal
dieser Jüd*innen hat die Stadt ein
Museum gewidmet, welches 1997
eröffnet wurde und im Internet unter
www.jmth.gr zu erreichen ist.
Vorbei an Grabsteinen vom
ehemaligen jüdischen Friedhof
Thessalonikis gibt es im hinteren
Ende des Erdgeschosses die Information,
wo mensch auch Audioguides
im Smartphone-Design
bekommen kann (finanziert vom
deutschen Konsulat). Alle Schautafeln
des Museums sind mit Nummern
versehen, deren Eingabe den
Audioguide loslegen lässt. In der
deutschen Version ist ein Sprecher
mit einem schweizerischen Akzent
zu hören, welcher zwar alle hebräischen
Begriffe fließend ausspricht,
allerdings einige deutsche Wörter
merkwürdig betont. Trotzdem ist
der Stimme angenehm zu lauschen.
Die Ausstellung startet im
ersten Stock mit einer Zeitleiste,
beginnend mit der Gründung der
Stadt 315 v. Chr. und dem Entstehen
der jüdischen Gemeinde 140
v. Chr. Seine Bedeutung für die
jüdische Diaspora bekommt Thessaloniki
im ausgehenden 15. Jh.,
als 20.000 spanische Jüd*innen
vor der Inquisition nach Thessaloniki
fliehen und sich dort ansiedeln.
Thessaloniki stand damals
unter Osmanischer Herrschaft und
sollte es bis 1912/13 bleiben. Danach
wurde es „befreit“ und Teil
des neuen griechischen Staates.
Deutlich merkt mensch an dieser
Stelle das nationale Narrativ Griechenlands.
Es stellt sich die Frage,
von wem denn Thessaloniki befreit
wurde, wenn es seit über 500 Jahren
Teil des Osmanischen Reiches
war, die jüdische Bevölkerung relativ
autonom in der Verwaltung
ihrer Stadt war, in der sie die absolute
Bevölkerungsmehrheit stellte
und außerdem als Gruppe mit dem
höchsten Lebensstandard im Osmanischen
Reich galt.
In Griechenland hingegen
waren die Jüd*innen nun eine
Minderheit in einem sich christlich
definierenden Nationalstaat. Hinzu
kam, dass sich ab 1922 im Zuge
eines Bevölkerungsaustauschs mit
der Türkei rund eine Million griechischsprachige
Kleinasier*innen
in Thessaloniki ansiedelten. Damit
wurden die Jüd*innen zu einer
Minderheit in ihrer eigenen Stadt,
was zu vielfältigen sozialen Spannungen
führte. Die jüdische Bevölkerung
befand sich zwar quantitativ
in der Minderheit, hatte
aber seit Jahrhunderten gefestigte
soziale, politische und ökonomische
Strukturen. Mit der Eroberung
der Stadt durch die Deutschen im
Jahe 1941 wurden diese Konflikte
endgültig gelöst. Das Schicksal
der griechischen Jüd*innen ist bekannt
– nur wenige überlebten den
deutschen Vernichtungswillen.
Neben der Zeitleiste enthält
der zweite Stock noch vier kleine
19
»Jerusalem des Balkans«
Die jüdische Gemeinde in Thessaloniki bis zur Besatzung 1941
315 v. Chr.
Gründung von Thessaloniki
– benannt nach der Halbschwester Alexanders des Großen: Thessalonikeia
140 v. Chr.
Erste jüdische Siedler*innen aus Alexandria
– „Romaniots Jews“, welche Griechisch sprachen
1376
1423
Ansiedlung einiger mitteleuropäischer Jüd*innen
Ansiedlung einiger norditalienischer Jüd*innen
– Thessaloniki wurde in diesem Jahr an Venedig verkauft
1430
Eroberung der Stadt durch das Osmanische Reich
– Jüd*innen fielen unter islamisches Recht ! als Buchreligion rechtlich
gleichgestellt mit Christ*innen
1492/93
20.000 Jüd*innen aus Spanien siedeln sich an
– Vertreibung der Jüd*innen aus Spanien: Alhambra-Edikt
– sephardische Jüd*innen ! eigene Sprache: Ladino (Judenspanisch)
– Synagogen häufig nach Herkunftsregion benannt, bildeten autonome Gemeinden
1496
1545
1715
1890
1912/13
1917
Portugiesische Jüd*innen siedeln sich ebenfalls an
Feuer zerstört 8.000 Häuser und 18 Synagogen im jüdischen Viertel
Italienische jüdische Händler*innen siedeln sich an
Feuer zerstört fast das jüdische Viertel
Balkankrieg ! Thessaloniki wird Teil Griechenlands
Feuer zerstört jüdisches Viertel im Stadtzentrum
– inkl. 34 Synagogen, 11 Schulen
– 53.737 Jüd*innen obdachlos
1922
1931
1940
1941
Bevölkerungsaustausch mit der Türkei: 100.000 Griech*innen aus Kleinasien siedeln
sich an
Anti-jüdische Riots ! 20.000 Jüd*innen gehen v.a. nach Frankreich und Palästina
7000 Jüd*innen aus Thessaloniki kämpfen an der albanischen Front gegen Italien
Thessaloniki von Deutschen erobert
Räume. In drei Räumen findet eine
Auseinandersetzung mit der Kultur
der sephardischen Jüd*innen
statt und der vierte ist der Besetzung
Thessalonikis durch die
Deutschen und dem Schicksal der
damals aus über 50.000 Personen
bestehenden jüdischen Gemeinde
der Stadt gewidmet. Dabei sticht in
diesem Raum vor allem ein Rechner
heraus, auf welchem sich eine
Datenbank mit Namen und Schicksalen
der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus
öffnen lässt. Ein
jüdischer Auschwitz-Überlebender
hat 55 Jahre damit verbracht, die
Namen zu recherchieren und inzwischen
enthält die Datenbank
die Namen von fast 400.000 Menschen,
darunter 48.000 Namen von
Jüd*innen aus Thessaloniki.
Nicht unerwähnt in den
Räumen bleibt auch die Zionistische
Bewegung in Thessaloniki
Anfang des 20. Jahrhunderts und
die 12.880 Jüd*innen, welche im
Zweiten Weltkrieg in der griechischen
Armee gedient haben und
zunächst erfolgreich gegen Italien
und später gegen die Wehrmacht
kämpften. Auch spielten die
Jüd*innen Griechenlands eine Rolle
im jüdischen Widerstand in Griechenland
und darüber hinaus. So
waren griechische Jüd*innen Teil
des Sonderkommandos, welches
bei einem Aufstand in Auschwitz-
Birkenau 1944 das Krematorium III
sprengen konnte.
Ebenfalls im oberen Geschoss
gibt es einen Bibliotheksraum
mit umfassender Literatur
rund um die Thematik Judentum
in Thessaloniki, Griechenland und
der Shoah. Dort stehen auch Tische
und Stühle, allerdings ist die
meiste Literatur auf Griechisch
und deswegen wohl den wenigsten
Tourist*innen verständlich.
Im Erdgeschoss befindet
sich das Ende der Ausstellung mit
den schon erwähnten jüdischen
Grabsteinen. Leider fehlt eine Tafel,
welche über das Schicksal des
jüdischen Friedhofs berichtet, von
dem diese Grabsteine stammen.
Schon in den 1930er Jahren gab es
wiederholt Versuche das Gelände
des Friedhofs zu erwerben, um die
nahegelegene Universität auf diesem
Gelände zu erweitern. Unter
der deutschen Besatzung konnte
dies dann 1942 durchgesetzt werden.
Aber anstatt diese zu beleuchten,
werden die Grabsteine vom
Audioguide nur übersetzt, mensch
erfährt also nur, um wessen Grabstein
es sich handelt und wie die
Inschrift lautet, jedoch nicht, warum
der Grabstein im Museum steht.
Insgesamt gesehen ist
das Museum recht klein, sodass
mensch es in einer knappen Stunde
besichtigen kann. Uns verwunderte
dies, denn Thessaloniki galt als
das wichtigste Zentrum des sephardischen
Judentums. Möglicherweise
zeigt dies die Wertschätzung für
die Relevanz der Jüd*innen für
die Geschichte des heutigen Griechenlands.
Die Jahrhunderte zwischen
antikem Griechenland und
modernem Nationalstaat scheinen
dafür nicht relevant und die Spuren
dieser „Zwischenzeit“, wenn
auch nicht aktiv getilgt, werden
dem Vergessen überlassen. So existiert
heute in Thessaloniki nur
noch eine der ehemaligen Synagogen,
diese ist aber auf den kostenlos
verfügbaren Stadtplänen der
Tourist*innenbüros nicht aufzufinden.
Caro & Thomas
21
Freiheit lernen?!
Schule zur Erlernung der
Freiheit – ein pathetischer Name,
unter dem sich niemand so richtig
etwas vorstellen konnte. Angekommen
erlebten wir einen Ort
voller Menschen und voller Leben.
Das Plenum würde erst 20 Uhr beginnen,
wir hatten also noch eine
gute Stunde Zeit, eigenständig
auf Erkundungstour zu gehen.
Und somit zerstreute sich unsere
Gruppe. Einige gingen direkt zur
gut besuchten Bar, in der die ersten
Verkaufsgüter schon jetzt rar
wurden. Andere gingen in einen
Raum gegenüber, in dem sich ein
kleiner selbstverwalteter Lebensmittelladen
befand. Der Flur lud
mit Plakaten, für uns unlesbaren
Informationsblättern und Ausstellungsstücken
eine weitere Gruppe
zum Verweilen ein.
Doch letztendlich zog es
alle auf den Hof der Schule. Dort
hatten Direktvermarkter*innen
kleine Stände aufgebaut und verkauften
verschiedenste Produkte:
Obst und Gemüse, Wein, Duftöle
und Pflegeprodukte, Gewürze, Honig,
Brot und noch einiges mehr.
Leute befanden sich miteinander
im Gespräch, Hunde und Katzen
huschten zwischen den vielen
Beinen umher, die Lampen warfen
ein stimmungsvolles Licht auf
den Nachtmarkt und unterstrichen
die behagliche und familiäre Stimmung.
Die Stunde verging
wie im Flug
Im ersten Obergeschoss fanden
wir uns schließlich in einem
kleinen Raum zusammen. Marcos
und Andres erzählten uns mehr
über die Schule und die dahinter
stehenden Ideen:
Die Schule wurde vor drei
Jahren besetzt. Belebt wird dieses
Projekt von Menschen aus
verschiedenen linken politischen
Richtungen. Jeden Montag findet
ein Plenum statt, bei dem Personen
privat und nicht als Delegierte ihrer
Strukturen auftreten. Ziel ist, dass
diesem Netzwerk möglichst viele
Spektren, Strömungen und Initiativen
angehören. Die Akteur*innen
handeln nach folgenden, selbst
ausgehandelten Prinzipien:
• keine Wahlen
• Versuch der Hierarchielosigkeit
• Entscheidungen werden im
Konsens getroffen
Die Menschen hier verstehen
den Ort auch als soziales Zentrum.
Dabei versuchen sie zwar
autonom, aber nicht unabhängig
von der Gesellschaft zu agieren.
Sie wollen entlang der Bedürfnisse
der griechischen Bevölkerung
handeln. Um zum Beispiel Lebensmittel
preiswerter anzubieten,
entstand die Idee, Produkte ohne
Zwischenhändler*innen auszutauschen.
Dadurch fingen die Menschen
an, sich mit der Herkunft
und den Bestandteilen der Waren,
die sie konsumieren, auseinanderzusetzen.
Nachhaltigkeit spielt somit
eine immer größer werdende
Rolle.
Auf unsere Frage, was man
denn hier in der Schule lernen
könne, reagierten Andres und Mar-
22
Näher zusammenrücken: Direktvermarktung auf dem Schulhof
cos mit einem Lachen: „Alles. Beispielsweise
gab es mal einen Kurs
zum Bierbrauen. Man hatte die
Hoffnung, irgendwann eigenes Bier
in der Bar verkaufen zu können.“
Im Prinzip seien sie hier offen für
alles. Wenn jemand eine Idee hat,
kann er oder sie diese hier umsetzen.
So gab es neben einem „Kreatives
Recycling“-Kurs auch Angebote
wie Boxen, Pilates, Tanzunterricht,
die verschiedensten Sprachkurse,
einen Malraum, Instrumentenbau,
einen Proberaum, eine Küche.
Wer aber lehrt in den
Sprachkursen, wenn es
keine Hierarchien geben
soll?
Die Rolle der Lehrenden
wird tatsächlich als schwierig eingeschätzt.
Deswegen wurde sich
auf folgende Methode geeinigt: Wer
eine Sprache beherrscht, kommt
hierher und bringt sie Interessierten
bei. Diese können ihr Wissen
dann später an Andere weiter geben.
Es gibt immer wieder den Versuch,
Lehrende auch zu bezahlen.
Jedoch ist das Geld oft knapp. Zusätzlich
zu den Nebenkosten fallen
Gelder zum Beispiel auch für Gerichtsverhandlungen
an. Die einzigen
beiden Einnahmequellen sind
momentan die Bar und der Lebensmittelladen.
Wie die Gelder verteilt
werden, entscheiden sie beim Montagsplenum.
Am Anfang erreichte man
mit der Besetzung und mit den
Angeboten vor allem Studierende.
Inzwischen bringen sich auch
Leute aus der Nachbarschaft ein.
Der Erstkontakt entsteht häufig
durch die Sprachkurse. Dadurch
kommen Nutzer*innen auch verstärkt
mit den politischen Inhalten
in Kontakt. Im Verlauf kristallisierte
sich heraus, dass sie in der
Schule eine Community mit bestimmten
Werten sind. „Wer diese
Werte nicht vertritt, wird auch auf
Dauer kein Teil dieser Community
werden.“ Für ihr Konzept müssen
sie weiter werben. Es ist auch ein
Kampf gegen Vorurteile gegenüber
Hausbesetzer*innen.
Darüber hinaus sehen sie
sich in der Pflicht, ihr Haus stets
vor einer möglichen polizeilichen
Räumung zu schützen. Ihre Kraft
ist dabei die Zahl der Beteiligten:
„Wir sind viele!“
Dabei bekommen sie auch
Unterstützung von anderen besetzten
Hausprojekten. Die Vernetzung
hier ist sehr gut. Inzwischen gehen
sie auch gemeinsam auf Demonstrationen.
Zuletzt aus Anlass der
Ermordung eines Antifaschisten
durch die Goldene Morgenröte. Sie
kämpfen auch gemeinsam mit den
23
Arbeiter*innen von Vio.Me und
den Menschen aus Chalkidiki. Es
sind unerwartet gute Beziehungen
zum Radio und zum Fernsehen entstanden.
Eine Gruppe aus Köln hat
beispielsweise einen Beitrag über
Faschismus erstellt und diesen ausgestrahlt.
Gibt es denn Probleme mit
Faschist*innen hier in der
Schule?
Hier in Thessaloniki sind
Faschist*innen eher in der Minderheit
und es kommt kaum zu
Auseinandersetzungen.
Schätzungsweise
alle drei bis vier Monate
werden Rechtsradikale von
Hooligans angegriffen. Allerdings
können die Faschist*innen an den
Stadträndern und in der Umgebung
von Thessaloniki eher Fuß fassen.
Jüngst erhielten sie fünf Prozent
bei den Wahlen. Seit Beginn der
Krise werden sie vermehrt als soziale
Bewegung betrachtet. Von denen
gibt es seither viele. Aber der
Unterschied zu linken Bewegungen
liegt auf der Hand: „Die Goldene
Morgenröte sagt: ‚Wir sorgen
für euch‘. Wir aber sagen: ‚Lernt,
euch selbst zu organisieren und
euch selbst zu helfen!‘“ Prinzipiell
haben die Leute des Hausprojektes
aus der Krise gelernt, ihr Leben
eigenständig zu organisieren und
dass Demokratie nicht bedeutet,
nur alle paar Jahre wählen zu gehen.
Das durch die Krise entstandene
politische Vakuum kann von
ihnen gefüllt werden.
Wie kann man mehr über
euch erfahren?
Die Schule zur Erlernung der
Freiheit wird bald auf twitter und
facebook zu finden sein. Aber kein
soziales Netzwerk kann Gespräche
wie an diesem Abend ersetzen.
Christina & Jenny
24
Egal ob Pilates-, Spanisch- oder Klaviergruppe: jeder Kurs übernimmt mal eine Schicht an der selbstorganisierten Bar.
Vio.Me – eine Fabrik in
ArbeiterInnenhand
„Wenn ihr nicht könnt – wir können!“
Es ist Donnerstag, der vierte
Tag unserer Bildungsreise. Das
Wetter ist wunderschön. Bei Sonnenschein
und 23°C machen wir
uns auf den Weg in das Industriegebiet
von Thessaloniki. Schon
bei unserer Ankunft ist uns aufgefallen,
dass viele Gebäude leer
stehen und ganze Betriebe brachliegen.
Dieser Eindruck bestätigt
sich. Kein Wunder bei mehr als
30% Erwerbslosigkeit. Doch unser
Weg führt uns in eine Fabrik, die
mit Leben erfüllt ist, auf ein ganz
besonderes Fleckchen Erde in der
großen kapitalistischen Verwertungsmaschine
- Vio.Me.
Was war geschehen?
Vio.Me gehörte zu einem
größeren Firmenkonsortium, der
Johnson-Gruppe. Als die Fabrik
noch in den Händen der „EigentümerInnen“
lag, wurden dort Baustoffe
und chemische Reinigungsmittel
hergestellt. Wie uns die
ArbeiterInnen berichteten, unterlagen
sie dauerhafter Aufsicht und
harten Strafen bei angeblichen Verfehlungen.
Fließbandarbeit, Stress
und die Angst, den Arbeitsplatz zu
verlieren, waren bestimmende Momente
in ihrem Arbeitsleben. Wer
einen Fehler gemacht hatte, bekam
eine Abmahnung, beim zweiten
Fehler erfolgte die Kündigung.
Wer eine Toilettenpause brauchte,
musste sich kümmern, dass die
Arbeit von jemand anderem wei-
ter gemacht wurde, die Produktion
musste ja laufen.
Im Zuge der sich ausdehnenden
Krise ging es dem Firmenkonsortium
immer schlechter. Nun
wurde Vio.Me herangezogen und
sollte die Verluste wieder ausgleichen.
Die Produktion wurde auf
Hochtouren gebracht. Die Lager
mussten noch einmal richtig voll
gemacht werden. 14-Stunden-Tage
waren keine Ausnahme, die Überstunden
wurden natürlich nicht
bezahlt.
Dann krachte das ganze
Kartenhaus zusammen und Vio.Me
wurde mit in den Strudel gerissen.
Trotz schwarzer Zahlen und voller
Auftragsbücher verkündeten die
EigentümerInnen, der Betrieb sei
unrentabel und schreibe rote Zahlen
und müsse daher geschlossen
werden.
Seit Mai 2011 wurden den
ArbeiterInnen die Löhne nicht
mehr ausbezahlt. Gleichzeitig wurde
ihnen aber auch bekannt, dass
der Betrieb demontiert werden
sollte. Um die Demontage der Produktionsmittel
zu verhindern und
damit die Zahlung der ausstehenden
Löhne zu erzwingen, besetzten
die ArbeiterInnen die Fabrik. Das
Kapital kam den Lohnforderungen
der ArbeiterInnen nicht nach.
Auch die üblichen Wege – Gerichtsverfahren,
InvestorInnensuche –,
die der Kapitalismus für eine solche
Situation bereit hält, blieben
ohne Erfolg.
So beschlossen die ArbeiterInnen
die Sache in die eigene
„Früher gab es Konkurrenz und Streit,
wer denn zu viel Geld bekommt für das,
was er tut und wer zu wenig,
und der eine hat auf den anderen geschaut.
Aber das ist Geschichte.
Seit wir in unserer Fabrik alle zusammen unser Produkt herstellen
und zwar so, wie wir es wollen, und es keinen gibt, der über uns steht,
seitdem erkennen wir uns als Freunde.“
Ein Arbeiter von Vio.Me
Hand zu nehmen und gründeten
einen ArbeiterInnenrat, um über
das weitere Vorgehen zu beraten.
Sie versuchten Unterstützung für
ihr Anliegen von den etablierten
Organisationen der ArbeiterInnenbewegung
zu erhalten, stießen dabei
aber nur auf Ablehnung. Starke
Unterstützung und Solidarität erhielten
sie jedoch von linksradikalen
und anarchistischen Gruppen.
Im Zuge dessen beschlossen sie
eine ArbeiterInnenkooperative zu
gründen. Im Februar 2013 dann,
umringt von Solidaritätsaktionen
und einer großen Eröffnungsfeier,
nahmen die ArbeiterInnen die Fabrik
wieder in Betrieb.
Sie erarbeiteten einen Plan
und legten Folgendes fest:
• zukünftig sollen nur noch nützliche
und ökologische Dinge hergestellt
werden, d.h. biologisch
abbaubare Reinigungsmittel wie
Handseife, Waschpulver etc.
• alle sollen das gleiche Geld bekommen,
von der Reinigungskraft
bis zum Elektriker
• jede Entscheidung soll eine Entscheidung
im Konsens sein, sodass
niemand ungehört bleibt
• diese Entscheidungen werden in
der für alle verpflichtenden Generalversammlung
getroffen
Probleme!?
Natürlich stehen die ArbeiterInnen
vor Problemen und das
sind keine einfachen. An erster
Stelle steht, dass sie einen legalen
Status bekommen, damit sie
die Produktion ausweiten und ihre
Produkte überhaupt legal verkaufen
können. Dabei ist die rechtliche
Situation, d.h. wem die Fabrik
gehört, nach wie vor ungeklärt und
wird wohl vor Gericht entschieden
werden. Auch ist der derzeitige
Vertrieb ihrer Produkte noch improvisiert
und erfolgt über die Läden
in den sozialen Zentren und
besetzten Häusern. Ebenso wird
Vieles im Moment noch mit Spenden
finanziert.
Was bleibt...
… ist ein weiterer Beweis,
dass es auch ohne KapitalistInnen
geht. Wir haben Menschen erlebt,
die die Sache jetzt selbst in die
Hand nehmen und am eigenen Leib
erfahren, dass die, die produzieren,
auch die sind, die die Produktion
organisieren können. Wir haben
erlebt, dass die Herausbildung
27
des dafür notwendigen Bewusstseins
ein harter und langer Weg
ist, aber dass das Alter dabei keine
Rolle spielt. Wir haben KollegInnen
erlebt, die einen ganz neuen und
anderen Abschnitt in ihrem Leben
beginnen, die kämpfen und etwas
Neues schaffen. Wir haben Menschen
erlebt, die bewusst für ihre
Interessen, für sich und ihre Klasse
eintreten.
Ein unvergleichlicher Eindruck
tiefer Verbundenheit mit
KollegInnen und, ja auch, Genoss-
Innen, die den Kampf aufgenommen
haben, um sich zu wehren und
ihre Würde wieder zu erlangen. Der
Besuch, wie überhaupt die ganze
Reise, hat tiefe Spuren in uns hinterlassen.
Wir haben Empfindungen
und Gefühle mitgenommen, die
uns in unserem Kampf bestärken
und uns Mut machen.
Was tun?
Die KollegInnen brauchen
Unterstützung! Ihr Kampf erfordert
Kraft und Mut. Das braucht
Solidarität. Also schickt ihnen eure
Solidaritätsbekundung per Brief
und Bild oder besucht sie in ihrer
Fabrik. Ebenso wichtig sind aber
auch Spenden, damit das Projekt
leben kann.
Aufklären!
Die wichtigste Aufgabe, die
sie uns mitgegeben haben, heißt
aufzuklären: über die Verhältnisse
in Griechenland, über die Auswirkungen
der Krise auf die lohnabhängige
Klasse in Griechenland,
aber auch über den Widerstand,
den sie leisten und nicht zuletzt
über die manipulative Berichterstattung
in den hiesigen bürgerlichen
Medien.
Organisieren!
Wir müssen den Widerstand
gegen Krise und kapitalistische
Zustände auch hier organisieren:
im Betrieb, an Schule und Uni, in
unserer Gegend. Wir müssen Partei
ergreifen für unsere KollegInnen
und GenossInnen in Griechenland
und anderswo. Denn sie schlagen
Griechenland und meinen damit
uns alle.
Schreibkollektiv H&S
Die Vio.Me-Fabrik im Internet:
www.viome.org
Übersetzt: „Die Fabrik der Viomichanikí Metallevtikí eröffnet und geht in Betrieb in den Händen der Arbeiter.“
Schnapspralinen! Unser Gastgeschenk kommt gut an.
Die „Klinik der Solidarität“
Wir werden durch die Straßen
Thessalonikis geführt, vorbei
an weiteren Sehenswürdigkeiten,
zwischen parkenden Autos, und
plötzlich heißt es: „Hier sind wir!“
Noch schnell werden einige organisatorische
Fragen für den Abend
geklärt, dann nimmt uns Katharina,
eine Psychologin, die ehrenamtlich
im sozialen Krankenhaus
arbeitet, vor der Krankenstation in
Empfang und begrüßt uns.
Gemeinsam gehen wir die
Treppen hoch in den ersten Stock
eines eher schmucklosen Baues,
eine Tür geht auf, hinter der reges
Treiben herrscht: Hier befindet sich
die „Klinik der Solidarität“. Einige
Frauen sitzen am Empfang, andere
warten und sind im Gespräch. Im
Nebenraum befindet sich die hauseigene
Apotheke, deren Regale bis
unter die Decke mit Medikamenten
gefüllt sind.
Wir dürfen im Wartebereich
Platz nehmen. Oder müssen es –
denn die Behandlungszimmer sind
in Betrieb. Nebenan wird gerade
ein Patient von einer Zahnärztin
versorgt und bei vielen von uns
lösen die dazu gehörenden Geräusche
unangenehme Erinnerungen
aus. Kurze Zeit später stellt sich
heraus, dass die Zahnärztin fließend
deutsch spricht und mehrere
Jahre in der Bundesrepublik gelebt
hat.
Nachdem Christina unsere
Gruppe und unser Anliegen kurz
vorgestellt hat, bedankt sich Katharina
zuallererst bei uns und
bekräftigt, dass die Menschen hier
und die Aktiven im Krankenhaus
genau diese Unterstützung benötigten.
Es brauche Menschen, die
auch außerhalb Griechenlands berichten
können, was die Sparpolitik
mit den Menschen mache und
was zu genau dieser Politik geführt
habe.
Flüchtlinge waren
die Ersten...
Dann erzählt sie uns mehr
über die Entstehung des Krankenhauses:
Die Klinik der Solidarität
existiert seit dem 2. November
2011. Damals waren 400 in Griechenland
gestrandete Flüchtlinge
in einen Hungerstreik getreten,
weil sie von der Gesellschaft und
der öffentlichen Daseinsvorsorge
völlig ausgeschlossen wurden. Dieser
Hungerstreik wurde von Ärzt_
innen begleitet, in denen schnell
der Impuls aufkam, dauerhafte
Unterstützungsstrukturen für diese
Menschen aufzubauen. Sie ergriffen
die Initiative zur Gründung
eines sozialen Krankenhauses, in
dem zunächst nur Migrant_innen
ohne Papiere kostenlos versorgt
werden sollten. Doch mit der Krise
wurde bald klar, dass auch Arbeitslose,
Alte, Obdachlose und nicht
versicherte Beschäftigte diese Hilfe
benötigen. Seitdem versucht die
Klinik im Kleinen und Konkreten,
die „barbarischen Verbrechen“ zu
lindern, die den Menschen mit der
Politik des Staates und der Europäischen
Union angetan werden.
...doch die Krise macht
viele krank
Die Auswirkungen der Krise
sind im Gesundheitsbereich besonders
drastisch zu bemerken und
haben Dimensionen erreicht, die
32
für Viele noch vor 10 Jahren unvorstellbar
waren. Katharina nennt
nüchterne Fakten und Zahlen, die
uns dennoch erschüttern:
Rund ein Drittel der Einwohner_innen
des Landes haben
keine Krankenversicherung mehr.
Alle, die nicht versichert sind,
müssen sämtliche Kosten einer
medizinischen Versorgung selbst
tragen. Selbst diejenigen, die eine
Versicherung haben, müssen oft
die Hälfte dazu bezahlen.
Da die griechischen Krankenkassen
bei den internationalen
Pharmakonzernen Schulden
haben, werden viele Medikamente
nur noch gegen Bargeld herausgegeben.
Für chronisch Kranke, insbesondere
für Krebspatient_innen,
kann dies tödlich sein.
30 Prozent der Kinder sind
nicht mehr geimpft und es tauchen
inzwischen wieder Kinderkrankheiten
auf, von denen man bisher
annahm, sie seien in Griechenland
verschwunden.
Die Kosten für eine Entbindung
müssen selbst bezahlt
werden. Eine Entbindung kostet
rund 900,- Euro. Ein Kaiserschnitt
aktuell 1.500,- Euro. Wer sich diesen
nicht leisten kann, bekommt
keinen. Mütter dürfen ihre Neugeborenen
erst dann aus dem Krankenhaus
mit nach Hause nehmen,
wenn sie das Geld für den Krankenhausaufenthalt
bezahlt haben.
Zahnärztliche Versorgung
findet so gut wie gar nicht mehr
statt. Selbst öffentliche Krankenhäuser
haben zum Teil nicht genug
Geld, um Patient_innen ausreichend
zu versorgen. Hilfesuchende
werden zurückgeschickt und sterben
im Ernstfall allein zu Hause.
Politik statt Caritas
Hier in der Klinik versuchen
die rund 150 ehrenamtlich arbeitenden
Ärzt_innen die zu ihnen
kommenden Menschen mit dem
Nötigsten zu versorgen. Daneben
unterstützen noch einmal ca. 150
Engagierte in Laboren, Röntgenstationen
oder in der Verwaltung
die Klinik der Solidarität. Darunter
sind sowohl Menschen, die
noch einer regulären Arbeit nachgehen
als auch Aktive, die selbst
erwerbslos und zum Teil auch einkommenslos
sind. Entscheidungen
werden in einem Plenum von allen
Engagierten gemeinsam getroffen.
Ohne nach Papieren zu fragen, leisten
sie als Team eine medizinische
Erstversorgung für alle. Manchen
Patient_innen kann jedoch nur in
öffentlichen Krankenhäusern geholfen
werden, die mit ausreichend
33
Technik und medizinischen Instrumenten
ausgestattet sind. Einmal
im Monat gehen die ehrenamtlichen
Mediziner_innen mit diesen
Menschen in reguläre Krankenhäuser
und fordern sie öffentlichkeitswirksam
auf, diese Patient _innen
kostenfrei zu versorgen. Oft ist dieses
Vorgehen erfolgreich, aber eine
Garantie dafür kann hier niemand
übernehmen.
Die „Klinik der Solidarität“
versteht sich trotz der konkreten
Hilfe, die hier geleistet wird, als
politisches Projekt. Denn den Beteiligten
ist klar, dass hier zwar
Schmerzen gelindert, aber keine
Ursachen bekämpft werden können.
Solidarität muss
praktisch werden
Obwohl alle Aktiven unentgeltlich
arbeiten und die Räume
vom gewerkschaftlichen Dachverband
GSEE zur Verfügung gestellt
werden, kostet die Arbeit Geld. Jeden
Monat braucht die „Klinik der
Solidarität“ rund 5.000,- Euro für
Material und Medikamente. Staatliche
Hilfe lehnen sie ab, um ihre
Unabhängigkeit zu bewahren. Katharina
erzählt uns, dass die „Klinik
der Solidarität“ landesweit bekannt
sei und bisher sehr viel Unterstützung
aus ganz Griechenland erfahren
habe. Gewerkschaften, Kollektive
und Initiativen organisierten
Solidaritätsaktionen und veranstalteten
mehrere Benefizkonzerte,
auf denen Künstler_innen ohne
Gage aufgetreten sind.
Trotz allem ist die Klinik
auch auf die Unterstützung aus
anderen europäischen Ländern angewiesen.
Auch dort gibt es bereits
Solidaritätskampagnen. Der Österreichische
Gewerkschaftsbund hat
beispielsweise ein eigenes Spendenkonto
eingerichtet und auf
einer von ihm betriebenen Internetseite
gibt es aktuelle Informationen
über die Klinik auf Deutsch
(klinik-der-solidaritaet.at).
Auch jede_r von uns kann
praktische Hilfe leisten. Da Medikamente
nicht ins Ausland verschickt
werden dürfen, werden
neben Geld vor allem Verbrauchsmaterialien
benötigt, etwa Zahnfüllungen,
Watte und Mullbinden,
aber auch Babymilch.
Das Wichtigste bei aller Hilfe
ist den Engagierten in der Klinik
aber, dass immer auch die Gründe
für die Entstehung des Krankenhauses
thematisiert werden. Denn
das Problem ist ein System, das
Profite in den Mittelpunkt stellt,
und Menschen, die zur Herstellung
der Profite überflüssig geworden
sind, mit ihren Schicksalen allein
lässt.
Frank und Jenny
Die Klinik hat eine
deutschsprachige
Unterstützer_innenseite:
www.klinik-der-solidaritaet.at
Im Clinch
mit dem Großkapital
Griechische Gewerkschafter legen sich mit der Coca Cola Hellenic Bottling Company an
„Ah, ihr sprecht Deutsch?
Woher seid ihr?“ – Während wir
am Dienstagabend noch etwas unschlüssig
auf den Beginn der regionalen
Konferenz zur Vorbereitung
des 36. Generalstreiks im Konferenzsaal
des Arbeiterzentrums
warten, spricht uns ein griechischer
Kollege auf Deutsch an und
will wissen, was uns denn hierher
verschlagen habe. Es ist Omiros
Tachmazidis, der eine Zeit lang in
Deutschland gelebt hat und in Thessaloniki
als Journalist arbeitet. Wir
berichten, warum wir hier sind und
erzählen ihm von unserem Ziel,
uns mit Kollegen der griechischen
Gewerkschaften auszutauschen
und etwas über ihre Situation zu
erfahren. Omiros schaltet schnell:
„Wartet mal kurz. Vielleicht kann
ich euch da jemanden vorstellen“,
sagt er und eilt zum anderen Ende
der Halle. Er kommt zurück mit
drei Kollegen, die offenbar in den
Streik bei Coca Cola involviert sind,
von dem wir bereits gehört hatten.
Etwas überrumpelt schütteln wir
Hände, lächeln, stellen uns vor –
verstehen aber kein Wort der drei,
Omiros muss dolmetschen. Ob wir
nicht später kurz mit in ihr Büro
kommen wollen, um uns über ihre
Kampagne zu informieren, möchten
sie wissen. Wir sagen zu und
freuen uns, nun auch einmal mit
Aktiven der gewerkschaftlichen
Basis sprechen zu können. Zum
Treffen mit dem Kollektiv im Mikropolis
müssen wir dann wohl oder
übel später dazu stoßen.
Seit September im Streik
Das Büro der „Autonomen
Demokratischen Arbeiter-Gewerkschaft“,
die in Thessaloniki offenbar
den Streik organisiert, liegt
unweit vom „Arbeiterzentrum“
entfernt. Sie gehört zur P.O.E.E.P.,
zu Deutsch „Griechischer Gewerkschaftsbund
der Beschäftigten in
der Getränkeindustrie“. Überall
stehen Kartons mit Kampagnenmaterial,
an den Wänden hängen
Fotos, Banner und Wimpel anderer
Gewerkschaften. Man hat uns
angekündigt, wir werden herzlich
empfangen und mit Getränken versorgt.
Wir treffen Vasilis Artemiou,
der den Streik maßgeblich leitet
und der uns in den Besprechungsraum
einlädt, um uns von seiner
Arbeit zu berichten. Er nimmt sich
Zeit und ist bemüht, uns das Anliegen
der Kampagne gegen Coca
Cola näher zu bringen. Dabei ist er
locker und macht ein paar Scherze,
aber trotzdem ist spürbar: Hier
geht es um etwas, der Mann meint
es ernst.
Seit dem 30. September
2013 sind eine Handvoll Arbeiter
einer Coca Cola-Abfüllanlage im
Norden der Stadt nun im Streik,
weil 24 von ihnen direkt am Arbeitsplatz
mitgeteilt wurde, dass
sie entlassen seien. Das haben sie
nicht hingenommen – auch, weil
das griechische Gesetz eine behördliche
Anerkennung der Entlassungen
fordert, die gar nicht
vorliegt. Parallel zum Streik gibt
es darum auch einen Rechtsstreit
über die Gültigkeit der Kündigun-
36
Daumen hoch für die Kollegen der NGG – Vasilis in seinem Büro
gen. Das Unternehmen hat den Arbeitern
eine Abfindung angeboten,
die sie allerdings abgelehnt haben.
In ihrer Abwesenheit riefen ihre
Chefs darum sogar gezielt bei den
Familien der Arbeiter zu Hause an,
um ihnen die angebotene Abfindung
nahezulegen – eine perfide
Strategie, um sie bis in ihr Privatleben
hinein unter Druck zu setzen
und zu verunsichern. Und da sie
für die Auszahlung des einjährigen
Arbeitslosengeldes eine offizielle
Kündigung vorlegen müssten,
bringt sie ihr Rechtsstreit gerade
in eine akut prekäre Situation. Sie
sind alle Mitglied in der Gewerkschaft
und haben vor dem Werkstor
einen Streikposten eingerichtet.
Ihr ehemaliger Arbeitgeber organisiert
derweil mit einem Subunternehmen
den Streikbruch. Im Jahr
zuvor gab es bereits 49 Entlassungen
und 43 Tage Streik.
Machtkampf mit dem Multi
Über diesen Arbeitskampf
hinaus haben die griechischen
Gewerkschaften auch eine breite
Kampagne gegen die Coca Cola Hellenic
Bottling Company initiiert.
„Nein zur bulgarischen Coca Cola!“,
heißt es auf einem riesigen Plakat,
das wir schon an der Hauswand des
„Arbeiterzentrums“ gesehen hatten.
Was hat es damit auf sich?
Die Coca Cola Hellenic Bottling
Company S.A. (kurz Coca Cola
HBC) ist der weltweit zweitgrößte
Produzent und Abfüller von lizensierten
Coca Cola-Produkten. Sie
gehört zu 23% dem US-amerikanischen
Original, der Coca Cola Company.
Die Coca Cola HBC ist in 28
Ländern auf drei Kontinenten aktiv
und beschäftigt laut eigenen Angaben
über 38.000 Menschen. Lange
Zeit lag der Führungssitz in Athen
und die Coca Cola HBC war dem
Marktwert nach das größte Unternehmen
des Landes. Entsprechend
wichtig waren die gezahlten Steuern
für den griechischen Staat. Allerdings
wurden 95% des Umsatzes
außerhalb von Griechenland generiert.
Im Jahr 2012 wurde der Firmensitz
in die Schweiz verlagert,
laut Konzernangaben nicht zuletzt
wegen der steigenden Steuern. „Die
Verlegung der Firmenzentrale ist
gut, weil das die Gefahren höherer
Steuern oder einer Verstaatlichung
reduziert“, hieß es damals in einem
37
Handelsblatt-Artikel. Klar, dass der
Umzug ein breites Medienecho und
empörte Reaktionen griechischer
Politiker und Arbeitgeberverbände
zur Folge hatte. Dem Geschäftsbericht
der Coca Cola HBC zufolge hat
das Unternehmen 2012 einen Profit
von 190,4 Mio. Euro erwirtschaftet.
Für Griechenland stellt er rückläufigen
Umsatz und verschlechterte
Bedingungen für Wirtschaft und
Handel fest. Vor allem der mögliche
Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone
habe die Kreditwürdigkeit
des Unternehmens belastet.
Im Norden Griechenlands
stehen mehrere Abfüllanlagen der
Coca Cola HBC, ein ganzes Distributionsnetz
hängt daran. Doch
die Produktion soll nun nach Bulgarien
verlagert, das Verteilernetz
zerschlagen und durch den öffentlichen
griechischen Transport ersetzt
werden. Das spart Geld. Bulgarien
führt der Geschäftsbericht
von 2012 unter den „Emerging
Markets“ – hier gibt es das größte
Wachstumspotential, die Produktion
ist billiger. Für die griechischen
Angestellten würde das den Verlust
ihrer Arbeitsplätze bedeuten. Zumal
das Unternehmen hier immer
noch schwarze Zahlen schreibt.
Die griechischen Gewerkschaften
machen darum gegen
das transnationale Unternehmen
mobil. Zweifelsohne ein defensiver
Kampf, aber etwas anderes ist
gerade auch kaum möglich. Dem
Großkapital weniger Mobilität und
den Erhalt von Arbeitsplätzen aufzwingen
zu wollen, ist angesichts
der Situation schon ein kämpferisches
Unterfangen. Für die griechischen
Gewerkschaften steht dabei
einiges auf dem Spiel. An dem Distributionsnetz
der Abfüllanlagen
hängt eine ganze Menge Jobs der
Region. Und wenn sie die verlieren,
sinkt ihre Kampfkraft auch noch
weiter – es ist ein Präzedenzfall. Es
geht ihnen auch nicht darum, dass
es in Bulgarien keine Abfüllanlagen
geben soll, sondern sie fordern
die Möglichkeit, weiterhin ein geregeltes
Einkommen erhalten zu
können. Vor allem der Propaganda
des Unternehmens, mit der es die
Verlagerung der Produktion öffentlich
rechtfertigt, wollen sie etwas
entgegensetzen. Die Abfüllanlagen
arbeiten profitabel, wirtschaftlich
gesehen müsste man also nicht ab-
38
wandern. Dass sich die Coca Cola
HBC zugleich noch als soziales
Unternehmen inszeniert, das für
die Region Sorge trägt, finden die
Gewerkschafter zynisch. Sie haben
darum Kampagnenmaterial drucken
lassen, fahren mit Lautsprechern
durch die Straßen und rufen
zum Boykott auf. Die Kampagne
läuft gerade an.
„Wir können ein paar
Autos organisieren!“
Nachdem wir mit Vasilis
über den Streik und die Kampagne
gesprochen haben, haben wir
noch viele Fragen. Ob sie Kontakte
zu deutschen Gewerkschaften
haben und wie das Verhältnis sei,
wollen wir wissen. Und wie ist ihre
Wahrnehmung der bundesdeutschen
Gewerkschaften – haben sie
Kritik an der Krisenpolitik der DGB-
Gewerkschaften? Wir sollten vor allem
den Lügen über die griechische
Schuldenkrise etwas entgegensetzen,
sagt er. Und natürlich ihren
Streik und die Boykott-Kampagne
bekannt machen. Ganz offen antwortet
er wohl nicht. Wie die anderen
Gewerkschafter, die wir treffen,
äußert auch er nur im Unterton
seinen Unmut über die Politik der
deutschen Kollegen – das ist der
erstaunlich kurzen und wohlwollenden
Antwort anzumerken. Aber
dass wir nach Thessaloniki gekommen
sind, um Arbeitskämpfe wie
den der Coca Cola-Arbeiter zu unterstützen,
ist ihm natürlich nicht
entgangen. Und darum bietet er
uns an, die Kollegen beim Streik
vor der Abfüllanlage doch einfach
zu besuchen. „Wir können ein paar
Autos organisieren und euch hinfahren“,
sagt er. „Das wäre kein
Problem!“ Die kommenden Tage
beratschlagen wir, ob wir das noch
in unserem Zeitplan unterbringen
können. Doch schließlich sagen
wir zu und fahren am Freitagmorgen
gespannt zum Streikposten vor
der Abfüllanlage.
Vormittag am Streikposten
Wir wissen gar nicht, wie
viele Menschen in diese Kampagne
eigentlich involviert sind. Aber auf
der Autofahrt zur Abfüllanlage sehen
wir viele Geschäfte und Läden,
die sich ein Plakat der Boykottkampagne
ins Fenster gehangen
haben. Viele scheinen den Kampf
der Gewerkschaften gegen den
Multi unterstützen zu wollen.
Vor dem Werk angekommen
treffen wir die rund 20 griechischen
Kollegen beim Streikposten.
An der Straße, vor der Zufahrt zur
Anlage, haben sie sich postiert und
einen kleinen Unterstand mit einigen
Bänken aufgebaut. Den halten
sie 24 Stunden am Tag besetzt. Wir
begrüßen einander, verständigen
uns mit etwas Englisch oder
eben mit Händen und Füßen. Zum
Glück ist Omiros mitgekommen, er
muss wieder übersetzen. Für viele
aus unserer Gruppe ist es der
erste Besuch eines Streikpostens
überhaupt. Und dass ein Haufen
junger Linker aus Deutschland anreist
um sich irgendwie solidarisch
zu zeigen, kommt hier wohl auch
nicht alle Tage vor. Umso interessierter
werden wir empfangen und
direkt mit T-Shirts und Mützen
der P.O.E.E.P. ausgestattet. Vasilis
stellt uns den griechischen Arbeitern
vor und berichtet noch einmal
kurz den Stand der Dinge. Er
bedankt sich für die Solidarität,
die Streikenden klatschen. Dann
zeigt er auf die Kameras auf dem
Firmengelände hinter dem Zaun –
wir werden beobachtet. Die Leute
vom Sicherheitsdienst hätten klare
Anweisungen, insgesamt seien
sie aber schon okay, sagt er. Zum
Schluss schießen wir ein Gruppenfoto
und die griechischen Kollegen
verteilen Grillspieße, Bier und Cola
– seit Beginn des Streiks trinken
die Arbeiter demonstrativ Pepsi
Cola vor der Abfüllanlage.
Am Tag zuvor gab es eine
Pressekonferenz anlässlich des
Kampagnenstarts. Von der hatte
auch der Vertreter der GSEE schon
erzählt. Doch wie erwartet ist die
bürgerliche Presse nicht erschienen.
Mehr als sonst sind sie in
Zeiten wie diesen vom Anzeigengeschäft
abhängig, mit dem Großkapital
will sich keiner anlegen. Aber
SYRIZA und die kommunistische
Partei KKE unterstützen den Streik
39
und die Kampagne. In einer parlamentarischen
Anfrage hat die KKE
die griechische Regierung gefragt,
was sie in dieser Sache zu unternehmen
gedenke. Coca Cola benutzt
den Rahmen bürgerlicher Gesetzgebung
für den Klassenkampf
von oben und bürdet der Bevölkerung
die Lasten der Krise auf, heißt
es in der Anfrage. Die streikenden
Arbeiter haben sie ausgedruckt
und gemeinsam mit anderen Unterstützungserklärungen
an eine
Info-Wand gehangen. Natürlich ist
ihre Situation nicht einfach, sagen
die meisten im Gespräch. Aber
wehleidig ist hier keiner. Sie sind
guter Dinge und unterstützen einander,
der gemeinsame Arbeitskampf
scheint ihnen trotz allem
Kraft zu geben.
Rund zwei Stunden verbringen
wir bei den griechischen
Coca Cola-Arbeitern und tauschen
uns über ihre Situation aus, fragen
nach ihrer Einschätzung der
Lage, oder machen einfach zusammen
Scherze. Dann müssen wir
los, weiter zum nächsten Treffen.
Was außer T-Shirts und anderen
Gewerkschafts-Gimmicks nehmen
wir mit? Zumindest bei einem ihrer
Streiktage konnten wir die streikenden
Arbeiter unterstützen und
einen Einblick in ihre Situation
bekommen. Die Krise in Griechenland
ist nicht für alle Kapitalfraktionen
die selbe: Das Beispiel der
Coca Cola HBC zeigt, wie multinationales
Großkapital die Situation
nutzt, um seine Stellung auf dem
Weltmarkt auszubauen. Und Kollegen
wie die, die wir getroffen haben,
gehören zu jenem Teil der arbeitenden
Klasse, der unter diesen
Politiken und den Krisen des Kapitals
immer als erstes zu leiden hat.
Macht unsere Arbeit bekannt und
tut was gegen die Lügen, sagen sie.
Das ist ein Auftrag – auch und gerade
für die bundesdeutschen DGB-
Gewerkschaften.
John
Weitere Informationen:
• chronico-apergias.blogspot.de
• facebook.com/pages/Coca-cola-apergia/238774946277939
• twitter.com/cocacolastrike
40
Geschenkübergabe am Streikposten
Die streikenden Arbeiter haben ihren Unterstand mit Kampagnenmaterial dekoriert.
Im Gespräch mit Omiros
Das Tor der Abfüllanlage
Zu Gast bei ERT3
„We are freedom TV“
Beim Betreten des Studios
scheint alles normal. Die Journalist_innen
begrüßen uns freundlich
und die Abendnachrichten
werden vorbereitet. Wären da nicht
die Transparente an der Außenwand
und die zahlreichen eingeschickten
Kinderzeichnungen
– nichts würde darauf hindeuten,
dass dieser Sender besetzt ist.
400 Mitarbeiter_innen des
staatlichen lokalen Fernsehsenders
ERT3 in Thessaloniki bekamen am
11. Juni 2013 einen Brief mit ihrer
Kündigung. Über Nacht sah sich
die gesamte Belegschaft mit der
Arbeitslosigkeit konfrontiert, in
dem überregionalen Muttersender
ERT traf es insgesamt 2.600 Mitarbeiter_innen.
Ohne Ankündigung
wurde der Sender geschlossen.
Der Bildschirm auf dem Kanal
wurde schwarz, doch die Journalist_innen
beschlossen weiter zu
produzieren und die Sendungen via
Internet zu verbreiten. Aus Angestellten
des Staates wurden Besetzer_innen,
die Unterstützung der
Bevölkerung hatten sie auf ihrer
Seite. Eine Menschenmasse versammelte
sich am Tag der Schließung
vor dem Sender und demonstrierte
spontan gegen die Schließung von
ERT3. Das kam auch für die Journalist_innen
überraschend, denn
trotz des Widerstands gegen inhaltliche
Eingriffe in das Programm
seitens der Regierung galt ERT
nicht unbedingt als regierungskritisch.
In der Gesprächsrunde mit
fünf der betroffenen Journalist_innen
und dem Nachrichtensprecher
Alexander Triantafylidi entwickelt
sich schnell eine emotionale
Stimmung. Auch wenn die Arbeit
weitergeht, „es verändert uns als
Menschen“, erklärt Triantafylidi,
der durch seine Bekanntheit auch
Jobchancen bei anderen Fernsehsendern
hätte. „Es ist doch Wahnsinn,
was hier passiert! In einer
Situation wie dieser hat man zwei
Möglichkeiten: Jammern oder
Kämpfen. Wir haben uns für das
Kämpfen entschieden. Wir haben
nichts mehr und möchten unser
Leben und unseren Stolz zurück!“,
ergänzt seine Kollegin Penny Tompri.
„Es ist keine Besetzung,
sondern Selbstorganisation. Es ist
unser Zuhause!“ Während er diese
Worte ausspricht, muss Triantafylidi
um Fassung ringen.
Diese Erfahrung schlägt
sich in der Berichterstattung nieder,
sie wurde kritischer. Innerhalb
der viermonatigen Besetzung stieg
die Zahl der Onlinezuschauer_innen
auf 25 Millionen, eine Quote
der Utopie zu offiziellen Tagen.
ERT3 wurde seit der Besetzung zum
Sprachrohr derjenigen, die unter
dem Troika-Diktat und den Maßnahmen
der griechischen Regierung
leiden – die Bevölkerung.
Dennoch verließ zwei Monate
nach der Schließung die Hälfte
der Besetzer_innen ERT3 und
nahm das Angebot an, bei dem neu
aufgebauten staatlichen Sender
NERIT anzufangen. 125 Millionen
Euro investiert die Regierung für
45
Der Protest gegen die Schließung und Entlassungen wird bereits außerhalb der ERT3-Studios deutlich.
NERIT, eine Summe, die die Mitarbeiter_innen
vermuten lässt, dass
die Schließung von ERT nicht aus
finanziellen Gründen geschah, sondern
um stärkere Kontrolle über die
Inhalte zu erlangen. Für die übergewechselten
Journalist_innen
bedeutet die Anstellung bei NERIT
weniger Lohn und weniger Freiheit
in der Berichterstattung, doch die
existenziellen Nöte siegten über
den Idealismus. In Griechenland
gibt es nur 18 Monate Arbeitslosengeld,
eine Gesetzesänderung
seit den EU-Troika-Diktaten. Wie
dramatisch die Lage ist, zeigt der
Selbstmord einer Mitarbeiterin
kurz nach der Zwangsschließung.
Nur ein Fall von 4.000 gemeldeten
Suiziden seit Beginn der sogenannten
Krise.
Es hat einen Bruch in der
Belegschaft gegeben, die übrig Gebliebenen
sind jedoch nicht weniger
kampfbereit. Sie wissen nicht
worauf sie hoffen sollen, denn die
Neuschaffung des neuen staatlichen
Senders NERIT hat bereits
begonnen. Die Journalist_innen
nutzten ihre weitere Ausstrahlung
auch um mit allen Parteivorsitzenden
zu sprechen, „außer mit der
Goldenen Morgenröte“, bekräftigt
Penny Tompri. Sie überzeugten die
Oppositionsparteien, nicht für NE-
RIT zur Verfügung zu stehen, und
sind damit der einzige Fernsehsender,
der alle Parteien interviewt.
Während die privaten Sender
türkische Seifenopern in Dauerschleife
zeigen und der neue öffentlich-rechtliche
Sender starker
Zensur unterworfen ist, ist ERT3
die einzige regionale Informationsquelle
für die Bevölkerung. Bevölkerung
und ERT3 Mitarbeiter_innen
brauchen sich gegenseitig.
Und so werden die Journalist_innen
nicht müde auf ihre Situation
aufmerksam zu machen.
Wir begleiten sie zu einem
Proteststand vor dem Filmfestival
in Thessaloniki, bei dem sie im vergangenen
Jahr selbst noch live be-
46
ichteten. Nun stehen sie draußen
und versuchen die Besucher_innen
darauf hinzuweisen, dass sie noch
da sind und arbeiten. Denn leider
erreicht der Broadcast lediglich
die jüngeren Zuschauer_innen. Sie
sprechen mit allen interessierten
Passant_innen, und wenn man ihre
Situation kennt, überrascht ihre
positive Energie.
Sie stehen im Visier der Regierung,
sie müssen jederzeit mit
einer Räumung und Festnahme
rechnen. Der Kampf gegen die Ungerechtigkeiten
ist weiterhin das,
was die Journalist_innen antreibt.
Seit der Besetzung sind sie Teil eines
großen Aktivist_innennetzwerkes
in Griechenland und sie freuen
sich über jede Unterstützung aus
dem Ausland. „Die Freiheit, die wir
hier erfahren, wird uns ein Leben
lang prägen, und das können sie
uns nicht nehmen. Es verändert
uns als Menschen.“ sind die letzten
Worte von Alexander Triantafylidi,
bevor wir das Studio verlassen.
Nur eine Woche nach unserem
Besuch räumten am 7. November
Polizeikräfte den Muttersender
ERT in Athen.
Katja
Selbstmord einer
ERT3-Mitarbeiterin:
http://www.keeptalkinggreece.
com/2013/10/10/thessalonikif
ired-er t-employee-jumps-todeath/
Weitere Informationen:
www.ert.gr
Die Besetzer_innen öffnen das ERT3 Studio interssierten Gästen.
Die Besetzer_innen schildern ihre Situation im Nachrichtenstudio.
Alexander Triantafylidi mit den Bürger_innen im Gespräch am ERT 3 Informationsstand in Thessalonikis Innenstadt.
S.O.S. %&'()*)(+ –
S.O.S. Chalkidiki!
Goldabbau stoppen, Repression bekämpfen!
Es ist Samstag und wir sitzen
in einem Café im Dorf Megali Panagia.
Die Leute tragen schwarze Kapuzenpullis,
auf denen mit weißen
Buchstaben "#$#"#% &'()*+*),
steht und noch einige Worte mehr.
Was soll das denn heißen...?
An den vorangegangen Tagen
haben wir schon ein wenig
über Halkidiki gehört. Halkidiki
ist eine Halbinsel auf dem griechischen
Festland, knapp 100
km von Thessaloniki entfernt.
Berühmt und beliebt ist die Region
bei Bewohner*innen und
Tourist*innen für seine unvergleichliche
Landschaft aus Wäldern
und Bergen, Meer und Stränden,
mit denen auf zahlreichen
Postkarten für dieses Urlaubsziel
geworben wird. Doch nun gefährdet
der geplante Goldabbau die
gesamte Gegend. Dagegen protestierende
Aktivist*innen und
Umweltschützer*innen werden
mit massiven staatlichen Repressionswellen
drangsaliert. Chalkidiki
scheint so etwas wie „das griechische
Wendland“ zu sein. Eine konkrete
Vorstellung, was das bedeutet,
haben wir jedoch noch nicht.
Das Gold geht –
Zerstörung bleibt
Im Dorf Megali Panagia treffen
wir Irini [Name geändert]. Sie
engagiert sich in der Kampagne
S.O.S. CHALKIDIKI. Megali Panagia
Wem gehört das Gold?
ist eines von 14 Dörfern der Gemeinde
Aristoteles, das vom schleichend
vorangetriebenen Goldabbau
der Region Skouries betroffen ist.
Ein Berg ist die Szenerie für eine
perfide Umgangsweise mit Mensch,
Tier und Natur; er liegt nur 3 km
vom Dorf entfernt in einer bewaldeten
Region. Metallische Bodenschätze
sind hier reichlich vorhanden
(Zink, Blei, Mangan, Kupfer,
Silber und eben Gold), was die Region
schon zur Zeit Alexanders des
Großen im 4. Jahrhundert v.u.Z.
1995 übernahm die Firma TVX Hellas die Schürfrechte der Region. Ihr Ziel war
der Abbau von Gold in großem Stil, doch nicht zuletzt aufgrund des Widerstands
der Bevölkerung zog sich die Firma zurück und ging 2003 pleite – die
Überbleibsel wurden vom Staat einkassiert. Ohne öffentliche Ausschreibung
verkaufte dieser die Schürfrechte an den Kassandra-Minen in nur einer einzigen
Nacht der Firma Hellas Gold zum lächerlichen Preis von 11 Millionen Euro. Hellas
Gold gehört zu 95% dem kanadischen Goldförderer Eldorado Gold und zu 5%
der griechischen Baufirma Ellaktor, die dem einflussreichen Clan um Medienund
Baumogul Georgios Bobolas gehört. Seit der Genehmigung des Goldabbaus
durch das griechische Umweltministerium im Jahr 2011 stieg der Marktwert des
Unternehmens auf satte 2,2 Milliarden Euro. Führend bei diesem Geschäft war
Christos Pachtas, der ehemalige Staatssekretär im Ministerium für Wirtschaft
und Finanzen der sozialdemokratischen PASOK und heutige Oberbürgermeister
der Gemeinde Aristoteles. Er gilt als einer der vehementesten Befürworter
des Goldabbaus in der Region. Ein Schelm, wer hier an Korruption denkt.
Lesenswerter Artikel: „Land in Flammen“ von Alexandros Stefanidis und Ferry
Batzoglou, SZ Magazin 15/2013: http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/
anzeigen/39803/Land-in-Flammen
49
zu einer Bergbauregion machte.
Bisher spielte die griechische Goldförderung
innerhalb Europas nur
eine geringe Rolle. Doch was nach
Jahrhunderten des Goldschürfens
in Minen jetzt geplant ist, erreicht
eine völlig neue Dimension: Ab sofort
soll der Goldabbau nicht mehr
nur in Minen, sondern auch über
Tage unter massivem Einsatz von
Chemie erfolgen. Der Goldminenbetreiber
Hellas Gold möchte Griechenland
bis 2015 zum größten
Goldproduzenten Europas werden
lassen. Allein in der Region Skouries
soll die Tagebaumine einen
Durchmesser von 700 Metern, eine
Tiefe von 200 Metern und unter
Tage sogar 770 Meter Tiefe haben.
Um Gold zu finden, werden hier 150
Millionen Tonnen Erde ausgehoben.
In einer Tonne Erdaushub steckt weniger
als 1 Gramm Gold! Der erwartete
Gewinn aus den vorhandenen
Goldvorkommen wird auf 15 bis 20
Milliarden Euro geschätzt.
Um Gold überhaupt aus dem
Gestein herauslösen zu können,
ist viel Wasser und Chemie nötig.
Hellas Gold behauptet, dass das
Gold mit einem umweltfreundlichen
Schwebeschmelzverfahren
gewonnen werden wird, für das kein
Zyanid notwendig ist. Dabei handelt
es sich allerdings um ein Verfahren,
das für die Goldgewinnung
noch gar nicht erprobt wurde. Der
toxische Schlamm und Müll (u.a.
Arsen, Zyanid, Quecksilber), der
bei der Auswaschung in den bisher
üblichen Verfahren ensteht, muss
danach irgendwo entsorgt werden.
Die Aktivist*innen gehen davon
aus, dass der Giftschlamm einfach
in den angrenzenden Tälern in einem
Staubecken gelagert werden
soll. Ob sich die Betreiber*innen
auch daran erinnern, dass im Jahr
2000 in Rumänien genau so ein
Damm einer Golderz-Aufbereitungsanlage
brach, dabei Unmengen
von Giften und Schwermetallschlamm
in angrenzende Flüsse
und schließlich in die Donau gelangten
und damit eine riesige
Umweltkatastrophe verursachten?
Hellas Gold lässt bereits fleißig bauen;
in zwei angrenzenden Dörfern
gibt es mittlerweile Niederlassungen
und einen Fuhrpark – schließlich
soll hier auf dem (ehemals)
bewaldeten Berg eine Fläche von
31.700 Hektar (317 km²) ganz dem
Profit mit dem Gold-Tagebau dienen.
Was den Anwohner*innen längst
klar ist, stößt bei Politiker*innen
auf taube Ohren: Die vorhersehbaren
Risiken für die Umwelt sind
weitaus größer als die Vorteile, die
der Tagebau angeblich für die Wirtschaft
der Region bieten soll.
Der Widerstand beginnt
Diese Entwicklungen blieben
und bleiben nicht ohne Protest.
Der Widerstand in der betroffenen
Gemeinde Aristoteles begann 2006,
als Hellas Gold den Antrag auf offenen
Tagebau stellte. Engagierte
Dorfbewohner*innen gründeten
eine erste Bürgerinitiative, die “Initiative
gegen Gesundheitsschädlichkeit”,
verbreiteten die Nachricht
der Gründung und hielten
50
Der geplante Gold-Tagebau...
...schädigt das Wasser:
• Senkung des Meeresspiegel um 600m, weil enorme Wassermengen zur
Auswaschung von Gold verbraucht werden
• Vergiftung von Landflächen und Grundwasser durch Schwermetalle
• Überschwemmungsgefahr steigt
• Gefahr der Versalzung des Grundwassers
• Wasserverschwendung, im größten Wasserspeichergebiet Halkidikis
...schädigt die Wälder:
• jahrhundertealte Wälder und Ökosysteme werden irreversibel zerstört
...schädigt den Boden:
• Schwermetalle im Wasser vergiften Boden, (Nutz-)Pflanzen und Tiere in
einem weiten Umkreis rund um die Mine
...schädigt die Luft:
• Luftverschmutzung durch winzige Partikel und Schwermetalle, v.a. Arsen
• Minen produzieren Giftstaub, der sich über kilometerlange Strecken mit
der Luft verbreitet
...schädigt die Gesundheit:
• Schwermetalle gelangen über den Boden, die Luft und das Wasser in den
Nahrungskreislauf
• verursachen Krankheiten wie Krebs, Beeinflussung des Nervensystems,
Nieren- und Leberversagen, Anämie, Magen-Darm-Entzündungen usw.
In den Kassandra-Minen wurden seit der Antike in 2400 Jahren 33 Millionen
Tonnen Gold gefördert. Innerhalb der nächsten 25 Jahre sollen 380 Millionen
Tonnen abgebaut werden.
eine erste öffentliche Großdemonstration
mit 800 Teilnehmenden ab.
In ihrem „Nein!“ zum Goldabbau
sind sich die Dorfbewohner*innen
einig. Selbst die Bergbauarbeiter
wissen mittlerweile um die Risiken:
der Goldabbau zerstört nicht nur
massiv die Umwelt, sondern führt
bei den Minenarbeitern zu schwerwiegenden
Gesundheitsproblemen,
Lungenkrankheiten, Arbeitsunfällen.
Angeblich liegen in jedem
Haus Sauerstoffflaschen, weil der
Abbau so gesundheitsschädlich
ist. Die durchschnittliche Lebenserwartung
eines Minenarbeiters
liegt bei 56 Jahren. Irini bringt
es auf den Punkt: „Es reicht!“
Von hier aus verbreitete sich der
Widerstand in ganz Griechenland,
es gab Kundgebungen, Infoveranstaltungen
und Demonstrationen.
Außerdem gründete sich in den
Dörfern rund um das geplante Goldabbaugebiet
in Halkidiki ein Kampfkommittee.
Die Organisierung läuft
gleichberechtigt, mit einer horizontalen
Entscheidungsfindung.
Diese gut organisierten Dorfbewohner*innen
verhinderten
2009 mit ihrem Protest die Versuche
der Baufirma, erste Erdbohrungen
auf dem Berg vorzunehmen. Von
da an wurden sowohl die Fahrzeuge
als auch der Wald jeden Tag rund
um die Uhr von den Aktivist*innen
bewacht. Dazu errichteten sie ein
Zeltcamp und bauten eine feste
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Schutzhütte. Neben Protesten fanden
wöchentliche Vollversammlungen
statt und Selbstorganisation
und Netzwerkebilden waren an der
Tagesordnung. Zu dieser Zeit führten
noch schmale Waldwege auf
den Berg, von Abholzung, Straßen
und Baufahrzeugen keine Spur.
„Wir dachten, es würde nie klappen,
dass hier gebaut wird.“
Im Frühjahr 2013 brach der
Protest erneut los: Es gab nächtliche
Angriffe auf die Baustelle,
Baufahrzeuge brannten ab und
es kam zu schweren Auseinandersetzungen
zwischen Bergarbeitern
von Hellas Gold und den
Aktivist*innen, bei denen Menschen
verletzt und die Schutzhütte
der Aktivist*innen zerstört wurde.
In den folgenden Tagen und Wochen
wurde das Bürgermeisteramt
im Dorf Ierissos besetzt, es gab weitere
Demos hinauf zum Berg und
erste Kämpfe mit der Polizei. Der
Versuch der Aktivist*innen, den
Berg wieder zu erlangen, wurde
mit Tränengas und Blendgeschossen
niedergeschlagen. Seit diesen
Konfrontationen im Frühjahr 2013
forciert Hellas Gold seine Bauvorhaben
und die Arbeiter haben den
Berg fest im Griff.
All die Angriffe blieben
nicht ohne Folgen. Sie dienten als
Vorwand, um die Menschen der
gesamten Region als terroristisch
einzustufen und eine Repressionswelle
loszubrechen: unzählige
DNA-Proben, zahlreiche Festnahmen
und Anklagen wegen Gründung
oder Mitgliedschaft in einer
terroristischen Vereinigung, wegen
Beteiligung an Demonstrationen
usw. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt
es in der Summe 218 Anklagen und
vier Menschen sitzen in Untersuchungshaft.
Ein Wunder, wenn hier
noch jemand den Überblick über
das Klagenaufkommen und die
Kosten behält. Und trotzdem den
Mut und die Kraft hat, weiterzukämpfen.
Auf dem Berg
Nach dem Gespräch mit Irini
sind wir bewegt und beeindruckt,
aber auch nervös, als es heißt,
dass wir gleich auf den Berg fahren
werden, um uns selbst ein Bild
der Situation vor Ort zu machen.
Nervös, weil nicht klar ist, wer oder
was uns dort erwartet. Wird es Polizeikon-trollen
geben? Haben wir
alle einen Ausweis dabei? Werden
sie uns überhaupt durch das Gebiet
gehen lassen? Auf der Fahrt
Ende Gelände. Zutritt verboten auf dem pivatisierten Wald von Hellas Gold
Der Goldabbau spaltet eine ganze Region
Bei so viel Protest stellt sich die Frage, wer eigentlich in den Minen arbeitet. Die
Bergarbeiter kommen ebenfalls aus der Region, aus angrenzenden Dörfern und
Städten, denn der Konzern schafft Arbeitsplätze, über die die Bewohner*innen
in Zeiten der Krise froh sind. Derzeit sind es 1.200, 5.000 sollen es einmal werden.
Darauf verweisen die Befürworter*innen in Politik und Gewerkschaft.
Andererseits arbeiten sie für einen Konzern, der trotz beteuernder Worte, die
Region wieder aufforsten zu wollen, systematisch ihr Lebensumfeld zerstören
und ihre eigene Gesundheit gefährden wird. Der Bergbau lässt sich so nur
schwer mit den bestehenden Wirtschaftszweigen in Einklang bringen, die auf
der Halbinsel Halkidiki verankert sind: Tourismus, Imkerei, Agrar- und Forstwirtschaft,
Tierhaltung, Lebensmittelherstellung, Fischerei. Wenn der Tagebau
die Umwelt nachhaltig zerstört, sind diese Zweige existenziell gefährdet.
Und so spaltet die Auseinandersetzung um den Goldabbau ganze Dorfgemeinschaften,
der Konflikt zieht sich bis in Familienstrukturen hinein: Ein Bruder
arbeitet auf dem Berg, der andere gehört zu den Protestierenden. Die Folgen
können drastisch sein, denn es kommt vor, dass sich Nachbar*innen gegenseitig
bei der Polizei verpfeifen, wenn diese versuchen, auf den Berg zu gelangen.
Griechenland hat sich mit dem Verkauf der Minen an Hellas Gold nicht nur selbst
verkauft, sondern zerstört jetzt Schritt für Schritt die Region, Landschaft und
Lebensperspektiven der Menschen in Halkidiki. Die Spannungen innerhalb der
Dörfer nehmen zu, aber der Goldabbau soll unter den Vorzeichen der Krise unter
allen Umständen durchgesetzt werden.
dahin sehen wir mehrere Graffitis:
„Nein zum Gold!“ oder „Trink Ouzo.
Vergiss die Krise.“ Wir schlängeln
uns mit dem Reisebus ca. 8 km
hinauf. Der ganze Wald (oder was
davon entlang der gebauten Straßen
übrig geblieben ist) ist grau
von Baudreck und – staub, der
sich schon seit Monaten auf den
Blättern absetzt. Dort, wo wir jetzt
fahren, kam es vor einem Jahr auf
Waldwegen zu Demos, Straßenschlachten
und Polizeiangriffen
auf die Dorfbewohner*innen. Derzeit
finden mit Straßenbau und
Waldrodung die Vorarbeiten für
den Goldabbau statt; aus staatlichen
Mitteln finanziert und unter
penibler Überwachung des
Baugeländes durch Securityangestellte.
Die gesamte Strecke ist
also eine öffentliche Straße, dennoch
verfolgt uns für die nächsten
zwei Stunden ein Wagen, wir
werden beobachtet und abgefilmt.
Soweit das Auge reicht, riesige
Brachflächen, Fahrstrecken und
Baufahrzeuge – solche Bilder auf
Postkarten von Halkidiki lassen
sich nicht verkaufen. Überall stehen
Beschäftigte von privaten Sicherheitsfirmen,
die das Gelände
bewachen. Dass wir irgendwann
nicht weiter kommen, machen uns
die Securities, die Absperrungen
und das Schild „Privatgrundstück.
Betreten verboten” klar.
Ein zweiter Einblick
Wir fahren weiter in das
Küstendorf Ierissos und machen
Mittagspause. Von der netten Imbissverkäuferin
erhalten wir nicht
nur gefüllte Pitabrote, sondern
ganz nebenbei die Information,
dass auch sie von den staatlichen
Verfolgungen um Halkidiki betroffen
ist. So langsam bekommen wir
eine Vorstellung davon, welche
Ausmaße die Repressionswelle annimmt.
Nach der Mittagspause
sind wir in einem Café mit aktiven
Dorfbewohner*innen von Ierissos
verabredet. Als wir durch die Fensterscheiben
des Cafés nach drinnen
blicken, sehen wir wieder viele
bunte Pullover und eine Botschaft:
"#$#"#% &'()*+*),. Hier sind
wir richtig! Bei heißen Getränken
und Knabbereien kommen wir ins
Gespräch. Es ist eine gemütliche
Kaffeerunde mit vorwiegend älteren
Damen. Und sie sollen alle Teil
einer terroristischen Vereinigung
sein? Sie erzählen von ihren regelmäßigen
Treffen, auf der alle Entscheidungen
gemeinsam getroffen
werden. Im Gespräch wird deutlich,
dass die Aktivist*innen die Verantwortung
für die derzeitige Situation
bei den (Lokal-)Politiker*innen
sehen, doch auch diese seien – wie
Bürgermeister Pachtas exemplarisch
zeige – durch Korruption belastet.
Als wir die Aktivist*innen zu
ihren Erfahrungen mit den Medien
befragen, berichten sie uns, dass
das Interesse insbesondere der großen
Medien zunächst gering war.
Doch mittlerweile haben sie gute
Kontakte zu ERT – dem über Nacht
geschlossenen
Staatsfernsehen,
das von den Mitarbeiter*innen
besetzt wurde und weitersendet
(siehe Seite 45ff.). Chalkidiki ist
seitdem kontinuierlich Thema in
der Berichterstattung, es gibt jetzt
wahrheitsgemäße Berichte, gegenseitige
Hilfe und Solidarität. Nicht
53
Nein zum Goldabbau aus Kindersicht
alle, die mit uns im Café sitzen,
waren vorher politisch aktiv. Doch
der gemeinsame Kampf, die Erfahrungen
mit einer unkritischen
Presse, korrupten Politiker*innen
und brutalen Polizeieinheiten haben
die Menschen politisiert und
zusammengeschweißt.
„Der Berg und die Dörfer sind
unser Leben. Das Wasser wird
verschmutzt und das fällt auf
alle Bereiche des Lebens zurück.
Es ist ein Kreislauf. Wir
haben nichts anderes. Wir wollen
hier leben!“
Nach all diesen Ausführungen
wird man den Vergleich zur
Goldgräberstimmung in Nordamerika
nicht los. Die von der Troika
herbeigeführte politische und soziale
Lage in Griechenland ist ein „El
Dorado“ für Konzerne außerhalb
Griechenlands: mit wenig Aufwand
und geringem Einsatz von Kapital
maximalen Profit. Der Mensch, welcher
bei allem zuerst kommen sollte,
spielt hier die letzte Geige.
Abschließend sprechen wir
lange darüber, was wir Zuhause
tun können, um die Menschen und
Kämpfe in Chalkidiki zu unterstützen:
Aufklärung und Informationsverbreitung,
Vernetzung mit bereits
bestehenden Soligruppen oder die
Beteiligung an Solidaritätsaktionen
wie den weltweiten Aktionstag
am 9. November. Und unsere
Gesprächspartner*innen schlagen
vor, ob sich nicht auch Geistesund
Kulturwissenschaftler*innen
motivieren lassen, aktiv zu werden,
schließlich liege der Geburtsort
von Aristoteles, dem die Gemeinde
ihren Namen verdankt, nur 15 km
entfernt. Der dringlichste Wunsch
der Aktiven an uns war, die Menschen
in Deutschland über die
tatsächlichen Zustände in Griechenland
zu informieren und somit
das medial verzerrte Bild über “die
Griech*innen” ein Stück gerade zu
rücken.
„Wo ihr geht und steht: Informiert
die Menschen in Deutschland
über unsere Situation!”
Nach dem bewegenden Gespräch
bleibt ein Teil der Gruppe
noch zum Adressenaustausch im
Café, ein anderer Teil folgt den älteren
Damen ins Vereinshaus und
kommt freudestrahlend wieder
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OXI - NEIN zum Goldabbau
Mehr Informationen:
www.soshalkidiki.wordpress.com
www.soshalkidiki.gr
SOS HALKIDIKI-Magazin in englischer Sprache:
http://issuu.com/soshalkidikisintfor/docs/soshalkidiki_01_en/3?e=7172202/1764616
raus – gehüllt in einen eben erworbenen
Pullover, auf dem in leuchtend
weißen Buchstaben steht:
"#$#"#% &'()*+*), und darunter
noch einige Worte mehr. Wir tragen
den Pulli, und mit ihm tragen wir
eine Botschaft nach Hause. Es sind
Informationen und Hintergründe
um (griechische) Wirtschaftsinteressen,
Krise und Korruption auf
der einen Seite und den solidarischen
Kampf um die Umwelt und
gegen Repression auf der anderen
Seite. Leuten, die uns später fragen:
„Hä, was steht‘n auf deinem
Pulli?“, können wir antworten: „Da
steht S.O.S. Chalkidiki – Nein zum
Goldabbau!” und haben nun eine
Vorstellung davon, was wir zu Chalkidiki
erzählen können.
Kristin & Christian
Am Flughafen lockt Chalkidiki mit seinen landschaftlichen
Vorzügen. Besser passt wohl: Profit and Destruction.
Kaffeerunde mit einer terroristischen Vereinigung?!
Unsere Reisegruppe im Visier von Polizei und privater Security
Die Zerstörung von Chalkidikis Wäldern nimmt ihren Lauf, auch samstags rollen die Bagger.
Kazáni pou brázei – der Kessel, der kocht
„Ohne Verpflegung keine Bewegung“, die Wahrheit
dieses Sprichworts zeigte sich auch auf unserer Bildungsreise.
Die ersten Fragen rund ums Essen stellten sich schon
mit dem Frühstück: Individuell oder in der Gruppe? Süß oder
kräftig? Flüssig oder fest? Und wer macht den Abwasch?
Eine gute Grundlage zu legen erwies sich als sinnvoll, denn
es war meist nicht klar, wann es die nächste richtige Mahlzeit
geben würde. Außerdem musste man sich wappnen für
die Verlockungen, die fast an jeder Straßenecke zu finden
waren: Raffinierte kleine Törtchen in den Schaufenstern
der Konditoreien, die typischen Sesamkringel, die auf kleinen
Handwagen verkauft wurden, oder die einladenden
Auslagen mit mediterranen Köstlichkeiten auf dem gut besuchten
Markt.
Obwohl wir von unseren Gesprächspartner_innen
herzlich empfangen und mit Getränken und Knabbereien
versorgt wurden, stieg spätestens am Nachmittag der
Stresspegel bei Gruppenentscheidungen proportional zum
Hungergefühl.
Umso überraschender war es für uns, als wir
am zweiten Tag ins Souterrain eines gesichtslosen
Mehrfamilienhauses geführt wurden. „Kazáni pou brázei
– der Kessel, der kocht“, so der Name des Kollektivs,
das seit rund vier Jahren in dieser Taverne kocht.
Gleichberechtigt und ohne Chef_in, versteht sich.
Was auf den ersten Blick wie ein etwas besserer Imbiss auf
uns wirkte, entpuppte sich rasch als frische Küche erster
Güte. Egal, ob Gemüse, Fleisch oder Fisch, man merkte sofort,
dass die Köch_innen ihr Handwerk verstanden. Zwar
fiel es einigen zunächst schwer, den in Deutschland weit
verbreiteten Individualismus des eigenen Tellers aufzugeben,
doch die servierten Gerichte sahen einfach zu lecker
aus, als dass man nicht einmal von einem anderen Teller
probieren wollte.
Schnell war man sich einig: Wir wollen wiederkommen!
Und so fanden wir uns einen Tag später
am selben Tisch wieder. Rasch kamen die gleichen
Wasserkaraffen, es wurden mehrere Portionen
Zaziki und Oliven für alle bestellt und der Tisch war am
Ende ähnlich vollgepackt wie unser Tagesprogramm.
Trotz Krise sollte uns das gute Essen auf unserer Reise
noch mehrmals begegnen: Bester ökologisch produzierter
Feta, der im Laden eines sozialen Zentrums verkauft
wurde. Ein Direkterzeuger_innenmarkt, auf dem
es fruchtig-aromatischen Rotwein zum Probieren gab.
Gegrillte Souvlakispieße vor dem Werkstor bei den streikenden
Coca-Cola-Arbeitern, bei denen sogar Vegetarier_innen
im Sinne der Solidarität beherzt zubissen.
„Ohne Mampf kein Kampf“ - nach einer Woche griechischer
Küche ahnt man, warum in Griechenland so viel entschiedener
gekämpft wird als in Deutschland.
Negation mit drei Buchstaben
Bereits im Vorbereitungsseminar tauchten
die drei Buchstaben auf, die uns auf unserer Reise
begleiten sollten: -./ – Nein. Mit diesem einen Wort
soll der griechische Diktator Metaxas auf das 1940
von Mussolini gestellte Ultimatum zur Kapitulation
Griechenlands gegenüber dem faschistischen Italien
reagiert haben. Seitdem ist der 28. Oktober, an dem
wir anreisten, als so genannter „Nein-Tag“ griechischer
Nationalfeiertag.
Viele Griech_innen sehen sich heute in einer
ähnlichen Lage wie damals: Die aufoktroyierte Politik
der Troika wird als Ultimatum wahrgenommen, das
die eigene Unabhängigkeit angreift und das Überleben
gefährdet. Wieder ist Deutschland die Macht, die
im Hintergrund die Politik bestimmt.
Auch in konkreten Kämpfen begegnete uns
das laute Nein der Menschen wieder. Ob auf dem riesigen
Plakat an der Hauswand des Arbeiterzentrums,
das zur Unterstützung der entlassenen Arbeiter zum
Boykott gegen Coca-Cola aufruft, oder bei der Protestbewegung
gegen den zerstörerischen Goldabbau
in Halkidiki: Unabhängig von der Frage, wie Alternativen
aussehen könnten, summieren die Menschen
ihren Widerstand zur derzeit herrschenden Politik
unter einem schlichten -./ – Nein.
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αλληλεγγύη
Solidarität
Selbstorganisation
αυτοοργάνωση
Nicht alle Reiseerlebnisse passen in diese Broschüre. Wenn Ihr Interesse an einer Veranstaltung habt und mit
uns diskutieren möchtet, dann nehmt Kontakt mit uns auf!
Viele der Menschen und Gruppen, die wir in Griechenland getroffen haben, freuen sich über praktische und
finanzielle Unterstützung. Wir haben deshalb ein Konto für Spenden eingerichtet.
Spenden für die Projekte könnt ihr auf folgendes Konto überweisen.
Leider können wir aber keine Spendenquittung ausstellen.
Empfänger: DGB-Bezirk Hessen-Thüringen
IBAN: DE63 2505 000 0152 012316
BIC: NOLADE2HXXX
Betreff: 130610 Griechenland
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