Wirtschaftswoche Pendler-Manie (Vorschau)
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Liz Mohn ■ Wolfgang Reitzle ■ Hans-Joachim Watzke ■ Jean-Claude Juncker ■ Thomas Weber
42
14.10.2013|Deutschland €5,00
4 2
4 1 98065 805008
Teurer Irrtum
Warum die Klimapolitik
einen Neustart
braucht
Immobilien-Skandal
Wie der Fondsanbieter
Fairvesta Anleger
in die Irre führt
Pendler-Manie
Gesundheit und Karriere: Wie hoch ist der
Preis für das Leben auf Achse?
Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | TschechischeRep.CZK 200,- | Ungarn FT 2000,-
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Einblick
Egal, ob Schwarz mit Rot oder Grün: Eine Regierung
des Missvergnügens kommt über uns. Bestenfalls
wird aus Deutschland Österreich. Von Roland Tichy
Berliner Schmäh
FOTO: HEIKE ROST FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
Warum gibt es in Österreich keine
Arbeitslosigkeit? Weil jeder
Job dreifach besetzt ist – mit
einem Schwarzen, einem Roten
und einem Dummen, der die Arbeit
macht. Das ist Wiener Schmäh, gekeltert
aus der lähmenden Nachkriegserfahrung
mit großen Koalitionen. Die Deutschen
wünschen sich zwar eine große Koalition.
Das klingt nach Tatkraft jenseits des Parteiengezänks.
Und vielleicht kann eine
große Koalition tatsächlich Wichtiges leisten
– etwa die Korrektur der Energiewende
(siehe Seite 20). Aber dagegen steht,
dass der Streit um die bessere Lösung zur
Demokratie gehört, auch wenn es manchmal
dauert. Und in Deutschland droht
dieser Ausnahmefall zum Normalfall zu
werden, wie Österreich zeigt: Solche Riesenkoalitionen
verärgern die Wähler, die
dann die politischen Ränder stärken. Von
Wahl zu Wahl schrumpft der Koalitionsanteil
an den Wählerstimmen. Aber die
Groß-Koalitionäre, auch wenn sie sich
derzeit noch zieren, werden sich trotzdem
bald aneinanderklammern – das sichert
Posten, Dienstwagen und öffentliche Aufmerksamkeit.
Inhaltlich überlappen sich
Union und SPD ohnehin, aller künstlichen
Abgrenzung zum Hohn. Und den
Rest besorgt die unvermeidliche innere
Logik politischer Misswirtschaft: Dass die
Steuern erhöht und der Sozialstaat aufgebläht
wird, die Staatsschulden ausufern –
verbleibende Konflikte zwischen den Parteien
lösen solche Koalitionen ratzfatz auf
dem Rücken von uns Steuerzahlern und
der künftigen Generation.
Die innere Kolonialisierung des Landes
und der Wirtschaft durch Pöstchen hier
und da für Parteifreunde, durch die Einbindung
von Gewerkschaften, Sozialversicherungsträgern
und den vielen staatlichen,
halbstaatlichen und korporatistischen
Zwitterwesen wird sich beschleunigen –
bis eben jeder Posten dreifach besetzt ist.
Sie bringen einen dazu, dass man sich in
Deutschland so etwas wie eine zivilisierte
Tea Party zu wünschen beginnt, die entschieden
und kompromisslos für eine
strikte Haushaltspolitik, rigorosen Schuldenabbau
und Begrenzung des Sozialstaats
eintritt.
Die real existierende Opposition jedenfalls
wird dem korporatistischen Wuchersozialismus
nichts entgegensetzen. Wie
auch? Eine Quoten-Queen wie Katrin Göring-Eckardt
als Oppositionsführerin ist
eher eine Verschärfung des Problems,
nicht dessen Lösung. Und in Regierungsämtern
mag man sie auch nicht sehen. Das
ist eine ebenso unerfreuliche Vorstellung
wie die, dass zukünftig Gregor Gysi die zahlenmäßig
stärkste Oppositionspartei anführen
wird. Er ist zwar ein ebenso unterhaltsamer
wie charmanter, aber eben auch
diabolischer Clown. Erst jetzt und unter öffentlichem
Druck schickt er wenigstens
seine Geschäftsführerin in Urlaub – eine
frühere Agentin und Spionin der DDR, aufs
Engste wohl auch mit den verschwundenen
Milliarden und Geldwäscheunternehmen
der SED verbunden, wie „Die Welt“
enthüllt hat. Mit diesem Hintergrund und
diesen Verbindungen eignet sich Gysi
nicht als Oppositionsführer: Die SED-
Erben haben sich gut getarnt, aber nicht
von der Vergangenheit gelöst.
BEÄNGSTIGENDE LEERE
Das Amt des Oppositionsführers ist in einer
Demokratie ebenso wichtig und ehrenvoll
wie das des Regierungschefs. Opposition
ist nicht „Mist“, wie der frühere
SPD-Chef Franz Müntefering einst abwertend
behauptet hat, auch wenn man seine
persönliche Vorliebe für schöne Ämter
nachvollziehen kann. Denn die Opposition
kontrolliert und korrigiert die Regierung;
sie steht als institutionelle Alternative zu
deren Ablösung jederzeit bereit; sie trägt
eine ebenso ehrenvolle wie die Demokratie
konstituierende Verantwortung. Diese
Sicht geht in Deutschland verloren, weil
man sich durch die Tatkraft der Regierung
blenden lässt und die Opposition als Köter
abwertet, die nur die weiterziehende Karawane
der Staatsmänner anbellen.
Eine Regierung des allgemeinen Missvergnügens
und eine Leerstelle bei der Opposition:
Das ist der Berliner Schmäh der
kommenden Legislaturperiode.
n
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 3
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Überblick
Menschen der Wirtschaft
6 Seitenblick Cognac-Hype dank Hip-Hop
8 Telekom: Keine E-Mails mehr durch die
USA
9 BMW: Startprobleme beim i3 |
Kaufhof: Expansion nach Luxemburg
10 Internet-Koordinator Akram Atallah über
den globalen Umbau des Netzes
12 Rente: Niedrigere Sätze erwartet |
Suhrkamp: Nächste Klage | Kartell bei Feuerwehrleitern:
Millionen für Kommunen
14 Chefsessel | Startup Kuriero
18 Chefbüro Liz Mohn, Unternehmerin und
Aufsichtsrätin bei Bertelsmann
Politik&Weltwirtschaft
20 Energie Der große Schub beim Strompreis
kommt noch | Interview: Wolfgang Anzengruber,
Chef der österreichischen Verbund
AG, will Ökostrom günstig liefern | Die Not
des Ruhrgebiets mit der Energiewende
28 Asylpolitik Wohin mit den Flüchtlingen?
31 Luxemburg Die Dauerregentschaft des
Jean-Claude Juncker wird zum Problem
32 Irland Die Lust am Sparen schwindet
34 USA Die unheimliche Macht der Tea Party
39 Berlin intern
Der Volkswirt
40 Forum Ulrike Ackermann über den Verlust
der Freiheit
41 Deutschland-Konjunktur
42 Serie Geistesblitze der Ökonomie (X)
Mancur Olson erklärt, warum Interessengruppen
so viel Macht besitzen können
44 Denkfabrik ifo-Präsident Hans-Werner
Sinn über die Wirkung des Mindestlohns
Unternehmen&Märkte
46 Universal Music Der weltgrößte Musikkonzern
führt die Branche wieder zu Wachstum
52 IVG Wie Sal. Oppenheim den Niedergang
des Immobilienkonzerns beschleunigte
56 Interview: Christophe de Margerie Der
Chef des Energieriesen Total will in
Deutschland mehr Tankstellen betreiben
60 Wolfgang Reitzle Der scheidende Linde-
Chef zündet die nächste Karrierestufe
62 A.T.U So wurde die Werkstattkette zum
Heuschrecken-Opfer
64 F. Laeisz Die Reederei kämpft um ihre
Beteiligung am Braukonzern AB Inbev
66 Banken Der Kampf um das Geschäft mit
Mittelständlern wird immer härter
Technik&Wissen
72 Klimawandel Es ist höchste Zeit für eine
neue Klimapolitik. Fünf Ansätze dazu
80 Interview: Thomas Weber Der Mercedes-
Vorstand sieht das Auto am Wendepunkt
83 Valley Talk
Titel Der Pendler-Wahnsinn
Teure Energie
Ökostrom kostet 2014 schon
wieder mehr. Doch der große
Preisschub kommt, wenn auch
die Mega-Windparks auf See
ans Netz gehen. Es ist höchste
Zeit für einen Schnitt bei der
Förderung. Seite 20
Köln–Frankfurt, Berlin–Wolfsburg,
München–Ingolstadt: Millionen Deutsche
fahren täglich stundenlang zur Arbeit.
Den Staat kostet das Leben auf Achse
Milliarden – und die Pendler gefährden
Gesundheit und Karriere. Seite 84
Fabrik der Klänge
Die Macher von Universal Music, dem weltgrößten Musikkonzern,
zeigen der angeschlagenen Medienbranche, wie sie die Digitalisierung
nutzen und mit Inhalten Profit erzielen kann. Seite 46
TITELILLUSTRATION: WIESLAW SMETEK
4 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Nr. 42, 14.10.2013
Wie das Klima noch zu retten ist
Der milliardenteure Kampf gegen die Erderwärmung entpuppt
sich als nutzloser Aktionismus. Es ist Zeit für einen Neuanfang.
Fünf Ansätze für eine effektivere Klimapolitik. Seite 72
Management&Erfolg
84 Mobilität Viele Deutsche legen für den Weg
zur Arbeit lange Strecken zurück – zum
Schaden von Gesundheit und Karriere
Geld&Börse
90 Fairvesta Wundersame Geschäfte einer
Fondsgesellschaft | Die Fehde zwischen
Fairvesta und S&K
96 Interview: Hans-Joachim Watzke
Der Geschäftsführer von Borussia Dortmund
über den Spagat zwischen Sport
und Börse | Welches Potenzial hat die
BVB-Aktie noch?
100 Italien NiviCredit schröpft Urlauber
102 Spezial: Zertifikate Neue Anlagepapiere
bringen bis zu acht Prozent – wenn die
Börsen nicht abstürzen
106 Steuern und Recht Kontozugriff bei Erbschaften
| Bauträgerhaftung | Kunstfehler |
Versicherung gegen Arbeitsunfähigkeit bei
der Baufinanzierung | Geldwerte Vorteile
bei Betriebsfeiern | Streit ums Einzelbüro
108 Geldwoche Kommentar: Neue Fed-Chefin |
Trend der Woche: Junk-Bonds | Dax-Aktien:
RWE; E.On | Hitliste: US-Schuldengrenze |
Aktie: TDC | Anleihe: Haniel | Investmentfonds:
NordIX Renten plus | Nachgefragt:
TAG-Chef Rolf Elgeti zu Korruptionsvorwürfen
| Relative Stärke: Bankaktien
Perspektiven&Debatte
116 Ausstellung In München werden Uhren aus
fünf Jahrhunderten gezeigt
119 Kost-Bar
FOTOS: GETTY IMAGES, ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, AGENTUR FOCUS/JUSTIN JIN, PR
Geschlossene Gesellschaft
Mit Traumrenditen geköderte Anleger packten 700 Millionen Euro
in Fairvesta-Fonds. Doch wie will Fairvesta Geld verdienen? Einige
Fonds haben seit Jahren keine Immobilie mehr verkauft. Seite 90
Kompliziert
In München zeigt der Genfer
Uhrenhersteller Patek
Philippe zehn Tage lang
spektakuläre Stücke der
Uhrmacherkunst – darunter eine
Taschenuhr mit eingebautem
Sternenhimmel. Seite 116
Rubriken
3 Einblick, 120 Leserforum,
121 Firmenindex | Impressum, 122 Ausblick
n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche
weltweit auf iPad oder iPhone:
Diesmal mit einem Video über
das Backstage-Geschehen bei
Rockkonzerten und einer
Reportage über den
Kampf vieler Pendler gegen
die Nachwirkungen
des Elbehochwassers.
wiwo.de/apps
n Bernankes Erbe Wie lange will die
US-Notenbank ihre expansive Geldpolitik
fortführen? Ein Gastbeitrag
von Starökonom Martin Feldstein.
wiwo.de/post-aus-harvard
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wirtschaftswoche
twitter.com/
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plus.google.com/
+wirtschaftswoche
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 5
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Seitenblick
GETRÄNKE
Cognac’n’Beats
Das Geschäft mit französischem Branntwein boomt in
den USA, seit Hip-Hop-Stars das Altherrengetränk
zum Statussymbol und Kultdrink erkoren haben.
50,6Millionen Flaschen Cognac
liefert Frankreich in diesem Jahr in die USA, fast drei
Prozent mehr als 2012. Das Land ist damit der wichtigste
Auslandsmarkt und wächst zudem kontinuierlich,
ausgenommen 2009, dem Jahr der Finanzkrise. 70 bis
80 Prozent der US-Käufer sind Afroamerikaner. Ausgelöst
wurde der Boom durch Rapper wie Busta Rhymes
und P. Diddy, die schon 2001 „Pass the Courvoisier“
sangen. Der Verkauf dieser schon von Napoleon
geschätzten Marke stieg daraufhin um 30 Prozent.
37,7Prozent aller Hip-Hop-Songs
erwähnen Alkohol, stellten Forscher der Boston University
School of Public Health bei der Analyse von
720 Liedern fest. Allein um die Marke Hennessy geht
es in mehr als 100 Songs; so besangen Eminem,
Destiny’s Child oder LL Coo J „Henny“ oder „Henn“.
Hennessy kommt in den USA auf einen Marktanteil
von mehr als 50 Prozent und verpflichtete Rapper
Nas als Werbepartner. Snoop Dogg wirbt für Landy.
100 000Flaschen
Conjure Cognac wurden im ersten Jahr verkauft. Die
Marke hat das Traditionshaus Birkedal-Hartmann
gemeinsam mit Rapper Chris „Ludacris“ Bridges, der
50 Prozent an der Firma hält, eigens für den US-Markt
gegründet. Bacardi brachte im Vorjahr mit D’Usse
einen neuen Cognac für die USA heraus, der von
Superstar Jay-Z beworben wird. Er sorgte bei der
Grammy-Verleihung für Aufsehen, als er Cognac aus
der Trophäe trank.
oliver.voss@wiwo.de
6 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Hype dank Hip-Hop
Musikstar Nas in Hennessys
Cognac-Keller
FOTO: PR/MOET-HENNESSY
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 7
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Menschen der Wirtschaft
Geheimtreffen im
Ministerium
Telekom-Vorstand
Kremer
DEUTSCHE TELEKOM
Keine Bytes ins Ausland
Um die Kunden vor Spionage zu schützen,
will die Deutsche Telekom den Internet-
Verkehr über die USA und Großbritannien
reduzieren.
Nur 39 Prozent der Deutschen halten die Deutsche
Telekom laut einer aktuellen Allensbach-Umfrage
für vertrauenswürdig im Umgang mit persönlichen
Daten. Der Konzern rangiert weit vor Web-Riesen
wie Microsoft, Google und Facebook (siehe Grafik).
Aber eine Zahl bereitet Thomas Kremer, Telekom-
Vorstand für Datenschutz, Sorgen. Seit den Enthüllungen
durch Edward Snowden über das systematische
Abhören des Internet-Verkehrs durch
amerikanische und britische Geheimdienste büßte
die Telekom sechs Prozentpunkte ein – mehr als die
meisten Konkurrenten.
Mit einer radikalen Maßnahme will Kremer jetzt
Vertrauen zurückgewinnen. E-Mails und andere
Datenpakete, die von einem deutschen Ort an einen
anderen deutschen Ort geschickt werden, sollen
nicht mehr die sehr häufig genutzte Route über
die in Verruf geratenen Internet-Knotenpunkte in
Großbritannien und den USA einschlagen, sondern
den direkten Weg durch Deutschland nehmen.
„Beim Transport zwischen Sendern und Empfängern
in Deutschland wollen wir garantieren, dass
kein Byte Deutschland verlässt und auch nicht
vorübergehend die Grenze überschreitet“, sagt Kre-
mer. Ein solches „National Routing“ wäre möglich,
wenn alle Netzbetreiber in Deutschland den Telekom-Vorstoß
unterstützen und Daten ohne Umweg
über andere Länder direkt in Deutschland untereinander
austauschen. Kommt es zu keiner freiwilligen
Übereinkunft, sollte laut Telekom über ein entsprechendes
Gesetz nachgedacht werden.
Bei einem Geheimtreffen am 1. Oktober im Bundeswirtschaftsministerium,
zu dem Manager mehrerer
Netzbetreiber kamen, stellte die Telekom den
Plan erstmals vor. Es gab Zustimmung, aber auch
Kritik von der Konkurrenz. Solch ein Projekt sei
technisch „hochkomplex“ und „mit höheren Kosten“
verbunden, hieß es. Vor allem internationale
Konzerne wie Vodafone und Telefónica prüfen derzeit
„sehr genau“, ob sie beim „National Routing“
mitmachen wollen. Selbst bei einem ausschließlich
in Deutschland aktiven Netzbetreiber überwiegt
Skepsis. „Im Internet lässt sich nicht zweifelsfrei
erkennen, ob Daten national oder international
geroutet werden“, sagt Thomas Bösel, Datenschutzbeauftragter
des Kölner IT-Dienstleisters QSC. Da
gebe es technische und gesetzliche Hürden.
Mittelfristig strebt Kremer eine europäische Lösung
an – aber ohne Großbritannien. Die Telekom
nennt das „Schengen-Routing“ – in Anlehnung an
das Schengen-Abkommen zur Abschaffung stationärer
Grenzkontrollen. „Wir sollten aber zuerst in
Deutschland zeigen, dass dies funktionieren kann“,
sagt Kremer.
juergen.berke@wiwo.de
Vertrauen verloren
Wem die Deutschen
einen vertrauenswürdigen
Umgang mit persönlichen
Daten zutrauen
(in Prozent, 2013,
Vorjahr in Klammern)
Telekom
Microsoft
Ebay
Vodafone
Amazon
Web.de
Google
GMX
Apple
E-Plus
O2
1&1
Alice
Yahoo
Facebook
Quelle:IfD-Allensbach
39 (45)
23 (25)
21 (23)
20 (25)
19 (27)
19 (19)
17 (19)
17 (18)
16 (21)
16 (20)
16 (18)
13 (16)
10 (12)
9 (10)
7 (8)
8 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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BMW
Startprobleme beim i3
Zulieferer verärgert
BMW-Chef Reithofer mit i3
Kaum angelaufen, stockt die
Serienproduktion des BMW-
Elektroautos i3. Ursache seien
Probleme beim Zusammenkleben
von Kohlefaserteilen in der
Endmontage im Leipziger
BMW-Werk, berichtet ein Insider.
Zwischen Ende September
und Anfang Oktober hätten
dort die Bänder insgesamt zehn
Tage stillgestanden. Zulieferer
anderer Komponenten mussten
ihre Fertigung drosseln, um
nicht auf Halde zu produzieren.
Die Serienfertigung des i3,
mit dem BMW-Chef Norbert
Reithofer den Markt für Elektroautos
aufmischen will, startete
am 18. September. Wie viele
der rund 35 000 Euro teuren
Elektroautos inzwischen gebaut
wurden, will BMW nicht verraten.
„Solche Zahlen werden nur
falsch interpretiert“, heißt es bei
BMW in Leipzig. Man liege aber
voll im Plan. Vorgesehen ist eine
Jahresproduktion von rund
15 000 Autos, davon sind rund
2000 für Deutschland bestimmt.
Dass es zum Start einer neuen
Fahrzeugserie „Optimierungsschleifen“
in der Produktion gebe,
sei normal, so ein Sprecher.
Probleme bei der Karbonverarbeitung
bestreitet BMW, räumt
aber ein, man mache hier „jeden
Tag neue Erfahrungen“.
Im BMW-Entwicklungszentrum
in München kursiert bereits
der Witz, die Verantwortlichen
für das Projekt i hätten
Büros im Erdgeschoss bekommen,
„damit sie nicht aus dem
Fenster springen“.
Laut Kraftfahrtbundesamt
wurden bis Ende September in
Deutschland 151 BMW i3 zugelassen
– zu Test- und Vorführzwecken.
Offizieller Verkaufsstart
ist der 16. November. Bis
dahin soll auch das Vertriebssystem
funktionieren, dass sich
auf 46 BMW-Niederlassungen
und -Händler mit speziellen
Verträgen stützt. Die Schulung
der Servicekräfte hat erst begonnen,
ebenso die Ausstattung
der Autohäuser mit speziellen
Werkzeugen. „Das wird
ganz knapp“, stöhnt einer der
Händler, der für das Projekt i
über 150 000 Euro investiert hat.
matthias.kamp@wiwo.de, franz rother
Aufgeschnappt
Einzigartige Kamera Für die
Anti-Aids-Kampagne Product
Red hat Apple-Chefdesigner
Jonathan Ive gemeinsam mit
seinem Freund und Kollegen
Marc Newson eine Leica-Kamera
entworfen. Das hessische
Unternehmen Leica Camera
baut von dem Modell M allerdings
nur ein einziges Exemplar.
Am 23. November versteigert
das Auktionshaus Sotheby’s
das Unikat in New York, auch
U2-Sänger und Product-Red-
Gründer Bono will kommen.
Experten erwarten einen Erlös
zwischen 500 000 und 750 000
Dollar.
Schöner Schein Das inflationsgeplagte
Argentinien versucht
mit allen Mitteln, den Wert seiner
Währung künstlich hochzuhalten.
Das ist dem Land nun gelungen.
Zufällig. Mit der neuen
100-Peso-Note. Der Geldschein
mit dem Bild der Nationalheiligen
und ehemaligen First Lady
Evita Peron ist im Ausland stark
gefragt. Bei Ebay werden diese
Scheine schon für 30 Euro gehandelt,
der offizielle Wechselkurs
liegt bei 12,70 Euro.
KAUFHOF
Auf nach
Luxemburg
Während der Essener Warenhauskonzern
Karstadt prüft, ob
er Filialen schließen muss, expandiert
der Kölner Konkurrent
Galeria Kaufhof. Nach Information
aus dem Umfeld des Unternehmens
will Kaufhof im Jahr
2015 die erste Filiale in Luxemburg
eröffnen.
„Wir prüfen derzeit die Option,
in Luxemburg an den Start
zu gehen“, sagt Kaufhof-Chef
Lovro Mandac, will sich zu
weiteren Details allerdings
nicht äußern. Intern heißt es,
der Markteintritt im Großherzogtum
soll mit der zu Kaufhof
gehörenden Warenhauskette
Galeria Inno erfolgen. Das Unternehmen
betreibt schon 15
Warenhäuser in Belgien und
hatte im Juli die Eröffnung einer
weiteren Filiale angekündigt. In
Deutschland gehören 105 Warenhäuser
und 17 Sporthäuser
zu Kaufhof.
Die jüngste Expansion ändert
jedoch nichts daran, dass die
Kaufhof-Mutter Metro sich von
den Warenhäusern trennen
möchte. Metro-Chef Olaf Koch
betonte vor Kurzem im Interview
mit der WirtschaftsWoche,
die Warenhaussparte habe sich
„fantastisch entwickelt“, bleibe
aber auf der Verkaufsliste.
henryk.hielscher@wiwo.de
Max Planck schlägt Amerika
Wo sich Deutschlands noch lebende Nobelpreisträger ihre Auszeichnung erarbeiteten
FOTOS: REUTERS/MIKE SEGAR, PR (2)
8
Länder Institute Disziplin
Literatur
9×Max-Planck-Gesellschaft
2
2×freiberuflich
Chemie
1×Forschungszentrum Jülich
Physik
14
davon
1×Deutsches Krebsforschungszentrum
Medizin
1×Rheinische Friedrich-
Wilhelms-Universität
Wirtschaft
Quelle: Nobelstiftung, eigeneRecherche
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 9
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Menschen der Wirtschaft
INTERVIEW Akram Atallah
»Das Internet wird endlich global«
Der Chefkoordinator der nächsten Generation von Internet-Adressen
organisiert den größten Umbau im Netz. Ab Ende 2013 treten erstmals Kürzel
aus fremdsprachigen Schriftzeichen neben Adressen wie .de oder .com.
FLOSKELCHECK
Blitzmarathon
Verlängerung der historischen
Messstrecke
von 42,195 Kilometern
auf das gesamte
deutsche Straßennetz
bei gleichzeitiger Ausdehnung
des Zeitrahmens
auf 24 Stunden
zur unlimitierten Anfertigung
von Zielfotos.
Anders als am 12. September
490 v. Chr. der
sterbende Bote Pheidippides
verkündet
der Blitz heute nicht
mehr einen Sieg,
sondern Probleme.
Außerdem nehmen
Fußgänger nicht daran
teil, können sich aber
während der Veranstaltung
polizeilich
ungestört anderweitiger
Kriminalität
widmen.
DER FLOSKELCHECKER
Carlos A. Gebauer, 48,
arbeitet als Rechtsanwalt in
Düsseldorf, wurde auch
als Fernsehanwalt von RTL
und SAT.1 bekannt.
Herr Atallah, es gibt schon 23
globale Internet-Kürzel, von
.com für Unternehmen bis .xxx
für Porno-Seiten, dazu 250
Länderadressen wie .de oder
.fr. Warum führt die Internet-
Behörde ICANN noch mehr
Kürzel ein?
Das World Wide Web hat bis
heute ein entscheidendes Manko:
Die Adressen der Web-Angebote
sind nicht wirklich international.
Die Endungen, die
sogenannten Top Level Domains,
nutzen alle die lateinische
Schrift. Aber Milliarden
von Menschen – speziell in
Asien – nutzen andere Schriften
und müssen deshalb noch auf
sprachlichen Umwegen durchs
Netz navigieren. Nun wird das
Internet endlich global.
Die linguistische Gerechtigkeit
im Netz...
...ist ja nicht der einzige Antrieb
für die Erweiterung. Wir glauben
auch, dass die Neuerungen
für Netzwelt und Unternehmen
neue Geschäftsmöglichkeiten
bringen. Zum Beispiel gibt es
Online-Dienstleister, die das
Kürzel .gmbh beantragt haben,
um damit komplette Hosting-
Angebote für Firmen dieser
Rechtsform anzubieten. Andere
Antragsteller können eigene
Communitys schaffen. Der
ADAC etwa hat sich seinen Namen
als Endung gesichert und
könnte so ein eigenes Internet
nur für seine Mitglieder aufziehen.
Die Deutsche Post könnte
mit .epost einen neuen Logistikdienst
oder SAP mit .sap allen
Entwicklern und Kunden eine
eigene sichere Netzwelt einrichten,
zu der sonst niemand
Zugang hat.
Was bringt das?
Neben Marketing und Kundenbindung
spricht auch ein Mehr
an Sicherheit für die neuen
Adressen. Denn zu den Vergaberichtlinien
gehören auch höhere
Auflagen zum Schutz vor
Cyberkriminellen, die die Betreiber
der Adressen einhalten
HERR DER NAMEN
Atallah, 50, ist seit Juni
Präsident der Generic Domains
Division der Internet-Adressbehörde
ICANN. Zuvor steuerte
der aus dem Libanon stammende
Elektroingenieur das Tagesgeschäft
der Behörde.
müssen. Gerade für Banken
oder Online-Händler ist das ein
Wettbewerbsvorteil. Wir hoffen,
dass auf Dauer auch die Betreiber
von Web-Angeboten mit
gegenwärtig verfügbaren, traditionellen
Internet-Kürzeln die
höheren Sicherheitsstandards
übernehmen.
Knapp 2000 Organisationen
und Unternehmen haben eine
der neuen Adressen beantragt.
Bei 185 000 Dollar Gebühren
pro Adresse macht das knapp
360 Millionen Dollar für ICANN.
Ist das Ganze nicht in erster
Linie ein großes Geschäft für
Ihre Behörde?
Gar nicht. Wir sind eine Non-
Profit-Organisation. Und das
gilt auch für den laufenden
Vergabeprozess der neuen Endungen.
Ob er schlussendlich
kostendeckend ist, steht heute
noch nicht fest. Es ist aber festgelegt,
dass Antragsteller,
die nicht zum Zug kommen
oder ihren Antrag zurückgezogen
haben, einen Teil der Gebühren
wieder erstattet bekommen
können. Und wenn
Überschüsse bleiben, entscheidet
die Community der
uns tragenden Institutionen
und Gremien über deren Verwendung.
Wann geben Sie die neuen
Adressen frei?
Die Prüfung für viele Anträge
läuft noch. Aber wir gehen davon
aus, dass wir bis Ende 2015
insgesamt rund 1500 neue
Adressen vergeben werden. Die
Ersten können wir voraussichtlich
noch vor Ende dieses Jahres
aktivieren, darunter welche in
arabischen Schriftzeichen, in
kyrillischen oder chinesischen.
Sie sehen, das WWW wird wirklich
global.
thomas.kuhn@wiwo.de
FOTO: PR
10 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Menschen der Wirtschaft
WIRTSCHAFTSWOCHE
FT überholt
Die WirtschaftsWoche ist auch
in den ersten drei Quartalen
2013 das meistzitierte Wirtschaftsmagazin
Deutschlands.
290 Mal griffen andere Medien
WiWo-Berichte auf. Das zeigt
das neue Zitate-Ranking von
Media Tenor. Das „ManagerMagazin“
kam auf 72 Zitate, „Capital“
auf 10. Im Ranking aller
Wirtschaftsmedien einschließlich
der Tageszeitungen überholte
die WirtschaftsWoche die
„Financial Times“ und rückte
vom vierten auf den dritten
Platz – direkt hinter „Handelsblatt“
und „Wall Street Journal“.
EINLADUNG
Was wird aus
Europa?
Ist Europa noch zu retten?
Braucht Europa mehr Einheit
oder mehr Vielfalt? Darüber
diskutieren Wissenschaftler
und der Europaabgeordnete
Daniel Cohn-Bendit auf der
Europa-Konferenz, zu der das
John Stuart Mill Institut für
Freiheitsforschung und die
WirtschaftsWoche am 28. November
nach Berlin einladen.
Weitere Infos im Internet:millinstitut-freiheitsforschung.de.
TOP-TERMINE VOM 14.10. BIS 20.10.
14.10. Wirtschaftsnobelpreis Das Nobelpreiskomitee
gibt am Montag in Stockholm bekannt, wer in diesem
Jahr den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften
erhält. Der Wirtschaftspreis basiert nicht
auf Alfred Nobels Testament, sondern wird seit
1969 von der schwedischen Reichsbank gestiftet.
Koalition In Berlin treffen sich CDU/CSU und SPD
zum Sondierungsgespräch über eine Koalition.
Am Dienstag findet die zweite Sondierungsrunde
zwischen Union und Grünen statt.
Fukushima Experten der internationalen Atomenergiebehörde
inspizieren das 2011 havarierte
Atomkraftwerk im japanischen Fukushima.
15.10. Ökostrom Die Netzbetreiber teilen am Dienstag
mit, wie hoch die Umlage zur Subventionierung
des Ökostroms im nächsten Jahr ausfällt. Voraussichtlich
steigt sie von 5,3 auf 6,3 Cent je Kilowattstunde.
Ein Vier-Personen-Haushalt müsste dann
rund 45 Euro im Jahr zusätzlich zahlen.
17.10. USA Nach Berechnungen von US-Finanzminister
Jacob Lew erreicht das Land am Donnerstag
die Schuldengrenze von 16,7 Billionen Dollar.
Einigen sich Republikaner und Demokraten vorher
nicht auf deren Anhebung, wären die USA zahlungsunfähig.
Experten warnen
vor einer
weltweiten
Finanzkrise.
18.10. VDMA Der Verband der Maschinen und Anlagenbauer
wählt am Freitag in Stuttgart einen neuen
Präsidenten. Für den Posten kandidiert der
Münsterländer Familienunternehmer Reinhold
Festge, 67. Der bisherige Amtsinhaber Thomas
Lindner, 63, tritt nicht mehr an.
SUHRKAMP
Nächste
Klage droht
Bangt um seine Stimmrechte
Mitgesellschafter Barlach
Neues Kapitel im Streit um
Suhrkamp: Stimmt die Gläubigerversammlung
am 22. Oktober
der Umwandlung des Verlags
in eine Aktiengesellschaft
zu, will Minderheitsgesellschafter
Hans Barlach Schadensersatz
einklagen. Das kündigte
Carl Ulrich Mayer an, der Verwaltungsrat
von Barlachs
Schweizer Medienholding.
Seit Monaten liefern sich Barlach
und die Familienstiftung
von Suhrkamp-Chefin Ulla
Unseld-Berkéwicz einen Machtkampf
um den Verlag. Im
Rahmen einer Schutzschirminsolvenz
soll der Konflikt
durch eine gesellschaftsrechtliche
Umwandlung entschärft
werden. Barlach verlöre jedoch
Mitspracherechte.
henryk.hielscher@wiwo.de
LEITERKARTELL
Geld winkt
Um lange Prozesse zu vermeiden,
haben sich die Mitglieder
des 2011 aufgedeckten Kartells
für Feuerwehr-Drehleitern mit
den betroffenen Kommunen
auf einen Ausgleich
in Millionenhöhe
geeinigt.
Iveco Magirus
und Rosenbauer
stellen 6,41 Millionen
Euro für
jene Städte und Gemeinden bereit,
die zwischen 2000 und
2007 zusammen rund 450 Leiterwagen
für ihre Feuerwehren
gekauft hatten. Je nach Fahrzeugtyp
und Leiterlänge können
sie pauschal zwischen
10 500 und 16 000 Euro beantragen
– deutlich mehr als die 1600
bis 2200 Euro je Fahrzeug, die
die Kommunen im Zusammenhang
mit dem Löschfahrzeugkartell
erhalten,
das gleichzeitig
aufgedeckt wurde.
thomas.kuhn@wiwo.de
STUDIE
Rente sinkt
Die meisten Deutschen schätzen
ihre künftige Altersversorgung
ebenso realistisch wie
pessimistisch ein. Das zeigt die
neue Studie der Postbank. „Die
deutliche Mehrheit erwartet,
dass die Leistungen der gesetzlichen
Rentenversicherung sinken
werden, gemessen am
Lohn- und Einkommensniveau“,
heißt es in der Untersuchung.
26 Prozent der Befragten
befürchten sogar, dass die Rente
in zehn Jahren „deutlich
niedriger“ ausfällt; 31 Prozent
gehen von einer „etwas niedrigeren“
Altersversorgung aus.
Nur 21 Prozent meinen, dass sie
„gleich bleibt“. 11 Prozent haben
die Hoffnung nicht aufgegeben
und rechnen mit einer
„deutlich höheren“ Rente.
Jeder zweite Berufstätige
glaubt, dass die gesetzliche
Rente künftig nur die Grundsicherung
garantiert, unabhängig
von der Höhe der Beiträge.
hermann.olbermann@wiwo.de
FOTOS: IMAGO, FOTOSCHLICHTER/ANDREAS SCHLICHTER, PICTURE-ALLIANCE/DPA
12 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Menschen der Wirtschaft
CHEFSESSEL
STARTUP
THYSSENKRUPP
Beatrice Weder di Mauro,
48, verlässt noch in diesem
Jahr den Aufsichtsrat von
ThyssenKrupp. Ihr Mandat
wäre noch bis 2015 gelaufen.
Aber EU-Kommissionspräsident
Manuel Barroso, 57, habe
sie in eine Expertenkommission
berufen, darum
habe sie für den Stahlkonzern
keine Zeit mehr. Als
Gerhard Cromme, 70, sie
2010 in das Kontrollgremium
holte, wurde er dafür auf der
Hauptversammlung kritisiert.
Mit der Berufung der
Ökonomie-Professorin wolle
er „nur vom patriarchalischen
Stil“ im Konzern ablenken,
empörte sich eine
Aktionärin. Für Weder di
Mauro rückt Telekom-Chef
René Obermann, 50, in das
Kontrollgremium, das seit
dem Rücktritt von Cromme
im vergangenen März Ulrich
Lehner, 67, leitet. Jener Lehner,
der auch Aufsichtsratsvorsitzender
der Telekom ist.
CITY-IKEA
Bei ThyssenKrupp muss er sich
auf konzernerfahrene und vertraute
Aufseher verlassen können,
will er den trudelnden
Konzern wieder auf Kurs bringen.
MCKINSEY
Frank Mattern, 52, gibt Ende
des Jahres seinen Posten als
Deutschland-Chef von McKinsey
auf und verantwortet dann als
Firm Functional Leader das globale
Geschäft rund um Organisation,
Marketing und Strategie
und damit 30 bis 40 Prozent des
Umsatzes der weltgrößten Strategieberatung.
Nach dem eher
barocken Führungsstil seines
Vorgängers Jürgen Kluge, 60,
der sich in den Medien als Merkel-Freund
und Bildungspapst
feiern ließ, trat Mattern in seiner
siebenjährigen Ägide öffentlich
kaum auf. Dafür wirkte er umso
experimentierfreudiger und erfolgreicher
nach innen. „Keine
zweite Strategieberatung ist
derzeit so gut aufgestellt wie
McKinsey und Deutschland
quasi das Innovationslabor der
Firma“, urteilt Dietmar Fink,
Professor für Unternehmensberatung.
Namen für Matterns
Nachfolge kursieren bereits. Als
mögliche Kandidaten gelten der
Kölner Büroleiter und Handelsexperte
Klaus Behrenbeck, 46,
Jürgen Meffert, 50, der weltweit
die Telekommunikationssparte
verantwortet, und Katrin Suder,
41, Leiterin des Berliner Büros;
sie ist in der Hauptstadt gut verdrahtet.
10 000 Kunden
erwartet der Möbelkonzern Ikea an Spitzentagen
in seiner weltweit ersten Filiale in einer
Fußgängerzone. Mit 10 000 Quadratmetern
ist das Grundstück mitten in Hamburg-Altona das kleinste, auf
dem Ikea je einen Markt gebaut hat. Schon zum Richtfest am
Donnerstag kommen 1000 Gäste. Eröffnung ist am 30. Juni.
KURIERO
Der Lückenfüller
Fakten zum Unternehmen
Finanzierung mit eigenen Mitteln
in Höhe von 25 000 Euro
Kosten Preis für Lieferungen auf
kürzester Strecke ab 5,90 Euro
Effizienz Routenplanung reduziert
Strecken um 45 Prozent
Während seines Studiums arbeitete Sebastian Beyl als Fahrradkurier
und ärgerte sich, wenn er ein Päckchen von A nach B bringen
musste und direkt danach genau zwischen diesen Stationen
ein Dokument abholen sollte. Das könnte man zeit- und kostensparender
organisieren, dachte er sich und gründete das Unternehmen
Kuriero. Herzstück ist eine Software, die für die Fahrer die
Routen plant. So können sie auf einer Tour mehrere Aufträge erledigen
und sind besser ausgelastet.
„Wir gehen genau in die Lücke zwischen Expresskurieren und
klassischen Paketdiensten“, sagt Beyl. Kunden, die ihre Sendung
nicht sofort benötigen, sollen sie so günstiger bekommen als bei
herkömmlichen Kurieren und zudem schneller als bei Logistikern
wie DHL & Co. „Wir liefern innerhalb von vier Stunden“, verspricht
Beyl. Bisher können Sendungen per App oder online in Hamburg,
Köln und Berlin aufgegeben werden. Weitere Städte sollen folgen,
in Frankfurt laufen schon Tests. In dieser Woche kommen Mainz
und Wiesbaden hinzu. Wie schon in Berlin kooperiert Kuriero
dort mit einem lokalen Kurierdienst, statt eigene Fahrer anzuheuern.
Sie nutzen die Kuriero-Technologie
zwar nur
begrenzt, aber Beyl hofft,
dass sich das ändert und
sogar andere Anbieter sie
einsetzen. „Vielleicht planen
künftig mehrere Kurierdienste
ihre Routen
über unser System.“
oliver.voss@wiwo.de
FOTO: VISUM/BERND ROSELIEB, PR (2)
14 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro
Liz Mohn
Unternehmerin und Aufsichtsrätin bei Bertelsmann
Wenn Liz Mohn, 72, aus dem
Fenster schaut, sieht sie Wiesen,
Bäume und einen Teich,
auf dem Enten und Gänse ihre
Runden ziehen; am Ufer beult
sich ein Windsack neben einem
stillgelegten Hubschrauberlandeplatz
– das teure Fluggerät
ist längst abgeschafft.
Aber auch ohne Helikopter ist
die Matriarchin von Bertelsmann,
Europas größtem Medienkonzern,
viel auf Achse.
Denn von Gütersloh aus steuert
die Unternehmensgruppe
Aktivitäten in aller Welt: mehr
als 50 TV-Sender in Europa
und Asien, Hunderte von Zeitschriften
sowie annähernd 250
Buchverlage auf fünf Kontinenten.
„Die Welt ist heute global
vernetzt. Und da müssen wir
hinschauen, vor Ort – vom
Schreibtisch aus lernen wir
nicht, wie diese Länder ticken“,
sagt Liz Mohn, die im
Bertelsmann-Aufsichtsrat,
in der Bertelsmann
Verwaltungsgesellschaft
sowie im Kuratorium
der Stiftung die Interessen
der Gründerfamilie
vertritt. In
360 Grad
In unserer iPad-
Ausgabe finden
Sie an dieser
Stelle ein interaktives
360°-Bild
ihrem Büro mag sie einen zeitlosen
Stil. „Wenn ich in Gütersloh
bin, verbringe ich hier viel
Zeit und wollte diesen Raum
von Anfang an wie eine Bibliothek
einrichten. Das passt
schließlich zu Bertelsmann:
Wir sind ein Haus der Medien.“
Entsprechend gut bestückt ist
das Bücherregal. Auf dem
Schreibtisch, einem mehr als
160 Jahre alten Mahagoni-Möbel,
steht ein Foto ihres vor vier
Jahren verstorbenen
Mannes Reinhard,
der den Aufstieg von
Bertelsmann in die
Weltliga der Medienkonzerne
eingeleitet
hatte. Eine Position,
die Liz Mohn in den
vergangenen 40 Jahren
viele hochkarätige Kontakte
beschert hat. Davon zeugen
Fotos mit Bill und Hillary
Clinton, Spaniens König Juan
Carlos und Königin Silvia von
Schweden, Ex-UNO-Generalsekretär
Kofi Annan, aber auch
mit Kreativen wie Liza Minelli
und Karl Lagerfeld. Setzt der
Konzern verstärkt darauf, die
Umbrüche durch die Digitalisierung
fürs eigene Geschäft zu
nutzen, sieht sich Liz Mohn als
Garantin für Kontinuität auf
der Eigentümerseite. „Die kontinuierliche
Weiterentwicklung
der Unternehmenskultur ist
mir ein großes Anliegen. Ich
freue mich, wenn unsere Mitarbeiter
sagen: Ich gehe gern in
meine Firma.“
peter.steinkirchner@wiwo.de
FOTO: STEFAN KRÖGER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
16 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Politik&Weltwirtschaft
Lange Leitung
bis zur Reform
ENERGIEWENDE | Eins ist sicher: Die Umlage für Ökostrom steigt zum Jahresanfang 2014
schon wieder deutlich. Doch richtig teuer wird es, wenn im nächsten Jahr die
großen Windparks auf See ans Netz gehen und Unternehmen auf eigenen Strom aus
Sonne oder Wind umsteigen. Höchste Zeit für einen Schnitt bei der Förderung.
Geldmaschine
Wie das Erneuerbare-Energien-
Gesetz (EEG) funktioniert.
WAS WIRD FINANZIERT?
Die EEG-Umlage wird erhoben, weil Betreiber
von Anlagen für Solarenergie,
Windkraft oder Biogas eine auf 20 Jahre
festgelegte Bezahlung je Kilowattstunde
(kWh) Strom bekommen. Je niedriger
der Börsenpreis für Strom ausfällt,
desto größer ist die Differenz, die durch
die Umlage von den Verbrauchern
finanziert werden muss. Je mehr Industriebetriebe
zudem von der Umlage
befreit sind, desto stärker steigen die
Kosten für die verbleibenden Zahler.
WIE WIRD GERECHNET?
Die Umlage wird jeweils am 15. Oktober
fürs Folgejahr bekannt gegeben.
Berechnet wird sie von den Netzbetreibern
auf Basis der Septemberdaten –
ausgehend davon, wie viele Anlagen
für Erneuerbare am Netz hängen und
welcher Börsenpreis für Strom erwartet
wird.
GIBT ES UNSICHERHEITEN?
Die Netzbetreiber schätzen ab, wie sich
die Lage im Folgejahr entwickelt: Wie
viel erneuerbare Energie kommt hinzu?
Wie entwickelt sich der Marktpreis? Wie
vielen Industriebetrieben werden Ausnahmen
gewährt, die die übrigen Verbraucher
belasten? Außerdem wird
noch eine Liquiditätsreserve eingeplant.
Helga Düring ist Herrin über eine
große Maschine. Die kann
maximal 150 Tonnen Gefrorenes
am Tag produzieren. Das
Kühleis verkauft die Bremerhavener
Eiswerk GmbH vorrangig an
Fischhändler – vergangenes Jahr 17 000
Tonnen. Doch die Stromrechnung bringt
den Zehn-Mann-Betrieb, immerhin größter
Hersteller im Land, in Existenznot. „Eine
Schreibtischentscheidung ruiniert uns“,
klagt die Geschäftsführerin.
Mehr als die Hälfte des Gesamtwerts der
Produktion geht für Energie drauf:Der Verbrauch
schlägt jährlich mit 80 745,03 Euro
zu Buche. Hinzu kommen 123 325,19 Euro
Steuern und Abgaben sowie 41 776,95 Euro
Entgelt fürs Stromnetz.
Anders als 2400 andere energieintensive
Betriebe gibt es fürs Eiswerk keine Erleichterung
von der steigenden Last der Energiewende.
„Angeblich sind wir kein Produktionsbetrieb“,
wundert sich Düring
über das Bundesamt für Wirtschaft und
Ausfuhrkontrolle (Bafa). „Wir wurden einfach
als Kältelieferant eingestuft.“ Und
Dienstleister gehen eben leer aus.
Zuletzt hat sie Energiewende-Brandbriefe
an Bundesumweltminister Peter Altmaier
und Bundeskanzlerin Angela Merkel
(beide CDU) geschrieben. Altmaier bittet
sie, „sich unseres Problems anzunehmen
und für unser Unternehmen eine Regelung
zu finden, die es möglich macht, weiter bestehen
zu können“.
Es ist wieder die Zeit der steigenden
Wende-Kosten. Jedes Jahr zum 15. Oktober
geben die Netzbetreiber bekannt, wie hoch
die Umlage nach dem Erneuerbaren-Energien-Gesetz
(EEG) ausfällt, die private Verbraucher
sowie Industrie, Gewerbe und
Handel für den gigantischen Umbau unseres
Energiesystems im kommenden Jahr
berappen müssen. Dazu kommen noch
Netzentgelte, Stromsteuer und andere Abgaben,
die bei Verbrauchern inzwischen
mehr als 50 Prozent der Stromkosten ausmachen.
Kein Wunder also, dass nach einer
Emnid-Umfrage im Auftrag der Initiative
Neue Soziale Marktwirtschaft eine Reform
der Energiepolitik bei 72 Prozent der
Deutschen ganz oben auf der Aufgabenliste
für die neue Bundesregierung steht.
FESTE VERGÜTUNG
Ab Januar müssen Verbraucher mehr zahlen:
Die Ökostrom-Umlage als Teil des
Strompreises wird 2014 bei rund 6,3 Cent je
Kilowattstunde liegen. Im laufenden Jahr
fallen bereits 5,3 Cent EEG-Umlage an. Das
ist der bisherige Rekordwert. Das Geld geht
an die Betreiber von Windparks, Solarkollektoren
und Biogaskraftwerken, die auf 20
Jahre eine feste Vergütung für ihren Strom
bekommen.
Nach Rechnung des Vergleichsportals
Verivox bedeutet das für einen Haushalt
mit drei Personen und dem Verbrauch von
3500 Kilowattstunden 2014 im Schnitt 1050
Euro für Strom im Jahr – 70 Euro mehr als
bisher. Die EEG-Umlage macht dabei 36
Euro aus, hinzu kommen 23 Euro bei Netzentgelten
und obendrauf 11 Euro Mehrwertsteuer
– selbst auf die staatlichen
Zwangsabgaben. Insgesamt würde der
Preis so um sieben Prozent klettern.
Ursprünglich war ein noch stärkerer Anstieg
erwartet worden – aber im September
gab es wenig Wind- und Solarstrom (siehe
Kasten). Besonders paradox:Die Umlage
»
FOTO: GETTY IMAGES
20 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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1,7
Konzessionsabgabe
4,6
Mehrwertsteuer
2,1
Stromsteuer
5,3
EEG-
Umlage
8,2
Energiebeschaffung
6,5
Netzentgelte,
Messung,
Abrechnung
0,4
KWK- und
Offshore-
Haftungsumlage
28,7*
Cent insgesamt
kostet im Durchschnitt eine Kilowattstunde
Strom für Privatverbraucher. Die durchschnittliche
Jahresrechnung einer dreiköpfigen Familie
steigt 2014 von 980 Euro auf 1050 Euro.
* Zahlen gerundet; Quelle: AEE
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 21
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Politik&Weltwirtschaft
»
steigt 2014 nicht vorrangig, weil so viele
neue Wind- oder Solaranlagen gebaut worden
wären oder die Industrie so großzügig
Rabatt bekam. Nach Gutachterschätzungen
ist es vor allem der Preis an der Strombörse,
der dank der vielen Ökoanlagen und reichlich
Kohlestrom massiv gefallen ist. Die Differenz
zur auf 20 Jahre festgelegten Vergütung
für Betreiber der Ökoanlagen zahlen
die Verbraucher. Die Lücke klafft bisher bei
rund 20 Milliarden Euro im Jahr.
Doch der richtig große Batzen der Energiewende
kommt auf die Verbraucher erst
noch zu. 2014 und 2015 steigen die auf die
Allgemeinheit umgewälzten Kosten nochmals
drastisch, wenn die großen Windparks
auf See ins Netz einspeisen und deren
Betreiber garantierte Erträge kassieren.
Auch die Ausnahmen von den Zwangsabgaben
bringen den Plan von der schönen
neuen Energiewelt durcheinander. Für
Unternehmen, die als energieintensiv gelten
oder in starker internationaler Konkurrenz
stehen, gibt es Rabatt. Doch die Grenze
erscheint vielen Handwerkern oder Mittelständlern
willkürlich. Immer mehr Betriebe
vermeiden die Zwangsabgabe, indem
sie Ökostrom selbst erzeugen.
ANLAGEN IM BAU
Nach einer Umfrage des Deutschen Industrie-
und Handelskammertages (DIHK)
verfügen in der Industrie acht Prozent von
2300 befragten Unternehmen schon über
eigene Solaranlagen, Windräder oder Biogaskraftwerke.
Bei weiteren 21 Prozent sind
Anlagen geplant oder schon im Bau.
Gerade kleine und mittlere Unternehmen,
aber auch Handelsketten wie Aldi versuchen,
der teuren Sonderlast zu entkommen
und stellen ihren Strom selbst her
Unterkühlte Bedingungen Fürs Herstellen von Kühleis gibt es keinen Strompreis-Rabatt
(WirtschaftsWoche 48/2012). Denn Energie
aus eigenem ökologischem Anbau unterliegt
nicht dem EEG-Aufschlag. Umweltökonom
Andreas Löschel, Chef der Expertenkommission,
die im Auftrag der Bundesregierung
die Energiewende begutachtet,
beschreibt: „Wenn immer mehr Unternehmen
ihren eigenen Strom produzieren,
treibt das zwar die Energiewende an.“ Andererseits:
Weil alle diese Umlagen-Flüchtlinge
nun keinen Strom mehr aus dem Netz
beziehen, wird der Kreis der Zahlungspflichtigen
immer kleiner – und die Last für
die Verbliebenen größer. Der Professor am
Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung
(ZEW) in Mannheim hält es deshalb
für „denkbar“, dass sie sich ebenfalls
„an einer EEG-Umlage beteiligen müssen“.
Sollen sich auch die Eigenverbraucher
am großen Gemeinschaftswerk Energiewende
beteiligen, müssten die EEG-, die
Offshore-Risiko- und die KWK-Umlage fällig
werden, dazu die Strom- und die Mehrwertsteuer,
die zusätzlich die Rentenkasse
und den Staatshaushalt füllen. Andererseits:
Wer Erdbeeren aus dem eigenen Garten
isst, muss darauf auch nicht fiktive
Mehrwertsteuer zahlen, weil er sich beim
Einkauf im Laden an der Finanzierung des
Gemeinwesens beteiligt hätte.
Die Eigenproduktion ist nur attraktiv,
wenn sie nicht teurer ist als Strom aus dem
Netz. Für Privatleute beispielsweise kostet
die Kilowattstunde derzeit knapp 29 Cent,
im kommenden Jahr vermutlich 30 Cent.
Die reinen Produktionskosten machen dabei
aber nur rund acht Cent aus.
Nimmt man noch die ersparten Kosten
für Transport und Abrechnung sowie die
darauf entfallende Mehrwertsteuer hinzu,
Was den Strompreis angetrieben hat
Durchschnittlicher Strompreis eines Drei-Personen-Haushaltes
in Cent/kWh (Jahresverbrauch von 3500 kWh)
Erzeugung, Transport,Vertrieb MwSt. Konzessionsabgabe EEG-Umlage
KWK-Aufschlag §-19-Umlage Offshore-Haftungsumlage Stromsteuer
Quelle: BDEW, AEE
Durchschnittlicher Strompreis für die Industrie in Cent/kWh
(inklusiv Stromsteuer, Jahresverbrauch 160 bis 20000 MWh)
Erzeugung, Transport, Vertrieb Konzessionsabgabe EEG-Umlage
KWK-Aufschlag §-19-Umlage Offshore-Haftungsumlage Stromsteuer
30
25
20
15 13,94 14,32 16,11 17,19 17,96 18,66 19,46 20,64 21,65 23,21 23,69 25,23 25,89 28,70 30
25
20
15
10
10
6,05 6,47 6,86 7,98 8,92 9,73 11,53 11,41 13,25 14,04 14,02 15,10
11,40 12,07
5
0
2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 2013
5
0
2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 2013
22 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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könnte der Eigenproduzent immerhin 17,5
Cent pro Kilowattstunde sparen – zu diesen
Kosten können selbst Häuslebauer in fast
allen Gegenden Deutschlands eine Solaranlage
auf dem Dach betreiben.
Allerdings: Auch die Selbstversorger
wollen nicht auf den Netzanschluss verzichten,
falls die Sonne nicht scheint oder
der Speicher leer ist. Heute zahlen sie aber
nur für die Leitung, wenn sie tatsächlich
Strom im Netz beziehen – also selten und
wenig. Um die Trittbrettfahrer auszubremsen,
denken alle Parteien daran, auch die
Eigenverbraucher für die Bereitstellung
der garantierten Versorgung zur Kasse zu
bitten. Denkbar wäre ein fester Grundpreis
für den Netzanschluss, quasi als Versicherungsprämie
für dunkle Zeiten. „Deshalb
sollte man künftig von ihnen einen Pauschalbeitrag
fürs Stromnetz verlangen“, fordert
Regierungsberater Löschel.
Die Politik müsse handeln, mahnt der
oberste Wende-Wächter an. „Die Kosten
des Ausbaus werden ohne Reform weiter
rasch wachsen und somit auch die EEG-
Umlage.“ Noch sei die Lage erträglich. „Insgesamt
geben wir in Deutschland für Strom
vergleichbar viel aus wie vor 20 Jahren,
nämlich etwa zweieinhalb Prozent des
Bruttoinlandsprodukts. Aber die Kosten für
Strom steigen stark. Außerdem ist fraglich,
ob die Kosten für den Umbau fair verteilt
sind.“ Die EEG-Umlage sei „eine politisch
aufgeladene Zahl“. Doch Ungemach drohe:
„Es gibt noch kein wirkungsvolles Instrument,
den Ausbau der erneuerbaren Energien
sinnvoll zu steuern und effizienter zu
fördern. Die Ausnahmen für die Industrie
zu streichen löst allein noch kein Problem.“
Um den steigenden Kosten und der
wachsenden Bürgerwut Herr zu werden,
Mehr als50
Prozent des Strompreises
für Private sind
Steuern und Abgaben
und den technischen Anforderungen der
Stromnetze richten.
Volkswirtschaftlich effizient wäre das sogenannte
Quotenmodell, das beispielsweise
der Düsseldorfer Wettbewerbs-Professor
Justus Haucap favorisiert: Jeder Energieerzeuger
müsste einen vorgegebenen
Anteil seiner Produktion aus Erneuerbaren
liefern, doch welche Quelle er dafür einsetzt,
bleibt ihm überlassen. Die Einspeiser
würden also jene Technik einsetzen, bei
der der Strom zu den niedrigsten Kosten
anfällt. Durch eine Steigerung der Pflichtquote
würde der Ausbau des sauberen
Stroms weiter vorangetrieben.
werden die Koalitionsunterhändler ein
Bündel von Änderungen schnüren müssen.
„Wir müssen jetzt schnell handeln“,
verlangt Thomas Bareiß, energiepolitischer
Koordinator der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
„Wir brauchen einen Zwei-
Stufen-Plan mit Sofortmaßnahmen und einer
grundlegenden Reform.“ Den weiteren
Anstieg bremsen könnte seiner Meinung
nach ein „Deckel bei der Solarenergie, damit
der Zubau etwas langsamer vorangeht“.
Eine Reduzierung der Ausnahmen für die
Unternehmen lehnt der Wirtschaftspolitiker
ab: „Wir haben die von der Umlage befreite
Strommenge in der letzten Legislaturperiode
KRITIKER FÜRCHTEN KAHLSCHLAG
Die Folge wäre klar: Alle großen Versorger
würden nur noch Windanlagen an Land
installieren – zumindest so lange, bis die
günstigen Standorte vergeben sind. Rotoren
vor der Küste und Solaranlagen wären
erst mal abgemeldet (mit Ausnahme kleiner
Dachanlagen für Privathäuser).
Politisch dürfte das Modell kaum durchsetzbar
sein. Kritiker fürchten Kahlschlag
bei anderen Technologien. Die Modulhertet.
nur um zehn Prozent ausgeweisteller
und Windturbinenbauer wären
Für die einzelnen Unternehmen ist das
eine große Erleichterung, aber in der Summe
macht das nicht viel aus.“ Auch die von
der SPD favorisierte Senkung der Stromsteuer
brächte langfristig nichts. „Das ist
ein Einmaleffekt, und das Geld fehlt dann
an anderer Stelle.“
Die grundlegende Reform, da sind sich
Union, SPD und Grüne prinzipiell einig,
muss im Laufe dieser Legislaturperiode
kommen. Produktion und Ausbau der erneuerbaren
dann aber die einzige Branche, die nicht
erfolgreich versuchen würde, durch Forschung
und Entwicklung effizienter zu
werden, um wieder Geschäft zu machen.
Trotzdem ist diese Skepsis entscheidend,
denn kein Politiker wird sich dem
Vorwurf aussetzen, er könnte beispielsweise
der deutschen Solarindustrie nach
aller Konkurrenz aus China nun auch
noch den Todesstoß versetzen. Zumal es
seit dem Bundestags-Aus der FDP keine
Energien sollen sich künftig Partei mehr gibt, die das Quotenmodell
stärker nach den Preissignalen des Marktes unterstützt.
»
FOTOS: DDP IMAGES/DAVID HECKER, LAIF/HANS CHRISTIAN PLAMBECK
Woher kommt der Strom?
Anteil an derBruttostromerzeugung
nach Energieträgern 2012 (in Prozent)
Steinkohle
19,1
25,6
Erdgas
11,3
6,0
21,9 Erneuerbare
darunter ca. 20 %EEG
16,0
7,3 Wind
5,8
617
Mrd. kWh*
Heizöl, Pumpspeicher
und sonstige
Braunkohle
Biomase
Kernenergie
3,3 Wasser
4,6 Fotovoltaik
0,8 Siedlungsabfälle
*vorläufig, teilweise geschätzt; Stand: 12/2012;
Quelle: BDEW
Noch ohne
Preisbremse
Umweltminister
Altmaier
Wer zahlt für die Erneuerbaren?
Welche Kosten desEEG die Verbraucher
2013 tragen (in Milliarden Euro)
Private
Industrie
Haushalte
Öffentliche
Einrichtungen
7,2
2,4
20,4
Mrd. €
Zahlengerundet; Quelle: BDEW
6,0
4,0
Gewerbe,
Handel,
Dienstleistungen
0,5 Landwirtschaft
0,2 Verkehr
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 23
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Politik&Weltwirtschaft
KOMMUNEN
Absprung verpasst
Für die ohnehin klammen Kommunen im Ruhrgebiet könnte der Niedergang
herkömmlicher Kraftwerke existenzbedrohend werden.
Anfang des Monats war es so weit. Lars
Martin Klieve, Kämmerer der Stadt Essen,
verkündete eine „sofortige Haushaltssperre“
– Government Shutdown also
auch im Ruhrgebiet. Alle Ausgaben, die
nicht gesetzlich vorgeschrieben sind, liegen
nun auf Eis. Gewerbesteuerausfälle,
vor allem aber die beabsichtigte Dividendenkürzung
des Energiekonzerns RWE –
von zwei Euro im Vorjahr auf einen Euro –,
haben Klieve dazu gezwungen.
Von der lokalen Opposition wird dieser
Zusammenhang in Zweifel gezogen, dennoch
zeigt die Aktion, wie groß die Sorgen
vieler Ruhrgebietskommunen sind. Sie
sehen sich als Verlierer der Energiewende.
Eher wenig können die Städte dafür,
dass die fossile Energieerzeugung zwischen
Krefeld und Dortmund von besonders
großer Bedeutung ist. Entsprechend
hoch sind die davon abhängigen Arbeitsplätze
und Gewerbesteuereinnahmen.
Garrelt Duin (SPD), Wirtschaftsminister
des Landes, verweist stolz darauf, dass
NRW „30 Prozent der deutschen Energieerzeugung“
stemme.
Noch, müsste er hinzufügen. Dass RWE
daran denkt, den Braunkohletagebau
unter Umständen vorzeitig zu schließen,
zeigt, wie rasch die Bedeutung des Energiestandorts
NRW sinkt. Die Konzerne
hoffen zwar noch auf eine EEG-Reform,
die ihnen eine Prämie für den Weiterbetrieb
fossiler Kraftwerke bringt, doch
ihre Zeit ist unweigerlich vorbei.
DIVIDENDE HALBIERT
Für die städtischen Haushalte hat das
massive Folgen, nicht nur wegen der
fehlenden Gewerbesteuern. Viele Kommunen
sind über ihre Stadtwerke an
Kraftwerken beteiligt. Mancherorts, zum
Beispiel in Dortmund, wurden noch vor
wenigen Jahren teure Investitionen in
neue Kraftwerke getätigt. Der Hagener
Energiekonzern Enervie – Haupteigner
sind die Städte Hagen und Lüdenscheid
– hat gerade die Stilllegung seines gesamten
Kraftwerksparks beantragt, weil
der Betrieb unrentabel ist. Die beiden
Eng verbunden
Energieerzeugung
mitten in
Dortmund
Mit87Euro ist die
RWE-Aktie in mancher
Bilanz vermerkt – an der
Börse gibt es 27 Euro
strauchelnden Energiekonzerne Steag und
Trianel sind zu bedeutenden Teilen in der
Hand von Ruhrgebietskommunen.
Wie stark diese Beteiligungen die Stadtkassen
belasten, zeigt sich gerade am
Streit um die RWE-Dividende. Viele Städte
haben es verpasst, ihre Beteiligungen – wie
der rheinische Nachbar Düsseldorf – in
Boomzeiten zu vergolden. Mitte September
hatte nun Konzernchef Peter Terium angekündigt,
die Dividende um die Hälfte zu
kürzen. Ein Konsortium von kommunalen
Eignern hält gut 24 Prozent der Aktien. Im
laufenden Jahr werden statt der erwarteten
350 Millionen Euro nur 175 Millionen hereinkommen.
Am stärksten betroffen sind
Dortmund und Essen (je 19 Millionen Euro
weniger), Mülheim (5,5 Millionen) und
Bochum (6,8 Millionen). „Ich werde alle
Möglichkeiten nutzen, um eine höhere Dividende
zu erreichen“, donnerte Mülheims
Kämmerer Uwe Bonan. Die Reaktion zeigt,
in welches Dilemma sich Konzern und
Städte mit ihrer gegenseitigen Abhängigkeit
manövriert haben. Angesichts der wirt-
schaftlichen Lage ist es nachvollziehbar,
dass RWE sein Geld lieber investieren
möchte. Die Kommunen üben somit einen
Druck aus, der ihnen mittelfristig
selbst schadet. Es falle ihm schwer, wendete
Oberhausens Kämmerer Apostolos
Tsalastras ein, „ohne Blick auf die betriebswirtschaftlichen
Hintergründe“
ungekürzte Ausschüttungen zu fordern.
Die Stadt ist mit 1,4 Millionen Euro von
der Dividendenkürzung betroffen.
ÜBERSCHULDUNG DROHT
Am heftigsten aber könnten die RWE-Anteile
die Kommunen über ihre Bilanzen treffen.
Denn die Ruhrgebietskommunen wirtschaften
allesamt nach dem doppischen
System der Haushaltsführung. Als Vermögenswert
sind die RWE-Anteile in die Eröffnungsbilanzen
eingeflossen, die zwischen
2006 und 2009 in den Städten aufgestellt
wurden. Die RWE-Anteile wurden zu aktuellen
Marktwerten bewertet und seitdem nie
wieder aktualisiert. Statt mit rund 27 Euro
– so der aktuelle Marktwert der Aktie (siehe
auch Seite 109) – finden sich in den
Bilanzen Bewertungen zwischen 46 Euro
(Bochum) und 87 Euro (Remscheid). Seit
Anfang des Jahres aber gilt in NRW eine
neue Bilanzierungsverordnung, die vorschreibt,
„außerplanmäßige Abschreibungen
bei einer voraussichtlich dauernden
Wertminderung vorzunehmen“. Sollte die
Kommunalaufsicht darauf beharren, könnten
die Städte, die ohnehin am Rand der
Handlungsfähigkeit operieren, reihenweise
in die Überschuldung rutschen.
Manche Kämmerer spielen bereits
abenteuerliche Schachzüge durch, um
das Bilanzdesaster noch zu verhindern.
So heißt es aus Bochum, man könne ja
zeitgleich den Wert der anderen städtischen
Beteiligungen, wie am Versorgungsunternehmen
Gelsenwasser, nach
oben korrigieren. In Mülheim hingegen
sucht man bereits nach Wegen, die Kosten
für das städtische Missmanagement
auf die Bürger umzuwälzen. Kämmerer
Bonan macht sich stark dafür, das
Straßenbahnnetz stillzulegen und stattdessen
auf Busse zu setzen. Das würde
die Betriebsausgaben senken, hätte aus
Sicht der Stadt aber noch einen weiteren
angenehmen Nebeneffekt. Kosten für
Straßenerneuerungen können anders als
bei Schienen zu großen Teilen auf die Anwohner
umgelegt werden.
n
konrad.fischer@wiwo.de
FOTO: RALF HÜLS/WIKIMEDIA
24 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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ENERGIEWENDE
Weitere Informationen
zur internationalen
Energie- und
Klimapolitik finden
Sie auf Seite 72
Realistischer ist da schon der
Entwurf des Branchenverbandes
BDEW. Die Organisation
der Stromerzeuger möchte zwar
die Hülle des EEG erhalten, aber
einige einschneidende Änderungen
vornehmen. An die Stelle
der auf 20 Jahre gewährten
Einspeisevergütung pro Kilowattstunde
sollte die Strommenge
festgeschrieben werden,
für die es eine Förderung gibt.
Der Produzent hätte ein Interesse,
dann Strom zu verkaufen, wenn der Bedarf
besonders hoch ist, also auch der für
ihn erzielbare Preis. Heute bekommt der
Erzeuger selbst dann Geld, wenn die Energie
gar nicht gebraucht oder seine Anlage
sogar abgeregelt werden muss, weil ihr Betrieb
die Stabilität des Netzes gefährdet.
Künftig würde der BDEW auch dies gern
unterbinden. Wer eine Anlage in einer Region
baut und anschließt, in der das Netz
bekanntermaßen nicht ausreicht, würde
dann zwei Jahre lang keine Entschädigung
erhalten, wenn die Anlage nicht liefern
darf. So soll der Wildwuchs auf der grünen
Wiese, das Windrad in abgelegenen Ecken
verhindert werden.
Dazu soll auch die gleitende Marktprämie
beitragen, die es heute nur auf freiwilliger
Basis gibt; künftig sollte sie für alle
neuen Anlagen gelten. Sie gleicht die Differenz
zwischen der eigentlich vorgesehenen
Einspeisevergütung und dem durchschnittlichen
Börsenpreis aus. Wer also zu
Zeiten überdurchschnittlicher Preise seinen
Strom anbietet, schneidet besser ab.
Zum BDEW-Konzept gehört freilich
auch ein Punkt, der gerade den größeren
Kunden der Branche gar nicht gefällt: Die
Befreiung von Industrie und Gewerbe von
der EEG-Umlage soll demnach eingeschränkt
werden. Denn der BDEW fürchtet
angesichts steigender Umlagen um die Akzeptanz
der Wende.
Eine wirkliche Gefahr für große Stromverbraucher
droht jedoch nicht von einer
neuen Bundesregierung egal welcher Farbe.
Den großen Sprenghebel setzt die EU-
Kommission in Brüssel an:
Seit Langem war abzusehen, dass die EU-
Kommission die deutsche Ökostromförderung
angreifen würde, sobald die Bundestagswahl
vorbei ist. EU-Energiekommissar
Günther Oettinger hatte der kommenden
Bundesregierung schon im Sommer eine
„Generalrevision des EEG“ empfohlen.
Brüssel erhebt zwei Einwände: Einerseits
herrschen Bedenken, ob das deutsche Vorgehen
mit dem EU-Wettbewerbsrecht
vereinbar ist. Andererseits
sieht die EU-Kommission
mit Sorge, wie das EEG den deutschen
Strompreis in die Höhe
treibt. Dass Endkundenpreise in
der EU generell höher sind als in
anderen Teilen der Welt, alarmiert
die EU-Behörde.
Noch im Oktober wird Oettinger
Ideen zur Ökostromförderung
vorlegen. Seine Vorschläge
sind eine frontale Attacke auf das
EEG. Oettingers Beamte gestehen zwar ein,
dass eine junge Branche wie Ökostrom anfangs
öffentliche Unterstützung benötige.
Daraus dürfe aber keine Dauereinrichtung
werden.
SUBVENTIONEN BEFRISTEN
„Sobald der Sektor der erneuerbaren Energien
seinen Kinderschuhen entwachsen ist
und zulegt und die Kosten sinken, ist es
wichtig, dass Produktions- und Investitionsentscheidungen
vom Markt getrieben
werden“, heißt es in dem Entwurf der Leitlinien.
„In der Praxis heißt das, von Einspeisevergütungen
wegzukommen hin zu
Prämien.“
Brüssel plädiert dafür, dass die Marktkräfte
stärker zum Tragen kommen, als das
bisher in Deutschland beim garantierten
Abnahmepreis der Fall ist. Wichtig auch:
Subventionen müssen klar befristet sein.
Auch die Befreiung der Großunternehmen
wird in Brüssel mit Skepsis gesehen.
Die Beamten von Wettbewerbskommissar
Joaquín Almunia prüfen bereits, ob es sich
dabei um eine Beihilfe, also eine Subvention
handelt. Ein formales Verfahren wurde
bisher aber aus Rücksicht auf die Bundestagswahl
nicht eröffnet.
Bei allem Brüsseler Eifer ist die EU-Kommission
jedoch bereit, auf deutsche Befindlichkeiten
Rücksicht zu nehmen. So
hat Almunia vergangene Woche intern angekündigt,
Subventionen für Atomkraftwerke
nun doch nicht zuzulassen, wie es
seine Beamten in einem Entwurf vom
Sommer geplant hatten. Davon hätte etwa
Großbritannien profitiert, das neue Meiler
projektiert. Die Bundesregierung hatte
scharf protestiert, was nun Wirkung zeigte.
Kommissionspräsident José Manuel Barroso
sorgte dafür, dass Kernkraftwerke im
Entwurf gestrichen wurden.
n
cordula.tutt@wiwo.de | Berlin, henning krumrey,
silke wettach | Brüssel
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WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 25
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Politik&Weltwirtschaft
INTERVIEW Wolfgang Anzengruber
»Ein falscher Weg«
Der Chef der österreichischen Verbund AG, größter Wasserkraft-Betreiber
in Bayern, will sauberen Strom günstiger liefern – wenn man ihn lässt.
Herr Anzengruber, was erstaunt Sie
mehr: dass die Deutschen die Energiewende
so abrupt eingeleitet haben, oder
dass sie immer noch nicht umkehren?
Ich frage mich immer: Wie kann man
mit so viel Geld so wenig Strom erzeugen?
Von den sich selbst gesetzten Zielen
hat man keines erreicht. Sichere und
kostengünstige Versorgung – negativ.
Und der CO 2 -Ausstoß ist nicht gesunken,
sondern sogar gestiegen. Nebenbei wird
ein Industriestandort in Schwierigkeiten
gebracht und ein ganzer Sektor – die
Energiewirtschaft – gegen die Wand gefahren.
Die großen deutschen Energieversorger
haben mehr als 100 Milliarden
Euro Börsenkapitalisierung verloren.
Aber wenn es Sie beruhigt: Österreich
verhält sich ähnlich, wenn auch nicht
ganz so übertrieben. Das österreichische
Ökosteuergesetz ist zeitlich und volumenmäßig
begrenzt.
Das heißt: Man muss ganz schön mutig
sein, es zu machen wie die Deutschen.
Aber man muss verrückt sein, so mutig
sein zu wollen?
Da will ich mich nicht einmischen. Beim
Erkennen der Schwächen des Systems
scheint es doch eine große Einigkeit zu
geben. Für die Vergangenheit gilt
Rechtssicherheit, dafür ist Deutschland
ja bekannt. Aber wenn man erkennt,
DER ALPEN-WASSERMANN
Anzengruber, 57, führt seit 2009 Österreichs
größten Stromerzeuger und Netzbetreiber,
die Verbund AG. Sie betreibt
unter anderem 21 Kraftwerke in Bayern.
dass man auf einem falschen Weg ist, muss
man für die Zukunft anders handeln. Das
ginge schon ab morgen.
Sie haben doch gut verdient, als Sie mit
Ihren Pumpspeichern billigen Windund
Sonnenstrom in Deutschland kaufen
und später bei Flaute und Schatten teuer
zurückverkaufen konnten.
Heute leiden die Pumpspeicherwerke.
Früher wurde in der Nacht das Wasser
hochgepumpt, wenn ansonsten wenig
Strom verbraucht wurde. Zu den Verbrauchsspitzen
morgens, mittags und
abends wurde es abgelassen. Mittags liefert
die Solarenergie nun günstigen Strom,
da können wir nichts mehr verkaufen.
Heute ginge es vor allem darum, Regelenergie
zur Stabilisierung des Netzes zu
liefern. Aber dafür reicht die Verbindung
zum deutschen Markt nicht aus, weil innerdeutsche
Transportnetze fehlen. In
Deutschland wird darüber diskutiert, mit
vielen Fördermilliarden neue Speicher zu
bauen. Und in Österreich haben wir diese
Speicher, aber sie können aufgrund
der fehlenden Netze nicht ins System.
Was wollen die Kunden?
Dazu gibt es etliche Umfragen und Studien.
Für alle Kunden, private wie unternehmerische,
steht die Versorgungssicherheit
an erster Stelle. Dann kommt
ein akzeptabler Preis. Und die Nachhaltigkeit
kommt eben erst an dritter Stelle.
Öko auf Platz drei? Damit kommen Sie
in Deutschland nicht durch.
Das sagen die Kunden! Ein Blackout wäre
noch schlechter als ein höherer Preis. Bei
uns als Wasserkraftbetreiber gibt es die
Nachhaltigkeit sogar kostenlos dazu.
Aber solange es nicht gelingt, auch die
Erneuerbaren dem Wettbewerb zu unterwerfen,
sondern dort weiter die Rendite
garantiert ist, so lange finden keine Investitionen
mehr in den Wettbewerbsbereich
statt. Es werden nur noch die Kraftwerke
zu Ende gebaut, die begonnen
wurden. Bevor die ans Netz gehen, muss
man sie schon in der Bilanz wertberichtigen,
weil der Betrieb nicht mehr lohnt.
Wie könnten Sie mit Ihren Kraftwerken
an der Grenze besser zum Zuge
kommen?
Die Hälfte unseres Absatzes geht nach
Deutschland. Wir sind mit 21 Kraftwerken
auf bayrischem Boden. Wir wünschen
uns eine Vereinbarung mit
Deutschland über eine gemeinsame
Beschaffung bei der Regelenergie, wie es
sie mit den anderen Nachbarländern wie
der Schweiz oder Slowenien gibt.
Könnten Sie die Wasserkraft ausbauen?
Bei Ihnen gibt’s doch auch Proteste!
Bei uns geht es nicht darum, neue
Dämme zu bauen, wir haben vor allem
Kavernenkraftwerke, drinnen im Berg,
von außen kaum wahrnehmbar. Wir würden
das Wasser gern öfter umpumpen.
Mit Blick auf den heimischen Markt hat
Österreich ausreichend Pumpspeicherwerke.
Aber für unsere Nachbarn könnten
wir noch viel tun – die Alpen bieten
sich als Speicherlösung an. Und Pumpspeicherkraftwerke
sind nun mal die
günstigste und effizienteste Möglichkeit,
Strom in großen Mengen zu speichern.
Ihr Wunsch an die Deutschen?
Deutschland sollte die Tugenden betonen,
die es stark gemacht haben: Ingenieurkunst
und Marktwirtschaft. Die Physik
folgt den Vorgaben der Politik eh nicht.
henning.krumrey@wiwo.de | Berlin
FOTO: PR
26 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Politik&Weltwirtschaft
Der Tragödie letzter Teil
Barroso auf Lampedusa
Armutszeugnisse
FLÜCHTLINGE | Vor Europas Küste ertrinken Flüchtlinge, in deutschen
Städten rebellieren Bürger gegen Asylbewerber. Die Politik
scheitert an der Aufgabe, das Wohlstandsgefälle zu entschärfen.
Im August 2011 irrt Haki durch die Straßen
von Tripolis und weiß nicht mehr
weiter. Er kommt aus dem Tschad, Haki
ist ein Fremder in Libyen, das von einem
erbitterten Bürgerkrieg erschüttert wird.
Und er steht zwischen den Fronten. „Sie
haben uns Geld geboten, Gaddafi und
auch die Rebellen“, sagt er. 10 000 Dinar,
wenn du Gaddafi unterstützt, 500 000 Dinar,
wenn du für ihn tötest, so lauteten die
Angebote. Gaddafis Schergen nehmen die
Fingerabdrücke von denen, die sich melden.
Haki meldet sich nicht. Er landet im
Gefängnis, kommt wieder frei, flieht. Aber
alle Pfade in seine Heimat sind da längst
abgeriegelt, ebenso die Grenze zu Ägypten.
Also nimmt Haki den letzten Weg, der ihm
noch bleibt: über das Mittelmeer, nach
Lampedusa.
Heute steht Haki in einem Zeltlager mitten
in Berlin und nippt an einer rosa-roten
Kaffeetasse, während er erzählt. Rund 100
Flüchtlinge leben seit einem Jahr in dem
Camp am Oranienplatz. Viele von ihnen
kommen von der Insel, wo ihnen die italienische
Regierung einen orange-blauen
Plastikausweis in die Hand drückte und
sagte: Hier habt ihr euren Aufenthaltstitel.
Jetzt geht! Wir haben keine Zukunft für
euch. Also gingen sie, mit Hoffnung auf ein
besseres Leben. Und was manche fanden,
war ein Protestcamp in Berlin.
600 Dinar, etwa 350 Euro, zahlte Haki damals
für die Überfahrt. Sie fuhren mit acht
Booten, fünf nur kamen an. Was aus den
anderen drei Booten geworden ist? Haki
weiß es nicht. „Aber ich träume davon.
Und Boote mag ich nicht mehr.“
Was einen Menschen bewegen kann, für
eine Flucht sein Leben aufs Spiel zu setzen,
seine klägliche Habe dafür einzusetzen,
dass Fluchthelfer ihn wochenlang durch
die Wüste schleusen und übers Meer? „Das
verstehen Sie nicht“, sagt Khadra Sufi, „da
trennen sich die Welten.“ Sie selber, Diplomatenkind
aus Somalia, kennt beide, floh
als junge Erwachsene vor dem Elend zu
Hause nach Deutschland, wurde Moderatorin
im Privatfernsehen. Jetzt reiste die
33-jährige Kölnerin wieder in die Heimat
ihrer Familie. „Da würden wir keine zwei
Tage überleben“, meint sie – und spricht
von Bettelarmen, „die sich entscheiden
müssen, ob sie einen halben Becher Wasser
zum Waschen nach der Toilette verbrauchen
sollen oder zur tröpfchenweisen
Verpflegung ihrer Kinder“.
LEERE GESTEN
Das Unglück vor Lampedusa hat solche
Verzweiflung öffentlich gemacht und den
europäischen Umgang gleich mit. Mehr als
300 Leichen waren nötig, um der EU-Führungsriege
eine Erkenntnis abzuringen:
Das europäische Flüchtlingssystem funktioniert
nicht – es kostet Menschenleben.
28 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, CORBIS/DEMOTIX
Erst geflüchtet, dann gefürchtet Polizisten
schützen ein Asylbewerberheim in Berlin-
Hellersdorf vor wütenden Anwohnern
Deutschland im Plus
Anerkannte Asylantenin
EU-Mitgliedsländern(2012)
Nach Verteilungsschlüssel
Deutschland
Frankreich
Großbritannien
Italien
Spanien
Polen
Niederlande
Schweden
Österreich
Finnland
Tatsächlich
aufgenommen
62867
77540 +23%
48847
60560
46102
28175
39924
15 715
27943
2565
14 894
10 750
13 875
10 310
9035
43865
7117
17 425
4489
3095
+24%
–39%
–61%
–91%
–28%
–26%
+386%
+145%
–31%
Die Ereignisse von der italienischen Küste
genauso wie Krawalle vor deutschen
Notunterkünften oder die Zustände in
Wohnquartieren haben auf den ersten
Blick nichts miteinander zu tun. Aber sie
stellen Armutskonflikte in ein grelles Licht
und stellen Fragen, die Politiker bisher
nicht beantworten – sei es aus Angst oder
aus Unvermögen. In welchem Umfang ist
humanitäre Hilfe unabdingbar? Wann
überfordert sie die Helfenden selbst? Und
wie soll die EU eine anständige Asylpolitik
betreiben, wenn ihre Mitglieder schon mit
dem Wohlstandsgefälle innerhalb der eigenen
Grenzen überfordert sind?
An großen Gesten, die dieses Unvermögen
überdecken sollen, mangelte es in der
vergangenen Woche nicht. EU-Kommissionspräsident
José Manuel Barroso reiste
nach Lampedusa, sprach mit Flüchtlingen,
die lebendig italienischen Boden erreicht
hatten, setzte eine betretene Miene auf und
versprach 30 Millionen Euro zusätzlich.
Doch von einer Neuausrichtung der europäischen
Asylpolitik kann nicht die Rede
sein. Niemand will den Kompromiss aufschnüren,
den die Mitgliedstaaten im Juni
gefunden hatten – ein halbes Jahrzehnt
nachdem die EU-Kommission erste Reformvorschläge
vorgelegt hat. Noch ist
nicht einmal klar, ob manche der Auffanglager
in Italien, Spanien oder Griechenland,
die für das humanitäre Selbstbild der
EU schlicht unwürdig sind, saniert werden.
Oder ob bald Schluss ist mit der aggressiven
Hilflosigkeit Italiens, mittellose Flüchtlinge
wegen illegaler Einreise zu Geldstrafen
von 5000 Euro zu verurteilen.
Sicher ist heute nur, dass es sich bei dem
Asylkompromiss um einen Minimalkonsens
handelte, dem ein zentrales Element
fehlte: ein gerechter Verteilungsmechanismus.
Die Europaabgeordneten haben sich
mit großer Mehrheit für ein solches Instrument
ausgesprochen, angelehnt an das
Verfahren, das in Deutschland die Verteilung
von Asylbewerbern auf die Bundesländer
regelt. „Europa muss intensiv über
eine neue, abgestimmte Flüchtlingspolitik
beraten“, fordert Klaus Zimmermann, Direktor
am Forschungsinstitut zur Zukunft
der Arbeit (IZA). „Auch nationale Aufnahmequoten
dürfen bei diesen Überlegungen
nicht mit einem Tabu belegt werden.“
Doch die EU-Staaten wollen davon
nichts wissen. Der Grund liegt auf der
Hand: Würden feste Kriterien wie die Einwohnerzahl
und die Wirtschaftsleistung
zugrunde gelegt, dann müssten einige
Länder sehr viel mehr Flüchtlinge aufnehmen
als bisher. Spanien etwa hat 2012 rund
90 Prozent weniger Flüchtlinge in Empfang
genommen, Italien rund 60 Prozent, als
dies mit einem festen Schlüssel der Fall wäre,
ermittelte die FDP-Europaabgeordnete
Nadja Hirsch (siehe Grafik). Ausgerechnet
die Länder, die jetzt mehr Solidarität einfordern,
profitieren vom Status quo.
So schnell wird sich nichts ändern an
dem Grundsatz, dass ein Asylbewerber
ausschließlich in dem Land um Anerkennung
bitten darf, in dem er zuerst EU-Boden
betreten hat. Dies hat zur Folge, dass
die Chancen, eine neue Heimat zu finden,
stark schwanken. So hat Zypern 2012
Flüchtlinge aus Afghanistan fast nie anerkannt,
Italien dagegen zu über 90 Prozent.
Deutschland lag mit einer Anerkennungsquote
von 40 Prozent im Mittelfeld.
Manchmal sieht die Praxis aber auch anders
aus: Haki aus dem Tschad bekam auf
Lampedusa keines der orange-blauen
Plastikkärtchen. Die italienischen Behörden
hatten seine Daten nicht registriert,
deshalb hat er vor einem Jahr in Deutschland
einen Asylantrag stellen können – so
wie Zehntausende andere Hilfesuchende.
2013 dürfte hierzulande sogar zu einem
Asylrekordjahr der jüngeren Vergangenheit
werden: Schon im September lag die
Antragszahl bei 85 325 und damit um 74
Prozent höher als im Vorjahreszeitraum.
Man kann nicht sagen, dass deutsche Behörden
mit der Herausforderung besonders
gut klarkommen würden.
REALITÄTSVERWEIGERUNG
Untergebracht werden die Flüchtlinge
meist in Asylbewerberheimen, umfunktionierten
Schulen oder engen Wohncontainern.
Das Land Baden-Württemberg erachtet
4,5 Quadratmeter pro Person als
Wohnfläche für ausreichend, in Sachsen
dürfen bis zu fünf Personen auf einem
Zimmer untergebracht werden, in Mecklenburg-Vorpommern
sind es sechs. In anderen
Ländern gelten gar keine Vorgaben.
Vor Ort fühlen sich wiederum oft die Anwohner
von der meist geballten und von
der Politik miserabel kommunizierten Unterbringung
der Asylbewerber bedroht. In
Berlin-Hellersdorf gab es erst vor Kurzem
aggressive Widerstände gegen ein neues
Flüchtlingsheim (und kurz darauf wütende
Gegen-Demos). Die Wohnsituation ist
meist das Hauptproblem: Die Asylheime
liegen häufig in Bezirken, die ohnehin unter
sozialer Spannung stehen, Beschäftigungsmöglichkeiten
gibt es kaum. Die Bewohner
dürfen nicht arbeiten, sie dürfen
die Grenze des Bundeslandes nicht überqueren.
Und so kommt es auf engem Raum
immer wieder zu Konflikten zwischen den
verschiedenen Nationalitäten, Religionen
und eben auch mit den Anwohnern.
Doppelte Realitätsverweigerung der Politik,
wie sie vergangene Woche in Brüssel
und Berlin zu beobachten war, hilft in dieser
Lage niemandem. Erst versuchte die
EU-Kommission mit einer Studie den Eindruck
zu erwecken, als gäbe es innerhalb
Europas keinerlei Armutseinwanderung.
Die Bürgermeister von Dortmund, Duisburg
oder Mannheim wissen es leider besser.
Aber es war ebenso fahrlässig, als Bundesinnenminister
Hans-Peter Friedrich
Quelle:Europäisches Parlament
»
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 29
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Politik&Weltwirtschaft
FLÜCHTLINGE
Code oranje
Der niederländische Vize-Premier
Lodeweijk Asscher macht Front
gegen die EU-Kommission – weil sie
die Probleme der Migration leugnet.
Dumpfe Parolen Protestzug von
Rechtsextremen in Enschede
Gefahren, die vom Wasser drohen, beobachten
die Niederländer seit Jahrhunderten
genau. Für die Flüsse des Landes gilt
„Code oranje“, also Alarmstufe orange,
sobald von ihrem Pegel eine Gefahr ausgeht.
Nach Auffassung des niederländischen
Vize-Premierministers Lodeweijk
Asscher hat sein Land bei der Migration
diese Alarmstufe erreicht: „An manchen
Stellen drohen die Deiche zu brechen.“ In
einem unmissverständlich formulierten
Appell richtete sich Asscher, der auch
niederländischer Arbeitsminister ist, im
Sommer an die EU-Kommission und regte
einen europäischen „code oranje“ für
Migration an.
Doch aus Brüssel kam eine Abfuhr. Die
niederländische EU-Kommissarin Neelie
Kroes riet ihrem Landsmann spöttisch,
er solle wie die Kinderbuchfigur Hansje
Brinker doch seinen Finger in das Loch
im Deich stecken. Der ungarische Sozialkommissar
László Andor befand, in
Krisenzeiten bedienten Politiker nun mal
gerne die Ängste ihrer Wähler.
Die Reaktionen ärgern Asscher nicht
nur wegen des Tonfalls. Brüssel preist die
Arbeitnehmerfreizügigkeit – und weigert
sich schlicht, deren Schattenseiten wahrzunehmen.
Die Diskussion über Arbeitsmigration
wird in Europa zum Tabu, gerade
erst vergangene Woche legte Andor
eine Studie vor, die Sozialmissbrauch widerlegen
soll. Asscher wehrt sich gegen
Denkverbote, die im Zweifel Ausländerfeindlichkeit
schüren: „Gerade wer sich in
Europa zum Mitte-links-Lager zählt, sollte
noch einmal gut darüber nachdenken,
wie wir die Arbeitnehmerfreizügigkeit so
regeln, dass alle Bürger in Europa davon
einen Vorteil haben“, fordert der Sozialdemokrat.
Anders als etwa Großbritannien haben
die Niederlande seit der EU-Osterweiterung
2004 nur sehr wenig hoch Qualifizierte
angezogen. Eine aktuelle Studie
des regierungseigenen Sociaal en Cultureel
Planbureau (CPB) zeigt, dass nur
sechs Prozent der jüngst eingewanderten
Bulgaren über einen Hochschulabschluss
verfügen. 64 Prozent der bulgarischen
Migranten bringen maximal einen Realschulabschluss
mit. In Bulgarien selbst
liegt der Anteil aber nur bei 25 Prozent,
was zeigt, dass gerade weniger Gebildete
sich Chancen in Westeuropa erhoffen.
Diese Klientel tue sich aber schwer, die
Landessprache zu erlernen, so die Studie
weiter. 42 Prozent der Bulgaren sagen
von sich selbst, dass sich ihre Sprachkenntnisse
seit der Ankunft in den Niederlanden
nicht verbessert habe. Und nicht
alle, die wegen eines Jobs kommen, finden
auch einen: Bei den Bulgaren sind es
nur 60 Prozent.
FREIZÜGIGKEIT AB 2014
In den Niederlanden gilt – wie in
Deutschland auch – ab Januar 2014 uneingeschränkte
Freizügigkeit. Bisher dürfen
Bulgaren und Rumänen in den meisten
EU-Ländern nur als Selbstständige
arbeiten. Minister Asscher will nun einen
Zustrom aus den beiden Ländern vermeiden
und Wohlfahrtstourismus unterbinden.
In einem Brief an die niederländischen
Abgeordneten kündigt er ein
Gesetz an, wonach künftig nur EU-Bürger
mit Aufenthaltsrecht einen Anspruch auf
Sozialleistungen bekommen sollen.
Obdachlose aus Rumänien und Bulgarien
will Asscher zurück in ihre Heimatländer
schicken. Er setzt dabei auf die
polnische Stiftung Barka, die Obdachlose
heute schon dazu animiert, nach Polen
zurückzugehen. Asscher will, dass Barka
auch Programme für Bulgarien und Rumänien
entwickelt. Das Problem ist nur:
Der Verkauf von Obdachlosenzeitungen
in den Niederlanden bringt mehr ein als
eine geregelte Arbeit im Heimatland.
silke.wettach@wiwo.de | Brüssel
»
in seiner Replik so tat, als gäbe es – vor
allem aus Bulgarien und Rumänien – ausschließlich
Armutseinwanderung.
„Seit Beginn der EU-Osterweiterung hören
wir Warnungen vor zu viel Zuzug in unsere
Sozialsysteme“, sagt IZA-Experte Zimmermann.
In der Tat gäbe es bei Bulgaren
und Rumänen „kritische Einzelfälle“ in
deutschen Städten. „Was es bis heute trotz
der Grenzöffnung nicht gibt, sind Belege
für den massenhaften Missbrauch in
Deutschland“, sagt Zimmermann. Eines ist
ihm deshalb besonders wichtig: „Unter
dem Strich gilt: Einwanderung zahlt sich
für die Bundesrepublik aus.“
KAMPF GEGEN MISSBRAUCH
Zumal sich der stattfindende Missbrauch
laut Zimmermann von strikteren Behörden
durchaus begrenzen ließe: „Das Einfallstor
für den Bezug von Sozialleistungen
ist die Anmeldung einer Selbstständigkeit.
Ein paar simple Fragen nach dem Geschäftskonzept
oder der Finanzierung würden
genügen.“ Andere Länder wie Großbritannien
gehen diesen Weg. In Deutschland
hingegen stieg die Zahl der rumänischen
und bulgarischen Kindergeld- und Hartz-
IV-Empfänger zwischen April 2012 und
April 2013 um jeweils rund 40 Prozent.
Es kommt verschärfend hinzu, dass EU-
Sozialprogramme, die gerade auch Roma
helfen sollen, bislang unangetastet blieben.
Mittlerweile müssen die Mitgliedstaaten
zwar jedes Jahr in Brüssel einen nationalen
Strategieplan zur Eingliederung der
insgesamt zehn bis zwölf Millionen Roma
vorlegen. Die Bilanz fällt jedoch ernüchternd
aus, beklagt Justizkommissarin Viviane
Reding: „Es stehen insgesamt 50 Milliarden
Euro pro Jahr zur Verfügung, die
nicht benützt werden.“
Der Deutsche Städtetag, der schon im Januar
angesichts dramatischer Lagen in
einzelnen Kommunen Alarm schlug, richtet
sein Hilfsgesuch deshalb an Bund und
Länder. Etablierte Integrationskonzepte
seien für die Armutseinwanderer ungeeignet,
warnt Hauptgeschäftsführer Stephan
Articus. An den Kosten für Wohnen und
Gesundheitsversorgung der Zuwanderer
müssten sich daher „Bund und Länder
spürbar beteiligen“.
Im November soll eine Arbeitsgruppe
Vorschläge vorlegen. Haki aus dem Tschad,
Überlebender von Lampedusa, der sieben
Sprachen spricht, wird davon nie etwas
haben.
n
jacqueline goebel | politik@wiwo.de, hans jakob ginsburg,
max haerder | Berlin, silke wettach | Brüssel
FOTO: LAIF/HOLLANDSE HOOGTE
30 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Im Wohlstand erstarrt
LUXEMBURG | Premier Jean-Claude Juncker hat beste Chancen, die Neuwahlen zu gewinnen.
Doch die Dauerherrschaft der Konservativen behindert den überfälligen Wandel.
FOTO: LAIF/GABY GERSTER
xemburg vor den Europäischen Gerichtshof
gezerrt, weil es auf E-Books einen ermäßigten
Mehrwertsteuersatz von drei
Prozent statt der Standardrate von 15 Prozent
ansetzt. Sollten die Richter die Praxis
beenden, entfällt für Amazon ein Standortvorteil.
Auch die Finanzbranche, die bisher für
25 Prozent der Steuereinnahmen und für 30
Prozent des BIPs sorgte, ist kein Selbstläufer.
Mit dem Ende des Bankgeheimnisses
dürften im Privatkundengeschäft 5000 bis
6000 gut dotierte Jobs wegfallen. Alle lu-
Seine Landsleute haben ihm verziehen
Luxemburgs Premierminister Juncker
Der zweite Satz im Wahlprogramm
liest sich wie bei Angela Merkel geklaut.
„Sie kennen die CSV“, heißt es
im Manifest der Christlich Sozialen Volkspartei
Luxemburgs – ganz so, wie die Kanzlerin
die deutschen Wähler beim TV-Duell
angesprochen hat.
Die Aussichten der stärkeren Regierungspartei
bei den Neuwahlen am 20. Oktober
sind sehr gut. Die wenigsten Bürger
erwarten eine Ablösung der CSV, auch
wenn sich einer Meinungsumfrage zufolge
55 Prozent der Wahlberechtigten einen Regierungswechsel
wünschen.
Bei den Popularitätswerten deklassiert
der christlich-soziale
Premier Jean-Claude Juncker
seine Herausforderer gnadenlos.
Dabei stellt der wahrscheinliche
Wahlgewinner seinen
Landsleuten nicht einmal
rosige Jahre in Aussicht. „Das
sind keine Zeiten, in denen ich
große Versprechen machen
kann“, betont Juncker, „das
sind keine Zeiten von großen
Sprüngen.“
Das Land mit dem höchsten
Pro-Kopf-Einkommen der EU
bekommt die Krise des Kontinents
durchaus zu spüren. Das
Bruttoinlandsprodukt (BIP)
dürfte in diesem Jahr den Vorhersagen
der EU-Kommission
zufolge um nur 0,8 Prozent zulegen. Die
Arbeitslosigkeit ist mit prognostizierten 5,5
Prozent gering, tendiert aber nach oben.
Vor allem ist das bisherige Geschäftsmodell
als Steueroase und ungewöhnlich attraktiver
Standort für internationale Banken
kaum noch haltbar. Mit Steuervorteilen
hat das kleine Land bisher Unternehmen
wie den Internet-Buchhändler Amazon
angelockt, der hier seine Europa-Zentrale
errichtete. Beim G20-Gipfel im Juli
wurde das luxemburgische Steuermodell
international geächtet, das Amazon bisher
ermöglichte, seinen britischen Umsatz
von beinahe fünf Milliarden Euro im Jahr
am Londoner Fiskus vorbei nach Luxemburg
zu schleusen und dort nur gering zu
versteuern. Die EU-Kommission hat Luxemburgischen
Parteien, sogar die Grünen,
setzen auf die Fondsbranche, die im Großherzogtum
seit Ende der Achtzigerjahre bewusst
gefördert wurde. Derzeit sind die in
Luxemburg verwalteten Aktiva bereits wieder
höher als vor der Finanzkrise. Es gibt
aber keinerlei Garantie, dass die Fonds im
Land bleiben und nicht auf Standorte wie
Irland ausweichen, wenn der Staat mehr
Geld von ihnen will. „Die Konkurrenz
schläft nicht“, sagt Charles Muller, Partner
bei KPMG in Luxemburg und zuvor Vize
des Luxemburger Fondsverbands Alfi.
Das luxemburgische Außenministerium
arbeitet an einem neuen Image, um den
Standort zu verkaufen. Doch diese Kampagne
kann ein zentrales Problem nicht übertünchen:
Der lange ungefährdete Wohlstand
und der Mangel an Regierungswechseln
haben das Land schwerfällig gemacht.
FILZ UND SELBSTGEFÄLLIGKEIT
Premier Juncker führt die Geschäfte seit 18
Jahren, seine CSV regiert Luxemburg gar
seit dem Zweiten Weltkrieg mit nur einer
kleinen Unterbrechung von 1974 bis 1979.
In Luxemburg macht das Wort vom „CSV-
Staat“ die Runde, weil die Partei wichtige
Stellen im Staatsapparat mit
ihren Leuten besetzt hat. Das
führt zu Filz und behindert jeden
Wandel.
„Es ist nicht gut, wenn immer
dieselben an der Macht
sind“, sagt Fondsexperte Muller.
„Wir sind erstarrt.“ Seine
Einschätzung teilen viele Entscheider
in der Luxemburger
Wirtschaft. Einige von ihnen
haben sich in Initiativen wie 5
vir 12 (5 vor 12) oder 2030.lu
zusammengeschlossen und
fordern eine offene Debatte
statt der üblichen Selbstgefälligkeit.
Eine halbherzige
Rentenreform wie bisher und
die nur vorübergehend ausgesetzte
Lohnindexierung, die
auch die EU-Kommission kritisiert
hat, kann sich das Land künftig
nicht leisten.
Allerdings sind die Beharrungskräfte
groß, denn 60 000 der 225 000 Wähler arbeiten
für den Staat und sind somit an
Wandel wenig interessiert. Juncker hat sich
zudem bei seinen Landsleuten wieder eingeschmeichelt.
Sie haben ihm auch die Geheimdienstaffäre
verziehen, die zur Neuwahl
geführt hat. Obwohl die meisten Bürger
Juncker für den Skandal verantwortlich
machen, werden sie ihn wohl wieder wählen.
Das erklärt Charles Margue, Chef des
Meinungsinstitutes TNS Ilres: „Wenn es
um die Person Juncker geht, dann hört es
bei den Luxemburgern mit dem Rechtsstaatsverständnis
auf.“
n
silke.wettach@wiwo.de | Brüssel
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 31
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Politik&Weltwirtschaft
Aus der
Puste
IRLAND | Kurz vor dem Ausstieg
aus dem Rettungspaket will
das Land 600 Millionen Euro weniger
einsparen als vereinbart.
Erfolgreiche Politiker hören sich anders
an: „Das Volk hat entschieden,
ich respektiere das Ergebnis. Manchmal
bezieht man eben Prügel“, erklärte der
irische Premier Enda Kenny. Seine Landsleute
hatten zuvor in einem Referendum
überraschend dafür gestimmt, den Seanad,
die zweite Parlamentskammer, zu behalten.
Dabei wollte Kenny mit der Abschaffung
des Oberhauses bis zu 20 Millionen
Euro pro Jahr sparen.
Auch sonst versagen dem Premier immer
mehr Iren die Gefolgschaft, sie sind
des Sparens überdrüssig. Seit Beginn der
Wirtschaftskrise 2008 hat Irland seine Ausgaben
um insgesamt 28 Milliarden Euro
gekürzt – mehr als drei Viertel der bis 2015
geplanten Einsparungen. Doch das Land,
das 2010 nach der Rettung seiner Banken
ein Haushaltsdefizit von 30,8 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes (BIP) aufwies, hat
noch immer eines der höchsten Defizite in
der Euro-Zone; der Schuldenstand ist mit
123 Prozent des BIPs erdrückend hoch, die
Arbeitslosenquote mit rund 13 Prozent
auch. Dabei soll Irland im nächsten Jahr als
erstes Krisenland der Euro-Zone wieder
auf eigenen Beinen stehen.
Die Rettung des Landes haben EU und
Internationaler Währungsfonds (IWF) mit
67,5 Milliarden Euro unterstützt. Doch nun
wollen die Iren, die bisher alle Vorgaben
des Rettungsprogramms erfüllt haben, die
Konsolidierung nicht wie versprochen weiterführen.
Der Haushaltsentwurf für 2014,
den die Regierung am Dienstag dieser Woche
vorstellen will, werde Einschnitte und
Steuererhöhungen von 2,5 Milliarden Euro
enthalten – statt der ursprünglich vereinbarten
3,1 Milliarden Euro, so Finanzminister
Michael Noonan. Dennoch soll es
gelingen, 2014 das Defizitziel von 5,1 Prozent
des BIPs zu unterschreiten, denn im
laufenden Fiskaljahr seien die Steuereinnahmen
höher und die Ausgaben der Ministerien
geringer ausgefallen als erwartet,
sagt der Finanzminister.
Die Irische Zentralbank hält es dagegen
für falsch, die nötigen Sparmaßnahmen
aufzuschieben: „Es ist riskant, den Sparkurs
jetzt zu lockern, wichtiger wäre sicherzustellen,
dass an den Märkten das Vertrauen
in Irland erhalten bleibt“, sagte Lars
Frisell, Chefvolkswirt der Notenbank. Zwar
sei der politische Wille vorhanden, das Defizit
bis 2015 auf weniger als drei Prozent
des BIPs zu senken. Doch wegen seiner
großen Abhängigkeit von Exporten sei Irland
in hohem Maße anfällig für externe
Schocks.
AUF JEDEN FALL ERFÜLLEN
Beim IWF gibt man sich dagegen pragmatisch:
„Irland muss das über zwei Jahre gesetzte
Sparziel von 5,1 Milliarden Euro auf
jeden Fall erfüllen, um das Defizitziel von
drei Prozent bis 2015 zu erreichen, doch im
Hinblick auf die Ausgestaltung der jährlichen
Teilziele gibt es Flexibilität“, sagt Craig
Beaumont, Irland-Missionschef des IWF.
Immer mehr faule Kredite
HypothekenkrediteirischerBanken,die
seit drei beziehungsweise sechs Monaten
nichtmehrbedient werden*
18
15
12
9
6
3
Ohne Zahlungseit:
SechsMonaten
oder länger
Drei bissechs
Monaten
09 2010 2011 2012 2013
*Anteilamgesamten Hypothekenvolumen
in Prozent; Quelle:Irische Zentralbank
Kommt bald ohne Rettungsschirm aus
Irlands Finanzminister Noonan
Um ihren Schuldenberg abzubauen,
werden die Iren laut Frisell sogar jahrzehntelang
fiskalische Disziplin üben müssen.
Voraussetzung für einen Schuldenabbau
aber ist Wachstum. Die irische Notenbank
hat ihre Wachstumsprognose für das laufende
Jahr auf 0,5 Prozent gekürzt und erwartet
2014 ein Plus von 2,0 Prozent. Auch
der IWF hat seine Prognosen nach unten
revidiert: Er rechnet 2013 mit einem
Wachstum von nur 0,6 Prozent und 2014
von 1,8 Prozent. „Geringes Wachstum
bleibt das wichtigste Risiko für die Tragfähigkeit
der Schulden“, so der IWF.
HOHE RÜCKSTÄNDE
Sorgen machen dem Fonds auch die Probleme
der irischen Banken, die bereits
mehr als 26 Prozent ihrer Kredite als notleidend
einstufen müssen. Das liegt vor allem
an den Schuldnern, die mit der Rückzahlung
ihrer Hypothekenraten sechs Monate
und mehr im Rückstand sind (siehe
Grafik). „Es hat viel zu lange gedauert, bis
die Banken das Problem anpackten, seit
Beginn der Bankenkrise sind immerhin
schon fünf Jahre vergangen“, sagt Frisell.
Irlands Notenbank macht jetzt Druck. Bis
Ende des ersten Quartals 2014 müssen die
Banken für 70 Prozent ihrer Hypothekenschuldner
mit Zahlungsrückständen eine
Lösung ausarbeiten. Gleichzeitig bereiten
sich die Banken auf den Stresstest im
Frühjahr 2014 vor. Gut möglich, dass danach
weiterer Finanzierungsbedarf besteht,
um die Bilanzen der Institute zu stärken.
Kenny und der IWF warben in der
Vergangenheit dafür, Irland zur Rekapitalisierung
der Banken Hilfe aus dem permanenten
Rettungsschirm ESM zu gewähren
– doch Deutschland und andere EU-Staaten
mauern.
Auch aus der Notfall-Kreditlinie von
zehn Milliarden Euro, die Irland gerne hätte,
wird wohl vor dem Ausstieg aus dem
Rettungspaket nichts mehr. „Ich sehe diese
Kreditlinie ohnehin nur als Versicherungspolice,
wir brauchen sie nicht unbedingt“,
sagt Frisell. Denn Irlands Schuldenagentur
NTMA hat vorgesorgt und sich in den vergangenen
18 Monaten regelmäßig Geld an
den Kapitalmärkten besorgt – sie verfügt
jetzt über ein Polster von fast 25 Milliarden
Euro und hat damit genug Barmittel um
2014 über die Runden zu kommen, ohne
die Kapitalmärkte anzuzapfen.
n
yvonne.esterhazy@wiwo.de | London
FOTO: REUTERS/CATHAL MCNAUGHTON
32 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Politik&Weltwirtschaft
Kämpfen, nicht kuschen
USA | Wer steckt hinter den rechten Rebellen der Tea Party im US-Parlament, und warum nehmen
die Erzkonservativen auch eine Staatspleite in Kauf, um ihre Politik durchzusetzen?
Ausnahmsweise
mal für die Regierung
Demonstrant
vor dem Kapitol
Rand Paul schimpft wie ein Rohrspatz.
Dass die Kriegsveteranen derzeit
nicht die Gedenkstätte für die
Soldaten des Zweiten Weltkriegs besuchen
können, daran sei US-Präsident Barack
Obama schuld, empört sich der Republikaner
und Tea-Party-Aktivist. Allen Ernstes
behauptet der 50-jährige US-Senator aus
Kentucky, Obama habe Schlägertrupps geschickt,
um das Denkmal in Washington
abzuriegeln. Der den Amerikanern heilige
Ort inmitten der Hauptstadt ist ein Nationalpark.
Und als solcher ist er, wie alle anderen
im Lande auch, seit dem 1. Oktober
geschlossen – so lange, bis sich Demokraten
und Republikaner im Kongress auf ein
Budget einigen. „Das Denkmal ist frei zugänglich,
da macht eine Absperrung doch
überhaupt keinen Sinn“, keift Paul. Obama
wolle damit nur den Republikanern die
Schuld an der Haushaltskrise in die Schuhe
schieben.
Tatsächlich macht Obama vor allem Politiker
wie Paul, die der Tea Party – dem
rechtspopulistischen Flügel der Republikanischen
Partei – angehören, für den Haushaltsnotstand
verantwortlich. Paul zählt zu
ihren Anführern. Für den Präsidenten sind
sie eine „kleine extreme Splittergruppe“,
die es geschafft habe, den Staat lahmzulegen.
Selbst moderate Republikaner kritisieren
die Anhänger der Tea Party als
„Lemminge mit Sprengstoffwesten“.
Die radikalen Aktivisten weigern sich beharrlich,
einem neuen Haushalt zuzustimmen,
solange nicht die Gesundheitsreform,
die Millionen Amerikaner erstmals
krankenversichert, zurückgenommen oder
zumindest verschoben wird. So wollen sie
»Es wird höchste
Zeit, dass der
Kongress auf
die Wähler hört«
John Fleming, Tea Party
das Gesetz, das der Kongress bereits verabschiedet
und das Oberste Gericht als verfassungskonform
bestätigt hat, doch noch
stoppen. Seit Anfang Oktober hat der Staat
daher kein gültiges Budget, Nationalparks
und staatliche Museen sind bereits geschlossen,
rund 800 000 Angestellte des
Bundes hat die US-Regierung in den unbezahlten
Urlaub geschickt.
Von insgesamt 435 Abgeordneten im US-
Repräsentantenhaus, davon 234 Republikaner,
gehören gerade einmal knapp 30
Abgeordnete zu den rechtspopulistischen
Tea-Party-Rebellen. Zu ihren Wortführern
gehören außer Paul, der die Anti-Steuern-
Organisation „Kentucky Taxpayers United“
gegründet hatte und dessen Vater Ron sich
2008 und 2012 um die Präsidentschaftskandidatur
bewarb, auch die 57-jährige
Michele Bachmann, eine erzkonservative
christliche Abgeordnete aus Minnesota,
und die Texaner Ted Cruz (42, Senator)
und Jeb Hensarling, (56, Vorsitzender des
Finanzdienstleistungsausschusses im Repräsentantenhaus).
Sie alle kämpfen kompromisslos für ihre
Überzeugungen, kuschen vor keiner Mehrheit
und feilschen nicht. Ihre obersten Ziele:
so wenig Staat wie möglich, eine strikte
Haushaltspolitik, rigoroser Abbau der
Staatsschulden, möglichst niedrige Steuern,
drastische Kürzungen bei Sozialleistungen.
Eine vom Staat vorgegebene
Pflicht, sich gegen Krankheit zu versichern,
ist diesem radikal-libertären Haufen genauso
zuwider wie eine Einschränkung des
Rechts, Waffen zu tragen.
Seitdem die Republikaner 2010 die
Mehrheit im Repräsentantenhaus zurückerobert
haben, hat auch die Tea Party an
Einfluss gewonnen. Knapp die Hälfte der
konservativen Wähler ist mit der Politik
der Republikaner in Washington extrem
unzufrieden – erst recht, seitdem Obama
im November die Präsidentschaftswahl erneut
gewonnen hat, nur acht Prozent sind
zufrieden, wie eine Umfrage des Pew Research
Center Ende September ergab. Kein
Wunder also, dass rechte Hardliner die
Oberhand bei den Konservativen gewinnen.
„Die Tea-Party-Bewegung ist vor allem
für die Republikaner zu einem Pro-
FOTO: LAIF/UPI
34 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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lem geworden“, sagt der renommierte
Politikwissenschaftler Ian Bremmer vom
Thinktank Eurasia Group in New York.
Dass die rechte Minderheit die Agenda
in Washington so sehr bestimmen könne,
liege auch am mangelnden Interesse der
Amerikaner an der Politik, so Bremmer.
Nicht einmal 57,5 Prozent der Wähler seien
im vergangenen Jahr zur Urne gegangen,
und außer der Tea-Party-Bewegung
existiere in den USA kaum politischer Aktivismus.
„800 000 Angestellte des Staates
werden in den Zwangsurlaub geschickt,
das müsste der politischen Klasse in Washington
extrem peinlich sein, aber eine
politische Krise löst das nicht aus“, stellt
Bremmer erstaunt fest. Für beide politischen
Parteien gebe es deshalb keinen
zwingenden Grund, einen Kompromiss
zu finden.
Präsident Obama will sich nicht von einer
Minderheit erpressen lassen. Lenkt er
ein und erkauft sich die Verabschiedung eines
Budgets mit Zugeständnissen an die
Opposition, droht die Gefahr, bei den
nächsten Verhandlungen wieder erpresst
zu werden. Auch John Boehner, dem republikanischen
Chef des Repräsentantenhauses,
kommt es mehr darauf an, die Partei
zusammenzuhalten, als den Konflikt
mit den rechten Rebellen aufzunehmen.
AUF KOSTEN DER STEUERZAHLER
Entstanden ist die rechtspopulistische Bewegung
noch unter Präsident George W.
Bush, der sich im Zuge der Finanzkrise für
ein milliardenschweres Rettungspaket für
angeschlagene US-Banken und Autokonzerne
entschieden hatte. Dieser massive
Eingriff des Staates in die Wirtschaft auf
Kosten der Steuerzahler hat die Konservativen
innerhalb der Republikaner zutiefst
verärgert. Die Unzufriedenheit mit der Politik
der eigenen Partei und später mit der
Politik des neuen demokratischen Präsidenten
Obama ließ überall in den Staaten
organisierte rechte Bewegungen entstehen.
In Anlehnung an die Bostoner Tea
Party des Jahres 1773, als sich die amerikanischen
Kolonien gegen die britische Kolonialpolitik
erhoben, nannten sich die Graswurzel-Revolutionäre
Tea Party.
Die Widerstandskämpfer von heute sind
konservative Amerikaner, die vorher überwiegend
nicht politisch aktiv waren. So etwa
Amy Kremer, eine ehemalige Flugbegleiterin,
die 2009 aus Frust über die Politik
in Washington eine der ersten Tea-Party-
Proteste über den Kurznachrichtendienst
Twitter organisiert hat. Später schloss sie
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 35
»
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Politik&Weltwirtschaft
Eine kleine radikale Minderheit hat es geschafft, das ganze Land lahmzulegen (von links) Bachmann, Hensarling, Paul, Meadows
»
sich zunächst den Tea Party Patriots an
und gründete dann den Tea Party Express
in Kalifornien. Letzterer fährt mit Bussen
durchs Land und organisiert vor Ort Proteste
gegen die Obama-Regierung. Kremer
gilt heute als eine der einflussreichsten und
aggressivsten Konservativen der Tea-Party-
Bewegung. Als mindestens ebenso einflussreich
wie Kremer gilt Jim DeMint. Von
2005 bis Anfang dieses Jahres war der
62-jährige Republikaner aus South Carolina
US-Senator. Seit einigen Monaten ist er
Chef des erzkonservativen Thinktanks The
Heritage Foundation in Washington und
unterstützt die Tea-Party-Bewegung mit
Geld und Lobbyarbeit.
Der außerparlamentarischen Opposition
ist es längst gelungen, auch im politischen
Betrieb in Washington anerkannt zu
werden. Im Jahr 2010 rief Michele Bachmann
im Parlament den Tea Party Caucus
ins Leben. Diesem Ausschuss gehören
heute rund 50 Abgeordnete der Republikaner
an. Die Rebellen brachten auf diesem
Weg seitdem mehr als 40 Gesetzentwürfe
ein, die die Gesundheitsreform kippen
sollten. Der von den Demokraten kontrollierte
Senat schmetterte sie immer wieder
ab. Erfolgreich wehrten sich die Rechten
allerdings gegen eine Verschärfung des
Waffengesetzes in den USA in diesem
Frühjahr.
Geschickt haben es die Tea-Party-Parlamentarier
in den vergangenen Wochen
verstanden, ihre moderaten Parteikollegen
unter Druck zu setzen. Eine wichtige Rolle
spielte dabei der bis dahin wenig bekannte
Tea-Party-Rebell Mark Meadows. Der
54-Jährige aus dem US-Bundesstaat North
Carolina ist erst seit Januar 2013 Abgeordneter
des Repräsentantenhauses. Er drängte
den Republikaner-Sprecher Boehner da-
FOTOS: GETTY IMAGES, PICTURE PRESS, REUTERS, CORBIS
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zu, einem neuen Budget nur zuzustimmen,
wenn die Gesundheitsreform gestoppt
werde. Der Neuling in Washington
sammelte 79 Unterschriften von Parlamentariern
für seine Forderung, die Regierung
notfalls auch lahmzulegen – und gilt
seitdem als heldenhafter Wegbereiter des
„government shutdowns“.
Wortreiche Unterstützung erhielt Meadows
vom Parteikollegen John Fleming.
Der 62-jährige Politiker und Geschäftsmann
– ihm gehören 33 Subway-Sandwich-Schnellrestaurants
in Louisiana –
wird nicht müde, auf möglichst vielen konservativen
amerikanischen Radio- und
TV-Stationen zu wiederholen, dass die Gesundheitsreform
das gefährlichste Gesetz
sei, das jemals im Kongress verabschiedet
worden sei. „Obamacare ist die größte Bedrohung
der US-Wirtschaft seit der Großen
Depression“, warnt Fleming. Die Reform
schraube die Gesundheitskosten für
Millionen Amerikaner in die Höhe, Unternehmen
würden gezwungen, Mitarbeiter
zu entlassen, weil sie sich die Versicherungskosten
für ihre Arbeitnehmer nicht
leisten könnten. Der Republikaner Senator
Ted Cruz hatte es sogar geschafft, kurz vor
Einführung der Gesundheitsreform am 1.
Oktober 21 Stunden am Stück im Parlament
gegen die Reform zu reden.„Es wird
höchste Zeit, dass der Kongress auf die
Wähler hört“, fordert Tea-Party-Rebell Fleming.
Denn die wünschten sich zwei Dinge
ganz dringlich: die Gesundheitsreform
zu stoppen und die Staatsschulden zu verringern.
KEINE ANGST VOR DER PLEITE
Das Schuldenlimit und die drohende
Staatspleite sind nach der Lahmlegung des
Regierungsapparates der nächste Kriegsschauplatz
der Tea Party. Mitte dieser Woche
erreichen die USA ihr gesetzlich festgelegtes
Schuldenlimit von 16,7 Billionen
Dollar. Genehmigt der Kongress keine Anhebung,
droht den USA die Zahlungsunfähigkeit.
Dann kann die Regierung weder
ihre Schuldzinsen bedienen noch Sozialleistungen
wie etwa Renten auszahlen.
Ein ähnliches Szenario drohte im August
2011, als sich Demokraten und Republikaner
ebenfalls nicht auf die Erhöhung des
Schuldenlimits einigen konnten. Damals
stufte die Ratingagentur Standard & Poor’s
die Kreditwürdigkeit des Landes um eine
Stufe nach unten. Daraufhin schmierten
die Börsen weltweit ab. Auch jetzt drückt
die Schuldenkrise auf die Stimmung an
den weltweiten Märkten (siehe Seite 108).
Janet Yellen, die designierte neue Notenbank-Chefin,
wird die ultralockeren Geldpolitik
der Fed weiterführen. Die erneute
Haushalts- und Schuldenkrise lassen ihr
keine andere Wahl. Die Fed wird weiterhin
monatlich Staatsanleihen und Hypothekenpapiere
in Milliardenhöhe ankaufen.
Für die Tea-Party-Aktivisten ist die
Schuldenkrise kein Grund zum Einlenken:
Schließlich käme es ja auch gar nicht zu einer
Staatspleite, meint etwa US-Senator
Paul. Denn der Kongress habe ein Gesetz
verabschiedet, das festlegt, dass die USA
die Zinsen auf ihre Schulden mit Priorität
vor allen anderen Verpflichtungen begleichen.
Obama solle aufhören, den Amerikanern
und der Wall Street Angst einzujagen.
„Wir kämpfen weiter“, sagt US-Senator
Paul. Ins gleiche Horn bläst Pauls Mitstreiterin
Bachmann. „Sie können darauf wetten,
dass wir weitermachen“, sagt die Tea-
Party-Politikerin, „und zwar so lange, bis
die Gesundheitsreform gestoppt ist.“ n
angela.hennersdorf@wiwo.de | New York
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Politik&Weltwirtschaft
BERLIN INTERN | Die Abgeordneten der FDP-Fraktion
verabschieden sich so aus dem Bundestag, wie sie die
letzten vier Jahre gegeneinander gearbeitet haben:
mit Missgunst und Getuschel. Von Henning Krumrey
Has(s)tiger Abschied
FOTOS: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, VISUM/STEFAN BONESS
Ein Rückzug in Würde, so hatten
sich die Abgeordneten die letzte
Sitzung der FDP-Bundestagsfraktion
vorgestellt. Einmal noch im
Reichstagsgebäude tagen, einmal noch
mit den Kollegen plaudern, mit denen man
vier Jahre zusammen oder auch gegeneinander
gearbeitet hat. Und dann: Ende
des parlamentarischen Daseins der FDP.
Am Dienstag vergangener Woche bestimmte
die Fraktion drei aus ihrer Mitte
als Liquidatoren, die den Laden abwickeln
Ohne Worte FDP-Fraktion i.L. heißt nicht:
„ist liberal“, sondern „in Liquidation“
wie jeden anderen mittelständischen Betrieb
– dann löste sie sich mit einem förmlichen
Beschluss auf.
Doch so würdevoll wie erhofft tagten die
93 Abgeordneten nicht. Der Schleswig-Holsteiner
Jürgen Koppelin, einst als pfiffiger
Haushälter ein Quälgeist von Regierungen
jedweder Couleur, gab den verbitterten alten
Mann. Ob denn die drei Liquidatoren etwa
noch extra Geld für ihre Arbeit kassieren
dürften, fragte der 68-Jährige giftig (Antwort:
nein). Früher reüssierte er im Parlamentskabarett
„Die Wasserwerker“ als bissiger
Kommentator, jetzt trat er auf als
verbissener Inquisitor. Ob auch sichergestellt
sei, dass der Leiter der Fraktionsverwaltung
sich bei den Auflösungsentscheidungen
nicht bereichern könnte?
So „zum Kotzen“ fanden manche Kollegen
Koppelins Auftritt, dass sie keine Lust
mehr hatten, noch auf ein finales Feierabendbier
zu „Ossi“ zu gehen, in die Kneipe
der Parlamentarischen Gesellschaft. „Ich
will den nicht mehr sehen“, schimpfte einer
der stellvertretenden Vorsitzenden. In der
Kellerbar waren die Liberalen meist höherprozentig
vertreten als im Plenarsaal, und
Koppelin schmetterte dort gern zu vorgerückter
Stunde mit Freunden „Das Lied der
Partei“ und andere SED-Kampfgesänge:
„Die Partei, die Partei, die hat immer recht“,
heißt es da, und „Sie hat uns alles gegeben,
was wir sind, sind wir durch sie“. Alles vorbei.
Ins Bodenlose fallen die Abgänger nicht.
Bis Mitte Oktober müssen die Zimmer geräumt
sein, dann übernimmt ausgerechnet
die Linke den Bürotrakt. Der Agrarpolitiker
Michael Goldmann klagt: „Ich habe sechs
Kartons, ich weiß nicht, wo ich damit hin
soll.“ „Dazu bist du Bundestagsabgeordneter,
dass du das selbst entscheiden
kannst“, ruft die Architektin Petra Müller
entnervt in den Saal. Sie hatte sich mit dem
Problem schon vertraut machen können,
da sie für die jüngste Wahl keinen Listenplatz
ergattert hatte. Die frühere Fraktionschefin
Birgit Homburger mailte Kollegen
von Union und SPD, sie habe Topfpflanzen
und Ventilatoren „günstig abzugeben“.
Um den Rückzug aus der politischen
Frontstadt zu organisieren, bleiben den Ex-
MdBs ein paar Privilegien noch etwas erhalten.
Offiziell endet ihr Abgeordnetendasein
mit dem Zusammentritt des neuen Bundestages
am 22. Oktober. Aber seit je gilt eine
interfraktionelle Vereinbarung, dass noch
weitere 14 Tage auf Staatskosten geflogen
und Bahn gefahren werden darf. Und es
gibt Übergangsgeld, für jedes Jahr im Parlament
eine Monatsdiät, maximal 18. Wer
einen neuen Job findet, muss sich die Einkünfte
anrechnen lassen.
Und natürlich tuscheln alle, wer jetzt wo
was werden könnte. Die Niedersachsen-
Combo, die Mitarbeiter von Philipp Rösler,
hätten es schwer, meinte einer aus der
Truppe von Rainer Brüderle: „Für die gilt:
Wir können nix außer Hochdeutsch.“ Die
Juristen dürfen sich zur Not Anwaltsschilder
an die Tür schrauben. Daniel Bahr habe
nach Banklehre und dem Studium der Gesundheitsökonomie
so viel Bundesministererfahrung,
dass er bald beim Medizintechnikhersteller
B. Braun als Vorstand anfangen
werde. Bahr lässt das dementieren.
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 39
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Der Volkswirt
Freiheit in Bedrängnis
GESELLSCHAFT | Noch warten die Deutschen auf ihre neue Regierung – doch was sie von ihr erwarten,
ist klar: noch mehr Umverteilung und paternalistische Fürsorge, um die Lebensverhältnisse der Bürger
anzugleichen. Marktwirtschaft und Selbstverantwortung bleiben auf der Strecke. Von Ulrike Ackermann
Im neu gewählten Bundestag haben nun Volksvertreter die Mehrheit,
denen wirtschaftliche und individuelle Freiheit, Selbstsorge
und Selbstverantwortung der Bürger suspekt sind. Stattdessen
setzen sie auf den fürsorgenden und umverteilenden Staat – auch
wenn er noch so verschuldet ist. Bereits im Wahlkampf überboten
sich die großen Parteien, wer der bessere Vollstrecker sozialer Gerechtigkeit
sei. Wie auch immer die neue Regierung aussehen mag:
Das Pendel wird noch heftiger zugunsten der Gleichheit ausschlagen,
und die Freiheit wird noch stärker in Bedrängnis geraten. Es
wird zukünftig darum gehen, ob die Bürger zugunsten
der Gleichheit auf Freiheit verzichten
wollen oder umgekehrt den Wert der Freiheit
höher schätzen und dafür Ungleichheit in
Kauf nehmen.
Über die Jahrhunderte ging die Angleichung
der hart erkämpften politischen Bürgerrechte
mit einer Angleichung sozialer Chancen im
Hinblick auf Erziehung, Einkommen und Versorgung
einher. Zugleich eröffneten sich für alle
Bürger immer größere Chancen der Freiheit.
Denn die Gleichheit des staatsbürgerlichen
Status ist die Bedingung der Möglichkeit
Ulrike Ackermann ist Politikwissenschaftlerin
an der SRH Hochschule
Heidelberg und Direktorin des John
Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung.
Die WirtschaftsWoche lädt
Ihre Leser ein, sich in einem
neuen Online-Forum mit der Idee der
Freiheit auseinanderzusetzen.
Was bedeutet heute Freiheit? Wo ist
sie durch den Staat gefährdet?
Schreiben Sie uns unter
www.wiwo.de/forumderfreiheit
der Freiheit eines jeden. Voraussetzung für die
Herausbildung der Persönlichkeit und die
Praxis eines eigenen Lebensplans ist die Freiheit
eines jeden, zwischen verschiedenen Optionen
wählen zu können und sich von anderen
zu differenzieren. Die Gleichheit vor dem
Gesetz ist dabei Voraussetzung für soziale Differenzierung.
Diese rechtliche Gleichheit
schafft – so paradox das klingen mag – soziale
Ungleichheit und damit überhaupt erst die
Vielfalt und Pluralität der Lebensstile. Gerade
darin liegt die Voraussetzung für die Produktivität
und Innovationskraft einer Gesellschaft.
Uniformität und soziale Gleichheit würden hingegen Stillstand der
historischen Entwicklung bedeuten.
Ursprünglich bedeutete Gerechtigkeit schlichtweg die Durchsetzung
geltenden Rechts und die Rechtsgleichheit aller vor dem Gesetz.
Das freiheitlich-demokratische Gemeinwesen sorgt im Rahmen
eines Gesellschaftsvertrags für die Chancengerechtigkeit aller
als Voraussetzung dafür, die eigene Persönlichkeit auf je individuelle
Weise entfalten zu können.
Seit dem 19. Jahrhundert veränderte sich diese Bedeutung. Einzug
hielt der Begriff der sozialen Gerechtigkeit, der sich fortan an
sozialer Gleichheit im Sinne von Ergebnisgleichheit orientierte. Für
diese soziale Gerechtigkeit sollte nun der Staat durch Umverteilung
sorgen. Das ist eine bemerkenswerte Verschiebung der Bedeutung
von Gleichheit und Gerechtigkeit: Ging es ursprünglich in der Französischen
Revolution um die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz,
so verändert sich diese Forderung in Richtung einer Gleichheit der
tatsächlichen Lebensverhältnisse.
Obwohl sich die Lebensbedingungen in unseren europäischen
Wohlfahrtsstaaten seit dem 19. Jahrhundert für alle Menschen fundamental
verbessert haben, die Menschen viel länger leben, weniger
arbeiten und insgesamt wohlhabender geworden sind, ertönen
die Rufe nach mehr sozialer Gerechtigkeit und Umverteilung wieder
lauter. Trotz der Individualisierungsprozesse, die wir der westlichen
Moderne seit der Aufklärung verdanken,
und der Herausbildung der Zivilgesellschaft
ist die Vorstellung vom Staat als gütigem und
zugleich strengem Vater offenbar immer noch
sehr beliebt. Er soll für Wohlstand und Gesundheit
seiner Kinder sorgen und am besten
alle Güter gerecht und gleich unter ihnen verteilen.
Im Gegenzug zu seiner Wohltätigkeit
nehmen die Bürger dann auch seine erzieherische
Strenge und seine Wacht über die
Tugend in Kauf.
Klarer Favorit bei den Bürgern – so die Ergebnisse
des alljährlichen Freiheitsindexes
des John Stuart Mill Instituts – ist der betreuende
und kümmernde Staat, der im Unterschied
zum liberalen Staat als gerechter, wohlhabender,
menschlicher und lebenswürdiger
angesehen wird. Zugleich hat die Skepsis gegenüber
der Marktwirtschaft eine ganz neue
Dimension angenommen. Erstmalig glaubt
auch in Westdeutschland eine knappe relative
Mehrheit von 43 Prozent der Bevölkerung,
Marktwirtschaft führe automatisch zu sozialer
Ungerechtigkeit. Es scheint also immer mehr
die Überzeugung verloren zu gehen, dass diese
Wirtschaftsform Grundlage für Freiheit und
Wohlstand ist. Aber unsere bisherige Geschichte war gerade deshalb
so erfolgreich, weil sich wirtschaftliche, politische und individuelle
Freiheit immer gegenseitig bedingen und vorantreiben.
Nachdem es nun auf bundespolitischer Ebene um die Freiheit so
schlecht bestellt ist, müssen neue Impulse dafür aus der Zivilgesellschaft
kommen. Das Gegenteil von Paternalismus ist Eigensinn und
Selbstsorge, aus denen neues Selbstvertrauen, Stolz und Würde
und damit neue Lebensqualität für den einzelnen Bürger erwachsen
können. All dies sind Voraussetzungen, um die Freiheit zu
entfalten, neue Freiräume zu entdecken und sie auf dem Weg zu
Mündigkeit und Selbstbestimmung auszuloten. Eine Gesellschaft
ist lebendig und erfolgreich, wenn selbstbewusste und eigenwillige
Bürger ihre wirtschaftliche, politische und individuelle Freiheit zu
Lebensexperimenten nutzen.
n
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA
40 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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KONJUNKTUR DEUTSCHLAND
Konsumenten weiterhin
gut gelaunt
Die Bundesbürger blicken trotz
Euro-Krise und steigender Preise
für Energie und Lebensmittel
optimistisch in die Zukunft. Das
zeigt der Verbraucherindex der
Konsumentenkreditbank CreditPlus,
den das Institut exklusiv
für die WirtschaftsWoche
ermittelt. Dem Index liegt eine
repräsentative Befragung von
2000 Personen durch das
Marktforschungsinstitut Ipsos
zugrunde. Die Forscher befragten
die Konsumenten nach ihren
Erwartungen für den eigenen
Lebensstandard, ihrer
Anschaffungsneigung sowie ihrem
finanziellen Kaufpotenzial.
Der Gesamtindex, der zweimal
jährlich ermittelt wird, hat sich
im Herbst bei 105 Punkten
stabilisiert. Damit liegt er fünf
Punkte über seinem Wert zu
Beginn der Befragung Anfang
2006.
Eine deutliche Mehrheit der
Konsumenten (72 Prozent) ist
zuversichtlich, dass sich der eigene
Lebensstandard in den
nächsten Monaten verbessert.
Im Frühjahr lag dieser Anteil allerdings
noch bei 75 Prozent.
Ganz oben auf der Kaufliste der
Verbraucher stehen derzeit Möbel
und andere Einrichtungsgegenstände
– rund 17 Prozent
der Befragten wollen dafür
mehr Geld ausgeben. Auf den
Plätzen zwei und drei folgen
Reisen (15 Prozent) sowie höherwertige
Elektrogeräte (14
Prozent). Ein Auto wollen hingegen
nur vier Prozent der Befragten
kaufen. Die überwiegende
Mehrzahl der Bürger (86
Prozent) greift beim Kauf auf eigene
Ersparnisse zurück, lediglich
14 Prozent wollen Kredite
in Anspruch nehmen.
Trotz niedriger Zinsen und
der Furcht vor Inflation wollen
Stabil wie ein Fels in der Brandung
41 Prozent der Bürger ihr Anlage-
und Konsumverhalten nicht
ändern. Jeder Fünfte erwägt,
trotz Minizinsen mehr Geld in
Tages- und Festgeldkonten zu
stecken. 15 Prozent investieren
verstärkt in Aktien und Immobilien
– und 27 Prozent geben
ihr Geld lieber komplett aus, als
es zur Bank zu tragen.
malte.fischer@wiwo.de
Konsumklimaund Sparverhalten der Bundesbürger
110 Konsumklima*
Sparverhalten**
105
Ändere mein Spar- und
Konsumverhalten nicht 41%
Spare mehr auf Sparbuch
und Tagesgeldkonto
19%
100
95
Investiere mehr in Aktien
und Immobilien
Konsumiere und reise mehr
15%
14%
Kaufe mehr langlebige
Konsumgüter
13%
90
2006 07 08 09 10 11 12 13 Investiere mehr in Gold 3%
*Verbraucherindex 2006 =100; ** wie die Verbraucher auf die niedrigen Zinsen und
die Inflationsängste reagieren, Mehrfachnennungen möglich; Quelle: CreditPlus
Weniger Aufträge
für Industrie
Die deutsche Industrie hat
beim Auftragseingang einen
Rückschlag erlitten. Im Vergleich
zum Vormonat sind die
Bestellungen preis-, kalenderund
saisonbereinigt um 0,3
Prozent gefallen. Volkswirte
hatten mit einem Anstieg um
1,1 Prozent gerechnet, zumal
die Aufträge bereits im Vormonat
gesunken waren. Während
inländische Kunden 2,2 Prozent
mehr bestellten, gab die Nachfrage
nach deutschen Gütern
im Ausland spürbar nach (minus
2,1 Prozent).
Die Produktion in Deutschlands
Werkshallen hat derweil
wieder zugelegt. Der Output im
produzierenden Gewerbe kletterte
im August gegenüber Juli
um 1,4 Prozent. Im Vormonat
war die Produktion um 1,1 Prozent
gesunken. Die guten Daten
basieren vor allem auf einem
überraschend starken Output
der Automobilbranche.
Volkswirtschaftliche
Gesamtrechnung
Real. Bruttoinlandsprodukt
Privater Konsum
Staatskonsum
Ausrüstungsinvestitionen
Bauinvestitionen
Sonstige Anlagen
Ausfuhren
Einfuhren
Arbeitsmarkt,
Produktion und Preise
Industrieproduktion 1
Auftragseingänge 1
Einzelhandelsumsatz 1
Exporte 2
ifo-Geschäftsklimaindex
Einkaufsmanagerindex
GfK-Konsumklimaindex
Verbraucherpreise 3
Erzeugerpreise 3
Importpreise 3
Arbeitslosenzahl 4
Offene Stellen 4
Beschäftigte 4, 5
2011 2012
Durchschnitt
3,3
1,7
1,0
7,0
5,8
3,9
7,8
7,4
2011 2012
Durchschnitt
6,6
7,5
1,1
11,5
111,3
54,8
5,6
2,1
5,6
8,0
2974
466
28460
0,7
0,8
1,2
–4,8
–1,5
3,2
3,9
2,2
–0,9
–4,2
0,2
3,4
105,0
46,7
5,9
2,0
2,0
2,1
2897
478
29004
II/12 III/12 IV/12 I/13 II/13
Veränderung zum Vorquartal in Prozent
–0,1
0,1
–0,4
–3,0
–1,4
1,0
3,1
2,3
Juni
2013
2,1
4,5
–1,1
1,2
105,9
48,6
6,5
1,8
0,1
-2,2
2946
425
29348
1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in
Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;
alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters
0,2
0,1
0,7
–2,2
0,5
1,5
1,4
0,6
Juli
2013
–1,1
–1,9
–0,2
–0,8
106,2
50,7
6,8
1,9
0,0
–2,6
2941
425
29395
–0,5
–0,3
0,1
–2,0
–0,7
1,5
–2,4
–1,3
Aug.
2013
1,4
–0,3
0,5
1,0
107,6
51,8
7,0
1,5
–0,5
–
2950
426
–
0,0
0,8
–0,1
–0,6
–2,1
–1,1
–1,8
–2,1
Sept.
2013
–
–
–
–
107,7
51,1
7,0
1,4
–
–
2975
429
–
0,7
0,5
0,6
0,9
2,6
1,3
2,2
2,0
Okt.
2013
–
–
–
–
–
–
7,1
–
–
–
–
–
–
Letztes Quartal
zum Vorjahr
in Prozent
0,9
1,1
1,3
–1,2
1,2
3,1
1,1
1,4
Letzter Monat
zum Vorjahr
in Prozent
–3,0
0,1
0,3
–5,5
6,2
7,2
18,3
–
–
–
2,1
–9,8
1,2
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 41
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Der Volkswirt
SERIE: GEISTESBLITZE DER ÖKONOMIE (X)
Kleine beuten Große aus
Warum haben Interessengruppen so viel Macht? Mancur Olsons „Logik des kollektiven Handelns“
zeigt, wie Lobbyisten von demokratischen Entscheidungen Besitz ergreifen – und auf lange Sicht
die Wirtschaft ruinieren können.
Die deutsche Energiewende ist ein
Paradoxon der klassischen Sorte.
Innerhalb weniger Jahre ist aus dem
gesellschaftlichen Zukunftsprojekt eine
unkontrollierbare Umverteilungsmaschinerie
geworden. Auf der Gewinnerseite:
Landwirte, Investoren und ein paar spezialisierte
Unternehmen, zusammengerechnet
also nicht besonders viele Menschen.
Bei den Verlierern finden sich
hingegen die meisten Industriebetriebe
und alle Stromkunden, also viel mehr
Menschen. Warum lässt es die große
Mehrheit in einer Demokratie mit sich
machen, dass eine kleine Gruppe auf ihre
Kosten hohe Gewinne erzielt?
Um das zu verstehen, braucht man erstaunlich
wenig Wissen über Klima, Umwelt
oder Technik – es genügt ein Blick in
den politökonomischen Klassiker „Die Logik
des kollektiven Handelns“ von Mancur
Olson. Der US-Ökonom, der 1998 im Alter
von 66 Jahren starb, veränderte mit seinem
1965 veröffentlichten Werk das Bild von
Interessengruppen grundlegend. Zusammen
mit seinem folgenden Buch „Aufstieg
und Fall von Nationen“ fügte er der ökonomischen
Theorie ein Kapitel hinzu, das
diese bis dahin unter „ceteris paribus“ verbucht
hatte: die Struktur von Interessengruppen
in einer Ökonomie und ihren
Einfluss auf die Entwicklung derselben.
Sowohl in den Vereinigten Staaten nach
dem „New Deal“, der Staatsausgaben als
Konjunkturmotor predigte, als auch im
Nachkriegsdeutschland mit seinem rheinischen
Kapitalismus war der „Korporatismus“
die Theorie der Stunde. Sie ging davon
aus, dass Gewerkschaften und
Arbeitgeber für das Funktionieren der Demokratie
von großer Bedeutung seien. Die
Überzeugung lautete: Wenn alle Betroffenen
einer politischen Entscheidung ihre
Meinung beisteuern, findet sich wie von
selbst eine Regel, die der Gesellschaft am
besten dient. Je größer eine Gruppe, desto
lauter artikuliert sie sich. Interessengruppen
spiegeln daher letztlich die gesamtgesellschaftlichen
Verhältnisse wider.
Daran allerdings wollte Olson nicht
glauben, schließlich sah die wirtschaftliche
Realität reichlich trist aus. In den USA
herrschte Stagflation, die große alte Demokratie
Großbritannien war von übermächtigen
Gewerkschaften gelähmt. Stattdessen
reüssierten nach dem Krieg die
Ex-Diktaturen Deutschland und Japan.
Olson machte für diese Unterschiede eine
Gruppe verantwortlich, die bis dahin
keiner auf der Rechnung hatte: Lobbyisten.
In seiner Arbeit ging er von der Frage
aus, wann es überhaupt zu kollektivem
Handeln innerhalb einer Gruppe von Personen
kommt, die grundsätzlich das gleiche
Interesse haben. Eine überraschende
Erkenntnis stand gleich am Anfang: Es ist
ziemlich unwahrscheinlich, dass sich
Entertainer im Elfenbeinturm
Olson vermied ökonomische Fachsprache
Gruppen überhaupt organisieren. „Dass
das Ziel der Gruppe gemeinsam ist, bedeutet,
dass der Gewinn aus jedem Opfer,
das der Einzelne im Dienste des gemeinsamen
Zweckes macht, mit jedem in der
Gruppe geteilt wird“, beschreibt Olson das
Dilemma kollektiven Handelns.
Ein klassisches Beispiel dafür sind Gewerkschaften.
Wer sich hier beteiligt, muss
Geld (Mitgliedsbeitrag) und Zeit (Demonstrationen)
einbringen, auch seine
Aufstiegschancen im Unternehmen sinken
eher. Hat er mit dem Einsatz Erfolg
(höhere Tariflöhne), profitieren davon
aber alle Mitarbeiter, egal, ob sie in der Gewerkschaft
sind oder nicht. Im Verhältnis
zum persönlichen Ertrag ist der Einsatz
ziemlich hoch.
GRUPPENGRÖSSE ENTSCHEIDEND
Dennoch gibt es in der Realität viele Fälle
kollektiven Handelns. Nach Olsons Theorie
gibt es dafür zwei Erklärungen. Zum einen
ist die Größe der Gruppe ausschlaggebend.
In kleinen Gruppen kann sich das
Missverhältnis zwischen Einsatz und Ertrag
verändern. Unter Umständen ist der
Ertrag eines Einzelnen so hoch, dass es
sich lohnt, die Interessenvertretung allein
in die Hand zu nehmen. Aktuelles Beispiel:
die Autoindustrie. Hier gibt es nur
wenige bedeutende Unternehmen, die zudem
sehr hohe Umsätze erzielen. Wenn
Gesetzgebungspläne (zum Beispiel die in
diesem Jahr bekannt gewordene Kühlmittelverordnung
der EU) ihre Gewinnchancen
stark beeinflussen, kann es sich für ein
einzelnes Unternehmen (Daimler) lohnen,
alleine die Kosten der Lobbyarbeit
dagegen zu tragen, auch wenn die Konkurrenz
davon ebenfalls profitiert.
Schwieriger wird es in mittelgroßen
Gruppen, in denen sich für Einzelne die
selbstständige Bereitstellung des Kollektivgutes
nicht mehr lohnt. Andererseits sind
sie aber noch so klein, dass der Beitrag ei-
FOTOS: UNIVERSITY OF MARYLAND, ACTION PRESS; ILLUSTRATION: KRISTINA DÜLLMANN
42 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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etwas durch, das der gesamten Wirtschaft
nützt, profitieren auch Nichtmitglieder.
Sorgen sie für Umverteilung, kommt der
Vorteil nur ihrer Gruppe zugute. Damit
sich eine Interessengruppe, die ein Prozent
der Wirtschaft vertritt, für ein Projekt
einsetzt, das der gesamten Wirtschaft
nützt, müsste der erwartete absolute Gewinn
also 100 Mal höher sein als bei einem
Projekt, das zu Umverteilung führt.
Umzingelt von Interessen Bundeskanzlerin Merkel mit Ministern
und Lobbyisten beim Energiegipfel im Frühjahr 2013
nes Einzelnen zumindest auffällt. In diesen
Gruppen kann es durch Austausch
und sozialen Druck gelingen, sich auf ein
gemeinsames Handeln zu verständigen.
In großen Gruppen fallen diese Anreize
weg. Dies kann sich nur ändern, wenn es
den Initiatoren der Kollektivhandlung gelingt,
selektive Anreize zu schaffen, die
direkt mit der Arbeit in der Gruppe zusammenhängen.
Beispiele für negative Anreize
sind der gesetzliche Zwang zur Mitgliedschaft
(wie bei Kammern) oder gar
die Gewalt gegen Trittbrettfahrer, wie sie
in den Anfangsjahren der Gewerkschaften
durchaus üblich war. Heute spielen positive
Anreize, etwa Sonderkonditionen bei
Versicherungen oder der gewerkschaftliche
Rechtsschutz, eine wichtigere Rolle.
Große Gruppen, denen auch diese Anreize
nicht zur Verfügung stehen, bleiben hingegen
weitgehend unorganisiert – etwa
Hartz-IV-Empfänger, Verbraucher oder
Steuerzahler.
Diese unterschiedlichen Chancen auf
Interessenartikulation haben laut Olson
eine dramatische Konsequenz: „Es besteht
eine systematische Tendenz zur Ausbeutung
der Großen durch die Kleinen.“
Damit hat Olson das Bild von Interessengruppen
grundsätzlich gewandelt. Die
Annahme, dass sie die Interessen der Gesellschaft
proportional abbilden, ist seitdem
ins Reich der Legenden verbannt.
Doch er ging noch weiter. In seinem zweiten
Buch „Aufstieg und Niedergang von
Nationen“ (1982), laut Olson die „Anwendung“
der zuvor entwickelten Logik,
macht er Interessengruppen für das Auf
und Ab der gesamten Wirtschaft verantwortlich.
Seine These: Je stärker Interessengruppen
werden, desto schlechter geht
es der Wirtschaft eines Landes. Aus einer
wachstumsorientierten Gesellschaft wird
eine „rent seeking society“.
Da der Prozess, sich zu organisieren, gerade
in großen Gruppen kompliziert ist,
dauert es einige Zeit, bis sie sich bilden. Es
ist deshalb davon auszugehen, dass ihre
Anzahl zunimmt, je länger eine stabile Demokratie
besteht. Diese Interessengruppen
haben dann ein grundsätzliches Anliegen:
Sie wollen die Einkommen ihrer
Mitglieder erhöhen. Das klappt, wenn die
Gesamtwirtschaft wächst oder der Kuchen
entsprechend umverteilt wird. In der Praxis
streben die Lobbyisten laut Olson aber
allein nach Umverteilung. Denn setzen sie
SERIE
Geistesblitze der Ökonomie
Können ökonomische Theorien, die vor
30, 50 oder gar 100 Jahren entstanden,
mehr sein als Stoff für historische Abhandlungen?
Ja, sie können! In einer Serie beschreibt
die WirtschaftsWoche zentrale
Ideen der VWL, die ihre Zeit überdauert
haben – und uns bis heute helfen, die
Wirtschaft besser zu verstehen.
Bisher erschienen:
Heft 28: die Investitionsfalle von Keynes
Heft 29: das Coase-Theorem
Heft 30: die Tobin-Steuer
Heft 31: die Hotelling-Regel
Heft 32: das Solow-Wachstumsmodell
Heft 33: das Nash-Gleichgewicht
Heft 37: die Gossen’schen Gesetze
Heft 40: die Effizienzmarkt-Hypothese
Heft 41: die Ricardianische Äquivalenz
Alle Beiträge unter wiwo.de/geistesblitze
INSTITUTIONELLE SKLEROSE
Diese Strategie verändert auch die Verhaltensweisen
von Unternehmen grundlegend.
Wie die deutsche Energiebranche
lehrbuchhaft zeigt, streben sie statt nach
mehr Produktivität nach Umverteilung.
„Es gibt Evolution im Dschungel wie im
Zoo“, schreibt Olson plakativ. „Jede Gesellschaft,
was auch immer ihre Ideologien
sein mögen, gibt den am besten Angepassten
die größte Belohnung.“ Am Ende der
Entwicklung steht eine Gesellschaft mit
„institutioneller Sklerose“, beherrscht von
innovationsfeindlichen Kartellen. Das
Land erstarrt und fällt zurück.
So schlüssig Olsons Logik daherkommt,
30 Jahre nach ihrem Entstehen muss sie
doch als teilweise widerlegt gelten. In den
Jahren nach der Veröffentlichung geschah,
was Olson für unmöglich gehalten hatte:
Die Zahl der Interessengruppen verringerte
sich, anstatt zu wachsen. In einer internationalen
Periode der Deregulierung
nahm die Macht von Kartellen ab. Zugleich
zeigten sich manche Interessengruppen
– etwa die deutschen Gewerkschaften
– in wirtschaftlichen Krisen offen
für Veränderungen, die ihrer Klientel vordergründig
eher schadeten, der Gesamtwirtschaft
aber nutzten. Sie legten also
eine Vernunft an den Tag, die Olson für
unmöglich gehalten hatte.
Zugleich existieren einige Wirtschaftszweige
und im Süden Europas gar ganze
Ökonomien, die offensichtlich den Weg
zur „rent seeking society“ genommen haben.
Der berechtigte Zweifel an der Allgemeingültigkeit
von Olsons Theorie ändert
daher nichts an ihrer Bedeutung: Wie das
Beispiel der deutschen Energiewende
zeigt, ist sein Werk geeignet, die Lobbyprozesse
in einer Demokratie und ihre oft
irrationalen Ergebnisse zu verstehen.
Es ist eine Mahnung, was passieren
kann, wenn korporatistische Systeme den
demokratischen Staat kapern.
n
konrad.fischer@wiwo.de
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 43
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Der Volkswirt
DENKFABRIK | Der Mindestlohn macht zunichte, was die rot-grüne Regierung unter
Bundeskanzler Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 erreicht hat: den Abbau
der Langzeitarbeitslosigkeit, neue Jobs für gering Qualifizierte. Von Hans-Werner Sinn
Das Rezept für Stagflation
Vor zehn Jahren hat
Gerhard Schröder mit
seiner Agenda 2010
die impliziten Mindestlöhne
des deutschen Sozialsystems
gesenkt. Er hat die Arbeitslosenhilfe
abgeschafft und
es mehr als zwei Millionen
Deutschen zugemutet, stattdessen
mit der Sozialhilfe vorlieb zu
nehmen, die er Arbeitslosengeld
II nannte und um einen
Lohnzuschuss in Form von Hinzuverdienstmöglichkeiten
ergänzte,
den Kritiker fälschlicherweise
als „Aufstockung“
bezeichnen. Indem er weniger
Geld fürs Wegbleiben und mehr
fürs Mitmachen gab, hat er die
Mindestlohnansprüche der
Betroffenen gesenkt. Das hat
die Lohnskala nach unten hin
ausgespreizt, im Niedriglohnbereich
viele neue Stellen
geschaffen und die Langzeitarbeitslosigkeit
reduziert.
EIN JOBWUNDER
Deutschland, der allseits bemitleidete
OECD-Weltmeister bei
der Arbeitslosigkeit der gering
Qualifizierten, hatte sich zu einer
substanziellen Arbeitsmarktreform
aufgerafft, die mithalf, ein
Jobwunder hervorzubringen,
um das wir heute von unseren
Nachbarn beneidet werden. Die
Arbeitslosigkeit ging von zwölf
Prozent im Jahr 2005 auf nur
noch etwa sieben Prozent in diesem
Jahr zurück. Auf der Basis
der heutigen Erwerbspersonen
gerechnet, entspricht das einem
Rückgang der Arbeitslosenzahl
um 2,2 Millionen. Interessanterweise
sind das genauso viele
Menschen, wie seinerzeit durch
die Agenda von der Arbeitslosenhilfe
auf die Sozialhilfe
herabgestuft wurden.
Die Agenda bedeutete zugleich
eine erhebliche Entlastung der Sozialsysteme,
denn trotz der Lohnzuschüsse
sparte der Staat viel
Geld, weil er weniger Arbeitslose finanzieren
musste. Der Anteil der
Ausgaben für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger
am BIP ging in
der Zeit von 2005 bis 2012 von 3,7
Prozent auf 2,4 Prozent zurück.
Das entspricht auf der Basis des
heutigen BIPs einer Entlastung
des Staates um 35 Milliarden Euro
pro Jahr.
Besonders bemerkenswert ist,
dass die Ungleichheit nicht zunahm,
denn es erwies sich für viele
Arbeitnehmer als besser, einen
schlecht bezahlten Job zu haben,
»Wenn Deutschland
in eine
neue Flaute
kommt, hilft das
niemandem«
der durch das Arbeitslosengeld II
aufgebessert wurde, als keinen
Job – ganz abgesehen vom Schutz
vor sozialer Ausgrenzung durch Arbeitslosigkeit,
der den Betroffenen
zusätzlich zugutekam. Nach einer
Dokumentation der in dieser
Hinsicht unverdächtigen Hans-
Böckler-Stiftung fiel der Gini-Koeffizient,
der die Ungleichheit der
deutschen Einkommensverteilung
(nach Steuern und Transfers)
misst, sogar von 29 Prozent im
Jahr 2005 auf 28 Prozent im Jahr
2010. Schröder verlor über der Reform
seinen Posten, aber Deutschland
gewann den sozialen Frieden.
Das Erreichte steht bei den anstehenden
Koalitionsverhandlunder
von unten her hochgestaucht,
die Arbeitslosigkeit der gering
Qualifizierten nimmt wieder zu,
die Langzeitarbeitslosigkeit wird
erneut zum Thema, und die Sozialsysteme
werden wieder teurer.
Der soziale Frieden wird gefährdet,
weil sich die Einkommensverteilung
nicht verbessert, jedoch
wieder mehr Menschen aus dem
Arbeitsprozess ausgegrenzt werden.
Der Jubel der ökonomischen
Laienprediger für den Mindestlohn
wird nach wenigen Jahren einer
bitteren Ernüchterung weichen.
Der Hauptgrund dafür, dass die
Effekte dramatisch sein werden,
liegt im Euro-Verbund. Die Lohner-
gen nun auf dem Spiel. Ob CDU
und CSU mit den Grünen oder der
SPD koalieren: Beide Parteien haben
einen gesetzlichen Mindestlohn
von 8,50 Euro gefordert und
werden schwerlich davon abzubringen
sein. Ein solcher Mindestlohn
wird das Rad der Geschichte
wieder in die Zeit vor Schröder zurückdrehen,
denn er wird erhebliche
Lohnerhöhungen erzwingen.
Immerhin beziehen im Westen
circa 15 Prozent und im Osten circa
27 Prozent der Arbeitnehmer,
insgesamt etwa sechs Millionen
Menschen, einen Lohn, der niedriger
ist. Was passieren wird, ist das
Gegenteil dessen, was schon passiert
ist. Die Lohnskala wird wiehöhung
am unteren Ende der
Lohnskala wird nämlich Kettenwirkungen
haben, die weit über
das hinausgehen, was ökonometrische
Studien in England
oder den USA, die beide über
eigene Währungen mit einem
flexiblen Außenwert verfügen,
zeigen können. Ein Teil der
Lohnerhöhung der Geringverdiener
wird sich wegen der Trägheit
der Lohnabstände in den
mittleren Lohnbereich und damit
auch in das Preisniveau der
deutschen Güter übertragen.
Dadurch kommt es zu einer realen
Aufwertung Deutschlands
gegenüber den Euro-Partnern,
die die Vorteile der realen Abwertung
im Euro-Verbund, von
der Deutschlands Arbeitsmarkt
profitiert hat, wieder zunichtemacht.
NICHT KAUFEN
Man könnte meinen, das sei genau
das Richtige, um Griechenland
und Co. wieder wettbewerbsfähig
zu machen. Indes
brauchen diese Länder eine
deutsche Nachfrageinflation,
wie sie sich wegen der Umlenkung
der Kapitalströme nach
Ausbruch der Finanzkrise in
Form des deutschen Baubooms
auch schon zeigte. Was sie nicht
brauchen, ist die Stagflation,
die durch den gesetzlichen Mindestlohn
erzeugt wird. Wenn
Deutschland die Produkte Südeuropas
nicht kaufen kann, weil
es durch einen politisch verordneten
Kostendruck in eine neue
Flaute kommt, hilft das niemandem.
Hans-Werner Sinn ist Präsident
des ifo Instituts und Ordinarius
an der Ludwig-Maximilians-
Universität in München.
FOTO: ROBERT BREMBECK FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
44 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
Dirk Baur
Entdecker
Will jungen Leuten die Tür
aufschließen, auch für Jazz und
Songs exotischer Herkunft
Brachte 2012 Lieder aus zehn
Ländern in die deutschen
Top-30-Single-Charts
Die Männer im Hintergrund
Universal-Manager Baur, Bohne,
Die Männer im Hintergrund
Universal-Manager mit Pappfiguren
ihrer Top-Stars Robbie
Williams und Abba
Tom Bohne
Trüffelsucher
Will möglichst viele neue
Künstler zu Stars machen
2012 verkauften 15 Universal-
Neulinge jeweils mehr als
100 000 CDs
Christoph Gersten
Hüter des Archivs
Sein Job: durch aufwendige
und originelle Verpackung
bereits veröffentlichter Musik
ältere Kunden beglücken
Zielgruppe:
Plattenkäufer über 40
46 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Fabrik der Klänge
UNIVERSAL MUSIC | Der weltgrößte Musikkonzern
zeigt seiner Zunft und der angeschlagenen
Medienbranche, wie sie die Digitalisierung nutzen
und trotz Gratisangeboten und Piraterie mit
Inhalten profitabel wachsen kann.
Holger Christoph
Digital-Macher
Möchte via Internet
junge Kunden zum
Musikkauf animieren
Universal-Facebook-
Kontakte: 300 Millionen/
Monat
Vor dem Auftritt ist Frank Briegmann
ein wenig unruhig. Der
46-Jährige mit dem prägnanten
Kinn hat in der Veranstaltungshalle
O2-World im Berliner Osten
gleich seinen wohl wichtigsten Auftritt
des Jahres. Und nach ihm kommen auf die
Bühne Geigenvirtuosin Anne Sophie Mutter,
Schlager-Superstar Helene Fischer und
Kölsch-Rocker Wolfgang Niedecken.
Dabei ist Nervosität völlig unnötig. Denn
wenn Briegmann – dezent gebräunt, im
schmalen, blauen Maßanzug und mit
Zahnlücken-Lächeln – auch als Jazz-Sänger
oder neuer Howard Carpendale durchginge:
Der Westfale ist kein Anheizer der
Stars – er macht sie. Briegmann leitet beim
weltgrößten Musikkonzern Universal Music
das Mitteleuropa- und Skandinavien-
Geschäft und gehört zur globalen Chefetage
der gut 4,5 Milliarden Euro Umsatz
schweren Tochter des Pariser Vivendi-
Konzerns. Und an diesem Dienstag im
September präsentiert er in Berlin Medien,
Mitarbeitern und gut 100 der wichtigsten
Plattenhändlern Mitteleuropas, mit welchen
Sounds und Scheiben sein Haus im
Weihnachtsgeschäft bei allen Anwesenden
die Kassen süßer klingen lassen will.
Den Klang beherrscht in der Branche
derzeit keiner so gut wie Universal. Wie im
Vorjahr meldete der lange krisengeschüttelte
Konzern nicht nur Gewinn und als
einziger Mehreinnahmen beim Verkauf
von Pop, Jazz und Klassik. Im ersten Halbjahr
2013 riss der Herr der Klänge sogar
den deutschen Musikmarkt aus gut zehn
Jahren Siechtum und sorgte für ein Umsatzplus
von 1,5 Prozent. Und das trotz des
anhaltenden Schrumpfkurses bei den Majors
genannten Musikfabriken Sony und
Warner sowie Mittelständlern wie der
Hamburger Edel-Gruppe oder Goodtogo
aus Köln. 2012 stammte jeder zweite der 30
meistverkauften Songs von Universal. „Die
sind wie Bayern München: auf Erfolg programmiert“,
sagt Stefan Zarges, Chefredakteur
des Branchenmagazins „Musikmarkt“
und Chef des gleichnamigen Verlags.
In der O2-Arena genießt Briegmann daher
den Jubel. „Jetzt sind wir die Avantgarde“,
ruft er, „wir sind die erste Medienbranche,
die mit ihren Inhalten digital Geld verdient
– und das fühlt sich gut an.“
Tatsächlich zeigt Universal nicht nur der
eigenen gebeutelten Zunft, sondern der
ganzen Medienbranche, wie sie die Digitalisierung
nutzen und trotz Gratisangeboten
und Piraterie profitabel wachsen kann. Auf
der Partitur stehen: durch Zukäufe zulegen,
effizienter arbeiten, durch gezieltere
Vermarktung auch der Archive verlorene
Kunden zurückerobern, mutig experimentieren
mit neuen Bezahlangeboten wie
Streaming sowie Social-Media-Seiten wie
Facebook. Und schließlich neue margenstarke
Produkte anbieten wie Fanartikel,
Dienstleistungen für Künstler sowie Kooperationen
mit TV-Sendern und Banken,
die Musik für ihre Werbung nutzen.
Die Teile dieses Rettungspakets greifen
immer besser ineinander. So gut, dass Marcel
Fenez, in Hongkong ansässiger oberster
Medienspezialist der Beratung PwC, einen
„Paradigmenwechsel im Musikbusiness“
konstatiert. So melden 9 der weltweit 20
größten Märkte wieder steigende Umsätze.
Auch in Deutschland sieht Fenez die Wende
geschafft. Für ihn ist 2013 das Wachstum
im Digitalgeschäft erstmals größer
»
FOTO: ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 47
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Unternehmen&Märkte
Frank Briegmann
Der Chef
Der beim Amtsantritt 2004
als Sparkommissar verrufene
Manager brachte Universal eine
gesunde Mischung aus
nüchterner Betriebswirtschaft
und kreativer
Atmosphäre
»
als das Minus bei physischen
Tonträgern und
sorgt bis 2017 für ein
Wachstum von im
Schnitt 0,8 Prozent.
Doch noch sind Universal
und Co. nicht über
den Berg. Denn das genesende
Geschäft lockt große
Player vom Medienriesen
Disney über Computerhersteller
Apple bis zum Online-Kaufhaus
Amazon. „Da stehen viele in den Startlöchern,
um sich ihren Teil des Marktes zu sichern“,
sagt Hartwig Masuch, Chef der Bertelsmann-Musikrechtetochter
BMG.
Das Comeback hätte nicht nur Briegmann
noch vor fünf Jahren kaum so
schnell für möglich gehalten. Damals traf
der Strukturwandel in Richtung Digitalgeschäft
die Plattenindustrie hart. Seit dem
Allzeit-Umsatzhoch Ende der Neunzigerjahre
hatten die Musikverkäufer die Hälfte
ihres Umsatzes von einst weltweit gut 30
Milliarden Dollar und 50 Prozent ihrer Beschäftigten
verloren. „Besonders junge
Kunden besorgten sich Musik zunehmend
illegal. So lernte eine ganze Generation von
Fans, dass Musik für sie zwar wertvoll, aber
auch kostenlos war“, sagt Experte Zarges.
Klingende Kassen
Geschäftszahlen der größten Musikkonzerne
Umsatz
(in Millionen Euro)
Umsatzanteil Verlag +
Fanartikel (in Prozent)
Operatives Ergebnis
(in Millionen Euro)
Operative Marge
(in Prozent)
4544 (+8,3 %) 3655 (-0,2 %) 2162 (-3%)
20,0%
525* (+3,6 %)
*ohne Einmal-Effekt aus Kauf EMI; Quelle: Firmenangaben, für jüngstes Geschäftsjahr
21,0% 18,8 %
308 (+1,2 %) 85 (+240 %)
11,6 % 8,4 % 3,9 %
RETTUNG VOM RÜSTUNGSMANN
Die Trägheit der Majors nutzten Branchenfremde
wie Apple und später Amazon. Mit
ihren virtuellen Läden wie iTunes dominieren
sie heute das Digitalgeschäft mit
Musik und diktieren die Bedingungen. Da
sie vom Verkaufserlös rund 30 Prozent einbehalten,
sind sie „noch rentabler als die
Musikindustrie in der besten Zeit“, sagt Tim
Renner, der vor Briegmann Universal leitete
und heute mit seiner Firma Motor Stars
wie Marius Müller-Westernhagen betreut.
Doch Universal hat aufgeholt. Operativ
schaffte der Konzern 2012 wieder eine Gewinnmarge
von 11,6 Prozent. Das liegt vor
allem daran, dass mit Leuten wie Briegmann,
der auch im Beirat Ost der Deutschen
Bank sitzt, nüchternes Kalkül den
branchentypischen Wahnsinn dominiert.
In Briegmanns Büro im obersten Stock des
zur Europazentrale ausgebauten ehemaligen
Eierspeichers im Berliner Osthafen ist
denn auch keine Spur von kreativem Chaos
zu finden. Statt vergilbte Poster einstiger
Rockgrößen zieren geschmackvolle Künstlerporträts
in Schwarz-Weiß die Wände.
Gestartet hat das Projekt Disziplin ein
Rüstungsmanager: Jean-Bernard Lévy. Der
hatte zuvor ein Vorgänger-Unternehmen
48 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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FOTOS: ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PR
des Luftfahrtkonzerns EADS geleitet und
ersetzte 2002 Jean-Marie Messier als Vivendi-Chef.
Messier hatte Ende 2000 vom
kanadischen Mischkonzern Seagram das
unter dem Namen Universal gebündelte
Mediengeschäft gekauft und Vivendi zwölf
Milliarden Euro Schulden aufgebürdet.
Der kühle Macher Lévy, heute Chef des
Rüstungskonzerns Thales, startete ein
Sparprogramm, das die Gehälter führender
Manager von angeblich bis zu zehn
Millionen Dollar kappte und dem Musikgeschäft
einen Crashkurs in Sachen Effizienz
verpasste, nach den Standards der
Vivendi-Sparten Telekom und Videospiele.
Zugleich holte er Kreative an die Spitze
wie Ex-Künstlerbetreuer Lucien Grainge,
der 2011 Universal-Chef wurde, und Starproduzent
Jimmy Iovine. „Darum herrscht
da nicht nur klassische Controller-Denke“,
lobt Ex-Universal-Mann Renner. „Wer nur
vorhandene Musikrechte auswerten will,
statt in Neues zu investieren, stößt bei Jimmy
und Lucian auf taube Ohren.“
Dominante Konzerne
Anteileanden verkauften Top-100-CDs (Januar bis September 2013, in Prozent)
Alben
Singles
1,9
2,3
Unternehmen
2,8
3,1
Unternehmen
6,6
Universal
Universal
8,1
Sony
19,2
Sony
13,1
44,6 Warner
49,6 Warner
GoodtoGo
GoodtoGo
25,3
Kontor/Edel
23,4
Kontor/Edel
Andere
Andere
Quelle:Musikmarkt
SCHNULZEN UND RAMMSTEIN
Wer wissen will, wie Universal den Spagat
zwischen Kunst und Kosten hinbekommt,
muss Tom Bohne besuchen. Der oberste
Talentscout für Deutschland bleckt die
weißen Zähne gern zum „Ich bring dich
groß raus“-Lächeln und verbaut sich den
Blick auf die Spree scheinbar achtlos mit
CD-Stapeln und Verkaufsauszeichnungen.
Doch er arbeitet, als stünde er in Diensten
eines Konsumgüterriesen. Ein Song ist
ein Produkt, und Bohne erweitert kühl die
Palette. Als Erster erkannte Universal nach
der Jahrtausendwende, dass Musikfans zunehmend
Stars aus den eigenen Gefilden
bevorzugen, und stellte lokales Geschäft
auf eine Stufe mit dem Import-Business. So
setzte Bohne auf deutsche Bands wie Tokio
Hotel. Und er erweitert die Bandbreite: Seine
Wände zieren Fotos und Auszeichnungen
für Hunderttausende verkaufte Platten
von Stars wie Schnulzen-Spezialist Semino
Rossi bis zu den Brachial-Provokateuren
Rammstein. „Wir nehmen jedwede Art von
Künstler unter Vertrag, wenn er uns Erfolg
versprechend erscheint, und wollen alle
Felder des Marktes besetzen“, sagt Bohne,
„ab und zu fehlt noch was im Portfolio –
wie aktuell ein junger Schlagerstar.“
Dazu haben Betriebswirt Bohne und
sein Team die bislang vorherrschenden
Faktoren Bauchgefühl und Liebe zur Musik
durch ein solides Produktmanagement ergänzt.
„Unsere Aufgabe ist es, Künstler zu
begleiten und zu beraten“, sagt Bohne. Dazu
gehören Marktforschung bei Zielgruppen,
Produktgestaltung mit der passenden
Verpackung sowie ein flexibler Werbeplan.
Bekamen Künstler früher je nach Umsatzerwartung
automatisch teure Fernsehwerbung
oder billigere Anzeigen in Musikmagazinen,
lotet Universal nach dem Vorbild
der Independents vor allem bei Facebook,
auf Blogs und bei Twitter aus, wie
Fans reagieren. „Wir achten sehr genau auf
die Trends und Stimmungen und stoßen
aktiv Wellen an“, sagt Bohne. „Wir können
Zielgruppen sehr genau anvisieren“, ergänzt
Briegmann, „wir haben jetzt erstmals
adressierbare Kunden.“
Damit setzt Universal in der Branche den
Maßstab. Auch unabhängige Künstler wissen
um die Macht der Majors. „Die sind gut
darin, Trends früh zu sehen und durch eine
große und gewiefte Marketingmaschine
gezielt zu verstärken“, sagt Piet Blank vom
Kölner Produzententeam Blank & Jones.
Die zweite Hilfe für Universal aus der Pariser
Zentrale war eine volle Kriegskasse.
Rolling Stones
Die Box vereint die 14 Platten der
Rocker seit 1971. Im schweren
180-Gramm-Vinyl klingen die neu gemischten
Songs voller als die Originale.
Nur den Hüllen fehlen Gimmicks wie
der Reißverschluss auf „Sticky Fingers“.
469,99 Euro
Der Kauf der EMI Ende 2012 mit Künstlern
wie den Beatles war nur der Abschluss einer
globalen Einkaufstour von Unternehmen
wie Arsenal in Brasilien bis zum chinesischen
Joint Venture Sum Entertainment.
In der Summe, so Branchenkenner,
habe Universal seit Ende 2000 wohl an die
20 Milliarden Euro ausgegeben.
Dadurch profitiert Universal heute vom
globalen Wachstum, da der Musikmarkt
laut PwC in Ländern wie Indien, China
oder Indonesien im Gegensatz zur Alten
Welt bis 2018 um im Schnitt bis zu 18 Prozent
wächst. Es beschert dem Konzern zugleich
Überraschungshits wie „Ai Se Eu Te
Pego“ vom Brasilianer Michel Teló, die
Universal nach den ersten Erfolgen sofort
weltweit vermarktet. „Man braucht schon
eine gewisse Größe, um auch Fehler machen
zu können, die einem nicht gleich das
Genick brechen“, sagt Briegmann.
Zur Betriebswirtschaft à la Universal zählt
zudem, mehr aus dem vorhandenen Kapital
– also der Musik – herauszuholen. Wie das
geht, zeigt Christopher Gersten, ein Musikfan
im Kostüm eines Controllers in Prada-
Schuhen, der sich auf den Job als Vermarkter
der Archivschätze durch Betriebswirtschaftsstudien
in Oxford und Singapur vorbereitet
hat. In seinem Büro wirkt das Schälchen
mit Schokoriegeln ein wenig fremd,
denn der Platz gehört den großformatigen
CD-Boxen wie der bei Amazon 649,99 Euro
teuren „Über Deluxe Edition“ des Albums
„Achtung Baby“ der irischen Rocklegende
U2 und anderen Musikschätzen.
Die üppigen Plattenpakete sind der wohl
lukrativste Teil des Geschäfts mit CDs, mit
denen die Musikkonzerne dem Digital-
Hype zum Trotz hierzulande noch mehr als
70 Prozent ihres Umsatzes bestreiten. An
der Spitze stehen dabei Gerstens Edelboxen:
„Richtig gemacht, sind solche Boxen
keine schlichten CDs mehr, sondern
»
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 49
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Unternehmen&Märkte
»
etwa durch unveröffentlichte
Titel oder
aufwendige Fotobücher
Lifestyle-Produkte,
die die Fans auf ihrem
Sofatisch auslegen.“
Wie beim Management ist
Universal auch Vorbild bei der
Digitalisierung. Zwar hat sich der Konzern
beim Online-Verkauf „aus Angst ums
Geschäftsmodell lange treiben lassen“, sagt
Renner. Aber jetzt gibt der Riese Gas und
experimentiert – früher als das Gros der
Medienbranche – auf breiter Front.
REVOLUTIONÄRE MÖNCHSZELLE
Die Revolution findet statt am wohl unauffälligsten
Ort im Berliner Universal-Komplex.
Das Büro von Digitalchef Holger
Christoph ginge in seiner schlichten Art
praktisch ohne Möbel fast als Mönchszelle
durch – wären da nicht die rund ein Dutzend
wie achtlos auf dem Boden abgestellten
Rahmen mit Trophäen für mehrere
Millionen Downloads von Songs wie „Diamonds“
der US-Soul-Sängerin Rihanna.
Wahrscheinlich ist Christoph bloß noch
nicht zum Einrichten gekommen. Denn
der Herr des Digitalen und seine 15 Mitarbeiter
verbringen ihre Zeit eher im Internet.
So stellte Universal nicht nur als erster
großer Musikkonzern gut 60 Internet-Musikläden
vom Marktführer iTunes bis zu
kleinen Shops die eigenen Inhalte zur Verfügung.
„Damit legale Angebote erfolgreich
sind, müssen sie für den Kunden in
erster Linie einfach und bequem zu nutzen
sein“, sagt Christoph.
Universal-Jungstar
Carly Rae Jepsen
Die 27-jährige Amerikanerin
setzte Maßstäbe mit dem Video
zur Single „Call Me Maybe“, das
viele Parodien auslöste und
den Titel unter die
Top-Hits 2012 hob
Der Konzern bestückt
auch rund 20 Streaming-Portale
wie Spotify
oder Simfy. Hier
können die Kunden ihr
Musikprogramm individuell
aus mehr als 20 Millionen
Titeln zusammenstellen
und per Knopfdruck hören. Finanziert
wird das über Werbeeinblendungen oder
Monatsgebühren von fünf bis zehn Euro
(siehe Kasten Seite 51). Vom Umsatz landen
etwa 70 Prozent bei den Plattenfirmen.
Christoph: „Jedes Mal, wenn ein Hörer einen
unserer Acts anklickt, ist das gut für
uns und unsere Künstler.“
Ein Modell, von dem sich zum Beispiel
Buchverlage eine Scheibe abschneiden
könnten, findet nicht nur Verleger Zarges:
„Haben Sie mal versucht, im Buchladen
ein E-Book für Ihr Lesegerät zu kaufen und
zu laden?“ Erste Ansätze dazu liefern die
Schwindende Scheiben
Globaler Musikmarkt (inMio.Dollar)
60
50
40
Tonträger
30
Digital
20
10
Konzerte
0
2008 09 10 11 12 13 14 15 16 17
Quelle: PwC
Buchketten Hugendubel, Thalia und Weltbild,
die seit dem Frühjahr gemeinsam das
Lesegerät Tolino vermarkten. Mit Bezahlinhalten
experimentiert der Springer-Verlag,
der für seine Zeitungen „Welt“ und
„Bild“ unterschiedliche Modelle testet.
GELD AUS ALLEN RICHTUNGEN
Das Digitalgeschäft ist zugleich die dritte
Basis der Erfolgsgeschichte Universal:
neue Einnahmequellen durch neue Produkte,
Geschäft abseits der Tonträger und
ungewöhnliche Kooperationen. Noch vor
zehn Jahren verkauften Plattenfirmen fast
ausschließlich CDs, und die möglichst nur
in einer Form. „Heute sind wir ein Vollsortimenter
und bieten Musik nicht nur in fast
allen Richtungen an, sondern auch in Varianten
für jeden Geldbeutel“, sagt Dirk Baur.
Er entscheidet, was Universal an Rock- und
Popveröffentlichungen aus dem Rest der
Welt und an Jazz herausbringt.
Baur sitzt auf einem Schatz legendärer
Jazz-Platten der Universal-Label Blue Note
oder Verve. Um den zu heben, wollen „wir
Jazz für neue Zielgruppen öffnen und suchen
Künstler, die gerade für junge Leute
die Tür aufschließen“, sagt Baur. Daher bittet
er DJs, alte Songs aufzufrischen. „Wir
fragen Künstler, mit welchem Musiker anderer
Genres sie gern zusammenarbeiten
möchten oder machen selbst Vorschläge.“
Jüngstes Werk ist die Kooperation des norwegischen
Trompeters Nils Petter Molvaer
mit Techno-DJ Moritz von Oswald.
Wichtig ist auch die richtige Verpackung
für jede Zielgruppe. Das jüngste Elton-
John-Album „The Diving Board“ brachte
FOTOS: PHOTOSHOOT/RETNA PICTURES/TONY NELSON, PR
50 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Baur in sechs Versionen vom
Download bis zur Luxusausgabe
mit Buch auf den Markt. Vom
Konzertalbum „Grosse Freiheit“
des Düster-Popsängers Unheilig
gab es gar gut ein Dutzend
Formate. Die Vielfalt erweitert
auch den Kundenkreis: War
Musikkauf früher ein Hobby für
Männer von 19 bis 30 Jahren –
drei Prozent der Deutschen sorgen für 45
Prozent der Musikumsätze –, verführen die
Vorzeigepacks auch ältere Fans wieder
zum Kaufen. Streaming hingegen soll die
jüngsten Hörer daran gewöhnen, dass Musik
legal bequemer zu bekommen ist und
besser klingt als illegale Kopien. Wenn Musikfans
dann ab 20 Geld verdienen, steigen
sie auf vom werbefinanzierten über das bezahlte
Streaming und über CDs auch zu
den Fanprodukten, so das Kalkül.
Arbeiteten Musikkonzerne früher allenfalls
mit Radiosendern zusammen, verbreitert
Universal heute die Zahl der Partner.
So sucht Briegmann die Nähe zu TV-
Sendern und hievte mit ProSieben die
Combo Santiano und ihre aufgepoppten
Seemannslieder in die Charts. Außerdem
dient Universal seine Künstler Markenartiklern
an. Mobilfunkriese Vodafone poppte
seine Werbung mit Musik der Newcomer-Band
Capital Cities („Safe and
Sound“) auf. Commerzbank und Credit
Suisse verkaufte Universal das Recht, Kunden
mit 50 Gratisliedern aus dem Universal-Katalog
zu ködern. „Wir wissen, wie
junge Zielgruppen ticken, und können
Marken helfen, ihre Produkte zu emotiona-
U2
Die „Über Deluxe Edition“ des U2-Klassikers
„Achtung Baby“ bietet 15 CDs,
DVDs und Vinylplatten mit unveröffentlichter
Musik und Filmen sowie ein
Fotobuch und eine Sonnenbrille, wie
sie Sänger Bono auf der Tournee trug
649,99 Euro
Video
In den App-
Ausgaben erfahren
Sie, was
Backstage bei
Rockkonzerten
passiert
lisieren“, sagt Briegmann. Ob
das auf Dauer reicht, betrachtet
Bertelsmann-Manager Masuch
seit dem Ausstieg der Gütersloher
aus dem klassischen
Label-Geschäft im Jahr 2008
mit einer gewissen Distanz.
Masuch arbeitet in Berlin mit
Blick auf Dom und Spree, konzentriert
sich auf die Auswertung
von Musikrechten und beobachtet die
Häutungen der traditionellen Konzerne:
„Die erleben sicher gerade eine Trendwende.“
Sie profitierten von einer „Steilvorlage,
die ihnen durch Digitalisierung und neue
Marktteilnehmer eröffnet wurde“.
Damit sieht Masuch Universal und Co.
jedoch längst nicht am rettenden Ufer. So
wachse einerseits der Rechtfertigungsdruck
gegenüber den Kreativen: „Die Konzerne
müssen ihr Geschäftsmodell und
speziell ihre Kostenstrukturen und Dienstleistungen
noch weiter überdenken, weil
es ihnen auf Sicht von fünf bis zehn Jahren
immer schwerer fallen dürfte, Künstler davon
zu überzeugen, dass diese gerechtfertigt
sind.“ Schließlich sinken die Produktionskosten.
Gleichzeitig steigt die Zahl der
Plattformen, auf denen sich Musiker präsentieren
können. „In der Branche fällt gerade
eine Markteintrittsbarriere nach der
anderen“, sagt Masuch. Als eine Folge
wächst der Anteil unabhängiger Plattenfirmen
an den Charts stetig.
Die Rückkehr zum Profit könnte auch
weit größere Player ins Inhaltegeschäft locken
und Universal und Co. zu Opfern einer
Übernahme machen. Amazon hat bereits
die „Washington Post“ gekauft und investiert
in TV-Serien wie „Under the Dome“.
Aber auch Disney, CBS und MTV-Erfinder
Viacom dürften wie einst Vivendi wissen,
welche Türöffnerqualitäten Musik und damit
verbundene digitale Geschäfts- und
Abrechnungsmodelle in Schwellenländern
wie China, Indien oder Brasilien besitzen.
Im Speicher am Osthafen blinzelt Manager
Briegmann jetzt rüber zu Lady Gaga. In
Krakelschrift hat der Pop-Weltstar dem
deutschen Universal-Boss eine Widmung
auf das meterhohe Schwarz-Weiß-Foto geschrieben.
Schließlich half die Musikfabrik
aus Berlin kräftig mit, die Platten der New
Yorkerin ganz oben in den Charts zu platzieren.
Für Briegmann ein Beweis dafür,
der fachfremden Konkurrenz immer noch
etwas voraus zu haben: „Die einen können
Technik – und wir sind die Inhalte-Guys.“ n
ruediger.kiani-kress@wiwo.de,
peter.steinkirchner@wiwo.de
STREAMING-DIENSTE
Retter in Nöten
Musik auf Abruf boomt. Doch Apple
setzt die Anbieter unter Druck.
Nichts zaubert Managern der Plattenbranche
so sicher Glanz in die Augen wie
der Gedanke an Streaming. Denn kein
Teil des Musikgeschäfts wächst schneller
als Internet-Seiten, auf denen sich Fans
ihr Programm aus 20 Millionen Titeln zusammenstellen
können, dafür Werbung
erdulden oder sich für bis zu zehn Euro
im Monat freikaufen. In Deutschland
dürfte der Umsatz 2013, drei Jahre nach
dem Start, mit 54 Millionen bereits zwölf
Prozent des Geschäfts mit digitaler Musik
ausmachen. In Schweden hat Marktführer
Spotify 60 Prozent der 9,5 Millionen
Einwohner als Kunden.
800-PFUND-GORILLA
Die Plattenfirmen lieben das Angebot,
weil es Extrageld bringt. „Es gibt keinen
Beleg, dass Streaming zulasten von CD-
Verkäufen oder bezahlten Downloads
geht“, sagt Alexander Berrai, Prokurist
von Simfy, dem nach Spotify zweitgrößten
Streaming-Dienst in Deutschland. Im
Gegenteil. Untersuchungen zeigen, dass
Streaming Piraterie verdrängt, weil das
Gros der Nutzer zuvor für Musik gar nicht
zahlte. Dazu sind die Einnahmen planbarer
als beim Verkauf. Auf Seiten wie
iTunes und Amazon schaffen nur 20 Prozent
des Angebots spürbaren Umsatz.
Doch beim Streaming werden 80 Prozent
des Katalogs gehört und bringen Geld.
Doch der vermeintliche Retter der
Branche gerät unter Druck. Musiker
beklagen die für sie zu geringen Ausschüttungen.
Weil es zu viele Anbieter
gibt und diese eilig in möglichst viele
Länder drängen, verdient keiner Geld. So
schrieb Spotify nach einer Expansion in
32 Länder 2012 bei 580 Millionen Dollar
Umsatz 78 Millionen Verlust.
Und die größte Herausforderung für
Spotify und Co. kommt noch. Seit September
bietet der Computerriese Apple
in den USA ein vergleichbares Produkt.
Bis zu 100 Länder sollen folgen. „Die
sind der 800-Pfund-Gorilla der Branche“,
schwant es einem Musikmanager,
„wo die sind, wird es für andere eng.“
ruediger.kiani-kress@wiwo.de, peter steinkirchner
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 51
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Unternehmen&Märkte
Frisierte Vita
IVG | Beim Niedergang des Immobilienkonzerns spielte die
Privatbank Sal. Oppenheim eine bisher kaum beleuchtete Rolle.
Oppenheim-Zögling
IVG-Chef Schäfers bei
der IVG-Hauptversammlung
2012 im früheren
Bundestag
Wolfgang Schäfers muss derzeit eine
Menge unangenehmer Fragen beantworten.
Zum einen versucht
der Vorstandschef des Bonner Immobilienriesen
IVG mithilfe des Sachwalters
Horst Piepenburg über ein sogenanntes
Schutzschirmverfahren bis zum 21. November
die endgültige Insolvenz und Zerschlagung
seines Unternehmens abzuwenden.
Gleichzeitig muss der 48-Jährige
sich dafür rechtfertigen, dass er die Führung
des heute mit 4,6 Milliarden Euro verschuldeten
größten deutschen Immobilienunternehmens
bis Ende September zumindest
formal als Nebenjob absolviert
hat. Denn Schäfers firmiert gleichzeitig als
Professor für Immobilienwirtschaft an der
Universität Regensburg und arbeitet seit
Die Staatsanwälte prüfen Schäfers’
Grenzgänge zwischen Uni und IVG
zehn Jahren mal auf Basis von Beurlaubungen,
mal mit Nebentätigkeitsgenehmigung
in der freien Wirtschaft.
Es ist nicht die einzige Doppelrolle von
Schäfers: Der IVG-Chef war 2009 von Sal.
Oppenheim gekommen. Und die Kölner
Traditions- und spätere Skandalbank hat
beim Niedergang des Immobilienriesen eine
bisher unbeleuchtete Rolle gespielt.
Denn Sal. Oppenheim war sechs Jahre lang
mit zuletzt 18,4 Prozent größter IVG-Aktionär,
bis das Geldinstitut 2010 kurz vor der
Pleite von der Deutschen Bank aufgefangen
wurde. Die hat das IVG-Paket anschließend
weiterverkauft.
FREMD- STATT EIGENKAPITAL
Kenner des Unternehmens stört, dass für
dessen heutige Misere fast ausschließlich
missratene und mehrfach abgewertete Immobilieninvestments
wie beim Büro- und
Hotelkomplex Squaire am Frankfurter
Flughafen verantwortlich gemacht werden.
Ohne die fragwürdige Rolle von Sal.
Oppenheim, sagt ein hochrangiger Ex-
IVG-Manager, wären aber weder das
Squaire noch der Londoner Büroturm
Gherkin der IVG zum Verhängnis geworden:
„Sal. Oppenheim hat im Aufsichtsrat
mehr die eigenen Interessen vertreten als
die der IVG und dadurch deren Niedergang
zumindest beschleunigt.“
Vor allem hätte es die Hybrid- und Wandelanleihen,
mit denen sich die IVG seit
2006 in mehreren Schritten 800 Millionen
Euro Fremdkapital in die Kasse holte und
deren Rückzahlung sie nun nicht schafft,
gar nicht oder zumindest nicht in diesem
Volumen geben müssen. Denn zuvor hatte
das damalige Management mehrfach Kapitalerhöhungen
vorgeschlagen und 2006
bereits eine „große Kapitalerhöhung“ mit
der genossenschaftlichen DZ Bank ausgehandelt,
sagen IVG-Ehemalige. Ein Emissionskurs
von mehr als 20 Euro sei angepeilt
worden, die DZ Bank hätte nicht gezeichnete
Aktien notfalls selbst übernommen.
Die DZ Bank wollte sich auf Anfrage
nicht zu dem Vorgang äußern. Aber IVG-
Insider bestätigen, dass der IVG-Aufsichtsrat
von September bis Dezember 2006
mehrfach eine Kapitalerhöhung von 500
bis 800 Millionen Euro diskutierte – und
das Thema dann nicht weiter verfolgte.
Mögliche Erklärung dafür: Der klamme
IVG-Aktionär Sal. Oppenheim hätte nicht
mitgehen können bei der Kapitalerhöhung.
Seine IVG-Anteile verwässern lassen wollte
er aber wohl auch nicht. Die Kapitalerhöhung
kam jedenfalls nicht zustande.
»
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA
52 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Unternehmen&Märkte
»
Stattdessen musste die IVG Fremdkapital
akquirieren. Es gab eine Wandel- und
eine Hybridanleihe, an beiden verdiente
Sal. Oppenheim als eine der Emissionsbanken
mit. „Mit mehr Eigenkapital wäre
die IVG nicht in die heutige Finanzierungskrise
hineingerutscht“, klagt ein Ex-IVGler.
Und Jochen Rothenbacher vom Frankfurter
Wertpapierhaus Equinet meint: „Die
Wandelanleihe über 400 Millionen Euro
war der Sargnagel für die IVG.“
Auch bei der Beseitigung eines Liquiditätsengpasses
bei der IVG 2008 hat Sal. Oppenheim
offenbar den eigenen Vorteil mit
im Blick gehabt. Ein 50-Millionen-Kredit
von Sal. Oppenheim überbrückte die Lücke
vom 7. Oktober bis zum 18. November.
7,25 Prozent Jahreszins plus 500 000 Euro
Provision waren „nicht preiswert, aber gerade
noch marktkonform“, sagt der damalige
IVG-Vorstand Georg Reul dazu der WirtschaftsWoche.
An den für die IVG belastenden
Entscheidungen war Schäfers nach
eigener Aussage als Sal.-Oppenheim-
Manager vor seinem Jobwechsel nicht beteiligt:
Weder auf die verhinderte Kapitalerhöhung
noch auf den Überbrückungskredit
von 2008 habe er Einfluss genommen.
Beim Einstieg des Bankhauses bei
der IVG aber habe er, so erklärt Schäfers gegenüber
der WirtschaftsWoche, bankintern
„das Asset Management beraten“.
Diese Akquisition empfanden Beteiligte
als dubios. 2004 hatte Sal. Oppenheim 25,1
Prozent der IVG-Anteile übernommen.
Das Paket stammte von der Beteiligungsgesellschaft
Sirius, die zur WCM-Gruppe
gehörte. Sirius musste Insolvenz anmelden,
nachdem ein Bankenkonsortium um
die heutige HSH Nordbank Kredite fällig
gestellt hatte. Die als Sicherheit für die Kredite
verpfändeten IVG-Aktien reichten die
C Per Gerichtsbeschluss aus dem Amt gejagt Ex-
IVG-Chefaufseher und -Oppenheim-Eigner Bierbaum
B Gutsherrenart statt Corporate Governance Ex-
IVG-Aufsichtsrat und Oppenheim-Eigner von Krockow
Banken teilweise wohl mit Gewinn an Sal.
Oppenheim weiter.
Für die Banken erwies sich die Sirius-
Pleite damit als gutes Geschäft – zu gut,
glauben Sirius-Insolvenzverwalter Bernd
Depping und frühere Investoren. Für sie
stand fest, dass es der Plan der Kreditgeber
war, „zielgerichtet die Insolvenz der
Schuldnerin (Sirius) herbeizuführen“, um
sich das IVG-Aktienpaket selbst anzueignen,
wie es Depping 2009 in einer Klage gegen
die beteiligten Banken formulierte.
„An diesem deliktischen Verhalten“ der
Gläubigerbanken habe Sal. Oppenheim
„nicht nur mitgewirkt“, die Bank war
Vorbesprechungen
auf dem Golfplatz
lenkten die
Geschicke der IVG
laut Insolvenzverwalter gar einer der „Urheber
des Plans“. Die Banken widersprachen
den Vorwürfen stets, und die Richter
in Hamburg gaben ihnen recht. Deppings
Klage auf Schadensersatz scheiterte.
Vom Tisch ist das Thema trotzdem nicht:
Mögliche Ansprüche in dem Fall könnten
nun von einem Hedgefonds geltend gemacht
werden, an den der Insolvenzverwalter
Forderungen verkauft hat, heißt es bei
den Beteiligten. Auch ein Fax von Sal. Oppenheim,
das am 24. Oktober 2003 bei der
HSH Nordbankeinging, könnte dann wieder
relevant werden. Projekt „Odessa“ war das
Geheimpapier überschrieben, in dem die
Privatbank schon einen Monat vor dem Sirius-Insolvenzantrag
anbot, 25,1 Prozent der
IVG-Anteile zu kaufen. So kam es dann auch.
Das Sagen hatten bei den Bonnern dann
vor allem die Oppenheim-Miteigentümer
Matthias Graf von Krockow und Detlef
Bierbaum. Krockow war Mitglied im IVG-
Aufsichtsrat – heute steht er mit drei weiteren
Oppenheim-Gesellschaftern und dem
Immobilienentwickler Josef Esch wegen
Untreue in Köln vor Gericht. Bierbaum war
Vorsitzender des IVG-Aufsichtsrates – gegen
ihn laufen noch Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit
den Untreue-Vorwürfen (WirtschaftsWoche
22 und 27/2013). Seines IVG-Amtes
wurde Bierbaum per Gerichtsbeschluss
enthoben, weil er bei der Hauptversammlung
2010 Fragen eines Aktionärs nicht
ausreichend beantwortet hatte.
SCHÄFERS’ GRENZGÄNGE
Solange von Krockow und Bierbaum die
IVG-Strippen zogen, waren „die Vorbesprechungen
auf dem Golfplatz wichtiger
als die Aufsichtsratssitzungen selber“, erinnert
sich ein Ex-IVGler: „Statt Corporate
Governance gab es Gutsherrenart.“
Oppenheim-Klüngel gab es aber nicht
nur in Köln und Bonn, sondern bis nach
Regensburg. Schäfers wurde 2004 Professor
am Institut für Immobilienwirtschaft
der dortigen Uni. Von 2002 bis 2009, so
stand es vier Jahre in seiner Vita auf der
IVG-Homepage, war er aber auch „Head of
Real Estate Banking“ bei Sal. Oppenheim.
Allerdings gab es für die Jahre 2006 und
2007 offenbar keine Freistellung oder Beurlaubung
der Uni. Prompt wurde kürzlich
Schäfers’ Lebenslauf geändert: Nun will er
die Funktion bei Sal. Oppenheim nur von
2002 bis 2005 und von 2008 bis 2009 ausgeübt
haben. Fälschlicherweise habe ihn die
Bank aber auch dazwischen in Anzeigen
als Ansprechpartner genannt. Glaubwürdig
wirkt das Frisieren der Vita so nicht.
Zudem war Schäfers ab Januar 2013 auf
Basis einer Nebentätigkeitsgenehmigung
IVG-Chef. Nebentätigkeiten sind aber in
der Regel auf einen Tag pro Woche beschränkt.
Nun hat die Uni Schäfers noch
einmal bis März 2014 beurlaubt. Dabei hat
er die maximale Beurlaubungsdauer von
fünf Jahren längst überschritten. Die IVG
nebenbei retten, das geht wohl doch nicht.
Ob Schäfers’ Grenzgänge zwischen Wissenschaft
und Wirtschaft juristisch angreifbar
waren, prüft jetzt die Staatsanwaltschaft
Regensburg.
n
harald.schumacher@wiwo.de, henryk hielscher
FOTOS: TOM RATHMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, LAIF/MATTHIAS JUNG
54 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Unternehmen&Märkte
»Noch einen Versuch starten«
INTERVIEW | Christophe de Margerie Der Chef des französischen Energieriesen Total will in Deutschland
mehr Tankstellen betreiben, in Europa Schiefergas fördern und russisches Flüssiggas verkaufen.
DER NONKONFORMIST
De Margerie, 62, führt Total
seit fast sieben Jahren. Der
Spross aus der Champagner-
Dynastie Taittinger, der aber
Whisky bevorzugt, begann seine
Karriere 1974 im Finanzbereich
des Ölkonzerns TotalFina.
Der fusionierte später mit Elf
Aquitaine und heißt seit 2003
Total. Das Unternehmen
betreibt in Europa mehr als
12 000 Tankstellen, davon
1100 in Deutschland. De Margerie
ist verheiratet und hat
drei Kinder, seine Hobbys sind
Fernsehen und Motorräder.
Er ist bekannt dafür, notorisch
zu spät zu kommen und mit
seiner Meinung zur Politik nicht
hinter dem Berg zu halten.
Monsieur de Margerie, Ihr Geschäft ist
Energie. Nach dem Willen der Politiker
soll davon aber immer weniger verbraucht
werden. Was bedeutet das für Ihr Unternehmen?
Das kann sein und ist sogar wünschenswert.
Es mag Ihnen paradox erscheinen,
aber Total investiert nahezu 100 Millionen
Euro in die Forschung zur Reduzierung des
Treibstoffverbrauchs von Kraftfahrzeugmotoren.
Bedenken Sie: Gut zwei Milliarden
Menschen auf der Erde haben noch
keinen Zugang zur Elektrizität. Weitere vier
Milliarden Menschen beziehen viel zu ineffiziente
und viel zu teure Energie. Die
Nachfrage nach Energie, vor allem nach
besserer, sauberer Energie, kann also nur
wachsen. Wir benötigen mehr Energie, allerdings
eine vernünftigere Energie, die
umweltfreundlicher hergestellt und verbraucht
werden kann.
Die Positionen von Frankreich und
Deutschland waren vielfach sehr unterschiedlich,
nicht nur, aber vor allem in
der Energiepolitik. Was erwarten Sie hier
von der zukünftigen Bundesregierung in
Berlin?
Die deutsche Energiewende hat nicht nur
die Nachbarländer überrascht. Ich habe im
Gespräch mit deutschen Unternehmensführern,
von denen ich viele persönlich gut
kenne, zum ersten Mal eine große Divergenz
der Positionen von Politik und Wirtschaft
erkannt. In Deutschland ist das sehr
ungewöhnlich. Aber die Unternehmenschefs
ahnten wahrscheinlich schon, dass
sie am Ende zahlen würden. Die künftige
Regierung in Berlin wird darauf achten
müssen, dass die deutsche Wirtschaft ihre
Wettbewerbsfähigkeit nicht verliert. Das
gilt übrigens für Frankreich noch viel mehr.
Aus diesem Grund sollten sich unsere beiden
Regierungen dieser Frage gemeinschaftlich
annehmen. In der Energiepolitik
müssen unbedingt gemeinsame Maßnahmen
getroffen werden, wenn sie wirksam
sein soll, denn Treibhausgase machen
auch vor Ländergrenzen nicht halt.
Ihre Wachstumsambitionen in Deutschland
sind in der Vergangenheit vom
Kartellamt gebremst worden. Wollen Sie
trotzdem Ihren Marktanteil ausbauen?
Grundsätzlich ja, gern. Als wir vor vier Jahren
rund um unsere Raffinerie in Leuna die
Tankstellen des österreichischen Betreibers
OMV kaufen wollten, hat uns das Kartellamt
dies wegen einer angeblich dominierenden
Stellung untersagt. Allerdings
sehe ich nicht wirklich, wie wir mit unseren
damals gerade einmal sieben Prozent
Marktanteil, eine dominierende Stellung
hätten erlangen können...
...immerhin ist Total in Deutschland mit
über 1100 Tankstellen größer als Exxon mit
seinen 1077 Esso-Stationen. Mittlerweile
scheint das Kartellamt aber zumindest
in Bezug auf Ihre Wachstumsziele in Westdeutschland
aufgeschlossen zu sein.
Wenn wir wettbewerbsfähig bleiben
möchten, müssen wir in Deutschland unser
Tankstellennetz erweitern – besonders
in Westdeutschland. Im Osten sind wir
FOTO: LAIF/VU/PAOLO VERZONE
56 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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ganz gut vertreten durch die ehemaligen
Minol-Stationen, die wir nach der Wiedervereinigung
übernommen haben. Heute
haben wir in ganz Deutschland acht Prozent
Marktanteil. Das ist zu wenig, um im
deutschen Markt bestehen zu können, zumal
die Absätze insgesamt zurückgehen.
Allerdings könnten wir uns vorstellen,
noch einmal einen Versuch zu starten,
wenn Akteure wie Esso, die sich schon in
anderen europäischen Ländern aus dem
Tankstellengeschäft zurückgezogen haben,
dies auch in Deutschland tun.
Deutschland und Frankreich sind sich
einig in ihrer Ablehnung des Frackings, bei
dem mit Chemikalien Gas aus Schieferschichten
gepresst wird. Was heißt das für
Total als französischen Konzern, der in
Deutschland wachsen will?
Ich kann die Skepsis verstehen. Wenn in einer
Region noch kein Schiefergas gefördert
wurde und es nur Tests gibt, dann ist diese
Technik natürlich unbekannt, und es entspricht
der Lebenserfahrung, dass man
skeptisch gegenüber Unbekanntem ist. Wir
müssen für die entsprechende Aufklärung
sorgen.
Wird Total wie Exxon groß in die Förderung
von Schiefergas einsteigen?
In Deutschland ist dies unter den gegenwärtigen
Bedingungen nicht unsere Priorität,
da es angesichts der verfügbaren geologischen
Daten schwierig ist, das Schiefergaspotenzial
zu bewerten. Es ist allerdings
nicht unmöglich, dass es bedeutende europäische
Schiefergasvorkommen gibt, die
sich tief unten im Gestein wie ein Strang
von Russland über Mittel- und Südeuropa
sowie die Schweiz bis nach Frankreich erstrecken.
Sollte Brüssel die Schiefergasförderung
in Europa mit Blick auf die Unabhängigkeit
von ausländischen Energiequellen
verstärkt vorantreiben?
In der Energiewirtschaft werden Sie in
Brüssel nicht so leicht eine Gemeinsamkeit
hinbekommen, ob bei Atomkraft oder
Schiefergas. Daran müssen wir uns gewöhnen.
Total ist heute in 130 Ländern präsent,
unser Horizont geht über die Grenzen Europas
hinaus. Wir interessieren uns zum
Beispiel auch für Russland, das über einen
riesigen Bodenschatz verfügt. Und für die
Aktien-Info Total
ISINFR0000120271
115
110
105
100
95
90
2012
Quelle:FactSet
ExxonMobil
Umsatz (in Mrd. €)
Mitarbeiter
Gewinn vor Zinsen
und Steuern (in Mio. €)
Netto-Umsatzrendite (in %)
Eigenkapitalrendite (in %)
Kurs (Stand 7.10.13; in €)
KGV 2013
Börsenwert (in Mrd. €)
Chance
Risiko
Niedrig
2013
Total
182,3
97 126
21 862
5,87
13,3
42,99
8,51
102,18
Index: 1Jahr =100
Total
Exxon
327,4
76 900
38 817
10,67
21,8
63,35
11,37
278,88
Hoch
Dashohe Niveau desÖlpreises undEffizienzmaßnahmen
im Unternehmen sollten spätestens2014die
Gewinnewieder steigen lassen. Die günstige Bewertung
unddie Aussichtauf eine hohe undstabile
Dividende geben der AktieauchinkritischenBörsenphasen
Rückhalt.
»Welcher Konzern hat heute nicht an
irgendeiner Stelle mit der Justiz zu tun?«
russische Regierung ist die Vermarktung
ihrer Ressourcen eine Priorität.
In Russland hatte Total wie auch Ihr britischer
Wettbewerber BP nicht viel Glück.
Ihre 2007 geschlossene Grundvereinbarung
mit Gazprom über das Gasförderprojekt
Shtokman in der Barentsee
wurde bisher immer noch nicht mit Leben
erfüllt. Warum?
Shtokman ist ein spezielles Projekt, das
technisch sehr kompliziert ist. Diese Komplexität
in Verbindung mit sinkenden Gaspreisen
hat großen Einfluss auf die Wirtschaftlichkeit
des Projekts. Wir verhandeln
noch mit Gazprom, um technische Lösungen
zur wirtschaftlichen Lebensfähigkeit
des Gasfeldbetriebs zu finden. Wir haben
derzeit leider noch keine Antwort. Shtokman
ist aber nicht unser einziges Projekt in
Russland: 2011 sind wir für den Betrieb des
Jamal-Gasfelds eine Kooperation mit dem
russischen Gasexporteur Novatek eingegangen.
An dessen Kapital beteiligen wir
uns auch mit mehr als 15 Prozent.
Was bringt Ihnen das?
Die enge Verzahnung mit internationalen
Partnern erlaubt uns die weltweite Vermarktung
von Flüssigerdgas, ob in China
oder Europa. Wir sind bei Flüssigerdgas bereits
der weltweit zweitgrößte Anbieter. In
vier, fünf Jahren sind wir mit der Erschließung
des russischen Jamal-Feldes so weit,
dass wir liefern können, auch nach
Deutschland. Aus unserer Gasförderung in
anderen Regionen wie der Nordsee werden
schon heute auch deutsche Industriekunden
beliefert, wie etwa der Chemiekonzern
BASF.
Sie persönlich wurden als Konzernchef
nach jahrelangem Verfahren in Frankreich
vom Vorwurf der Bestechung beim Ölfür-Lebensmittel-Programm
während
des Irakkrieges freigesprochen. Das
Verfahren gegen Total läuft aber weiter.
In den USA musste Total vor Kurzem 400
Millionen Dollar Strafe wegen Bestechung
im Iran zahlen. Haben Sie denn wie gefordert
die Anti-Korruptionskontrollen bei
Total verschärft?
Wir haben in den USA keine eigentliche
Strafe gezahlt, sondern mit den Behörden
eine sogenannte „gütliche Vereinbarung“
geschlossen, mit der Börsenaufsicht SEC
und dem Justizministerium. Der Vertrag
schreibt allerdings vor, dass Total nach der
Unterzeichnung dieser Vereinbarung keinen
Kommentar über deren Inhalt abgibt.
Was die Anti-Korruptionskontrolle bei Total
angeht, so gibt es die ja schon länger
und in verstärkter Form.
Waren Sie aber vielleicht nicht streng
genug?
Woher wollen Sie das wissen (wird laut)?
Glauben Sie mir, wir haben bei Total sehr
strenge Anti-Korruptionsregeln. Aber welcher
Großkonzern hat heutzutage nicht an
irgendeiner Stelle einmal etwas mit der
Justiz zu tun? Ich kann Ihnen versichern,
dass die Vorwürfe nicht zutreffend sind.
Ich kann Ihnen auch sagen, wie es ist, während
des Verhörs zwei Tage und eine Nacht
mit zehn anderen Leuten in Gewahrsam zu
verbringen. Das ist in Frankreich rechtlich
möglich bei Verhören. Lassen Sie die Richter
ihre Arbeit machen! Entschuldigen Sie,
wenn ich etwas gereizt reagiert habe, doch
in diesem Zusammenhang wird man von
anderen sofort beschuldigt, wobei sie die
Angelegenheit anschließend schnell vergessen,
insbesondere dann, wenn man
später für unschuldig erklärt wird. n
karin.finkenzeller@wiwo.de | Paris, andreas wildhagen
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 57
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Unternehmen&Märkte
Dritte Laufbahn
WOLFGANG REITZLE | Nach erst steilem, dann gebremstem Aufstieg
in der Autoindustrie baute der Ingenieur den Traditionskonzern
Linde radikal um. Bald wird er die nächste Karrierestufe zünden.
Als Wolfgang Reitzle im Februar dieses
Jahres gefragt wird, was er denn
nach seinem Abgang als Chef des
Industriegaseherstellers Linde im Mai
2014 zu tun gedenke, lächelt er sanft und
spricht ganz allgemein über „viele mögliche
Aufgaben“. Einen wie ihn könne man
sich kaum im Lehnstuhl in seinem Haus
im Münchner Nobelviertel Bogenhausen
vorstellen, legt der Frager nach. Doch
Reitzle lässt sich nicht reizen und antwortet
nicht.
Nun jedoch dringen mehr und mehr Signale
aus seinem Umfeld, er werde tatsächlich
eher nicht im Sessel hocken. Stattdessen
werde „etwas kommen“. Nur – was das
ist, dieses „etwas“, darüber wird in Chefund
Aufsichtsratsetagen zwischen Hamburg
und München heftig spekuliert. Zieht
es Reitzle in den Aufsichtsrat des Giganten
Siemens? Lockt ihn, den Ex-BMW-Manager,
ein Engagement ausgerechnet im Aufsichtsgremium
von Daimler? Krönt damit
der Tausendsassa seine so beachtete wie
wechselhafte Industriekarriere mit dem
Wechsel vom Typ dynamischer Drängler
ins Rollenfach des Elder Statesman der
deutschen Wirtschaft? Und schließlich:
Nutzt er seine Rolle als Chefkontrolleur
beim Autozulieferer Continental, dem der
hoch verschuldete Großaktionär Schaeffler
wie ein Mühlstein um den Hals hängt, um
sich für Höheres zu empfehlen?
INTENSIVES WERBEN BEI DAIMLER
Der Mann, der es wissen sollte, hält sich
auffallend bedeckt. Reitzle, so viel ist klar,
hält sein Pulver trocken, lauert, bis er den
richtigen Moment für gekommen hält, um
sich mit einem geschickten Schachzug im
anschwellenden Geschacher um die Spitzenposten
aus der Deckung zu wagen.
Tatsächlich hat sich der Liebhaber
schneller Autos in den vergangenen zehn
Jahren zum grundsoliden Konzernlenker
gewandelt, der die Öffentlichkeit regelrecht
scheut. Als Chef des Dax-Konzerns
Linde steigerte er den Unternehmenswert
des Gaseherstellers von 4,4 auf 26,5 Milliarden
Euro. Tauchte Reitzle früher gern mal
in der Regenbogenpresse auf, belegen
heute nackte Zahlen seinen Erfolg.
Denn es gab auch einen anderen Reitzle,
es gab ein Leben vor dem Traditionskonzern,
den der drahtige Manager auf einen
reinen Industriegaseanbieter trimmte. Die
Glitzerwelt der schnellen Automobile, das
war zuvor sein Feld. Bei BMW schob sich
der promovierte Ingenieur und diplomierte
Wirtschaftswissenschaftler Anfang der
Neunzigerjahre als Entwicklungsvorstand
in die Poleposition für den Vorstandsvorsitz.
Doch der Traum zerplatzte, als durchsickerte,
dass er auch mit dem Sportwagenhersteller
Porsche Gespräche über den
Chefposten führte.
Reitzle dementierte die Ambitionen
scharf. Doch beim BMW-Großaktionär, der
Familie Quandt, hatte er das Vertrauen verspielt.
Neuer BMW-Chef wurde Bernd Pischetsrieder
– und Reitzle suchte sich einigermaßen
frustriert einen neuen Job.
Ford-Chairman Jacques Nasser warb
1999 den nach Einschätzung des Amerikaners
„besten Automann der Welt“ für den
US-Konzern ab, wo der so exzentrische wie
perfektionistische Technik-Freak aus den
Edelmarken Lincoln, Jaguar, Land Rover,
Aston Martin und Volvo die Premier Automotive
Group (PAG) zu schmieden versuchte.
Als Nasser drei Jahre später gefeuert
wurde, hatte Reitzle für seine kostspielige
Wachstumsstrategie keinen Rückhalt
mehr in der Zentrale – er verabschiedete
sich aus der Autoindustrie und wagte bei
Linde einen kompletten Neustart.
Nun beginnt Reitzle im 65. Lebensjahr
seine dritte Karriere. Der Chefposten im
Aufsichtsrat von Siemens soll seine neue
Ziellinie sein, heißt es unverblümt im Umfeld
des Technologiekonzerns. Aber auch
in Stuttgart wird Reitzle hoch gehandelt:
Daimler-Aufsichtsratschef Manfred Bischoff
bemühe sich intensiv darum, Reitzle
in den Aufsichtsrat zu lotsen, heißt es in
Unternehmenskreisen.
Denn außer den Betriebsräten – und Bischoff
selbst – besitzt in dem 20-köpfigen
Gremium derzeit niemand automobile
Kompetenz. Ehemalige Banker und Versi-
»Mit Wolfgang
Reitzle hätten
Zetsche und Co.
kein so leichtes
Spiel im Aufsichtsrat
von
Daimler«
cherungskaufleute sitzen hier neben Experten
aus der Nahrungsmittel- und Kosmetikbranche,
der Chemie- und Elektroindustrie.
Entsprechend leicht fällt es Mercedes-Vorständen
bei der Präsentation neuer
Fahrzeuge wie jüngst der S-Klasse, die Aufsichtsräte
zu beeindrucken. „Mit Reitzle
hätten Zetsche und Co. kein so leichtes
Spiel“, er würde ihnen „Beine machen“, sagen
Unternehmenskreise.
Reitzles Operationsbasis für Höheres ist
zurzeit noch Hannover. Dort quält sich seit
2008 der Autozulieferer Continental mit
dem unwillkommenen Großaktionär,
Schaeffler aus Herzogenaurach. Reitzle ist
bei Conti seit 2009 Aufsichtsratschef.
Schaeffler, der weltweit zweitgrößte Wälzlagerhersteller
und ein Familienunternehmen
mit Mutter Maria-Elisabeth und Sohn
Georg Schaeffler als Alleininhaber, über-
FOTO: ANDREAS POHLMANN
60 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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nahm 2008 die dreimal so große Conti mithilfe
von Bankkrediten in einer feindlichen
Attacke. Seitdem kommen die Franken von
ihren Schulden in Höhe von neun Milliarden
Euro nicht mehr herunter. Drei davon drücken
die Familienholding von Schaeffler. 46
Prozent hält Schaeffler immer noch an Conti.
Der Schuldenabbau frisst die Gewinne auf
und bedroht Schaefflers Eigenständigkeit.
HEIKLER JOB BEI CONTINENTAL
So nimmt Reitzle in Hannover eine Doppelrolle
ein. Er muss Continental von seinem
unsicheren Großaktionär befreien
und gleichzeitig den Schaefflers helfen, die
hohe Schuldenlast so schnell wie möglich
zu reduzieren.
Als Freund der Familie soll Reitzle das
Schaeffler-Vermögen retten. Und er will
dem Volkswagen-Lieferanten Conti wieder
Drängler und Strippenzieher Linde-Chef
Reitzle ist wieder im Gespräch für
Top-Posten in der deutschen Wirtschaft
eine solide Aktionärsbasis verschaffen. Ein
Börsengang von Schaeffler könnte die Lösung
sein, eine Überkreuzbeteiligung zwischen
Conti und Schaeffler oder ein weiterer,
familienfremder Investor bei Schaeffler.
Eine Übernahme des Familienkonzerns
wird aber ausgeschlossen.
Die Familie traut Reitzle zu, den fränkischen
Knoten zu entwirren. Auch wenn die
Schaefflers die wichtigen Entscheidungen
treffen, stehen sie in Dauerkontakt mit
Reitzle. Mit ihm, heißt es im Umfeld der Familie,
seien die beiden „sehr zufrieden“.
Die Art, wie Reitzle im Hintergrund die
Interessen einer börsennotierten Gesellschaft
mit denen eines Familienunterneh-
mens zusammenbindet, zeige, „dass Reitzle
Problemlöser mit Fingerspitzengefühl
sein kann“, lobt ein Conti-Manager. Mit
diesem Profil könnte er – nach vielen diskreten
Bekundungen von der Kapitalseite
bei Siemens – den Chefsessel im Aufsichtsrat
von Siemens erklimmen und damit im
Januar 2014 Nachfolger des wegen der
Misserfolge bei ThyssenKrupp angeschlagenen
Gerhard Cromme werden.
Denn wie Conti hat auch Siemens mit erheblichen
Problemen zu kämpfen (WirtschaftsWoche
41/2013), die Münchner verlieren
bei der Innovationsfähigkeit an Boden.
Ein Reitzle, der die Strippen zieht und
zugleich alte Drängler-Tugenden wieder
entdeckt, könnte der richtige Mann sein im
Palais am Münchner Wittelsbacherplatz. n
andreas.wildhagen@wiwo.de,
matthias kamp | München, franz rother
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 61
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Starker Verschleiß
PRIVATE EQUITY | Der Finanzinvestor KKR hat die Autowerkstattkette
A.T.U heruntergewirtschaftet. Wer zahlt die Zeche?
In der A.T.U-Werkstatt an der Mainzer
Landstraße im Frankfurter Westen rüsten
sich die Monteure für den Kundenansturm
zum vorwinterlichen Reifenwechsel.
„Noch ist es ruhig, doch bei der
ersten Schneeflocke fallen die Autofahrer
in Scharen ein“, hofft ein Schrauber. In diesem
Herbst wünscht sich die mit mehr als
600 Filialen und über 12 000 Mitarbeitern
größte deutsche Werkstattkette den umsatzverheißenden
Winter noch sehnlicher
herbei als sonst. Denn das Unternehmen
aus Weiden in der Oberpfalz kämpft gegen
eine drohende Pleite.
Schuld an der Misere ist vor allem das
Wirken des Eigentümers KKR, der A.T.U
mit Fehlkalkulationen und hohen Schulden
verschlissen hat. Anders als der kürzlich
von demselben US-Finanzinvestor erfolgreich
an die Börse gebrachte Gabelstaplerbauer
Kion könnte die Werkstattkette
als Heuschreckenopfer enden.
Als fatal für A.T.U haben sich die unrealistischen
Wachstumspläne entpuppt, die
der Investor nach dem Kauf 2004 ausgerufen
hatte, sowie dessen Unfähigkeit, auf die
schwindende Bedeutung des Autos als Statussymbol
oder die Verlagerung des Zubehör-
und Ersatzteilhandels ins Internet zu
reagieren. Daher führt die hohe Verschuldung,
die KKR A.T.U zur Finanzierung des
eigenen Kaufpreises aufgepackt hatte, nun
zu akuter Geldnot.
RETTUNG VERZÖGERT
Ende Oktober sollte eigentlich ein Refinanzierungsplan
stehen, der den Auto-Docs
mehr Luft bei der Rückzahlung ihrer Anleihen
in Höhe von fast 600 Millionen Euro
verschafft. Doch die dringend nötige Lösung
verzögert sich Finanzkreisen zufolge
wohl auf November oder Dezember.
Als Retter soll nun der neue A.T.U-Chef
Hans-Norbert Topp wirken, der im Juni
vom Autovermieter Sixt kam. Er muss vor
allem die Zinslast senken, um aus den roten
Zahlen zu kommen. Andere Sparoptionen
sind ihm verwehrt, weil Personal- und
Mietkosten wegen einer Jobgarantie und
langfristiger Verträge fixiert sind.
Mit der Übernahme von A.T.U zu den
Hochzeiten des Private-Equity-Booms in
Deutschland hat sich KKR mächtig verkalkuliert.
Dabei hatte Gründer Peter Unger
das Auto-Teile-Unger getaufte Unternehmen
zum Marktführer vor Konkurrenten
wie der Schrauberkette Pitstop oder dem
Reifenwechsler Vergölst aufgebaut. Die autoverrückten
deutschen Kunden garantierten
ein stabiles Geschäftsmodell. Wie
konnte es dennoch dazu kommen, dass
A.T.U jetzt am Abgrund steht?
Mit spitzem Bleistift lassen sich Finanzinvestoren
wie KKR bei einem Unternehmenskauf
von Controllern und Steuerberatern
vorrechnen, wie viel Bares nach Abzug
aller Ausgaben jedes Jahr zur Deckung der
Zinslast übrig bleibt. Das ist auch nötig,
denn im Falle A.T.U kam ein großer Teil des
Kaufpreises von 1,45 Milliarden Euro nicht
aus den Kassen von KKR, sondern wurde
mit Bankkrediten finanziert, die A.T.U bedienen
musste. Mehr als die Hälfte Fremdfinanzierung
für solche Deals war zu
Unter die Räder gekommen
Reifenlager im Logistikzentrum von A.T.U
im oberpfälzischen Weiden
»
FOTO: KEYSTONE/JOCHEN ZICK
62 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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FOTOS: DDP IMAGES/OLIVER LANG, PUBLICAD
»
den Boomzeiten von Firmenübernahmen
durch Finanzinvestoren üblich. A.T.U
konnte 2004 und 2010 zwar einen Teil der
Kaufpreiskredite mit der Emission von Anleihen
ablösen. Aber an der drückenden
Last der Verbindlichkeiten hat das nichts
geändert. Seit KKR an Bord ist, stieg die
Schuldenquote auf mehr als 78 Prozent der
Bilanzsumme (siehe Grafik).
Von den Wachstumsplänen, über die
A.T.U seine Schulden hätte abstottern sollen,
haben sich die Weidener mittlerweile
verabschiedet. Im Geschäftsbericht 2006
wurde noch das Ziel ausgerufen, bis 2013
mit 1000 Filialen zum europäischen Marktführer
aufzusteigen. Doch da kam einiges
dazwischen. So hat die Abwrackprämie für
Altautos zwar die Konjunktur belebt, doch
die Werkstattkette verlor Kunden, weil die
Neuwagen seltener auf die Rampe mussten.
Zudem ist bei jungen Leuten die Lust
verschwunden, ihren Wagen mit breiten
Reifen und dicken Auspuffen aus den Sortimenten
von A.T.U zum Flirt- und Statusobjekt
aufzurüsten. So erübrigten sich die
Expansionspläne von damals. „Mit 600 Filialen
bin ich einverstanden, ich brauche
nicht mehr“, sagt A.T.U-Chef Topp heute.
UMBRUCH VERPASST
KKR hat lange versäumt, das A.T.U-Geschäftsmodell
den Marktumbrüchen anzupassen.
Sein Konzept, über riesige Ersatzteil-
und Zubehörshops Kunden in die
Werkstätten zu locken, hat sich angesichts
des boomenden Internet-Handels mit Autoteilen
abgenutzt. Trotzdem leistet sich
das Unternehmen die teuren Ladenflächen
neben Wartungsboxen weiter, auch
weil sich die Mietverträge nicht so einfach
anpassen lassen. Wegen der finanziellen
Lasten fehlte dem Management auch Geld
für Investitionen in die Filialen, von denen
viele einen verstaubten Eindruck machten.
Erst auf den letzten Drücker hat A.T.U
Geld zusammengekratzt, um in diesem
Jahr den Werkstätten frische Außenanstriche
zu verpassen und gemütlichere Wartezonen
für die Kunden einzurichten.
Unter den Hebebühnen hat sich das Betriebsklima
durch die Schieflage des Unternehmens
merklich abgekühlt. „Ich staune
immer wieder, dass sich die Kollegen noch
jeden Tag aufraffen können“, sagt ein Belegschaftsvertreter.
In den Pausenräumen
dominierten Durchhalteparolen. Trotzdem
haben die tapferen Schrauber die
Qualität ihrer Arbeit deutlich gesteigert,
das jedenfalls bescheinigen ihnen drei aktuelle
Werkstatttests der Autoverbände
Abgeschmiert
Entwicklung von A.T.U seit Einstieg des
Finanzinvestors KKR
Gewinn(+)/Verlust (-)
vorSteuern
(inMillionen Euro)
+7,7
2005
2012 1
-47,2
MitarbeiterjeFiliale
2005
2012 2
23,4
18,8
Eigenkapitalquote 3
2005 9,1%
2012 2 2,0%
Schuldenquote 3
2005
2012 2
73,5 %
78,6 %
1 Rumpfgeschäftsjahr 1.1. bis 30.6.2012 , 2 Stand 30.6.2012,
3 in Prozent der Bilanzsumme;
Quelle: Bundesanzeiger, Konzernabschluss,
eigene Berechnung
Tschüss, Rendite KKR-Europachef Huth
Anleihen von fast
600 Millionen Euro müssen
zurückgezahlt werden
ADAC und AvD sowie des TÜV Süd, bei denen
die geprüften A.T.U-Filialen am besten
abschnitten.
Chef Topp steht zu der vierjährigen Jobgarantie,
die sein Vorgänger der verunsicherten
Belegschaft gegeben hat. Diese Beruhigungspille
bringt allerdings die Nebenwirkung
mit sich, dass das Unternehmen
nicht mehr an Löhnen und Gehältern
sparen kann. Ebenso wenig drehen lässt
sich an den langfristigen Mietverträgen für
Werkstätten und Teileshops.
Bleibt also der Abbau von Schulden und
das Nachverhandeln von Zinsen mit den
Anleihegläubigern. Zu denen zählen nach
Einschätzung des Frankfurter Kapitalmarktjuristen
Klaus Nieding wegen der
teils niedrigen Stückelung der Papiere, des
prominenten Markennamens des Unternehmens
und der hohen Zinssätze von bis
zu elf Prozent auch etliche Privatanleger.
Falls die Umschuldung nicht klappt, müssen
nach Ansicht des Londoner Kapitalmarktexperten
Luca Casiraghi vom Wirtschaftsdatendienst
Debtwire vor allem
Zeichner der im Oktober 2014 auslaufenden
Anleihe im Volumen von 143 Millionen
Euro zittern. Diese Papiere sind nachrangig,
werden also zuletzt bedient.
Beim größeren Anleihepaket von 450
Millionen Euro, das im Mai 2014 fällig wird,
haben vor allem Profi-Investoren zugeschlagen.
Sie spekulieren darauf, von Gläubigern
zu Miteigentümern zu werden, daher
ist die Wandlung dieser Schulden in
Firmenanteile die wahrscheinlichste Lösung.
Für KKR-Europachef Johannes Huth
und seine Leute, die das Unternehmen ursprünglich
lukrativ verkaufen oder an die
Börse bringen wollten, wäre das eine Demütigung.
Die Verhandlungen zur Lösung des Problems
laufen auf Hochtouren, A.T.U-Chef
Topp hetzt von einem Meeting zum nächsten.
Er sieht die Refinanzierung als ersten
Schritt, auf den der Umbau des Geschäftsmodells
folgen soll. Topp, der viel Optimismus
ausstrahlt, will mit der Wartung von
Firmenwagen oder Fahrzeugflotten von
Carsharing-Betreibern den Umsatz steigern
sowie die Belastung der Werkstätten
besser verteilen. Auch soll der Online-Shop
den in den Filialen dümpelnden Absatz von
Zubehör und Autoteilen ankurbeln.
Der Ruck durch das Unternehmen
kommt allerdings spät. Seit dem Einstieg
von KKR ist der Umsatz um knapp sechs
Prozent geschrumpft, und wichtige finanzielle
Kennzahlen des Unternehmens haben
sich deutlich verschlechtert. Management
und Eigentümer machen sich jedoch
Mut, dass das Unternehmen profitabel wäre
– wenn da nicht die hohen Zinsen wären.
Doch im Geschäftsbericht gilt wie bei
der Werkstattrechnung: Entscheidend ist,
was unterm Strich steht.
n
mark.fehr@wiwo.de | Frankfurt
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 63
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Unternehmen&Märkte
Schatz in Übersee
F. LAEISZ | Die Hamburger Reederei kämpft um 350 Millionen Euro
aus einer Beteiligung am weltgrößten Braukonzern AB Inbev.
beliefert Brahma mit Hopfen und Gerste
aus dem damaligen Deutschen Kaiserreich
und verschifft Bierfässer in weitere
brasilianische Häfen. Bis 1907 kauft die
Laeisz-Gruppe rund fünf Prozent an der
Brauerei, hat der Historiker Edgar Helmut
Köb bei Archivrecherchen herausgefunden.
Bis 1926 ist Laeisz’ Anteil auf vier Prozent
geschrumpft. Doch da ist Brahma
schon Marktführer in Brasilien, und die
Hamburger Reeder sind drittgrößter Anteilseigner.
Stolzer Segler Der Fünfmaster Preussen,
einst in Diensten von F. Laeisz, sank 1910
nach einer Kollision im Ärmelkanal
Die Handels- und Schifffahrtsgruppe
F. Laeisz aus Hamburg zählte vor einem
Jahrhundert zu den größten
Reedereien weltweit: Ihre stolze Flotte holte
Salpeter aus Chile und Bananen aus Kamerun
in die Hansestadt, vor allem mit
Schiffen wie dem legendären Fünfmaster
Preussen, die damals schneller fuhren als
die neuen Dampfschiffe. Doch zu spät erkannte
das bis heute im Familienbesitz geführte,
fast 200 Jahre alte Unternehmen,
dass die Tage der Windjammer gezählt waren.
Viele der Segler versanken nach Kollisionen
mit Dampfschiffen im Ärmelkanal –
1910 traf es auch die Preussen.
Als visionär und langfristig deutlich rentabler
erwies sich eine andere Investition:
Die Reederei beteiligte sich um die vorvorige
Jahrhundertwende an der Brauerei
Brahma, die Deutsche seit 1888 in Rio de
Janeiro betrieben. Die Bieraktien hat die
Laeisz-Gruppe seitdem im Portfolio behalten.
Ein folgenreicher Schachzug, denn
was damals keiner ahnen konnte: Aus dem
einstigen Brauhaus Maschke ist nach mehreren
Fusionen der milliardenschwere
Brau-Multi AB Inbev entstanden – und die
kleine Beteiligung von F. Laeisz heute mehrere
Hundert Millionen Euro wert.
Bisher allerdings nur auf dem Papier:
Denn der brasilianische Staat steht zwischen
den Aktien und ihren rechtmäßigen
Besitzern. Die Laeisz-Eigentümer, Vater
und Sohn Nikolaus W. und Nikolaus H.
Schües, sind daher seit 13 Jahren in einen
zähen juristischen Kampf um ihren Schatz
in Übersee verstrickt, von dem nach hanseatischer
Tradition außer den direkt Beteiligten
bisher niemand etwas wusste. Auf
Nachfrage der WirtschaftsWoche bestätigt
die Familie nun immerhin die Auseinandersetzung
mit Brasilien um die Aktien.
Die Vorgeschichte des millionenschweren
Tauziehens beginnt um 1900: F. Laeisz
Die Bieraktien
werden
seit 1942
vom Staat
Brasilien
blockiert
VOM BRAUHAUS ZUM BRAURIESEN
Bis heute gehören der F. Laeisz-Gruppe 6,5
Millionen Stamm- und 8,4 Millionen Vorzugsaktien
von Brahma, deren Wert sich
aber nur schätzen lässt, auf etwa 350 Millionen
Euro. Denn aus dem von Einwanderern
gegründeten Brauhaus wurde in
den vergangenen 15 Jahren ein Weltkonzern:
1999 fusioniert Brahma mit dem
Konkurrenten Antarctica zu Ambev, heute
der größte Brau- und Getränkekonzern
Lateinamerikas. Dieser tat sich 2004 mit
der belgischen Interbrew zum weltgrößten
Brauereiriesen Inbev zusammen; vier Jahre
später übernimmt Inbev den US-Marktführer
Anheuser-Busch und verschmilzt
zu AB Inbev – ein Getränkeriese mit einem
Jahresumsatz von 40 Milliarden Dollar.
Zu den Marken des weltgrößten Bierkonzerns
mit einem Börsenwert von 114
Milliarden Euro zählen unter anderem
Bud, Stella Artois, Brahma, Beck’s und
Franziskaner Weissbier. Hauptaktionär ist
die brasilianische Investorengruppe 3G
um den Brasilien-Schweizer Jorge Paulo
Lemann.
Mit ihrem wertvollen Anteil kann die
Laeisz-Gruppe allerdings bislang nichts
anfangen. Grund ist die Weigerung des
brasilianischen Staates, die Eigentumsrechte
der Hanseaten anzuerkennen. Deren
Aktien wurden im Zweiten Weltkrieg
beschlagnahmt, als Brasilien 1942 den damaligen
Achsenmächten Deutschland,
Italien und Japan den Krieg erklärte. Brasilien
wollte sich mit der Beschlagnahmung
gegen eventuelle von Deutschland verursachte
Kriegsschäden absichern.
Seitdem sind die bei der staatlichen
Banco do Brasil hinterlegten Aktien blockiert.
Brasilien tut sich bis heute nicht nur
im Falle F. Laeisz schwer damit, im Krieg
beschlagnahmte Besitztümer zurückzugeben.
Lediglich eine japanische Schule im
Hafen von Santos gab die Regierung nach
langem Hin und Her an Japan zurück. Bei
den Hamburgern dagegen sei nicht sicher-
FOTOS: DIEKLEINERT, PR, HAMBURGER ABENDBLATT/MARCELO HERNANDEZ
64 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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gestellt, dass F. Laeisz Besitzer der Aktien
gewesen sei, heißt es beim Schatzamt.
Seltsam nur, dass die Finanzstaatsanwaltschaft
gerade auf Antrag der Laeisz-
Anwälte ein Gutachten abgegeben hat,
wonach die Aktien eindeutig der Reederei
gehören – wie sie bereits zweimal zuvor attestiert
hatte. Auch Ambev, Lateinamerika-Tochter
von AB Inbev, akzeptiert die
Hamburger bei allen Aktionärsbeschlüssen
als rechtmäßige Anteilseigner.
Nach Berechnungen der Justizbehörde
hätten sich die Dividendenzahlungen für
F. Laeisz alleine zwischen 2006 und 2011
auf umgerechnet 40 Millionen Euro summiert
– ohne Zins und Inflationsausgleich.
Der Anwalt Cláudio Delgado, der die Interessen
von F. Laeisz gegenüber Ambev vertritt,
kalkuliert, dass sich der Wert der Beteiligung
in den 100 Jahren inklusive der
aufgelaufenen Dividendenzahlungen auf
mehr als 600 Millionen Euro akkumuliert
haben könnte. Von den Dividenden ist allerdings
in der seit 13 Jahren andauernden
Auseinandersetzung – ein förmliches Verfahren
gibt es bisher nicht – zwischen
Schatzamt, Staatsanwaltschaft und den
Anwälten noch gar nicht die Rede.
Verwickeltes Verfahren Reeder Nikolaus
W. Schües ringt um seine Brauaktien
Es geht zunächst um das Aktienpaket. Zu
den Vorgängen in Brasilien wollen sich die
Eigentümer von F. Laeisz, Vater und Sohn
Schües, am liebsten gar nicht äußern. Ihnen
ist die Frage nach dem Millionenvermögen
in Übersee sichtlich unangenehm.
Gekleidet im feinen, blauen Hamburger
Kaufmannszwirn bestätigen sie in ihrem
getäfelten Versammlungszimmer im historischen
Konzernsitz Laeiszhof an der
Trostbrücke zwar ihren Aktienbesitz in
Brasilien. Sie rechneten aber damit, dass
sich das ganze Prozedere noch lange hinziehen
könnte, wiegeln die Reeder ab.
Zu Recht. Denn das brasilianische
Schatzamt übt sich weiter in juristischer
Haarspalterei. Es prüft noch immer, ob bei
dem Aktienpaket nicht doch der Fall eines
„eigentumslosen Besitzes“ oder „Besitzer
gleichen Namens“ zutreffen könnte.
Die Gegenargumente lieferten die Anwälte
der Kanzlei Pinheiro Neto in São
Paulo, die seit 2000 für F. Laeisz tätig ist, bereits
mehrfach. Kanzleisprecher Rodrigo
Lima: „Wir haben uns eine einfachere Zusammenarbeit
mit der Regierung erhofft.“
Man versuche jetzt herauszufinden, was
aus Sicht des Staates fehlen könne, um F.
Laeisz die Aktien zurückgeben zu können.
Schlicht danach zu fragen ist in einem
dermaßen verwickelten Verfahren in der
kafkaesken Bürokratie-Justiz Brasiliens
plus Verwicklung in die Politik nicht so einfach.
Man wolle vermeiden, den Staat auf
Herausgabe der Aktien zu verklagen, sagt
Lima: „Ein solches Verfahren könnte sich
dann noch weiter in die Länge ziehen.“ n
alexander.busch@wiwo.de | São Paulo
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Unternehmen&Märkte
Trügerische Hoffnungen
BANKEN | Die Kreditinstitute kämpfen wie noch nie um mittelständische Kunden,
auch die Deutsche Bank will weiter zulegen. Doch es ist nicht genug Platz für alle da.
In der Deutschen Bank ist Wilhelm von
Haller nicht nur für unerschöpflichen
Arbeitseifer, sondern auch für sein vertrauenerweckendes
Wesen bekannt. Mit
dem silbernen Scheitel und dem leicht altmodischen
Zweireiher wirkt der gebürtige
Münchner wie die perfekte Verkörperung
des Bankiers traditioneller Schule. Das hat
sich sein Arbeitgeber für einige heikle Aufgaben
zunutze gemacht. Bei seinem letzten
Job als Chef der Anfang 2010 übernommenen
Kölner Privatbank Sal. Oppenheim
musste von Haller betuchte Kunden trotz
immer neuer Enthüllungen über dubiose
Geschäfte vom Absprung abhalten und die
Bank unauffällig zurechtschrumpfen.
Nun verfolgt der 61-Jährige von seinem
penibel aufgeräumten Büro im achten
Stock eines Büroklotzes an der Frankfurter
Messe aus eine andere Mission. Er soll für
kräftiges Wachstum bei einer Kundschaft
sorgen, bei der sich die Deutsche Bank bislang
unterrepräsentiert fühlt. Als Co-Chef
der Bereichs Privat- und Firmenkunden
soll von Haller neben Thomas Rodermann
das Geschäft mit dem Mittelstand auf Touren
bringen. Zwar hat die Bank schon rund
900 000 Selbstständige und Unternehmen
als Kunden. „Gerade Unternehmen mit einem
Jahresumsatz zwischen 2,5 und 250
Millionen Euro können wir mehr bieten
und so mit ihnen wachsen“, sagt von Haller.
Der Branchenprimus, der seine Zukunft
einst mehr in exotischer Finanzalchemie
sah, wendet sich verstärkt dem Heimatmarkt
zu. Gleich bei seinem ersten öffentlichen
Auftritt als neuer Co-Chef trug Anshu
Jain den Zuhörern eine Liebeserklärung an
all die fleißigen mittelständischen Schrauber
und Löter vor. Dass die nun verstärkt
ins Visier geraten, ist da nur konsequent.
NOT UND GLAUBEN
Das Problem ist nur: Die Deutsche Bank ist
mit ihrem Werben bei Weitem nicht allein.
Auf der Suche nach Geschäftsmodellen
mit einigermaßen stabilen Erträgen tobt
der Wettbewerb um Mittelstandskunden
wie noch nie. Banken übertrumpfen sich
mit immer neuen Wachstumsplänen. Teils
treibt sie die schlichte Not, weil sich andere
Geschäfte wegen verschärfter Regulierung
und niedriger Zinsen noch weniger lohnen.
Teils ist es der unerschütterliche Glaube
an die Kraft der deutschen Volkswirtschaft,
von der sie mit einem verstärkten
Engagement profitieren wollen.
Was nach grundsolidem Geschäft klingt,
ist in Wahrheit riskant. Denn als Argument
für die eigenen Dienste bleibt den buhlenden
Banken oft nur der Preis. Banker berichten
von Kampfkonditionen und gelockerten
Anforderungen an Sicherheiten,
mit denen sich Konkurrenten Marktan-
Da ist noch Luft nach oben Deutsche-
Bank-Manager von Haller soll das Geschäft
mit Mittelständlern deutlich ausbauen
»
FOTO: ANGELIKA ZINZOW FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
66 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Unternehmen&Märkte
merzbank bis zu 4000 neue Firmenkunden
pro Quartal gewinnen. Die neu geschaffene
„Unternehmerbank“ der HypoVereinsbank
soll die Zahl ihrer Kunden um jährlich
fünf Prozent steigern und ihnen 2015
65 statt bisher 61 Milliarden Euro leihen.
Dabei wildern die Banken zunehmend in
Revieren, die sie vorher anderen überließen.
Internationale Großbanken bezirzen
die größeren Mittelständler, während die
dort traditionell starken Banken sich immer
weiter ins angestammte Terrain von
Sparkassen und Volksbanken vorwagen,
die die kleineren Unternehmen betreuen.
»
Der Tisch ist nicht mehr reich gedeckt
Commerzbank-Vorstand Beumer erwartet
Normalisierung des Mittelstandsgeschäfts
teile kaufen. Sollten sich irgendwann die
Kreditausfälle häufen, drohen massive Verluste.
Erste Abkühlungen sind bereits sichtbar.
Und auch die Aufsicht ist alarmiert.
Aktuell bremsen vor allem die umworbenen
Unternehmen die Expansionsgelüste
der Banken. Ihre Nachfrage nach Krediten
stagniert, sie investieren nur zögernd. Das
Kreditangebot ist bisher nie wirklich knapp
gewesen. Selbst als nach der Lehman-Pleite
2008 die Angst vor einer Kreditklemme
umging, blieb die Versorgung stabil.
86 Prozent der Unternehmen sind mit
ihrem Zugang zur Finanzierung zufrieden,
ermittelte jüngst eine Umfrage des Deutschen
Industrie- und Handelskammertages
(DIHK). Gleichzeitig erklärte jedes vierte
Unternehmen, ohne Fremdmittel wachsen
zu wollen. „Obwohl die Bedingungen
eigentlich günstig sind, rechnen wir auch
2014 nur mit einem moderaten Wachstum
bei der Nachfrage nach Finanzierungen“,
sagt Jörg Zeuner, Chefvolkswirt der KfW.
Die Folge ist schon jetzt, dass viele Banken
ihre angestrebten Kreditziele verfehlen.
Dabei liegen die Zinsen niedrig wie nie.
Für Kredite von mehr als einer Million Euro
und einer Laufzeit von unter einem Jahr
zahlen Unternehmen im Durchschnitt derzeit
laut Bundesbank weniger als zwei Prozent
(siehe Grafik Seite 70). „Die Margen
der Banken liegen dann oft unter einem
Prozent“, sagt Björn Storim, Bankenexperte
bei der Credit Suisse in Frankfurt. „Das
kann sich auf Dauer nicht für alle lohnen.“
Zumal sich Banken derzeit noch extrem
günstig über die EZB finanzieren. Sollte die
Zentralbank ihre Stützungsaktionen in absehbarer
Zeit einstellen oder zurückfahren,
geraten die mickrigen Gewinnspannen zusätzlich
unter Druck.
Doch vielen Instituten geht es unbeirrt
weiter auch um Masse. So will die Com-
86 Prozent
der Unternehmen sind
mit ihrem Zugang zur
Finanzierung zufrieden
ENDE DER VERSCHWIEGENHEIT
Völlig abgegrast ist die Wiese noch nicht.
Trotz der niedrigen Zinsen lassen sich bei
günstigen eigenen Kosten mit klassischen
Krediten derzeit noch knapp zweistellige
Eigenkapitalrenditen verdienen. „Der Kredit
macht im Durchschnitt nur etwa 30 Prozent
einer Unternehmensbilanz aus. Daneben
gibt es viel Raum für sinnvolle Zusatzgeschäfte“,
sagt Eckart Windhagen, Bankenexperte
bei der Beratung McKinsey &
Company in Frankfurt. Die immer noch
zunehmende Internationalisierung führe
dauerhaft zu mehr Nachfrage nach Produkten
für deren Finanzierung. „Die Banken
müssen jetzt da sein, um langfristig
von der Beziehung zum Kunden zu profitieren“,
sagt Windhagen.
Aktuell haben sich die Hoffnungen auf
ein deutlich anziehendes Zusatzgeschäft
jenseits des Kredits jedenfalls noch nicht
erfüllt. „Die klassische Finanzierung ist
derzeit konkurrenzlos günstig“, sagt Oliver
Kessler, Anwalt bei der Kanzlei Oppenhoff
& Partner in Frankfurt. „Alternative Formen
kommen eigentlich nur für Unternehmen
infrage, die Schwierigkeiten haben,
einen Kredit zu bekommen.“
Wachstum könnte es etwa bei Geschäften
zur Absicherung von Währungsrisiken
geben. Auf diese Themen stürzen sich vor
allem die internationalen Großbanken. So
will etwa die französische BNP Paribas bis
zu 500 Banker neu einstellen, um vor allem
ihr Geschäft mit deutschen Unternehmen
zu forcieren. Ende August verkündete auch
die eigentlich verschwiegen oberhalb einer
schattigen Einkaufspassage an der Düsseldorfer
Königsallee residierende HSBC
Trinkaus große Pläne. Bankchef Andreas
Schmitz kündigte „mehr Produkte, mehr
Mitarbeiter und mehr Risiko“ an. Das heißt
vor allem: mehr Geschäft mit dem gehobenen
Mittelstand. Auch Unternehmen mit
einem Umsatz ab 100 Millionen Euro
»
FOTO: VISUM/ROBERT BREMBECK
68 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Unternehmen&Märkte
»
sind bei der Bank ab sofort willkommen.
„Wir wollen unsere Kundenbasis so nahezu
verdoppeln“, sagt Schmitz.
KAMPF UM DIE EXISTENZ
Wie in anderen Metropolen knubbelt sich
die Konkurrenz auch in der nordrheinwestfälischen
Landeshauptstadt. So will die
2007 an waghalsigen Spekulationen kollabierte
IKB wieder stärker in ihrem Stammgeschäft
mitmischen. Selbst die BayernLB
will seit 2010 mit einer Dependance Kunden
aus NRW gewinnen. Sie hat eine Mittelstandsoffensive
gestartet, seit 2010 ihr
Kreditvolumen um etwa 20 Prozent erhöht
und jährlich rund 150 Kunden mit einem
Günstiges Geld
Effektivzinssätze fürKredite
an Unternehmen (inProzent)
4,0
3,0
2,0
Krediteüber1Mio. €
1,0
2011 2012
Quelle:Bundesbank
Kreditebis 1Mio. €
2013
Umsatz zwischen 50 Millionen und einer
Milliarde Euro hinzugewonnen. Ihr Ziel:
zehn Prozent jährliches Wachstum.
Gerade für die Landesbanken geht es um
ihre Existenz. Mit ihren Investitionen in
Wertpapiere sind sie auf die Nase gefallen,
ihr Auslandsgeschäft mussten sie als Auflage
für staatliche Beihilfen dichtmachen.
Die Förderung des Mittelstands finden zumindest
schon mal ihre Eigentümer in der
Landespolitik gut. Die bisherigen Ergebnisse
sind stabil, aber bescheiden.
Das ist typisch. „Das Mittelstandsgeschäft
liefert relativ stabile Erträge, aber die
Bäume wachsen nicht in den Himmel“,
sagt der frühere Dresdner-Bank-Chef und
heutige Berater Herbert Walter. Problematisch
sei, dass alle Banken die gleichen
Kunden haben wollten: größere Unternehmen
mit akzeptabler Bonität und internationaler
Aufstellung. „Für einige Banken
wird es ein böses Erwachen geben, wenn
sie merken, dass sie bei der Umsetzung ihrer
Wachstumspläne die Risiken falsch eingeschätzt
haben“, warnt Walter.
Die Aufsichtsbehörden schauen jedenfalls
schon skeptisch auf das Werben. „Es
stürzen sich so viele Banken auf das Geschäft,
dass man sich fragen muss, ob es
dafür überhaupt genügend Mittelständler
gibt“, wunderte sich jüngst Bundesbank-Vizechefin
Sabine Lautenschläger.
Die teils herausragenden Ergebnisse der
vergangenen Jahre im Mittelstandsgeschäft
stammten auch daher, dass Banken
hohe Rückstellungen für Kreditausfälle
auflösten. Das funktioniert nun nicht mehr.
So kündigte der bei der Commerzbank zuständige
Vorstand Markus Beumer in einem
Interview mit der „Börsen-Zeitung“
eine „Normalisierung“ an. Folge ist ein
niedriger Gewinn. Im ersten Halbjahr sank
er um 38 Prozent auf knapp 550 Millionen
Kreditvolumen stagniert
Darlehen an Selbstständigeund
Unternehmen (inMilliarden Euro)*
861 857
2009
867 871 868
2010 2011 2012 2013**
*ohneWohnungsbau undKredite an andere
Banken;**1.Halbjahr; Quelle:Bundesbank
Euro. Gleichzeitig macht der Bank der verschärfte
Kampf um die Kunden zu schaffen.
„Hier werden von Wettbewerbern Eintrittspreise
gezahlt“, klagte Beumer.
Wie es sich für einen selbstbewussten
Deutsche-Bank-Manager gehört, will Wilhelm
von Haller nicht mit Billigpreisen,
sondern mit Qualität überzeugen. „Erfolgreiche
Unternehmer wünschen sich eine
erfolgreiche Bank als Partner“, sagt er. Dabei
ist der Ruf seines Instituts in der Zielgruppe
angekratzt. Das liegt vor allem am
Verkauf komplexer Finanzprodukte, die
manche Unternehmer nicht komplett verstanden
und die ihnen hohe Verluste bescherten.
Doch das sollen Sünden der Ver-
2 Prozent Zinsen
und weniger zahlen
Unternehmen derzeit für
kurzfristige Kredite
gangenheit sein. Die Bank hat die Prüfung
neuer Produkte deutlich verschärft und bezahlt
Angestellte auch danach, welchen
Nutzen ein Kunde von ihrem Wirken hat.
Das heißt nicht, dass sie auf Zusatzgeschäfte
verzichten will. Zwar sieht von Haller
die traditionelle Finanzierung weiter als
wichtiges Angebot: „Ein Kredit muss sich
rechnen und kann nicht bloß der Türöffner
für weitere Geschäfte und Dienstleistungen
sein“, sagt er. Die Bank will bis 2015
zehn Milliarden Euro zusätzlich vergeben.
Bisher habe es auch keinen Einbruch bei
den Margen gegeben, so von Haller.
MEHR NÄHE IN DER REGION
Vor allem aber will die Bank Kunden mit
passenderen Angeboten überzeugen. Dafür
hat sie intern groß umstrukturiert und
das Geschäft mit mittelgroßen Unternehmen
mitsamt dem Großteil ihrer Betreuer
aus der Investmentbank organisatorisch
ins neue Privat- und Firmenkundengeschäft
verlagert. „Dadurch bekommen die
größeren Kunden mehr Nähe in der Region
und die kleineren Unternehmen mehr Zugriff
auf das weltweite Angebot der Deutschen
Bank“, lobt von Haller das vor Kurzem
abgeschlossene Projekt.
Deutschlandweit hat das Institut nun
180 Filialen zusätzlich mit Firmenkundenbetreuern
aus größeren Standorten bestückt.
Sie sollen sich von dort aus um die
Kunden in der Region kümmern. Erwünschter
Nebeneffekt: Die stärkere Bindung
an die Zweigstelle könnte Unternehmer
empfänglicher für die Anlage ihres Privatvermögens
bei der Bank machen.
Kleinere, internationale Unternehmen
will die Bank für Themen wie die Abwicklung
des Zahlungsverkehrs, Handelsfinanzierungen
oder die Steuerung der Liquidität
in Auslandsmärkten überzeugen. Dafür
wird das bisher stark auf die Investmentbank
konzentrierte Transaktionsgeschäft
enger an den Mittelstand gebunden. Während
die Experten dort bisher allenfalls auf
Zuruf für Filialkunden aktiv wurden, gibt es
dafür nun feste Teams.
Mit allzu forschen Vorgaben hält sich
von Haller trotz der Renovierung des Angebots
zurück. Um nichts zu überstürzen, hat
die Bank darauf verzichtet, trotz der durch
die neue Organisation deutlich gestiegenen
Kundenzahl das Ergebnisziel zu erhöhen.
Denn, so sagt von Haller: „Die Beziehung
zu einem Kunden muss langsam
wachsen. Wer hier schnell möglichst viel
verdienen will, hat schon verloren.“ n
cornelius.welp@wiwo.de | Frankfurt
70 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Technik&Wissen
Zwischen Dichtung
und Wahrheit
KLIMAWANDEL | Widersprüchliche Prognosen, teurer Aktionismus, ergebnislose
Gipfel – die Klimapolitik ist auf ganzer Linie gescheitert. Es ist höchste Zeit für einen
Neuanfang. Fünf Vorschläge, wie das Klima wirklich zu retten ist.
Hungersnöte, Kriege, Artensterben
– zuletzt gab es kaum
noch eine Geißel der
Menschheit, an der der Klimawandel
nicht schuld sein
sollte. Doch sobald die Forscher näher hinsehen,
ergibt sich ein differenzierteres Bild,
löst sich manche Behauptung in Luft auf.
Hunger? Nie zogen Fischer aus dem US-
Bundesstaat Maine mehr Hummer aus
dem Atlantik als zurzeit. Meeresbiologen
erklären das Phänomen mit wärmeren
Strömungen – eine Folge der Erwärmung
der Ozeane. Das Überangebot hat die Preise
für die einstige Luxus-Delikatesse so
stark gedrückt, dass sie nicht einmal mehr
die Kosten der Fischer decken.
Kriege? Weil Wasser und Nahrungsmittel
knapp und immer mehr Regionen wegen
Extremwetters nahezu unbewohnbar
würden, warnen Klimawissenschaftler vor
einer Zunahme gewalttätiger Auseinandersetzungen.
Tatsächlich jedoch sinkt die
Zahl internationaler Konflikte seit den
Fünfzigerjahren kontinuierlich. Vor allem
wegen des wachsenden Wohlstands in
vielen Entwicklungsländern. So haben es
Forscher der Simon-Fraser-Universität im
kanadischen Vancouver analysiert.
Artensterben? Auch hierfür schoben Klimaforscher
der Erderwärmung den
Schwarzen Peter in die Schuhe. Vorschnell
– fanden Biologen der Universitäten in
Toulouse und Utrecht gerade in einer Studie
heraus. Zumindest für die Vielfalt der
Süßwasserfische, so die Wissenschaftler,
seien die Verschmutzung und Zerstörung
von Lebensräumen weitaus bedrohlicher.
Die drei Beispiele illustrieren das Dilemma
der aktuellen Klimapolitik. Im Drang,
Ungelöstes Rätsel
Obwohlder CO2-Gehalt in der Atmosphärestetigsteigt...
390
380
370
360
350
340
330
1980 1990 2000 2010
...pausiertseit 1998 dieErderwärmung
0,8
0,6
0,4
CO2(ppm)
Vorhersage der
Klimaforscher*
0,2
tatsächlichejährliche
Temperaturveränderung
(inGradCelsius)**
0
1980 1990 2000 2010
*Durchschnitt ausallen Klimamodellen;
** verglichen miteinem Mittelwertaus elfJahren,
fürden Zeitraum 1979–1982 aufnulljustiert;
Quelle:Met Office,CopenhagenConsensus Center
die Welt wegen der vermeintlich existenziellen
Risiken zu raschem Handeln zu bewegen,
zeichneten Forscher und Politiker
immer bedrohlichere Horrorszenarien.
Doch jetzt zeigt sich: Die Fakten widerlegen
viele Untergangsprophezeiungen oder
relativieren sie zumindest stark. Wir sollten
daher innehalten und die Fakten analysieren.
Statt weiter einem Phantom hinterherzujagen,
ist die Zeit reif für eine neue
Klimapolitik.
Nichts belegt das besser als der gerade in
Stockholm vorgelegte fünfte Klimabericht
des Intergovernmental Panel on Climate
Change (IPCC). Kleinlaut muss der Weltklimarat
darin eingestehen, dass der zentrale
Mechanismus für die Erderwärmung
zumindest derzeit nicht so funktioniert,
wie die Forscher erwartet haben. Laut ihrer
Theorie steigt die globale Durchschnittstemperatur
umso rascher, je mehr Kohlendioxid
sich in der Atmosphäre befindet.
Doch obwohl die CO 2 -Konzentration zunimmt,
pausiert die Erwärmung seit 15
Jahren. Kein Klimamodell des IPCC hat das
vorausgesehen (siehe Grafik links).
FORSCHER IN ERKLÄRUNGSNOT
Jetzt mutmaßt der Rat, der Pazifik könne einen
Großteil der Erwärmung aufgenommen
haben. Eine ausreichende Erklärung
ist das nicht. Hans von Storch, Leiter des
Instituts für Küstenforschung am Helmholtz-Zentrum
in Geesthacht, sieht seine
Zunft daher in Erklärungsnot: „Wir müssen
schleunigst klären, wie lange die Stagnation
anhalten darf, ohne dass wir die gängige
Erwärmungstheorie hinterfragen müssen.“
Irgendetwas an den bisherigen Simulationen,
so viel ist klar, kann nicht stimmen.
Das Klima reagiert offenbar weit weniger
sensibel auf den Anstieg der Treibhausgase
als befürchtet.
Trotz dieses Befunds wird nicht automatisch
alles gut. Die Gefahren einer Erderwärmung
sind nicht ausgeräumt. Auch
wenn Klimaskeptiker die Ungereimtheiten
der Forschung jetzt dazu ausschlachten,
»
FOTO: AGENTUR FOCUS/JUSTIN JIN
72 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Freie Fahrt dank Eisschwund
Russische Hochsee-Tankstelle für
Schiffe auf der nun zugänglichen
Europa-Asien-Route durchs
arktische Meer
Um 3600 Euro
verteuern schärfere
CO 2 -Grenzwerte jeden
Neuwagen
Mit15 Billionen
Euro will die EU bis 2100
die Erderwärmung
bekämpfen
Nur 0,05 Grad Celsius
weniger würde die Temperatur
durch die EU-Klimapläne
ansteigen
Es ist300 Euro
teurer, eine Tonne CO 2 mit
Solar- statt mit Windstrom
zu vermeiden
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 73
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Technik&Wissen
»
dem Publikum genau dies zu suggerieren.
Das aber ist ebenso unverantwortlich
wie die Horrorgemälde der Mahner.
Nicht auszuschließen ist zum Beispiel,
dass die Risiken an ganz anderer Stelle auftauchen,
als die Klimatologen bisher vermuteten.
Gerade hatten diese in Stockholm
verhaltene Entwarnung für die Weltmeere
gegeben, da meldeten sich in London Meeresforscher
zu Wort. Ihre Warnung: Das
CO 2 versaure die Ozeane so stark wie zuletzt
vor 300 Millionen Jahren. Mögliche
Folge: Selbst Gewässer wie vor
Maine, wo die Fischbestände
wegen der Erwärmung gerade
stark zunehmen, könnten sich
in Todeszonen verwandeln.
Es wäre kurzsichtig, solche Risiken
zu ignorieren. Niemand
kann wollen, dass eine Nahrungsquelle
für Milliarden
Menschen versiegt. Doch der
Streit der Experten zeigt auch,
auf welch unsicherer Basis sich
viele wissenschaftliche Aussagen
zu Ursachen und Wirkung
des Klimawandels bewegen. Weit öfter gibt
es mehr Fragen als Antworten.
Die Verfasser des aktuellen Klimareports
räumen diese Unsicherheiten an vielen
Stellen erstmals ein, anstatt sie wegzudiskutieren.
Das ist ein Fortschritt – und zugleich
Anlass, die bisherige Klimapolitik
neu zu justieren. Der Däne Bjørn Lomborg,
Leiter des Copenhagen Consensus Center,
sieht stellvertretend für viele Kritiker des
IPCC in dem Report die große Chance, „die
Klimadiskussion endlich realistischer und
intelligenter zu führen“. Die Triebfedern, so
ihr Appell, sollten diesmal Rationalität und
wirtschaftliche Vernunft statt Alarmismus
und blinder Aktionismus sein.
ENERGIEWENDE
Mehr zum Thema
lesen Sie auf Seite 20:
Warum die Strompreise
in Deutschland
so stark steigen
Die Reiter der Apokalypse dagegen malten
wahre Schreckensbilder, um die Menschen
auf ihren Kurs einzuschwören. Die
Spiegel der Meere könnten bis 2100 um bis
zu sechs Meter ansteigen und New York
überfluten, prophezeite etwa der frühere
US-Vizepräsident Al Gore. Selbst ein besonnener
Mann wie der Ex-Weltbank-Chefökonom
Nicholas Stern ließ sich dazu hinreißen,
mit Rechentricks einen Schaden
von 20 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts
herbeizurechnen Am Ende musste
der Professor einräumen, zu
hoch gegriffen zu haben.
Politiker fast aller Couleur ließen
sich dennoch nicht zwei
Mal bitten. Unter Berufung auf
den Stern-Report und die Berichte
des IPCC, erließen sie in
schneller Folge Gesetze und erfanden
Instrumente, die Wirtschaft
und Verbrauchern Milliardenlasten
aufbürden. Es war
chic und galt als förderlich für
die Wiederwahl, sich als Klimaretter
zu präsentieren. Dass viele
Maßnahmen auf äußerst unsicheren Annahmen
der Klimaforschung beruhten,
störte augenscheinlich nur wenige Mahner.
Die Liste der Eingriffe wird stetig länger:
Emissionshandel, Grenzwerte für den
CO 2 -Ausstoß von Autos, Flugzeugen und
Kraftwerken, Ökosteuern auf Strom und
Benzin, Dämmvorschriften. Die Kosten für
Bürger und Unternehmer klettern und
klettern. Bundesumweltminister Peter Altmaier
rechnet damit, dass allein die Umstellung
der Energieversorgung in
Deutschland auf Wind und Sonne bis zu einer
Billion Euro kostet. Ulrich Eichhorn,
der beim Verband der Automobilindustrie
den Bereich Technik und Umwelt leitet,
Die Apokalyptiker des Klimawandels
schätzt, dass strengere Limits für den
CO 2 -Ausstoß den Bau jedes Fahrzeugs um
3600 Euro verteuern wird. Hintergrund der
Rechnung: Die EU-Kommission will die
Emissionen bis 2020 auf 95 Gramm pro Kilometer
begrenzen.
HOHE KOSTEN, WENIG ERTRAG
So gut wie nie hat die Politik ihre Maßnahmen
auf die ökonomischen Folgen überprüft.
Ebenso wenig achtete sie darauf, ob
die Erlässe und Gesetze dem Klima tatsächlich
helfen. Das hätte sie aber besser
getan. Dann hätte etwa die EU frühzeitig
gemerkt, dass ihr Klimapaket, mit dem sie
die CO 2 -Emissionen Europas bis 2020 um
20 Prozent gegenüber 1990 reduzieren will,
zwar viel kostet, aber wenig bringt.
Der niederländische Umweltökonom Richard
Tol hat Kosten und Nutzen verglichen.
Danach pumpen die EU-Staaten bis
2100 fast 15 Billionen Euro in den Klimaschutz.
Den Temperaturanstieg bremst die
Summe jedoch nur um 0,05 Grad Celsius.
Für fast nichts verspielt die EU jedes Jahrzehnt
ein Jahr Wirtschaftswachstum.
Auch an der Zwischenbilanz der selbst
ernannten grünen Weltmacht Deutschland
zeigt sich das Scheitern bisheriger Klimapolitik:
Zuletzt stieg der CO 2 -Ausstoß
wieder – trotz der milliardenschwerer Subventionitis
in Wind und Sonne.
Es geht nicht darum, die Erderwärmung
zu leugnen. Doch wem die Rettung des Klimas
wirklich am Herzen liegt, der muss
wollen, dass die eingesetzten Mittel wirken
und dass sie effizient eingesetzt werden.
Sonst sind sie schlicht Fehlinvestitionen.
Wenn aber am Ende Wirtschaft und Klima
am Boden liegen, ist niemandem geholfen.
Wir haben daher mit Experten gesprochen
und Klimaforscher interviewt – und aus
diesen Recherchen fünf Vorschläge für eine
effektivere Klimapolitik entwickelt.
Al Gore
»Jeder einzelne Meter, den
der Meeresspiegel ansteigt,
verursacht rund 100 Millionen
Klimaflüchtlinge.«
Der ehemalige US-Vizepräsident wurde zum
wichtigsten politischen Vertreter der Klimapolitik
in den USA. Bücher, Konzertreihen
und ein Dokumentarfilm zum Thema („Eine
unbequeme Wahrheit“) machten ihn zur
politischen Ikone der Klimabewegung in
den Vereinigten Staaten.
Rajendra Pachauri
»Hitzewellen, die alle paar
Jahrzehnte auftraten, werden
bis Mitte des Jahrhunderts
jedes zweite Jahr vorkommen.«
Der Ökonom und Eisenbahningenieur leitet
seit 2002 das Intergovernmental Panel on
Climate Change (IPCC). Gemeinsam mit
Al Gore erhielt der Inder für diese Arbeit
2007 den Friedensnobelpreis. Die regelmäßigen
Prognosen des IPCC finden weltweit
große Beachtung.
Nicholas Stern
»Was auf die Welt zukommt,
das hat es in den
vergangenen 30 Millionen
Jahren nicht gegeben.«
Der einstige Chefökonom der Weltbank
beschäftigte sich 2006 in dem nach ihm
benannten Bericht mit den wirtschaftlichen
Folgen des Klimawandels. Vor großen Zahlen
schreckt er nicht zurück: Im schlimmsten
Fall werde die Erderwärmung 20 Prozent
des globalen Bruttoinlandsprodukts kosten.
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Gegen höhere
Nordseefluten
Dammbau
vor der Küste
Ostholsteins
FOTOS: ARGUS/MIKE SCHRÖDER, GETTY IMAGES (2), VISUM, DAVIDS, DDP IMAGES, PR
Reform des Klimarats und
1| Erweiterung der Forschung
25 Jahre wird das IPCC im Herbst alt – Zeit
für eine Bilanz. Nur wenige Kritiker sind so
radikal wie die US-Klimaforscherin Judith
Curry, die das Gremium ganz auflösen will:
Mit seiner Fixierung auf eine Senkung des
CO 2 -Ausstoßes blockiere der Rat innovative
Forschungsansätze, die nach anderen
Erklärungen und Lösungen suchen.
Sehr viele Forscher aber wollen das IPCC
gründlich reformieren. Auf der Wunschliste
ganz oben stehen Entpolitisierung und
weniger Geheimniskrämerei. Jüngstes Beispiel
für Gemauschel: Im aktuellen Sachstandsbericht
betont der Rat, er sei zu 95
Prozent sicher, dass vor allem der Mensch
den Klimawandel verursacht. Das klingt
nach Wissenschaft, tatsächlich basiert das
Ergebnis auf einer Umfrage. Welche Forscher
gefragt wurden, sagt das IPCC nicht.
Der Klimarat sei schon immer eine politische
Institution gewesen, sagt Mike Hulme,
Klimaforscher am Londoner King’s College.
Geschaffen und überwacht von Regierungen.
Sie sorgten dafür, dass vermeintliche
Sachaussagen politisch gefärbt wurden. Umso
wichtigersei, dassseine leitenden Akteure
Distanz hielten, statt sich für politische Maßnahmen
vereinnahmen zu lassen, ergänzt
Silke Beck, Sozialforscherin am Helmholtz-
Zentrum für Umweltforschung in Leipzig.
Hulme setzt sich zudem für kürzere Berichte
ein, die häufiger aktualisiert werden.
Mit ihnen sollten die Forscher gezielt Wissenslücken
schließen, zum Beispiel über
die Wirkung der Aerosole. Gerade in den
Megastädten Asiens mit ihrem permanenten
Smog ist der Einfluss dieser Staubpartikel
auf das regionale Klima nicht zu unterschätzen:
Sie schatten Sonnenstrahlung ab
und kühlen so die erdnahe Luft.
2|
Entwicklung klimaschonender
Technologien
Lange waren dem Weltklimarat die Möglichkeiten,
das Klima womöglich reparieren
zu können, kein Wort wert. Im aktuellen Report
beschäftigt er sich immerhin erstmals
mit dem sogenannten Geoengineering.
Ideen dafür gibt es viele: Die einen wollen
die Meere mit Eisen düngen. Es wür-
»
Hans Joachim Schellnhuber
»Fünf Grad mehr können
bedeuten, dass sich eine
Wüste vom Süden bis nach
Berlin erstreckt.«
Angela Merkel
»Wir wissen, dass das
Zwei-Grad-Ziel nicht
zu erreichen ist, es wird
eher das Doppelte herauskommen.«
Michael Mann
»Die weltweite Klimaentwicklung
im vergangenen
Jahrhundert hat die Form
eines Hockeyschlägers.«
Der Direktor des Potsdam-Instituts für
Klimafolgenforschung ist der wohl bekannteste
deutsche Klimaforscher. Der
Ideengeber für das „Zwei-Grad-Ziel“ der
UN nimmt als Mitglied im IPCC und wissenschaftlicher
Berater der Bundesregierung
Einfluss auf die Klimapolitik.
Spätestens seit dem medienwirksamen
Auftritt mit dem damaligen Umweltminister
Sigmar Gabriel auf Grönland 2007 hat die
Bundeskanzlerin das Klima für sich entdeckt.
Nach dem Fukushima-Reaktorunfall
nutzte sie die emotionale Kraft des Themas,
um aus der Atomkraft auszusteigen.
Auf diese Form lässt sich die Erkenntnis des
US-Forschers bringen. 1999 veröffentlicht,
wurde sie zeitweise zum Hauptwerk der Klimaforschung.
In die Öffentlichkeit drängt
es den Forscher kaum. Mit der anschaulichen
These ist er dennoch zum Hassobjekt
des konservativen Amerikas geworden.
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 75
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Technik&Wissen
»
de das Wachstum des Planktons fördern,
das sich von CO 2 ernährt. Andere schlagen
vor, tonnenweise Schwefel in den oberen
Schichten der Erdatmosphäre zu verbrennen.
Es entstünde ein Dunstschleier, der
die Sonneneinstrahlung vermindert.
Viele Experten halten die Klempnerei
am Klima allerdings für hochriskant. Sie
setzen eher auf Technologien, die verhindern,
dass CO 2 in die Luft gelangt, oder die
das Gas einfangen und es entweder als
Rohstoff nutzen oder es dauerhaft einlagern.
130 Millionen Tonnen CO 2 werden so
heute schon wirtschaftlich verwertet.
Der niederländische Klimaökonom Richard
Tol hat ausgerechnet, was der Einsatz
der besten dafür verfügbaren Technologien
weltweit bringen würde: Die globalen
Treibhausgas-Emissionen würden sich
auf einen Schlag halbieren.
3|
Weniger Klimagipfel, aber
mehr politische Ehrlichkeit
Die Euphorie war groß, als die UN 1992 im
brasilianischen Rio de Janeiro weitreichende
Maßnahmen zum Schutz unseres Planeten
vereinbarten. Im kommenden November
treffen sich Hunderte Abgesandte
aus rund 200 Staaten in Warschau erneut:
zum inzwischen 19. Klimapalaver.
Doch vom Ziel, die Erderwärmung bis
zum Ende der Jahrhunderts auf zwei Grad
Celsius zu begrenzen, ist die Welt weiter
entfernt denn je. Die einstige Aufbruchstimmung
ist erstorben. Und kaum ein
professioneller Beobachter glaubt mehr,
dass sich die Weltgemeinschaft auf einem
künftigen Gipfel noch auf gemeinsame
Maßnahmen einigen wird. Was aber tun?
Die Gipfel abblasen?
Künstliche Kühlung Im Sommer decken
Arbeiter den Zugspitzgletscher mit Matten ab
So weit will Oliver Geden von der Stiftung
Wissenschaft und Politik in Berlin
nicht gehen. Doch die Mission des IPCC
hält er „für erfüllt“. Geden schlägt vor, das
Zwei-Grad-Ziel aufzugeben. „Es ist illusorisch.“
Statt Klimapolitik länger im Gewand
eines vermeintlich „wissenschaftlich abgesicherten
Weltumgestaltungsplans zu präsentieren“,
sollten die Regierungen lieber
pragmatisch Möglichkeiten aushandeln,
Treibhausgas-Emissionen zu reduzieren.
Elliot Diringer, Vizepräsident des US-
Center for Climate and Energy Solutions in
Virginia, sieht den besten Weg darin, wenn
jedes Land für sich seine Klimaziele und
den Weg dorthin festlegt. So entstünde
Wettbewerb, und es käme endlich Dynamik
in den Prozess, ist er überzeugt.
Andere schwören auf einen globalen
Emissionshandel. Unternehmen und
Kraftwerksbetreiber, die CO 2 in die Luft
pusten, müssen für die Verschmutzung bezahlen.
Außer der EU experimentieren inzwischen
Australien, Neuseeland, China,
Südkorea und Bundesstaaten in den USA
und Kanada mit solchen Systemen. Experten
sehen Chancen, sie zu verknüpfen.
Kritiker fordern,
das Zwei-Grad-
Ziel aufzugeben.
Es sei illusorisch
4|
Vorfahrt für ökonomisch
effiziente Maßnahmen
Wie Politiker Geld zum Fenster hinauswerfen
und dem Klima – statt zu helfen – auch
noch schaden, haben die Ökonomen
Hans-Werner Sinn und John Hassler erst
jüngst wieder in einer Studie vorgerechnet.
Sinn ist Präsident des Münchner ifo Instituts
für Wirtschaftsforschung, Hassler lehrt
an der Universität Stockholm. In dem Papier
kommen sie zum Ergebnis, dass es
nicht nur viel Geld kostet, Raps und Mais
als Energiealternative zu Kohle und Öl zu
subventionieren. Schlimmer: Ihr Anbau
beschleunigt die Erderwärmung sogar.
Der Grund liegt im „grünen Paradoxon“,
auf das Ökonom Sinn schon früher aufmerksam
gemacht hat. Die Förderung für
Energiepflanzen schmälert zunächst die
Nachfrage nach fossilen Brennstoffen, die
daraufhin billiger werden. Als Folge des
Preisrutsches werden am Ende aber mehr
Kohle und Öl verheizt als vorher – die Klimabelastung
steigt. Ein Blick auf die globale
CO 2 -Bilanz untermauert die These. Die
Emissionen erreichten vergangenes Jahr
einen neuen Rekord: Sie stiegen um 1,4
Prozent auf 31,6 Milliarden Tonnen.
AUF KOSTEN DER ÄRMSTEN
Doch es kommt noch ärger. Weil dort, wo
Energiepflanzen angebaut werden, kein
Getreide und Gemüse wachsen kann, verteuern
diese sich laut Sinn und Hassler um
mindestens 40 Prozent, im schlimmsten
Fall sogar um 250 Prozent. Das ist verkorkster
Klimaschutz auf Kosten der Ärmsten.
Das gleiche Paradoxon zeigt sich in der
Energiepolitik. Was die Deutschen wegen
ihrer Windmühlen und Solardächer weniger
an CO 2 in die Luft blasen, wird anderswo
wegen der gesunkenen Preise etwa für
Kohle umso ungenierter konsumiert. Die
Lehre daraus: Nichtstun kann besser sein,
als das Falsche zu tun.
Zumindest sollten die Politiker künftig
vorher genau bedenken, was ihr Aktionismus
bewirkt. Dann würden sie vielleicht
zögern, mit Fotovoltaik ausgerechnet jene
Technologie am stärksten zu fördern, die
CO 2 am weitaus teuersten vermeidet.
Das zeigen Berechnungen des Energiewissenschaftlichen
Instituts (EWI) in Köln.
Danach kostet jede mit Sonnenstrom eingesparte
Tonne CO 2 346 Euro. Werden die
Watt mit Windrädern an Land erzeugt, sinken
die Kosten auf 42 Euro. Die Differenz
addiert sich zu enormen Summen. Würde
CO 2 -Vermeidung in Deutschland bis 2022
komplett auf Windenergie aus On-
»
FOTO: MAURITIUS IMAGES/PETER LEHNER
76 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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»
shore-Anlagen umgestellt, rechnen die
EWI-Experten hoch, verringerten sich die
jährlichen Gesamtkosten um bis zu zwei
Milliarden Euro.
Viel Geld, das Bürgern für Konsum und
Unternehmen für die Schaffung neuer Jobs
zur Verfügung stünde. Die Konsequenz ist
für Sinn klar: Vor jeder Maßnahme sollte
künftig eine nüchterne ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse
stehen.
5|
Anpassung an den Klimawandel
kann billiger sein
Bei der Diskussion über die Erderwärmung
werden positive Effekte gerne unterschlagen.
Darauf weist der Klimaforscher
Bjørn Lomborg aus Kopenhagen hin und
nennt Beispiele: In Regionen, die sich erwärmen,
können die Bauern mehr Ernten
einfahren, und die Heizkosten sinken.
Und weil weit mehr Menschen an Kälte
denn an Hitze sterben, könnten künftig
jährlich weltweit 1,4 Millionen Menschen
weniger solchen Wetterextremen zum Opfer
fallen.
Doch in vielen Teilen der Welt werden
eher die negativen Folgen überwiegen.
Dennoch könnte es ökonomisch sinnvoller
sein, sich dort dem Wandel anzupassen,
als ihn verhindern zu wollen – egal,
was es kostet. Roger Pielke senior, Klimaforscher
an der Universität von Colorado,
spricht vom „Bottom-up-Prinzip“. Er
schlägt vor, die Verletzlichkeit von Ökosystemen
und Infrastrukturen zu erfassen
und sie einer Risikoanalyse zu unterziehen.
Beim Wirbelsturm Sandy, der vergangenes
Jahr New York schwer traf, kam so
heraus, das es billiger ist, Eigentümer von
Wohnungen und Geschäften in den von
Sturmfluten bedrohten Bezirken umzusiedeln,
anstatt an der Küste für viel Geld
Dämme zu bauen.
Anderswo wiederum kann ihre Aufschüttung
durchaus sinnvoll sein. Laut einer
britischen Studie können höhere
Dämme, Frühwarnsysteme für Krankheiten
und neue Ackerbaumethoden die Folgekosten
des Klimawandels regional um
bis zu einem Drittel reduzieren.
Der kanadische Web-Visionär Don Tapscott
traut dem Internet eine wichtige Rolle
im Kampf gegen den Klimawandel zu. In
Hunderten Projekten weltweit organisierten
sich Menschen über das Netz, um den
CO 2 -Ausstoß in lokalen Initiativen zu senken.
Tapscott ist überzeugt: „Das ist wirkungsvoller
als jeder politische Gipfel.“ n
dieter.duerand@wiwo.de, sven titz
WELTKLIMARAT
Die gröbsten
Schnitzer
Schon mehrfach musste das IPCC
Horrorszenarien revidieren –
zulasten seiner Glaubwürdigkeit.
Die Zahl der Wirbelstürme
nimmt zu
Wahrscheinlich werde die Aktivität tropischer
Wirbelstürme – dazu zählen beispielsweise
Hurrikane und Taifune –
künftig zunehmen, verkündete der Weltklimarat
2007. Belege für diese Entwicklung
gab es schon damals kaum überzeugende.
Jetzt die Kehrtwende: Die
Experten erkennen an, dass die Prognosen
über Stürme zu unzuverlässig sind,
und behandeln das Thema nur noch als
Randnotiz. Nun sehen sie nurmehr eine
schwache Tendenz für stärkere Stürme
voraus – begrenzt auf den Nordatlantik
und den westlichen Nordpazifik.
Rettung nach Sturm Ingrid Eine Mexikanerin
bringt ihr Baby in Sicherheit
Die Sache mit dem
Hockeyschläger
2001 veröffentlichte das IPCC die berüchtigte
Hockeyschläger-Kurve. Sie sollte
zeigen: Die Erdtemperatur auf der
Nordhalbkugel war über Jahrhunderte
weitgehend konstant. Erst mit der Industrialisierung
und dem damit verbundenen
verstärkten Ausstoß von CO 2 stieg sie steil
an. Bald korrigierten neuere Rekonstruktionen
der Klimahistorie das eingängige
Bild. Sie zeigen, dass die Temperaturen
auch früher stark pendelten. So war es
vor 900 Jahren schon einmal annähernd
so warm wie heute. Es entstand der Verdacht,
dass Forscher um den US-Klimato-
logen Michael Mann die Kurve zum
Klimaverlauf „geglättet“ hatten, um die
Dramatik zu betonen.
Das antarktische
Meereis schmilzt
In ihrem vorherigen Klimabericht aus dem
Jahr 2007 waren sich die IPCC-Experten
noch ziemlich sicher: Rings um den Südpol
werde das Meereis schrumpfen,
schrieben sie. Aktuelle Messungen und
Satellitenbilder haben diese Prognose
widerlegt. Sie zeigen im Gegenteil sogar
eine Zunahme des Packeises. Im gerade
veröffentlichten fünften Klimabericht gesteht
das Wissenschaftlergremium seinen
Irrtum ein. Jetzt halten die Forscher es für
eher unwahrscheinlich, dass das antarktische
Eisschild rasch an Umfang und Volumen
verlieren wird. Anders in der Arktis:
Am Nordpol schmilzt das Eis tatsächlich.
Die Himalaja-Gletscher
verschwinden
Ebenfalls im Bericht von 2007 schreckte
der UN-Klimarat die Welt mit der Nachricht,
schon im Jahr 2035 seien die Gletscher
im Himalaja vollständig aufgetaut.
Käme es so, wären 1,4 Milliarden Menschen
in der Region ihres Trinkwasserreservoirs
beraubt. Doch bald erwies sich
das Horrorszenario als Fehlalarm. Es beruhte
auf Angaben der Umweltorganisation
World Wide Fund for Nature und
schlecht recherchierten Zeitungsartikeln.
Erst spät gestand das Gremium den
Patzer ein. Er basierte zudem auf einem
Zahlendreher: Wenn überhaupt, sollte das
Eis frühestens 2350 verschwunden sein.
In Afrika drohen
große Ernteausfälle
Auch die Behauptung, den Afrikanern
drohten infolge des Klimawandels massive
Ernteausfälle, hatte 2007 den Weg in
den vierten Sachstandsbericht gefunden.
Die Ernten, hieß es da, würden sich in einigen
Ländern bis 2020 womöglich halbieren.
In Wirklichkeit bezog sich diese
Prognose nur auf drei Staaten am Mittelmeer.
Zudem war die wissenschaftliche
Qualität der Studie fragwürdig. Offenbar
sind die IPCC-Forscher aus dem Schaden
klug geworden: Zumindest im Entwurf für
den Teilbericht II des Klimareports, den
sie kommenden März vorlegen, wiederholen
sie die Dürrewarnung nicht.
dieter.duerand@wiwo.de, sven titz
FOTO: DDP IMAGES/SIPA
78 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Technik&Wissen
Zunächst einmal muss die Straßenverkehrsordnung
fit gemacht werden für die
Zukunft – nicht nur in Deutschland und
Europa, sondern auch in den USA und
China. Wir haben die Hoffnung, dass sich
diese Prozesse harmonisieren lassen. Zum
Zweiten brauchen wir Bordrechner, die in
der Lage sind, die immense Datenflut extrem
schnell zu verarbeiten und die richtigen
Schlüsse zu ziehen. Und schließlich
brauchen wir perfekte Karten – je detaillierter
und aktueller die Informationen
über die Strecke sind, desto einfacher ist
die Steuerung des Fahrzeugs.
Verkehrsunfälle werden also schon bald
Vergangenheit sein?
Ein Show-Car zu bauen ist relativ einfach.
Ein Auto zu entwickeln, das in jeder Lebenslage
zuverlässig arbeitet, ist eine ganz
andere Herausforderung. Der Mercedes
S500 Intelligent Drive ist ein Forschungsauto
– basiert in der Basis aber komplett
DER MOBILITÄTSFORSCHER
Weber, 59, hat Werkzeugmacher gelernt
und später Maschinenbau studiert. Seit bald
zehn Jahren ist er im Daimler-Vorstand für
die Konzernforschung und die Fahrzeugentwicklung
bei Mercedes verantwortlich.
Zudem vertritt er den Stuttgarter Konzern in
der Nationalen Plattform Elektromobilität.
»Wir bauen die beste
Batterie der Welt«
INTERVIEW | Thomas Weber Der Mercedes-Entwicklungschef sieht
das Auto an einem Wendepunkt. Autos werden bald nicht mehr
verunglücken – und zumindest teilweise elektrisch angetrieben.
Herr Weber, ein Mercedes ist kürzlich von
Mannheim nach Pforzheim gefahren,
ohne dass der Fahrer ins Lenkrad griff
oder Pedale betätigte – vollkommen automatisch.
Der Versuch zeigte, was technisch
machbar ist. Aber wollen wir das
wirklich – die Kutsche ohne Kutscher?
Den „Big Brother“, der einen permanent
bevormundet, will niemand. Ich bin aber
überzeugt, dass es im Alltagsverkehr viele
Situationen gibt, wo der Fahrer sehr dankbar
für Unterstützung ist. Das Hauptmotiv
für die Entwicklung des autonomen Fahrens
ist das Bestreben, das Risiko aus dem
Autofahren herauszunehmen. Dazu
braucht es Technologien, die den Menschen
unterstützen, wenn er ermüdet,
wenn er unaufmerksam ist oder wenn
hochkomplexe Fahrsituationen einen Gelegenheitsfahrer
überfordern.
Der Autofahrer kriegt eine Art Vormund?
Nein, nicht, wenn er es sich nicht wünscht.
Auch wenn es Situationen gibt, wo es für
den Fahrer, die Insassen und alle anderen
Verkehrsteilnehmer besser wäre, wenn die
Technik das Kommando übernehmen
würde. Wir zwingen aber niemanden dazu,
die Hände vom Steuer zu nehmen.
Wo liegen noch die größten Herausforderungen
beim automatisierten Fahren?
auf Serientechnologie. Damit steht die
Grundarchitektur für diese Zukunftstechnologie.
Wichtig dabei, auch die Modulstrategie
stimmt. Das macht mich zuversichtlich,
dass das autonome Fahren bis
2020 in einem Mercedes Realität wird.
Fürchten Sie nicht, dass die Politik auf die
Idee kommt, alle Roboterautos per Funk
von Verkehrsleitzentralen fernzusteuern?
Das wäre für mich eine Horrorvision. Die
individuelle Mobilität muss erhalten bleiben
– inklusive die Freiheit, zu entscheiden,
wann und wie ich ein Ziel anfahre.
Natürlich müssen wir auf die Verkehrsund
Umweltsituation Rücksicht nehmen.
Aber Sicherheits- und Umweltaspekte wird
man in Zukunft gegen das Auto kaum
mehr ins Feld führen können, da die Technik
für ein unfallfreies und – zumindest in
sensiblen Regionen – auch für ein emissionsfreies
Fahren sorgen wird.
Gutes Stichwort: Die deutsche Autoindustrie
hat den Beginn des Zeitalters der
Elektromobilität ausgerufen. Stehen wir
wirklich schon an einem Wendepunkt?
Man hat der deutschen Autoindustrie lange
vorgeworfen, eine Entwicklung zu ver-
FOTO: VISUM/ANDY RIDDER
80 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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schlafen und nicht zu wissen, wohin die
Reise gehe. Die Kritiker wurden auf der IAA
eines Besseren belehrt:Alle deutschen Autohersteller
zeigen, dass sie den neuen
Kurs konsequent verfolgen.
Wohin führt der Kurs – zum Auto mit
Hybridantrieb oder zum Elektromobil?
Das hängt vom Einsatzzweck des Autos
und dessen Größe ab, und damit von der
Reichweitenanforderung des Nutzers. Bei
den großen Autos wird man nur mit dem
wieder aufladbaren Hybridantrieb die
CO 2 -Grenzwerte der Zukunft meistern.
Unser S-500-Plug-in-Hybrid begnügt sich
im Schnitt mit drei Liter Superbenzin auf
100 Kilometer. Für Fahrzeuge der Mittelklasse
und darüber ist das klar die Technologie
der Zukunft. Bei Kompaktfahrzeugen
wird dieser Antrieb sicher auch eine Rolle
spielen, wenn ich große Reichweiten brauche.
Aber speziell in diesem Segment wird
in Zukunft die Elektromobilität eine tragende
Rolle spielen.
Wie gut ist Mercedes darauf vorbereitet?
Mit dem elektrogetriebenen Stadtauto
Smart haben wir schon früh gezeigt, dass
man in der Stadt gut ohne Verbrennungsmotor
auskommt. Mit Car2Go haben wir
zudem ein Konzept für eine zeitbezogene
Nutzung von Autos in der Stadt – in drei
Städten ausschließlich mit Elektro-Smarts.
Und mit der Mercedes B-Klasse electric
drive können wir in Kürze ein Kompaktfahrzeug
für die Familie anbieten, das gut
in die neue Zeit passt: mit fünf Sitzen, 200
Kilometer Reichweite, großem Kofferraum
und viel Fahrspaß.
Aber mit einem Antrieb aus den USA. Ist
„Tesla inside“ nicht ein Armutszeugnis?
Wieso? Wir haben uns beim Thema Elektromobilität
strategisch breit aufgestellt.
Für den jetzigen Smart bauen wir bei Li-tec
in Kamenz mit Evonik die beste Batterie
der Welt und lernen dabei alles, was wir
über Hochleistungsbatterien wissen müssen.
Wir haben unserer eigenen Mannschaft
aber auch ganz bewusst ein Wettbewerbskonzept
gegenübergestellt, hinter
dem eine völlig andere Philosophie steckt.
Die Philosophie von Tesla besteht darin,
Technik zu nutzen, die auf dem Markt
verfügbar ist – etwa Batteriezellen, die
auch in Laptop-Computern arbeiten.
Passt so etwas wirklich zu Mercedes?
Viele haben zuerst geschmunzelt und gelästert,
als das kleine Startup aus Palo Alto
sein Konzept 2008 erstmals präsentierte.
Heute staunen die Gleichen über den Premiumantrieb
des Tesla Model S, der Drehmoment
und Leistung im Überfluss bietet.
»In der Stadt
kommt man gut
ohne Verbrennungsmotor
aus«
Wir sind stolz darauf, dass wir sehr früh erkannt
haben, was dort heranwächst, und
uns an dem Unternehmen beteiligt haben.
Die B-Klasse-Kunden werden davon profitieren.
Wir kriegen ein hochflexibles Batteriekonzept
und eine elektrische Reichweite
von sicher 200 Kilometern. Und dafür
müssen wir am Package des Autos nichts
ändern und können somit Mercedes-typische
Sicherheit, Komfort und Qualität bieten.
Das ist doch ein attraktives Konzept.
Daimler hat das nicht selbst hingekriegt?
Wir halten das für einen strategisch cleveren
Weg, um schnell und preiswert Lösungen
präsentieren zu können und viel Knowhow
zu sammeln. Wir nutzen die Power,
um kostengünstig Batterietechnik anbieten
zu können. Im Smart nutzen wir andere Akkus
als in der B-Klasse, im S-500-Plug-in-
Hybrid andere als in der Dieselhybrid-Variante
der E-Klasse. Das Gesamtkonzept ist
immer 100 Prozent Mercedes.
Daimler hält aktuell 4,3 Prozent der
Tesla-Aktien. Wird mehr draus?
Wir hätten Tesla vor Jahren natürlich übernehmen
können. Aber das war nie unser
Ziel. Das Startup lebt auch von seiner Kreativität
und seiner Selbstständigkeit. Daran
wollen wir nicht rütteln.
BATTERIETECHNIK
Nur keine Panik
Der Brand eines Tesla in den USA hat
die Diskussion um die Sicherheit von
Elektroautos mit Lithium-Ionen-Akku
neu entfacht. Auslöser war ein Metallteil,
das in ein Batteriemodul des Model
S einschlug. Tesla spricht von einem
Unfall und wirft der Feuerwehr vor, den
Schwelbrand nicht richtig bekämpft zu
haben. Auch bei Daimler gibt man sich
gelassen. „Die Einbaubedingungen des
Antriebstrangs sowie der Aufbau der
Batterie der B-Klasse Electric Drive ist
unterschiedlich zum Tesla Model S und
somit nicht zu vergleichen.“
Die elektrisch getriebene B-Klasse wird ab
Frühjahr 2014 zunächst in den USA angeboten.
Warum nicht auch in Deutschland?
Weil in den USA die Begeisterung für Elektroautos
derzeit größer ist als hierzulande
und die Elektromobilität gefördert wird.
Sie wünschen sich eine finanzielle Förderung
durch die neue Bundesregierung?
Wir haben immer gesagt: Jetzt entscheidet
sich, in welchem Markt die neue Technologie
stattfindet. Wir sind global aufgestellt
und werden die am Anfang begrenzten
Mengen dorthin liefern, wo es für uns am
attraktivsten ist. Dass wir mit der elektrogetriebenen
B-Klasse in den USA starten, sollte
als klares Signal auch an die Politik verstanden
werden: Nach Europa kommt das
Auto Ende nächsten Jahres, weil der Markt
und die Rahmenbedingungen hier derzeit
nicht so attraktiv sind. Die aktuelle Diskussion
um die sogenannten Supercredits...
...die es erlauben würden, emissionsfreie
Elektroautos mehrfach auf die CO 2 -Bilanz
anzurechnen...
...verstehe ich deshalb überhaupt nicht.
Andere Länder gehen hier offensiver vor.
Diskussionen über Förderungen sind hierzulande
immer mühsam, weil schnell der
Verdacht aufkommt, man subventioniere
die Automobilindustrie. Darum geht es
hier nicht.
Sondern?
Es geht um ein Anreizsystem, um Autos mit
einer neuen und noch sehr teuren Technik
in größerer Stückzahl in den Markt bringen
zu können – zu einem Preis, der vielleicht
sogar unter den tatsächlichen Kosten liegt.
Die Supercredits sorgen also dafür, übrigens
ohne dass die Staatskasse dadurch
belastet wird, dass Elektroautos für Käufer
attraktiver werden. Damit kommt diese Zukunftstechnologie
schneller auf die Straße.
Erwarten Sie, dass sich die EU-Kommission
auf höhere Supercredits noch einlässt?
Wir wissen, die Gespräche werden nicht
einfach, aber wir sind zuversichtlich, eine
für alle tragfähige Lösung finden können.
Ich höre heraus: Das Ringen um die
Abgas-Grenzwerte in Europa ärgert Sie?
Ja, weil die Diskussion über die CO 2 -Limits
oft sehr kurzsichtig geführt wird. Wir haben
derzeit in Europa eine gut florierende Autoindustrie,
die jede Menge Arbeitsplätze
schafft, noch. Ich betone: noch. Das kann
sich aber ändern, wenn die Rahmenbedingungen
für die Autoindustrie in Europa aus
ideologischen Gründen immer weiter verschärft
werden. Dies kann nicht unser gemeinsames
Interesse sein.
n
franz.rother@wiwo.de
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 81
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Technik&Wissen
VALLEY TALK | Mit Twitter geht die letzte prominente
Marke des Web 2.0 an die Börse. Unter ganz anderen
Vorzeichen als etwa Facebook. Von Matthias Hohensee
In einer anderen Liga
FOTO: JEFFREY BRAVERMAN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
Von Facebooks Börsengang im Mai
2012 erwarteten sich Gründer
und Investoren im Silicon Valley
wichtige Wachstumsimpulse.
Stattdessen bewirkte der verpatzte Börsengang
das Gegenteil: Die Bewertungen für
Jungunternehmen sanken, bei vielen stand
die Weiterfinanzierung auf der Kippe, es
floss weniger Geld ins High-Tech-Tal.
Inzwischen hat sich zumindest Facebook
wieder berappelt – vor allem durch den geglückten
Übergang auf Mobilgeräte. Die Aktie
notiert 35 Prozent über dem Ausgabekurs.
Und nun strebt, nach Facebook und
LinkedIn, mit Twitter die letzte der drei großen
Ikonen des Web 2.0 den Börsengang
an. Rund eine Milliarde Dollar soll er einbringen
und das sechs Jahre alte Startup
mit rund zehn Milliarden Dollar bewerten.
Klar ist schon jetzt, dass der Kurznachrichtendienst
Twitter in einer anderen Liga
spielt als Google, Yahoo, Facebook oder
LinkedIn. Denn Letztere waren profitabel,
als sie an die Börse kamen. Facebook erwirtschaftete
beim Börsengang sogar 3,7
Milliarden Dollar Umsatz.
Twitter sieht dagegen bescheiden aus.
Zwar ist es eine große Leistung, in nur sechs
Jahren ein Unternehmen aufzubauen, das
in diesem Jahr 500 bis 600 Millionen Dollar
umsetzen wird. Doch hat Twitter, das von
seinen Investoren mit rund 1,1 Milliarden
Dollar ausgestattet wurde, immerhin schon
400 Millionen Dollar verbrannt. Vergangenes
Jahr fielen 79 Millionen Dollar Verlust
an. Und allein im ersten Halbjahr 2013
kamen weitere 69 Millionen Dollar dazu.
Nicht mehr lange, und die Frage nach dem
Profit wird sich immer drängender stellen.
Mit dem Börsengang muss Twitter-Chef
Dick Costolo zumindest wachsende Quartalsumsätze
vorweisen. Und das wohl auch
ausgewogener als bisher. Heute kommen
75 Prozent aller Einnahmen aus den USA.
Zugleich aber stammen 77 Prozent der derzeit
218 Millionen aktiven Nutzer aus dem
Ausland. Nach den USA ist Indonesien das
Land mit den meisten Twitterern.
Und auch die Frage nach der Tragfähigkeit
des Geschäftsmodells wird virulent: 85
Prozent der Umsätze macht Twitter mit
Werbung. Das passt, denn die Plattform
eignet sich hervorragend zum Vermarkten,
Austauschen und Filtern von Nachrichten.
Doch sie steht zunehmend im Wettbewerb
um Nutzer. Schon fallen wegen Überangebots
die Anzeigenpreise in sozialen Netzen.
Das wiegt umso mehr, als die Zeiten vorbei
sind, in denen bei der Bewertung von
sozialen Medienunternehmen weniger Umsatz
und Profit zählten als Erfolge auf der
Jagd nach Nutzern. Und die Konkurrenz
wird härter, weil mit Messaging-Diensten
wie WhatsApp Konkurrenten auftreten, die
den Nachrichtenaustausch in geschlossenen
Benutzergruppen erlauben. Das könnte
Twitter langfristig Verkehr und Geschäft
wegnehmen, wenn die Nutzer sich wieder
auf Privatsphäre besinnen.
GESCHICKT GEWACHSEN
Bislang hat Twitter-Chef Costolo das
Wachstum gut gesteuert. Im ersten Halbjahr
verdoppelte er die Umsätze gegenüber
dem Vergleichszeitraum 2012. Ein Gutteil
der Steigerung kam allerdings durch Akquisen
zustande. Dieses Jahr hat Twitter schon
acht Unternehmen für 600 Millionen Dollar
zugekauft; vier davon im ersten Halbjahr.
Der größte Zukauf – 350 Millionen Dollar
für das mobile Werbenetzwerk MoPub –
fiel in den September. Das wird auch den
Twitter-Umsatz in der zweiten Jahreshälfte
signifikant nach oben schrauben.
Umsatz durch Zukäufe zu steigern ist
allerdings kein Kunststück. Und so hält sich
im Silicon Valley hartnäckig das Gerücht,
dass vielleicht sogar doch noch einer der
großen Internet-Konzerne wie Google oder
Yahoo zuschlägt und Twitter vor dem Gang
aufs Parket noch selbst übernimmt.
Eines aber ist sicher: Die Weltmarke Twitter
muss endlich stärker kommerzialisiert
werden – unter wessen Ägide auch immer.
Vielen Nutzern dürfte das nicht gefallen.
Der Autor ist WirtschaftsWoche-Korrespondent
im Silicon Valley und beobachtet
von dort seit Jahren die Entwicklung der
wichtigsten US-Technologieunternehmen.
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 83
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Management&Erfolg
Leben zwischen Stau
und Überholspur
Peter Körner, 49,
pendelte als Telekom-
Manager jahrelang aus
der Nähe von Darmstadt
nach Bonn
Tägliche
Tortour
MOBILITÄT | Hamburg–Berlin, Köln–Frankfurt,
Essen–Gütersloh: Millionen Deutsche fahren
täglich stundenlang zur Arbeit. Den Staat
kostet das Milliarden – und die Pendler gefährden
Gesundheit und Karriere.
84 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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FOTO: CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
Jule Körber steht an Gleis 6 und
hofft, dass ihr Trick wieder funktioniert.
Wenn gleich der Regionalexpress
Richtung Minden in
den Bahnhof rumpelt, entscheidet
sich binnen Sekunden, wer sitzen darf
und wer stehen muss. Kurz vor halb acht,
noch bevor der rote Doppeldecker zum
Stehen kommt, schleicht Körber ans hintere
Ende des von ihr gewählten Wagens.
Als die graue Doppeltür aufgeht, lauert sie
schon an der äußeren Seite. „Dort steigen
weniger Menschen aus“, sagt sie. Und
während innen noch die Massen aus dem
Waggon auf den Bahnsteig quellen, hat sie
längst ihren Platz ergattert.
Körber wohnt in Essen und arbeitet in
Gütersloh. Jeden Morgen und jeden
Abend fährt sie 130 Kilometer mit dem
Regionalexpress und durchquert dabei
fast das gesamte Ruhrgebiet. Mit ihrer
Pendelstrecke käme sie in einem Jahr anderthalbmal
um die Erde.
Die 30-Jährige arbeitet als Texterin für
ein Kundenmagazin der Bertelsmann-
Tochter Arvato. Ende 2012 bekam sie die
Zusage für den Job. Doch zur Freude über
die neue Stelle kamen Fragen: Was wird
aus meiner Essener WG und meinem
Freund? Was mache ich abends allein in
Ostwestfalen? Halte ich es aus, jeden Tag
drei Stunden Bahn zu fahren? Und was sagen
Chefs und Kollegen, wenn ich nicht
nach Gütersloh ziehen möchte?
Körbers Antwort: Sie pendelt. Seit Anfang
des Jahres klingelt der Wecker morgens
um 6 Uhr, geduscht hat sie schon am
Abend vorher. Obwohl der Weg zum
Bahnhof nur fünf Minuten dauert, verlässt
sie kurz nach sieben das Haus – „ich habe
immer Angst, zu spät zu kommen“. Auf der
Fahrt liest Körber – morgens Zeitung,
abends Bücher. An die Arbeit denkt sie
nicht, versucht, die Fahrzeit zur Freizeit zu
machen. „Nur Schulklassen sind nervig“,
sagt sie. „Da kann man nicht entspannen.“
Zurück in Essen ist sie abends nicht vor
20 Uhr. Sie setzt sich noch kurz zu ihren
Mitbewohnern, kocht mit ihrem Freund,
geht duschen, fällt ins Bett. Zeit für Sport,
Kino, Freunde bleibt da kaum. Körbers Fazit
nach neun Monaten Pendeln: „Wohnte
ich allein, wäre ich schon längst umgezogen.“
226 KILOMETER EINFACH
Mit Auto, S-Bahn oder Regionalbahn jeden
Tag ein paar Kilometer zurückzulegen, um
zum Job zu kommen – das tun Millionen
Deutsche seit eh und je. Neu ist: Die Stre-
In vollen Zügen
Diezehn von Tagespendlern
meistfrequentierten Bahnstrecken
Deutschlands im Fernverkehr
Karlsruhe
Basel
Bremen
Hannover
Stuttgart
Freiburg
Quelle: Deutsche Bahn
Mannheim
Hamburg
Göttingen
Frankfurt a. M.
Augsburg
Ulm
Wolfsburg
Ingolstadt
Berlin
München
Rosenheim
Zug: Andere Lebensformen, Billigflüge,
neue ICE-Rennstrecken und ein dichtes
Autobahnnetz ohne Maut und Tempolimit,
die zunehmende Verdichtung der Arbeitswelt
und die Hoffnung auf Karriere
haben aus unserem Land eine Pendler-Republik
gemacht.
MIT MILLIARDEN SUBVENTIONIERT
Allein die Zahl der Bahncard-100-Nutzer,
die gegen eine jährliche Pauschale für
4090 Euro in der zweiten und knapp 7000
Euro in der ersten Klasse unbegrenzt mit
jedem beliebigen Zug durch die Republik
»Erzählt mir einer, dass Pendeln nicht
stressig ist, lach ich mich schlapp«
cken, die sie dafür zwischen Wohnort und
Arbeitsplatz zurücklegen, werden immer
länger, oft sind es mehrere Hundert Kilometer.
Einige nehmen die Tortur einmal
pro Woche auf sich, andere gar täglich. Fragen
sich dabei immer wieder: Kommt
mein Zug pünktlich? Stehe ich wieder im
Stau? Komme ich am Flughafen schnell genug
durch die Sicherheitskontrolle?
Die Pendler von heute, sie haben Familie
in Hamburg und arbeiten in einer Kleinstadt
in Baden-Württemberg. Sie leben in
Altbauwohnungen in Berlin-Mitte und verdienen
ihren Lebensunterhalt in modernen
Großraumbüros in Niedersachsen. Leben
unter der Woche in einem Mini-Apartment
in der Nähe des Arbeitgebers und sehen
ihre Familie nur am Wochenende. Allein
400 VW-Mitarbeiter reisen täglich aus
der Hauptstadt ins 226 Kilometer entfernte
Wolfsburg, rund 160 Pendler legen die
Strecke in die entgegengesetzte Richtung
zurück.
Ob Tag für Tag oder Wochenende für
Wochenende, ob mit Auto, Flugzeug oder
fahren können, hat sich seit 2003 vervierfacht.
Laut Bundesfinanzministerium
macht rund eine halbe Million Arbeitnehmer
bei der Steuer mehr als 100 Kilometer
zwischen Wohnung und Arbeitsstätte geltend.
Und es könnten bald noch mehr
werden: Fast 60 Prozent der deutschen
Fach- und Führungskräfte würden für ihren
Traumjob mehr als eine Stunde Fahrzeit
in Kauf nehmen, ermittelte das Jobportal
Stepstone.
Auch der Staat fördert die Reiserei, verzichtet
über die Pendler-Pauschale jedes
Jahr auf rund 4,5 Milliarden Euro Steuern.
Viel Geld – aber wofür? Pendeln ist riskant.
Ein Stau auf der Autobahn, ein verpasster
Anschlusszug, und schon gerät die
ausgeklügelte Zeitrechnung ins Wanken.
„Als Arbeitnehmer müssen Sie dafür sorgen,
dass Sie pünktlich zum Job kommen.
Verspätungen sind kein Kavaliersdelikt“,
warnt der Hamburger Arbeitsrechtler
Christian Oberwetter.
Unter dem Stellwerk-Chaos am Mainzer
Hauptbahnhof, das im August wochenlang
für Aufregung sorgte, litten vor allem Pendler.
Als das Elbe-Hochwasser im Juni im
halben Land den Verkehr lahmlegte, blieb
vielen nur der Umzug ins Hotel – oder eine
von der Stadt Wolfsburg bereitgestellte Kaserne.
Wegen eines kaputten Bahndamms
verliert man von Berlin nach Wolfsburg
noch immer fast drei Stunden am Tag.
„Leben Sie so dicht wie möglich an
Ihrem Arbeitsplatz“, empfiehlt deshalb
Kienbaum-Personalberater Matthias
Busold. Wenn der Headhunter mit
»
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 85
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Management&Erfolg
Kandidaten über Führungspositionen
spricht, zählt die Frage nach dem Wohnsitz
zu den wichtigsten. Erst recht, seit die
Bahn mit ihren Hochgeschwindigkeitstrassen
lockt: Wenn alles glattgeht, schafft
der ICE die 280 Kilometer von Berlin nach
Hamburg in einer Stunde und 42 Minuten.
Köln–Frankfurt (189 Kilometer)
klappt im Schnitt in 75 Minuten, Hannover–Kassel
mit Ausstieg ICE-Bahnhof Wilhelmshöhe
(168 Kilometer) in 55 Minuten.
Wer kommt da nicht in Versuchung,
sich eine weite Anfahrt kurzzurechnen.
„Viele reden sich ein, sie könnten auch
im Zug arbeiten. Aber wenn der Zug voll
ist, wird das schwierig“, sagt Personalberawegen
psychischer Erkrankungen, je weiter
sie vom Arbeitsplatz weg wohnen.
Der typische Pendler ist männlich, älter
als 35, hat Frau und Kinder. Doch die sind
im Unterschied zu früher nicht mehr bereit,
bedingungslos hinterherzuziehen.
Auch, weil die Partnerin heute oft selber
Karriere macht. „Männer sind lieber auf
Achse“, sagt Norbert Schneider, Leiter des
Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung
in Wiesbaden. Sie verließen nur
ungern ihre gewohnte Umgebung. Andere
pendeln, weil ihr Büro umgezogen ist
oder weil sie Angst haben, keinen anderen
Job zu finden. „Manche leiden Jahrzehnte
unter dieser Situation, ohne etwas daran
zu ändern“, sagt Soziologe Schneider. Wochenendpendler
wiederum bildeten sich
sogar ein, mit der Reiserei ihre Karriere zu
befördern. Ihr Kalkül: Werktags gilt die
volle Konzentration dem Beruf, das Wochenende
gehört der Familie. „Der typische
Wochenendpendler ist hoch qualifiziert
und gebildet“, sagt Schneider. Eine
Zweitwohnung oder ständige Hotelübernachtungen
können sich oft nur Top-Verdiener
leisten.
»
Täglich quer durchs Ruhrgebiet
Autorin Jule Körber, 30, pendelt
130 Kilometer zwischen Essen
und Gütersloh
»Wohnte ich allein, wäre ich schon
längst umgezogen«
Körner eine Zweitwohnung am
Rhein und pendelt jedes Wochenende
mit dem Auto über die
A 3. Rund 200 Kilometer, sieben
Jahre lang. Allein für die Heimfahrt
am Freitagabend braucht
Körner oft bis zu vier Stunden.
„Die Raststätten konnte ich irter
Busold. „Mit der Zeit geht Ihnen die
Pendelei gewaltig auf den Keks. Und nach
spätestens zwei Jahren belastet der Stress
die Arbeitsleistung.“
Wie stark Pendler unter Strom stehen,
hat bereits 2004 der britische Stressforscher
David Lewis untersucht. Sein Ergebnis
ist alarmierend: Droht ein
Pendler seinen Zug zu verpassen,
kann sein Stresspegel stärker
steigen als der von Kampfpiloten
im Einsatz. Die Gesundheit
leidet mit steigender Entfernung.
Laut einer von der AOK
veröffentlichten Studie fehlen
Arbeitnehmer umso häufiger
Reportage
Lesen Sie in der
App, wie Pendler
unter dem Hochwasser
zwischen
Wolfsburg und
Berlin leiden
AUF DER ÜBERHOLSPUR
So wie Peter Körner. Der 49-Jährige hat
jahrzehntelang ein Leben auf der Überholspur
geführt:Nach seinem Studium in Kiel,
Informatik und Wirtschaftswissenschaft,
und ersten Jobs bei TUI-Vorgänger Preussag
in Hannover und dem genossenschaftlichen
Berater Genoconsult bei Frankfurt
holt ihn die Telekom als Personalentwickler.
Schon in den Neunzigerjahren ist Körner
berufsbedingt ständig auf Achse, den
Kontakt zu seiner Frau hält er vor allem
übers Handy. „Unter 600 Mark im Monat“,
erinnert sich Körner, „hatte ich selten auf
der Rechnung.“
Bis in den Zirkel der 70 wichtigsten Konzernmanager
steigt Körner auf, verantwortet
die gesamte Personalentwicklung seines
Arbeitgebers. Als er 2006 von Darmstadt
wieder in die Zentrale nach Bonn beordert
wird, bleibt seine Frau mit den beiden Kindern
in Hessen. Die Berufsschullehrerin
hatte sich gerade erst nach Darmstadt versetzen
lassen. Also nimmt sich
FOTO: INGO RAPPERS FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
86 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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gendwann nicht mehr sehen“, erinnert er
sich. „Wenn mir einer erzählt, dass Pendeln
nicht stressig ist, lache ich mich schlapp.“
Zu Hause bei der Familie bleiben ihm oft
nur 36 Stunden: In dieser Zeit geht er Sprudel
holen, tauscht verschwitzte Hemden
und Anzüge in der Reinigung gegen frische
und begleitet seinen Sohn zum Fußball. Ab
Sonntagmittag verschwindet der Manager
in seinem Arbeitszimmer und bereitet die
neue Woche vor. Körner steigt so rasant
auf, dass er kaum merkt, was alles auf der
Strecke bleibt. Seine alten Freunde aus Kiel
trifft er höchstens einmal im Jahr. „Je höher
ich kam, desto mehr war ich fremdbestimmt“,
sagt er heute.
ZERBROCHENE BEZIEHUNGEN
Immer öfter erfährt er von Kollegen, deren
Beziehungen an der Pendelei zerbrechen.
Dass in seiner Bonner Zweitwohnung niemand
auf ihn wartet, bedrückt Körner immer
mehr. Ihm wird klar, dass er Sohn und
Tochter in all den Jahren nicht richtig aufwachsen
sieht – und er verlässt die Telekom.
Für seinen neuen Arbeitgeber, eine
Unternehmensberatung in Frankfurt, ist er
zwar auch viel unterwegs – aber jeden
Abend zu Hause bei der Familie. „Neulich
habe ich mit meinen Kindern zum ersten
Mal überlegt, was wir zum Straßenfest beitragen.“
Und das ist ihm mehr wert als die Unterstützung,
die sein ehemaliger Arbeitgeber
ihm und anderen Pendlern zukommen
lässt:Die Telekom erlaubt Mitarbeitern flexible
Arbeitszeiten und Heimarbeit, im Intranet
des Konzerns können sich Pendler zu
Fahrgemeinschaften verabreden, manche
bekommen gar eine Bahncard auf Firmenkosten.
Materielle und organisatorische Unterstützung
für Pendler – bei großen Unternehmen
offenbar keine Seltenheit, wie eine
Umfrage der WirtschaftsWoche unter
den 30 größten Dax-Konzernen zeigt. Fast
90 Prozent erlauben Angestellten, an manchen
Tagen zu Hause zu arbeiten. In zwei
von drei Konzernen gibt es Pendler-Netzwerke
für Fahrgemeinschaften, Firmen-
Bahncards oder Jobtickets. Und dennoch
verschließen die Unternehmen vor der Brisanz
des Themas letztlich die Augen. Auf
die Frage, wie viele Mitarbeiter zum Job
wohl mehr als 50 Kilometer zurücklegen,
antwortete überhaupt nur jedes vierte Unternehmen
– und dann nur mit groben
Schätzungen. Die Allianz mutmaßt, dass
fast jeder dritte Mitarbeiter in der Münchner
Zentrale täglich aus der Ferne an-
»
Strecke Entfernung Zeit 1Std. 2Std. 3Std. 4Std.
Entfernung bis100 Kilometer
Hamburg
Mannheim
Hannover
Stuttgart
Lübeck
Karlsruhe
Wolfsburg
Ulm
64 km
67 km
89 km
92 km
Entfernung bis200 Kilometer
Leipzig
Hannover
Hannover
Mannheim
Mannheim
Berlin
Köln
Dresden
Göttingen
Bremen
Leipzig
Frankfurt
Stuttgart
Saarbrücken
110 km
120 km
121 km
130 km
134 km
186 km
189 km
Entfernung bis300 Kilometer
Dortmund
Berlin
Leipzig
Berlin
Hannover
Wolfsburg
Nürnberg
Hamburg
Mehr als300 Kilometer
Frankfurt
Frankfurt
Basel
Hannover
Mal Schnecke, mal Windhund
Wieschnell Pendlermit derBahn
ansZielkommen
213 km
226 km
275 km
280 km
324 km
351 km
36 Minuten
22 Minuten
32 Minuten
55 Minuten
1:05 Stunden
34 Minuten
59 Minuten
38 Minuten
1:19 Stunden
1:13 Stunden
1:15 Stunden*
1:40 Stunden
1:05 Stunden**
3:32 Stunden
1:42 Stunden
2:44 Stunden
2:19 Stunden
*Durchschnittswert; ** wegenHochwasserschäden bis 4. November 2:09 Std.;die Tabellezeigtdie schnellsten VerbindungenimStundentakt
(auf einzelnenStreckenverkehren dazwischen noch andereFernzüge, dieaberinder
Regellangsamersind);Quelle:DeutscheBahn;Stand:9.10.2013
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 87
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Management&Erfolg
TIPPS
Finanzieller Trost
Wie Pendler Steuern sparen.
PENDLER-PAUSCHALE
Tagespendler können für jeden Kilometer
der einfachen Strecke ihres Arbeitswegs
30 Cent absetzen. Wer 50 Kilometer
von seinem Job entfernt lebt und
200 Tage im Jahr arbeitet, kann für
10 000 Kilometer 3000 Euro Werbungskosten
geltend machen. Bei einem Spitzensteuersatz
von 35 Prozent spart man
1050 Euro. Wer mehr als 4500 Euro geltend
macht, muss dem Amt meist Tankbelege,
Reparaturrechnungen oder
TÜV-Berichte vorlegen, sagt der Hamburger
Steuerberater Jörg Lemmermann.
ZWEITWOHNUNG
Bis 31. Dezember 2013 gilt: Wer in einer
anderen Stadt arbeitet und deshalb
eine Zweitwohnung hat, darf Mietkosten
für bis zu 60 Quadratmeter von der
Steuer absetzen. Ab 2014 können für
eine Zweitwohnung bis zu 1000 Euro
Kosten geltend gemacht werden. In den
ersten drei Monaten können Wochenendpendler
auch Kosten für Lebensmittel
absetzen, außerdem Aufwendungen
für Möbel, Bettwäsche, Maklergebühren
und eine Heimfahrt pro Woche.
Abschalten
So wird Pendeln erträglicher.
AUGEN SCHLIESSEN
Schalten Sie ab – vor allem Laptop und
Smartphone. Hören Sie Musik.
BEINE HOCHLEGEN
Nicht am Wochenende nachholen, was
unter der Woche wegen des Pendelns
liegen geblieben ist. Erholen Sie sich
lieber.
PROBLEME KLÄREN
Klären Sie familiäre Probleme am Feierabend.
Genießen Sie das Wochenende.
REGELN VEREINBAREN
Regeln Sie den Umgang mit Verspätungen,
fragen Sie nach Heimarbeit und
Gleitzeit.
»
reist. BMW schätzt den Anteil auf 25 Prozent.
Die Deutsche Börse, BASF und Rückversicherer
Munich Re rechnen an ihren
Hauptsitzen mit rund zehn Prozent. 18
Dax-Unternehmen ist der Wohnort ihrer
Mitarbeiter egal, zwei Konzerne bevorzugten
das Domizil am Arbeitsort.
„Pendeln muss nicht automatisch ein
Karrierekiller sein. Es kann helfen, Privatleben
und Beruf unter einen Hut zu bringen“,
heißt es bei Infineon. „Es kann aber für
Mitarbeiter auch zur Belastung werden.“
Die meisten anderen von der WirtschaftsWoche
befragten Unternehmen
blocken Nachfragen zum Thema Pendeln
ab. Zu groß ist offenbar die Angst, in Zeiten
knapper Fachkräfte in ein schlechtes Licht
zu geraten oder sich juristisch angreifbar
zu machen. Laut Arbeitsrecht darf ein Unternehmen
seinen Mitarbeitern den
Wohnort nämlich nicht vorschreiben, sagt
der Bremer Anwalt Alexander von Saenger.
Es sei denn, die Nähe zum Arbeitsplatz ist
wie etwa bei Ärzten von unmittelbarer Bedeutung
für den Job.
KARRIEREKILLER PENDELN
„Die meisten Unternehmen wissen nicht,
welche ihrer Mitarbeiter fernpendeln“,
sagt Soziologe Schneider. „Viele Pendler
verschweigen ihre Situation auch bewusst.
Sie fürchten, als weniger leistungsfähig
zu gelten.“ Der Frankfurter Personalberater
Michael Faller hält das für alarmierend:
„Die Arbeitgeber sind nicht ausreichend
sensibilisiert. Sie erwarten Mobilität,
wissen aber nicht, wie ihre Mitarbeiter
das bewerkstelligen.“
Ein Problem gerade auch im Mittelstand,
vor allem unter Führungskräften.
Denn Pendler leiden nicht nur unter dem
höllischen Stress. Sie senden auch negative
Signale an Kollegen und Mitarbeiter.
Die entwickeln nämlich ein gutes Gespür
dafür, wo ihr Chef am Samstagmittag ist.
„Wenn Sie im Schwarzwald
arbeiten, aber in jeder freien
Minute nach Hamburg
düsen, drücken Sie damit
aus: Bei euch gefällt es mir
nicht“, sagt Kienbaum-Personalberater
Busold.
Viele seiner Kandidaten
wollen erst mal pendeln,
solange sie in der Probezeit
sind. Dabei wäre es umgekehrt
viel sinnvoller, findet
der Headhunter. „Am Anfang
müssen Sie sich in der
Firma verwurzeln. Nach
GEWINNSPIEL
Sie pendeln zur Arbeit? Dann
schreiben Sie uns Ihre skurrilsten
Situationen, die Sie auf
dem Weg zum Job mit Bahn,
Auto oder Flieger erlebt haben.
Für die drei besten Storys gibt’s
je ein WirtschaftsWoche-Pendler-Paket:
Quartalsabo unserer
iPad-Ausgabe inklusive eMagazin,
DVD-Box mit Wirtschaftskrimis
und einen Kaffee-
Thermobecher. Bis 27. Oktober
2013 an aktion@wiwo.de
Letzter Aufruf
Muggensturm
Ihle-Vorstand Joachim
Dittrich, 51, pendelt
zwischen Hamburg und
badischer Provinz
drei Jahren sind die Meriten verdient –
dann können Sie am Wochenende auch
mal verschwinden.“
Gerade Familienunternehmer legen
Wert darauf, dass sich ihre Chefs mit der
Region identifizieren. Mitunter scheitern
Kandidaten auf der Zielgeraden, nur weil
sie nicht bereit sind, umzuziehen.
So wie bei einem Maschinenbauzulieferer
aus Ostwestfalen. Der Inhaber ist im Ort
verwurzelt, fördert Kindergarten und Kultur.
Nach mehr als 30 Jahren in der Firma
sucht er einen Nachfolger. Bald begeistert
ihn ein aufstrebender Manager aus Düsseldorf,
mit perfektem Lebenslauf und tollen
Ideen. Bei einem gemeinsamen Abendessen
mit den Ehefrauen soll feierlich der
Vertrag unterschrieben werden. Doch am
festlich gedeckten Tisch kippt plötzlich die
Stimmung: Die Gattin des
Kandidaten will ihre Zahnarztpraxis
nicht aufgeben,
ein Umzug von der Landeshauptstadt
in die Provinz
kommt für sie nicht infrage.
„Nach Ostwestfalen ziehen
wir nicht!“, raunzt sie den
Patriarchen an. Die Übergabe
platzt.
Dass es auch anders laufen
kann, zeigt Michael
Dittrich. Der Hamburger
passt auf den ersten Blick
so gar nicht nach Muggen-
FOTO: CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
88 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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sturm, einem 6000-Seelen-Dorf im badischen
Landkreis Rastatt. Vor etwas mehr
als zweieinhalb Jahren hat der 51-Jährige
dort seinen Vorstandsvertrag beim europaweit
tätigen Reifenhändler Ihle AG unterschrieben.
Um mit der Region warm zu
werden, blieb er anfangs jedes vierte Wochenende
in Baden. „Meine Frau ist auch
Unternehmerin“, sagt Dittrich, „sie hatte
dafür Verständnis.“
Der Manager aus dem hohen Norden
hat sich längst eingelebt im Südwesten,
spielt jeden Donnerstag Saxofon im Musikverein
einer Nachbargemeinde. „Wenn
die anderen badisch sprechen, verstehe
ich zwar noch immer kein Wort“, sagt er.
„Aber es macht Spaß. Manchmal trete ich
sogar bei Konzerten auf.“
»Im Bus zum Ersatzflughafen verfrachtet
werden? Kommt halt mal vor«
An Dittrichs Arbeitsplatz riecht es nach
Gummi statt nach Nordseeluft. Neben seinem
Schreibtisch hängt ein Bild von der
Hamburger Speicherstadt. Mehr als 600
Kilometer trennen ihn davon. Wenn alles
glattgeht, schafft er es in drei Stunden.
Meistens aber dauert es länger, so wie
heute. Weil er spontan schon am Donnerstag
nach Hause zurückkehren möchte,
gibt es keinen Flug mehr vom nahen
Baden-Baden. Also muss er ins 90 Kilometer
entfernte Stuttgart fahren. Katastrophe?
Nicht für Dittrich. „Als Air Berlin
noch die Strecke bedient hat, wurden wir
ein paar Mal in Busse verfrachtet und
dorthin umgeleitet. Kommt halt mal vor.“
Nach zwei Stunden mit dem Hamburger
hat man das Gefühl, dass es doch gehen
kann: Pendeln und Karriere machen
ohne Stress. Man hat aber auch eine Ahnung,
was Psychologen wie Sabine Siegl
meinen: „Nicht jeder ist fürs Pendeln geschaffen“,
sagt sie. „Pendeln kann krank
machen.“
Ihr Tipp: Auf keinen Fall sollten Pendler
versuchen, am Wochenende alles nachzuholen,
was von Montag bis Freitag auf
der Strecke geblieben ist. „Entspannen Sie
sich, und kommen Sie zur Ruhe“, rät die
Psychologin. Damit das gelingt, muss aber
auch der Partner mitspielen. „Wenn zu
Hause jemand wartet, der sich nach Aktivität
und Unternehmungen sehnt, drohen
Konflikte“, warnt Bevölkerungsforscher
Norbert Schneider.
Sabine Siegl empfiehlt Pendlern deshalb,
schon auf den Fahrten abzuschalten
und die Gedanken schweifen zu lassen.
„Nutzen Sie die Zeit nicht zum Arbeiten,
sondern um Abstand zum Tag zu gewinnen.“
Ihr Tipp: Musikhören und aus dem
Fenster schauen statt telefonieren und auf
den Bildschirm starren. Oder einfach nur
die Mitreisenden beobachten (siehe Kasten
Seite 88).
Jule Körber kennt ihre Mitfahrer im Regionalexpress
nach Gütersloh inzwischen
ganz gut. Die Anzugträger fahren zu den
vielen kleinen Firmen auf dem Land. Die
Jura-Studenten sind auf dem Weg zur Uni
nach Bielefeld. Die Mädchengruppe, die
immer so laut lacht, fährt noch eine Station
weiter zur Friseurausbildung an die
Berufsschule.
Anfangs hatte Körber noch große Zweifel,
ob sie wirklich pendeln soll. Gerade
wenn der Zug wieder durch Orte wie Neubeckum
oder Oelde schlich. „Man sieht
echt nicht ein, wieso der Zug hier halten
muss“, sagt Körber. Noch in der Probezeit
merkt sie: Der Großteil ihrer Kollegen teilt
ihr Schicksal. „Die haben auch Verständnis,
wenn der Zug mal zu spät kommt.“
Kurz hinter Rheda-Wiedenbrück, die
Sprechanlage knackst. „Verehrte Reisende,
die Weiterfahrt verzögert sich um wenige
Minuten, wir werden von einem
Fernverkehrszug überholt“, meldet eine
knarzende Stimme. Körber zuckt mit den
Schultern. „Das passiert öfter“, sagt sie.
„Dafür kann man dann auch mal in den
ICE umsteigen, wenn der Regionalexpress
ausfällt.“
Ein schwacher Trost, irgendwie weiß
Körber das wohl selbst. Wie lange sie sich
die täglichen Reisen noch antut? „Keine
Ahnung“, sagt sie. Nur eins weiß sie genau:
„Familie haben und pendeln – das kann
ich mir nicht vorstellen.“
n
andreas dörnfelder, jacqueline goebel | erfolg@wiwo.de
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Geld&Börse
Bevollmächtigter
in Problemlage
FAIRVESTA | Geschlossene Immobilienfonds haben mit dem Zusammenbruch von
S&K ihren letzten Rest an Glaubwürdigkeit verloren. Bei der Fondsgesellschaft
Fairvesta, der Anleger rund 700 Millionen Euro anvertraut haben, läuft es längst nicht
so gut wie behauptet.
Otmar Knoll hat scheinbar alles
unter Kontrolle: Mehrere Bildschirme
säumen seinen
Schreibtisch in einem Büro im
Tübinger Gewerbegebiet. Für
sein Geschäft – Handel mit Immobilien –
braucht er nur einen. Auf den anderen
flimmern die Bilder seiner Überwachungskameras.
Einen Pförtner gibt es nicht. Alle
Daten laufen beim Fairvesta-Handlungsbevollmächtigten
zusammen. Knoll – intern
nur OK genannt – aber gibt kaum Informationen
heraus.
Die Fairvesta-Gruppe besteht im Kern
aus 13 geschlossenen Immobilienfonds.
Geschlossene Fonds sind unternehmerische
Beteiligungen, bei denen Anleger zusammen
zum Beispiel Immobilien oder
Schiffe erwerben. „Geschlossen“ heißen
sie, weil der Anleger über Jahre nicht aus
ihnen rauskommt. Gut 700 Millionen Euro
haben rund 14 000 Anleger über derartige
Vehikel Knoll anvertraut. 2012 hat Fairvesta
176 Millionen Euro bei Investoren eingesammelt,
die Gruppe ist damit bereits die
Nummer drei im Markt (siehe Grafik).
Knoll verlässt sich aber nicht nur auf die
Fonds, um Anlegergelder anzusaugen.
n Die Liechtensteiner Töchter sammeln
seit 2010 Geld über Anleihen ein. Die sollen
Anlegern jährlich einen Basiszins zwischen
4,2 und 7,0 Prozent bringen.
n Seit 2011 speist zudem die Berliner Fairvesta-Tochter
Robustus GmbH Beiträge
von Lebensversicherungskunden in das
System Knoll ein. Die Kunden kaufen
fondsgebundene Policen, deren Rendite
an den Erfolg eines Fairvesta-Fonds gekoppelt
ist. Über die Liechtensteiner Fairvesta
Vermögensverwaltung International managt
Fairvesta das eingesammelte
Kapital.
Dass Anleger Knoll mit Geld
zuschütten, hat einen Grund:
Fairvesta weist für die Fonds seit
zehn Jahren im Schnitt zweistellige
Renditen aus, trotz anfänglich
abgezogener Kosten von gut
20 Prozent. Da hält kein Wettbewerber
mit.
Das Geschäftsmodell, das diese Renditen
bringen soll, ist simpel:
n Fairvesta kauft Immobilien und zahlt 30
bis 50 Prozent weniger, als die angeblich
wert sind. Gekauft würden nur „Qualitätsimmobilien
in guter Lage ohne Reparaturstau“,
wie es zum Beispiel im Prospekt
des Fonds Fairvesta 4 heißt.
n Binnen drei Jahren sollen die Immobilien
mit hohem Gewinn weiterverkauft werden.
Eine todsichere Sache, so scheint es.
Pech nur: Ob das Modell „billig einkaufen,
teuer verkaufen“ funktioniert, kann
Nummer drei im Markt
VonPrivatanlegern 2012 in geschlossene
Fonds eingezahltes Kapital (in Mio.Euro)
Real I.S. (Immobilien)
IVG (Immobilien)
Fairvesta (Immobilien)
Jamestown (Immobilien)
Wealthcap (Sachwerte)
Quelle:Verband Geschlossene Fonds
134,9
176,3
171,9
Lesen Sie im
nächsten Heft:
Woran Sie erkennen,
dass Ihr Fonds
wackelt; wie Sie die
miesen Tricks der
Anbieter kontern
205,6
193,4
von außen niemand nachprüfen.
„Fairvesta wären die Einzigen
in der Branche, die dauerhaft
zweistellige Renditen schaffen.
Ich kann einfach nicht glauben,
dass alle anderen zu blöd
sind“, sagt ein Mitbewerber.
Knoll hält seine Immobiliendeals
geheim. Anleger dürfen
die Unterlagen der Fonds zwar einsehen,
jedoch – unter Androhung von 25 000 Euro
Vertragsstrafe – keine Geschäftsberichte
oder Daten weitergeben. Knoll sagt, er habe
nichts zu verbergen: „Jeder kann nach
Tübingen kommen und in die Bücher
schauen.“ Einzige Voraussetzung sei die
Unterzeichnung einer Geheimhaltungserklärung.
Doch die ließe es kaum zu, Fakten
bei Dritten nachzuprüfen – oder an anderer
Stelle erlangte Informationen zu verwenden,
ohne eine Strafe zu riskieren.
Dass Knoll Gründe für seine Geheimniskrämerei
hat, zeigen Recherchen der WirtschaftsWoche.
Die Ergebnisse sind geeignet,
den Glauben an die Geldvermehrungsmaschine
Fairvesta zu erschüttern:
Mehrere Fonds haben seit Jahren gar keine
oder nur wenige Immobilien verkauft. Die
ausgewiesene Traumrendite existiert damit
nur auf dem Papier. Um sie tatsächlich
zu erzielen, müssten die Immobilien mit
hohem Gewinn verkauft werden. Das weniger
renditeträchtige langfristige Halten
von Immobilien reicht dafür nicht aus.
Doch Käufer werden nicht leicht zu finden
sein. Mehrere Objekte werden mit unrealistisch
hoch erscheinenden Werten angesetzt,
manche Objekte sind alles andere
als „Qualitätsimmobilien“ und stehen teilweise
leer. Bei einem Fonds wurden
»
FOTO: CHRISTOPH BUSSE FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
90 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Hoch bewertet
Wohn- und Geschäftshaus
Grimma (Sachsen)
OBJEKTDATEN
Hauptmieter des Gebäudes ist
Discounter Norma. Die Mieteinnahmen
sind 18 Prozent niedriger als geplant.
BEWERTUNG
3,9 Millionen Euro als Wert angesetzt.
Üblicher Preis für solche Objekte:
maximal 13-fache Miete.
WERTANSATZ
21-fache
Jahresmiete
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Geld&Börse
»
schwer verkäufliche Immobilien
angeblich an einen
oder zwei ausländische Investoren
abgegeben, der Deal
lässt aber Fragen offen.
Knoll ist der Vater des Erfolgs
von Fairvesta, die 2002
ihren ersten Fonds auflegte
und keine zehn Jahre später
so viel Geld einsammelte wie
kaum ein anderer Immobilienfondsanbieter
auf dem
grauen Kapitalmarkt. Formal
aber hat Knoll noch einen
Boss: den Banker Hermann
Geiger, Vorstand der Muttergesellschaft
Fairvesta Group
AG. Knoll ist „Handlungsbevollmächtigter“.
Vorstand
kann er nicht sein, seit er wegen
länger zurückliegender,
hoher Steuerschulden den
Offenbarungseid, also die eidesstattliche
Versicherung
über sein Vermögen, abgeben
musste. Laut Pfändungsverfügung
des Finanzamts
Singen vom August 2012
schuldete er dem Finanzamt über 1,5 Millionen
Euro. Ein Teil seines Einkommens
wird gepfändet. Knoll will sich dazu nicht
äußern. Da er keinen Zugriff auf Anlegergeld
habe, spiele seine „persönliche Steuersituation“
für Fairvesta keine Rolle.
TRAUMRENDITEN
Doch jetzt soll es um die Immobilien gehen.
Auf der Suche nach Belegen wühlt
sich Knoll durch Aktenordner, präsentiert
den Kaufvertrag einer Immobilie, die er für
zwei Millionen gekauft und nach wenigen
Monaten für 2,65 Millionen losgeschlagen
hat. Er zeigt die Urkunden vom Notar, die
Grundbuchauszüge. Weiter zur nächsten
Immobilie: „Hier sind die Kaufverträge, die
Grundbuchauszüge.“ Er tippt die Preise in
seinen Taschenrechner, zeigt die zweistellige
Rendite und blickt über seine Brille.
„Ich glaube, da brauchen wir nicht diskutieren,
oder?“, fragt er mit dröhnendem
Bass und steckt sich die nächste Marlboro
an. Jeder soll verstehen: Fairvesta erwirtschaftet
die Traumrenditen tatsächlich.
Zu den Renditen soll es so kommen:
Banken, denen in der Finanzkrise Immobilien
zugefallen seien, wollten ihre Portfolios
bereinigen, sagt Knoll. „Die sind dann
auch bereit, Immobilien unter dem Verkehrswert
abzugeben, vor allem dann,
wenn sie gleich mehrere Immobilien im
Wenig Mieter
Wohn- und Geschäftshaus
Großalmerode (Hessen)
OBJEKTDATEN
Das 1735 Quadratmeter große
Gebäude wurde 1979 gebaut.
Hauptmieter Rewe ist weg.
BEWERTUNG
Fairvesta hat 2008 gut 1,3 Millionen
Euro für das Haus gezahlt. Aktuell soll
es 1,8 Millionen wert sein.
LEERSTAND
76 Prozent
Paket losschlagen können.“ Weil viele Konkurrenten
erst eine Finanzierung organisieren
müssten, kämen sie als Käufer nicht
infrage. Marktteilnehmer, die genug Cash
hätten, bräuchten oft zu lange. „Deshalb
kommen wir zum Zug. Wir haben das Kapital,
flache Hierarchien und können
schnell eine Zusage erteilen“, sagt er.
Gewichtige Marktteilnehmer können
sich das nicht so recht vorstellen. „Unserer
Wahrnehmung nach werfen Banken bislang
keine Immobilienpakete mit großen
Abschlägen auf den Markt“, sagt Reinhard
Mattern, Geschäftsführer von iii-Investments,
einem Immobilienfondsanbieter,
der 4,4 Milliarden Euro managt.
„Hohe Abschläge gibt es nur für Problemimmobilien“,
sagt Christoph Wittkop,
Geschäftsführer der Immobiliengesell-
schaft Pamera: Objekte in
schlechtem Zustand, mit
Leerstand oder in wirtschaftlich
schwachen Kleinstädten.
„Dort kann man häufig günstig
Immobilien kaufen. Das
können durchaus gute Gebäude
sein, die stabile Mieter
haben.“ Nur seien die später
schwer wieder zu verkaufen.
Fairvesta-Immobilien liegen
häufig ausgerechnet an
Orten, die andere Investoren
als „Problemlagen“ bezeichnen:
Dreieich, Unterlüß, Tangerhütte
oder Reichenbach.
Oft sind es Bürogebäude oder
Supermärkte mit Wohnungen
darüber. Wer Knoll die
Schätzchen zu Sonderkonditionen
verkauft und wer sie
ihm zu hohen Preisen abnimmt,
sagt der ansonsten so
redselige Handlungsbevollmächtigte
nicht. Auch die
Adressen der Immobilien
bleiben geheim.
Wer die Beteuerungen
Knolls überprüft, stößt auf eine Menge Ungereimtheiten.
n Abverkäufe. Laut Knoll verkaufen die
Fonds alle Immobilien im Schnitt innerhalb
von drei Jahren wieder, viele sogar
schon nach einem Jahr. Der 2005 aufgelegte
Fonds Fairvesta 4 etwa– mit 100 Millionen
Euro Volumen der größte Fonds – habe,
sagt Knoll, seine rund 30 direkt gekauften
Immobilien fast alle schon mal verkauft
und den Erlös neu investiert. Keine Immobilie
sei länger als drei Jahre gehalten worden.
Auch über alle Fonds gesehen, sei eine
Haltedauer von über drei Jahren die absolute
Ausnahme. Das aber ist falsch:
Laut Geschäftsberichten kaufte der Fairvesta
4 bis Ende 2012 insgesamt 27 Immobilien.
Bis zu diesem Zeitpunkt wurden nur
vier Objekte verkauft; 65 Prozent der noch
vorhandenen Immobilien waren länger als
drei Jahre im Bestand.
Keine Ausnahme: Der Fairvesta Fonds 1
mit zehn Millionen Euro Volumen hat laut
Geschäftsberichten zuletzt 2008 ein Haus
verkauft. Fonds 5, gut 22 Millionen Euro
schwer, hat seit Beginn im Jahr 2006 bis Ende
2012 noch keine einzige Immobilie verkauft.
Rege gehandelt hat jedoch der 2011
aufgelegte Fonds Mercatus 8 mit rund 76
Millionen Euro eingezahltem Kapital: Von
den gekauften rund 30 Immobilien sind
wenigstens sechs wieder verkauft.
»
FOTO: GERD AUMEIER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
92 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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FAIRVESTA GEGEN S&K
Schmierlappen im Netz
Wie Fondsanbieter sich mit zweifelhaften Methoden bekriegen.
Der Fairvesta-Handlungsbevollmächtigte
Otmar Knoll musste einiges ertragen.
Namentlich nicht genannte Autoren beschimpften
ihn im Internet aufs Übelste.
Er würde Mitarbeiterinnen auf der Toilette
beobachten, hieß es. Knoll weist dies von
sich. An anderer Stelle hieß es: „Hauptsache,
es merkt keiner, wie ich die Anleger
verarsche“, denke sich „Otti“.
Wer in der Finanzbranche Erfolg haben
will, muss das Vertrauen der Anleger gewinnen,
damit diese in seine Fonds investieren.
Veröffentlichungen, die Zweifel an
der Seriosität eines Emittenten wecken,
haben gravierende Folgen. Knoll beziffert
den entstandenen Schaden auf mindestens
acht Millionen Euro.
Besonders intensiv verfolgt wurde
er von Günther S.*, der etwa Verbraucherzentralen
und Journalisten
mit Faxen über Knoll bombardierte.
Er alarmierte auch mal die Polizei,
erstattete Strafanzeige oder stellte
ins Blaue hinein einen Insolvenzantrag
für Fairvesta. S. ist seit Kurzem
in Haft, wegen Erpressung in einem
anderen Fall.
3000 EURO FINANZSPRITZE
Was S. zu den Attacken trieb, ist unklar.
Briefe an ihn und seinen Anwalt blieben
unbeantwortet. Unterlagen, die der WirtschaftsWoche
vorliegen, zeigen jedoch,
dass sich S. mit einem Ex-Fairvesta-Sprecher,
der das Unternehmen im Streit verließ,
austauschte und mit ihm gemeinsam
einen Termin bei einem Journalisten
wahrnehmen wollte. Dass der Ex-Sprecher
die Attacken gegen Knoll beauftragt
hat, geht daraus allerdings nicht hervor.
Er verneint dies auch.
Knoll behauptete kürzlich in einer Pressemitteilung,
dass sein früherer Hauptkonkurrent
– die Unternehmensgruppe
S&K – den Faxschreiber Günther S. beauftragt
habe. Die S&K-Geschäftsführer
werden des bandenmäßigen Betrugs verdächtigt
und sitzen seit Februar in Untersuchungshaft.
Sie hatten bei Anlegern
* Namen von der Redaktion geändert
über 100 Millionen Euro eingesammelt, die
sie angeblich in Immobilien investieren
wollten (WirtschaftsWoche 05/2013). Stattdessen
sollen die beiden einen Teil des Geldes
jedoch privat verprasst haben.
Mit einem der Geschäftsführer stand S. in
Kontakt. Aus E-Mails geht hervor, dass er
Stephan Schäfer im Sommer vergangenen
Jahres anbot, S&K bei Finanzvertrieben ins
Gespräch zu bringen, bei denen er Fairvesta
zuvor in Misskredit gebracht hat. Zudem
bat er Schäfer um mindestens 3000 Euro.
„Bitte helfen Sie mir nochmals“, schreibt S.
am 16. Oktober 2012. „Wenn Knoll verschwindet,
haben Sie es leichter am
„Sie sind mir sympathisch“ S&K-Gründer
Schäfer (links) und Köller
Markt.“ Schäfer zahlte. Dass er dafür den
Fax-Terror forderte, geht daraus aber nicht
hervor. Schäfer schreibt: „Sie sind mir sympathisch.
Ihnen helfe ich auch einfach so.“
Schäfer selbst wurde im Netz nicht minder
mit Dreck beworfen. Auf verschiedenen
Seiten wie etwa Schmierlappen.net ließen
sich Unbekannte über das ausschweifende
Leben von Schäfer und seinem Kompagnon
Jonas Köller aus. Einem ehemaligen Fairvesta-Mitarbeiter
zufolge soll der Inhalt indirekt
auf Knoll zurückgehen.
Der Mitarbeiter erklärte an Eides statt gegenüber
der WirtschaftsWoche, dass er
mehrere Telefonate zwischen Knoll und
dem Publizisten Christian M.* verfolgt habe.
„In diesen Gesprächen war Inhalt die mir
bekannte Internet-Seite Schmierlap-
pen.net.“ Es sei darum gegangen, welche
Veröffentlichungen dort zum Nachteil von
S&K erfolgen sollten. „Eindeutig war,
dass Herr M. in der Lage war, auf dieser
Seite entsprechende Artikel“ einzustellen.
Außerdem „besprach sich Herr Otmar
Knoll mit Herrn M. über den entsprechenden
Inhalt und auch über die
Vorgehensweise.“ Zu Hause habe er die
heute gelöschte Seite Schmierlappen.net
aufgerufen und festgestellt, dass die besprochenen
Inhalte dort „genau umgesetzt
und nachzulesen“ waren.
M. erklärt hierzu: „Ein Schmierlappen.net
ist mir nicht bekannt.“ Er habe
auch nie mit Knoll darüber gesprochen.
Knoll bestreitet ebenfalls, mit M. über die
Seite gesprochen zu haben.
GRUSS VON DEN SEYCHELLEN
Hinzu kommt ein weiterer eigenartiger
Vorfall: Eine Person, die von Fairvesta der
Weitergabe von Interna verdächtigt wird,
erhielt eine scheinbar von der WirtschaftsWoche
stammende E-Mail.
Die Nachricht täuschte vor, dass
der Anhang einen Recherchefragebogen
enthalte. Tatsächlich versteckte
sich dort ein Computervirus,
durch den Unbefugte Zugriff auf den
Computer des Empfängers erhalten
sollten. Verschickt wurde die Mail
über einen anonymen tschechischen
Server. Abgegriffene Daten sollten an
einen Server auf den Seychellen gehen.
Wer dahinter steckt, ist nicht bekannt.
Knoll sagt, er sei es nicht.
Fakt ist allerdings, dass Knoll mit einer
Gegenoffensive gedroht hat. So schreibt
er Mitte vergangenen Jahres an eine der
S&K-Gruppe nahestehende Publizistin:
„Wenn es darum geht, Auftragsarbeiten
zu vergeben, um negative Berichte über
Mitbewerber zu lancieren, dann können
wir das auch.“ Sollte ein negativer Artikel,
erscheinen, müsse er davon ausgehen,
dass S&K dahinter stecke. „Ich kann dir
versichern, dass ich mir das nicht gefallen
lasse und Leute kenne, die das große Repertoire
der negativen Berichterstattung“
beherrschen. Knoll sagt hierzu heute, er
habe nur reagiert: „Nachdem erneut diffamierende
Inhalte über meine Familie
und insbesondere meine Kinder sich im
Internet fanden, habe ich emotional erregt
diese Mail geschrieben.“
melanie.bergermann@wiwo.de l Frankfurt,
niklas.hoyer@wiwo.de
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 93
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Geld&Börse
»
»Hohe Abschläge
gibt es nur für
Problemimmobilien«
Christoph Wittkop, Pamera Asset Management
Mit seinen falschen Aussagen zu den
Haltezeiten der Immobilien konfrontiert,
räumt Knoll plötzlich einen „ganz klaren
Fehler“ ein. Nach Ausbruch der Finanzkrise
sei der Verkauf ins Stocken geraten. Ein
extrem wichtiger Punkt zur Beurteilung der
Fonds, der ihm erst auf Nachfrage einfällt.
n Leerstand. So manche angebliche „Qualitätsimmobilie“
findet keine Mieter. Von
1735 Quadratmetern eines Wohn- und Geschäftshauses
in Großalmerode etwa stehen
laut einer Immobilienanzeige 1058
Quadratmeter leer. Bei einer Wohnanlage
in Schlotheim liegen die tatsächlichen
Mieteinnahmen 63 Prozent unter den geplanten
Einnahmen. Bei einer Magdeburger
Immobilie sind es 21 Prozent.
n Zu hohe Werte angesetzt.Die von Fairvesta
angesetzten Immobilienwerte liegen teilweise
um 100 Prozent über den von Marktkennern
als üblich bezeichneten Verkaufspreisen.
Ein Geschäftshaus in Reichenbach
etwa, das unten einen Norma-Markt beherbergt,
bewertet Fairvesta mit mehr als dem
16-Fachen der jährlichen Miete. Laut Andreas
Vogler, Gesellschafter des Immobilienfondsanbieters
Kristensen Invest, zahlen
Investoren für Gebäude, die an Norma
oder Lidl vermietet sind, aber nur das Achtbis
Zwölffache der Jahresmiete. „Wenn der
Mietvertrag noch zehn Jahre läuft und im
Umfeld keine weiteren Supermärkte sind,
ist vielleicht auch mal das 13-Fache drin“,
sagt er. Diese Einschätzung teilen auch andere
Immobilienexperten. Einen Rewe-
Markt in Nieder-Olm bewertet
Fairvesta mit dem 18-Fachen
der Jahresmiete, eine Immobilie
in Grimma mit Norma im
Erdgeschoss sogar mit dem
21-Fachen. Eine Immobilie in
Zerbst bewertet Fairvesta trotz
aktuell nur 37000 Euro Miete
noch mit 1,7 Millionen.
Je länger Fairvesta die Immobilien
hält, desto eher
muss sie diese Werte beim
Verkauf auch wirklich erreichen,
um die avisierten Renditen
zu schaffen. Deshalb
sind die deutlich länger als geplanten
Haltezeiten der Immobilien
für Fairvesta und
letztlich die Anleger so ein
großes Problem.
n Stille Reserven. Die ausgewiesenen
Renditen aller laufenden
Fonds sind nämlich
noch nicht erwirtschaftet,
sondern reine Hoffnungswerte.
Fairvesta unterstellt allen Problemen
zum Trotz, dass die deutlich unter Verkehrswert
gekauften Immobilien später zum Verkehrswert
verkauft werden können, und
rechnet die entsprechenden „stillen Reserven“
schon mal vorab auf die den Anlegern
am Ende auszuzahlenden Summen auf.
Den eigenen Verkaufserfolg setzt Fairvesta
selbstbewusst voraus.
n Rechentricks. Es gibt Anhaltspunkte,
dass Fairvesta bei der Berechnung seiner
»Katastrophe«
Wohn- und Geschäftshaus
Pirmasens (Rheinl.-Pfalz)
OBJEKTDATEN
Das 1970 gebaute Haus hat 3100
Quadratmeter Fläche. Es ist angeblich
verkauft.
VERMIETUNG
Fairvesta sucht weiter Mieter. Eine
Ex-Bewohnerin bezeichnet das Haus
als „absolute Katastrophe“.
WERT LAUT FAIRVESTA
1,5 Mio. Euro
Rendite trickst. So hat Fairvesta in der letzten
veröffentlichten Leistungsbilanz von
2011 den angegebenen Starttermin des
Fonds Fairvesta 5 plötzlich um ein Jahr, von
Ende 2006 auf Ende 2007, verschoben.
Dank der damit kürzeren Laufzeit konnte
der erhoffte Gewinn auf weniger Jahre umgelegt
werden. Bei gleichem Starttermin
wie im Vorjahr hätte die angegebene Rendite
dieses Fonds bei 6,7 und nicht 8,4 Prozent
liegen müssen. Bis Redaktionsschluss
konnte Fairvesta dies nicht plausibel erklären.
Außerdem ignorierte Fairvesta bei allen
Renditeangaben den Zinseszinseffekt
und konnte so zum Beispiel beim Fonds
Fairvesta 6 statt 9,8 glatt einen Punkt mehr,
also 10,8 Prozent Rendite, ausweisen.
WIRKLICH VERKAUFT?
Anhand der Verkäufe des Fonds Nummer 2
will Fairvesta belegen, dass man Immobilien
zu den ausgewiesenen Werten verkaufen
kann. Der Fonds lief fünf Jahre und
brachte jährlich stolze 12,4 Prozent. 2011
wurde er aufgelöst. Wie, das nährt Zweifel,
ob Anleger tatsächlich mit dem Erlös aus
den Immobilien ausgezahlt wurden.
Knoll bestreitet jedenfalls, dass Fairvesta
die Immobilien einfach nur in eine andere
Gesellschaft umgeschichtet hat. Interne
Verkäufe sind in der Branche tabu: Würden
ausgezahlte Renditen nur mit dem Geld
neuer Anleger finanziert, entstünde der
Verdacht auf ein Schneeballsystem.
Die letzten im Fonds verbliebenen Immobilien
sollen an zwei ausländische
Investoren gegangen
sein, so Knoll im Gespräch
mit der Wirtschafts-
Woche. Die beiden hätten
nichts miteinander zu tun. Es
sei Zufall, dass sie gleichzeitig
gekauft hätten. „Der eine hat
um die 60 Prozent und der
andere um die 40 Prozent“
übernommen. Auch das ist
wohl falsch: In einer schriftlichen
Stellungnahme sprach
er am Donnerstag nur noch
von einem Investor: Das Portfolio
des Fairvesta 2 sei „an einen
institutionellen Investor
(Fonds) verkauft“ worden.
Seltsam: Die Fairvesta-
Fondsgesellschaft steht immer
noch als Eigentümerin
der angeblich verkauften Immobilien
im Grundbuch.
Knoll erklärte das damit, dass
der Investor die Immobilien
FOTOS: PR, JÖRN LEHMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
94 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
nicht physisch, sondern nur
eine Art Wertpapier gekauft
hätte, das ihm die Eigentumsrechte
an den Immobilien garantiert.
Für diese Rechte soll
er 15,8 Millionen Euro auf
den Tisch gelegt haben. Eingekauft
hatte Fairvesta die
Objekte für 8,7 Millionen.
Dass ein institutioneller Investor
– ein Profi also – sich
ausgerechnet dieses Portfolio
geschnappt hat, ist angesichts
von dessen fragwürdiger
Qualität unglaubwürdig:
n Ein Wohn- und Geschäftshaus
am Stadtrand von Pirmasens
von 1970 (Verkehrswert
laut Fairvesta 1,5 Millionen
Euro) macht einen heruntergekommenen
Eindruck.
Viele Wohnungen stehen
leer. „Das Haus ist eine
absolute Katastrophe“, sagt
eine ehemalige Mieterin. Niemand
kümmere sich um
Wasserschäden. Mieter würden
nach kurzer Zeit frustriert
ausziehen.
n Ein „Augsburger“ Bürogebäude steht gar
nicht in Augsburg, sondern im Gewerbegebiet
des benachbarten Kleinorts Affing.
Das Gebäude steht derzeit für 1,69 Millionen
Euro – und damit deutlich unter dem
von Fairvesta angegebenen Verkehrswert
von 2,2 Millionen Euro – zum Verkauf.
n Ein Bürohaus in Ansbach scheint gut
vermietet, etwa an den DGB. Doch auch
hier Leerstand: Aktuell wird für 168 Quadratmeter
im dritten Stock ein Mieter gesucht.
n Das größte Objekt in dem Paket ist eine
Plattenbausiedlung im Schweriner Problemviertel
Mueßer Holz. Die Gegend ist
unbeliebt. Bei einer Umfrage 2007 bewerteten
56 Prozent der befragten Bewohner
die Wohnqualität negativ. So manche
Wohnung steht leer. 2007 hatte Fairvesta
schon einmal behauptet, die Mehrfamilienhäuser
mit 60 Prozent Rendite verkauft
zu haben – was sich als unwahr herausstellte.
Damals sei die finanzierende Bank
des Käufers abgesprungen und habe das
Geschäft so platzen lassen, sagt Knoll dazu.
Die Höhe der in den Grundbüchern dieser
Immobilien eingetragenen Grundschulden
nährt den Verdacht, dass die Gebäude
bei Fairvesta nahestehenden Gesellschaften
landeten. Laut Knoll wurden
die Schulden auf die Häuser auf Wunsch
Unbeliebt
Wohnblöcke
Schwerin (Meckl.-Vorp.)
OBJEKTDATEN
Die sechs Mehrfamilienhäuser
im Problemviertel Mueßer Holz hat
Fairvesta angeblich verkauft.
HISTORIE
2007 hatte Fairvesta schon mal
den Verkauf mit 60 Prozent Rendite
vermeldet. Der Deal platzte.
WERT LAUT FAIRVESTA
über 8 Mio. Euro
des Investors eingetragen. Auf deren Höhe
hatte er angeblich keinen Einfluss: „Damit
haben wir nichts am Hut.“
Mit Eintragung einer solchen Grundschuld
bekommt Fairvesta eine Urkunde,
eine Art Wertpapier, welche die Höhe der
Grundschuld bescheinigt. Fairvesta kann
die Urkunde nun an Investoren weiterreichen,
diese können jederzeit die Immobilie
verkaufen. Ob die eingetragene Grundschuld
dem Wert der jeweiligen Immobilie
entspricht, wird nicht geprüft.
Die Grundschulden aber machen stutzig.
Sie wurden genau so hoch angesetzt,
dass – wenn die Grundschuld gleich dem
neuen Verkehrswert ist – die Immobilien
problemlos in andere Fairvesta-Gesellschaften
gepackt werden können. Die dürfen
laut Anlagestrategie für Immobilien
nämlich maximal 70 Prozent
des Verkehrswerts bezahlen.
Für das Objekt in Ansbach
etwa wurde eine Grundschuld
über 2,23 Millionen
Euro im Grundbuch bestellt.
70 Prozent davon wären 1,56
Millionen Euro – exakt der alte
von Fairvesta ausgewiesene
Wert. Bei Auflösung des
Fonds Fairvesta 2 hätte Fairvesta
die Immobilie zu 1,56
Millionen Euro in eine andere
Gesellschaft verschieben
können, ohne gegen die Anlageregeln
zu verstoßen.
Auffällig: Ende 2010 hatte
Fairvesta begonnen, über ihre
Liechtensteiner Töchter
Geld mittels Anleihen einzusammeln.
Deren Käufer wissen
nicht, in welche Objekte
ihr Geld geflossen ist. Im
Emissionsprospekt der Anleihen
steht, dass die Eintragung
einer „Briefgrundschuld“
zur Freigabe einer Investition
ausreiche. Bis Ende
2011 investierte die Fairvesta Europe AG
5,3 Millionen Euro in Immobilien, aber
nicht direkt, sondern indirekt als Finanzanlagen.
Dahinter könnten Briefgrundschulden
stehen.
Die Auszahlung der Anleger des Fonds
Fairvesta 2 erfolgte Mitte 2011. Theoretisch
hätten die 5,3 Millionen Euro aus den
Liechtensteiner Anleihen gereicht, um vier
der sechs vom Fonds gehaltenen Objekte,
nämlich die in Pirmasens, Augsburg, Ansbach
und Chemnitz, zu kaufen.
Theoretisch – Knoll sagt, es habe keine
internen Verschiebungen über die von Anlegern
genehmigten hinaus gegeben. Der
ausländische Investor sei „weder direkt
noch indirekt der Fairvesta Unternehmensgruppe
zuzuordnen“. Wohin das Geld
aus den Liechtensteiner Anleihen denn
dann geflossen sei, sagt Fairvesta nicht.
Alles nur Zufall also? Im Gespräch sagt
Knoll, er würde „liebend gerne“ die zwei
Käufer nennen. Aus diesen angeblich
„richtig guten Namen“, die an der Börse jeder
kenne, wird in der späteren Stellungnahme
plötzlich nur noch ein Investor.
Klar ist am Ende nur eins: Ein Händchen
für Immobilien hat dieser große Unbekannte
sicher nicht. Und dass Fairvesta es
hat, darf mehr denn je bezweifelt werden. n
melanie.bergermann@wiwo.de | Frankfurt,
niklas.hoyer@wiwo.de
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 95
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Geld&Börse
Herr Watzke, als Ihr Team gerade 0:2
gegen Mönchengladbach verloren hatte,
büßte die BVB-Aktie daraufhin 1,8 Prozent
ein. Folgt der Kurs von Fußballaktien
nur den sportlichen Ergebnissen?
Kurzfristig mag das so sein; auf Dauer spiegelt
die Börse aber unsere längerfristige
wirtschaftliche Entwicklung wider. Es sind
nicht mehr viele Anleger, die wegen einer
Niederlage gleich verkaufen. 2009 notierte
die BVB-Aktie zeitweise unter einem Euro,
heute ist sie Richtung vier Euro unterwegs.
FEUERFEST
Watzke, 54, ist seit
2005 Chef der Borussia
Dortmund KGaA, des
einzigen deutschen
Fußballclubs, der an
der Börse notiert ist.
Der Diplom-Kaufmann
leitete davor den von
ihm gegründeten Feuerwehr-
und Schutzbekleidungshersteller
Watex.
»Mehr rausholen«
INTERVIEW | Hans-Joachim Watzke Der BVB-Boss will trotz
Wettbewerbsverzerrung durch Scheich-Clubs pro Jahr 250 Millionen
Euro Umsatz schaffen.
Seitdem haben wir den Umsatz fast verdreifacht,
unser Eigenkapital stieg in acht Jahren
von 24,6 auf 140,6 Millionen Euro, und
wir haben deutlich mehr als 100 Millionen
Euro Verbindlichkeiten abgebaut. Ich halte
das für eine sehr positive Geschichte und
habe ehrlich gesagt das Gefühl: Da bin ich
nicht ganz alleine.
Anleger, die von Anfang an dabei waren,
sitzen dennoch auf 65 Prozent Verlust.
Wann erreichen Sie die elf Euro wieder,
die Sie beim Börsengang verlangt haben?
Wir haben zwei Kapitalerhöhungen zu
niedrigeren Kursen durchgeführt, sodass
der durchschnittliche Kaufkurs weit unter
den elf Euro vom ersten Börsengang liegt.
Und unsere Anteilseignerschaft hat sich
stark verändert. 90 Prozent unserer Aktionäre
sind inzwischen im Plus.
Woher nehmen Sie denn diese Weisheit?
Wir kennen zwar nicht jeden Streubesitzanleger,
wissen aber, zu welchen Kursen
die großen Pakete den Besitzer wechselten,
die der Investmentbank Morgan Stanley
oder des Fonds Blue Bay etwa, die damals
fast 30 Prozent unserer Aktien hielten.
Oder die des Ex-Investors Florian Homm.
Bei genauer Betrachtung Ihrer Zahlen
fällt auf, dass von 305 Millionen Euro
Umsatz nur zwölf Millionen Euro Liquidität
übrig blieben. Das scheint etwas dürftig;
das viel zitierte Festgeldkonto Ihres
Rivalen FC Bayern ist 13-mal so dick.
Das liegt zum Teil an Buchungsfristen, die
37 Millionen Euro etwa aus dem Transfer
von Mario Götze gingen einen Tag nach Bilanzstichtag
ein. Dann haben wir dieses
Jahr mit dem Dauerkartenverkauf zwei
Wochen später begonnen. Sie brauchen
sich in der Bilanz nur unsere hohen Forderungen
anzuschauen, da steckt ein Gutteil
dieses Geldes drin. Wenn wir die Liquidität
optimieren wollten, könnten wir leicht
mehr rausholen. Stichtagsbezogene Liquidität
ist aber kein Selbstzweck, zumal wir
keine neuen Kredite aufnehmen müssen.
Trotzdem entsteht der Eindruck,
dass viel Geld sofort wieder abfließt.
Wohin soll es denn abfließen?
In Prämien zum Beispiel. Ihr Gehaltsetat
stieg von 75 Millionen Euro 2011/12 auf
99 Millionen Euro 2012/13. Ihr eigenes
Gehalt wuchs dank Ihres Bonus, der an
den Vorsteuergewinn (Ebit) gekoppelt ist,
ebenfalls erheblich. Wie erklären Sie das
den Aktionären?
Die Aktionäre bekommen ja auch ihr Stück
vom Kuchen. Die Dividende wird voraussichtlich
von 6 auf 10 Cent je Aktie steigen;
das ist die Hälfte unseres freien Cash-Flows
und ergibt beim jetzigen Kurs fast drei Prozent
Rendite. Zum Ebit haben wir immer
offen gesagt, dass wir nicht jedes Jahr 65
Millionen Euro schaffen. Selbst der FC Bayern
hat, bei wesentlich mehr Umsatz, ja
noch nie so viel Gewinn geschrieben wie
wir. Das hohe Ebit lag zum Teil an außergewöhnlich
hohen Transfereinnahmen, die
wir sicher nicht in jedem Jahr generieren
können, übrigens auch gar nicht wollen. Es
ist außerdem bereits heute absehbar, dass
wir in den kommenden Jahren wieder ab
FOTO: DOMINIK ASBACH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
96 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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und an höhere Abschreibungen haben
werden, die diese Ziffer drücken. Insofern
ist das hohe Ebit ganz klar eine Ausnahme.
2005 bis 2008 mussten Sie, um zu
überleben, künftige Einnahmen aus Dauerkarten,
TV-Geldern, Sponsoring und sogar
Versicherungsprämien verpfänden. Vom
Rechte-Vermittler Sport Five bekamen Sie
2008 auf einen Schlag 50 Millionen Euro;
dafür geht ein Teil der Einnahmen aus dem
Sponsoring noch bis 2020 an die Agentur.
Gibt es noch mehr solcher Altlasten, die
Einnahmen abzweigen?
Nein. Nur noch den Sportfive-Vertrag. Das
Geld daraus haben wir eins zu eins in den
Rückkauf des Stadions gesteckt, der uns
wegen der entfallenden Miete entlastet.
Wie viel Geld aus dem Sponsoring geht
Ihnen dadurch bis 2020 noch flöten?
Man hört von 20 Prozent der Einnahmen.
Die genaue Zahl nenne ich nicht, aber gehen
Sie bitte von deutlich weniger aus.
Und die drastisch gestiegenen Gehälter?
Die ergeben, auch nach zwei deutschen
Meistertiteln in drei Jahren und dem Einzug
in das Champions-League-Finale, noch immer
nur den vierthöchsten Spieler-Etat der
Liga. Vor drei Jahren wurden wir noch mit
dem achthöchsten Etat deutscher Meister;
derzeit machen wir nach Bayern den größten
Umsatz der Liga und schreiben am
meisten Gewinn, wir geben aber nicht
mehr Geld aus als Schalke oder Wolfsburg.
Natürlich unterliegen auch wir den Branchenmechanismen
und bezahlen inzwischen
ganz ordentlich. Aber bei uns haben
die Spieler im Durchschnitt nur 65 Prozent
Fixgehalt, 35 Prozent sind variabel, also an
den sportlichen Erfolg gekoppelt. Sollte der
also mal ausbleiben, würden wir trotzdem
schwarze Zahlen schreiben, weil die Ausgabenseite
erheblich kleiner ausfiele.
Das ist angesichts früherer BVB-Verluste
schwer zu glauben.
Für frühere Verluste können Sie doch nicht
die aktuelle Geschäftsführung verantwortlich
machen. Ihr Misstrauen ist angesichts
der nachhaltig positiven Entwicklung seit
der Beinahe-Insolvenz über inzwischen
acht Jahre unbegründet. Die Planung unserer
Fixgehälter etwa beinhaltet noch
nicht einmal das Weiterkommen in der
Champions League über die Gruppenphase
hinaus – als Vorjahres-Finalist; das dürfte
europaweit relativ einmalig konservativ
sein. Auch ein Jahr ohne neue Champions-
League-Qualifikation würden wir noch ohne
Verlust abschließen. Danach müssten
wir allerdings darauf reagieren.
Also Spieler verkaufen?
Nicht unbedingt, das Budget würden wir,
der Situation angemessen, runterfahren.
Welche Ziele sind realistisch?
Wir wollen die zweite Kraft im deutschen
Fußball werden, sportlich und wirtschaftlich.
Das sind Sie doch schon.
Uns geht es um die Verstetigung des Erfolges,
da müssen wir weiter klug investieren
und mehr strampeln als Konkurrenten, die
Geld von außen bekommen.
Von Konzernen wie VW oder von Scheichs
und Oligarchen.
Genau. Anders als diese Clubs muss Borussia
Dortmund alles, was sie ausgibt,
selber mit Fußball verdienen.
Wie lauten die wirtschaftlichen Ziele?
Der Umsatz sollte mittelfristig – ohne große
Spielerverkäufe – jedes Jahr 250 Millionen
Euro plus x erreichen. So wie wir wirtschaften,
dürfte das auch schwarze Zahlen bedeuten.
Und diese Ziele müssen weiterhin
erreicht werden, ohne dass ein Euro neue
Nettoschulden dazukommt.
Sie kündigen damit de facto einen
Umsatz- und Gewinnrückgang an.
Das dürfte den Aktionären nicht
schmecken.
»90 Prozent
unserer aktuellen
Aktionäre sind mit
der Aktie im Plus«
direkt profitiert hätten, haben das 99,8 Prozent
der Aktionäre abgelehnt.
Der Interessenkonflikt zwischen Sport
und Kapital bleibt trotzdem. Seit dem
letzten Spiel haben Sie zwei weitere
Verletzte im dünn besetzten zentralen
Mittelfeld. Zugleich haben Sie eine
Dividendenerhöhung von sechs auf zehn
Cent je Aktie angekündigt. Hätten Sie
nicht mehr Geld in den Kader investieren
müssen?
Wir haben knapp 50 Millionen Euro für
neue Spieler ausgegeben. Es ist keine Planstelle
unbesetzt, die Spieler sind hochkarätig,
auch die Eigengewächse. Wir können
aber nicht zur Absicherung aller Eventualitäten
jeden Kaderplatz dreifach besetzen.
Immer mehr Milliardäre legen sich einen
Fußballclub zu und stecken Hunderte
Millionen Euro hinein. Gefährdet das Ihren
Erfolg, weil diese Clubs die guten Spieler
aufkaufen? Schließlich müssen Sie international
halbwegs mithalten können, wenn
Sie Ihre Umsatzziele erreichen wollen; das
große Geld wird in der K.-o.-Runde der
Champions League verdient...
Es ist für uns nichts Neues, dass andere
mehr Geld ausgeben können. Aber ich gebe
Ihnen recht, dass hier teilweise die Relationen
verloren gegangen sind. Das ist
aber nicht nur uns aufgefallen, sondern
auch dem europäischen Verband, der UE-
FA. Diese wird bald die Regeln für Mäzenen-Vereine
drastisch verschärfen. Im
Rahmen des Financial Fair Play (FFP) dürfen
Clubs, die an ihren internationalen
Wettbewerben teilnehmen, über einen
Zeitraum von drei Jahren nicht mehr Geld
ausgeben, als sie in drei Jahren eingenommen
haben.
Die Einführung von FFP war schon für
die Saison 2013/14 geplant. Sie wurde auf
2015 verschoben, auch auf Druck einiger
Großclubs und deren Mäzene. Haben die
zu viel Einfluss auf die UEFA, und können
sie die Regeln nicht einfach unterlaufen?
Technisch sind die Regeln nicht schwer zu
kontrollieren, alles, was Sie dazu brauchen,
sind eine testierte Bilanz und ein paar Sachbearbeiter.
Wie stringent sie eingehalten
werden, kommt auf die Willensstärke der
UEFA an. Und da gehe ich persönlich davon
aus, dass sie ernst machen wird.
UEFA-Chef Michel Platini hat seinen eigenen
Namen zu eng mit dem Projekt FFP
verknüpft, als dass er sich einen Rückzieher
erlauben könnte. Klar werden einige Leute
mit sehr viel Geld versuchen, Druck auf die
UEFA aufzubauen. Vergessen Sie aber auch
nicht, dass die ganz großen Traditions-
Sie unterschätzen unsere Aktionäre, die
sind ja nicht dumm. Sie wissen, dass die
guten Zahlen hohen Transfereinnahmen
geschuldet waren und dem Erreichen des
Champions-League-Finales; beides kann
nicht jedes Jahr gelingen. Außerdem wissen
unsere Aktionäre, dass sie in einen
Fußballclub investieren und wir auch andere
Ziele haben, nicht nur die Maximierung
des Shareholder-Value.
Ihre Aktionäre sind also Romantiker?
Realisten. Sie wissen, dass ein Verein investieren
muss, um auch künftig sportliche Erfolge
zu feiern, und mit denen kommen ja
dann auch wieder die Einnahmen. Das ist
sinnvoll, weil nachhaltig.
Und die Anleger akzeptieren das?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Auf der letzten
Hauptversammlung verlangte jemand eine
Dividendenerhöhung. Obwohl sie davon ja »
WirtschaftsWoche 14.10.2013 Nr. 42 97
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Geld&Börse
»
clubs, wie der FC Barcelona, Real
Madrid, Manchester United und der FC
Bayern, kein Interesse an noch mehr neureicher
Konkurrenz haben; auch sie werden
ihren Einfluss bei der UEFA geltend machen.
Ich gehe jedenfalls persönlich davon
aus, dass FFP im Kern greifen wird.
Im Ticketing, Merchandising und Sponsoring
hinken Sie den internationalen
Branchengrößen noch weit hinterher, trotz
zehn Millionen Fans. Warum nutzen Sie
dieses Potenzial nicht besser?
Alle diese Umsatzbereiche sind 2012/13
zwischen 20 und 45 Prozent gegenüber
dem Vorjahr gewachsen. Gerade in den
letzten Monaten haben wir viele internationale
Sponsoring-Partner neu gewonnen.
Im Ticketing ist bei uns ein Deckel
»Wir wollen jedes
Jahr 250 plus x
Millionen Euro
Umsatz schaffen«
drauf, das haben wir immer klar gesagt. Wir
wollen unsere 25 000 Stehplätze erhalten,
die Teil unserer Kultur sind. Dafür nehmen
wir auch weniger Spieltags-Umsatz als vergleichbare
Konkurrenten in Kauf.
Der Erfolg der letzten Jahre ist eindeutig
auch Ihrem Trainerteam um Jürgen Klopp
zuzuschreiben. Was machen Sie, wenn
diese Leute eines Tages dem Ruf des ganz
großen Geldes erliegen?
Jürgen Klopp hat noch einen Vertrag bis
2016. Ich würde nicht ausschließen, dass er
noch länger bleibt. Aber klar: Eines fernen
Tages wird der BVB ohne ihn auskommen
müssen. Bis dahin wollen wir sportlich und
wirtschaftlich so gefestigt sein, dass uns
das nicht mehr aus der Bahn wirft. Wir sind
da auf einem guten Weg.
n
stefan.hajek@wiwo.de
BVB-AKTIE
Hoffen auf die
UEFA-Regeln
Die BVB-Aktie hat in den letzten drei
Jahren rund 250 Prozent zugelegt.
Trotzdem hat sie noch Potenzial.
Aktien-Info BVB
ISINDE0005493092
4
3
2
1
50-Tage-Linie
0,5
200-Tage-Linie
2009 10 11 12 13
2011/12 2012/13
Umsatz (in Mio. €)
215,2 305,0
Gewinn (Ebit, in Mio. €) 41,4 65,1
Dividende (in € je Aktie) 0,06 0,10
Operativer Cash-Flow (in Mio. €) 28,0 28,6
Eigenkapital (in Mio. €) 93,4 140,6
Personalkosten (in Mio. €) 80,1 106,2
Nettofinanzschulden (in Mio. €) 42,0 32,8
Chance
Risiko
Niedrig
Quelle:Konzernbilanz,Thomson Reuters
Hoch
Eigentlich müsste die Aktie von Borussia
Dortmund (BVB) jetzt ins Trudeln geraten:
Der BVB hat 305 Millionen Euro Umsatz
und einen Gewinn (Ebit) von 65 Millionen
Euro gemeldet, was macht der
Chef? Er kündigt künftig weniger an: „250
Millionen Euro plus x“, so sein Umsatzziel,
auch der Gewinn werde kleiner sein.
Fast jede Aktie würde nach so einer Aussage
einbrechen. Das Fußballgeschäft
folgt eigener Logik: Der hohe Umsatz des
BVB kommt auch aus Transfers. Anders
als ein Software- oder Möbelkonzern will
ein Fußballclub nicht unbedingt jedes
Jahr Umsatz und Gewinn maximieren.
Spielerverkäufe schwächen den Verein
sportlich – erhöhen so das Risiko, dass
ihm künftige Einnahmen entgehen. Sponsoren
und TV-Gelder fließen nur üppig bei
sportlichem Erfolg. Die Börse fremdelt oft
mit dieser Dialektik; sie ist auf kurzfristige
Erfolge, Gewinnoptimierung und Dividendenwachstum
programmiert. Fußball und
Börse passten nicht zusammen, so Kritiker.
Ganz unrecht haben sie nicht: Die
meisten Clubs sind Geldverbrenner, immer
auf der Jagd nach dem maximalen
sportlichen Erfolg und damit dem Seelenheil
ihrer Fans. Oft wird das durch Überschuldung
erkauft. Dass es anders geht,
beweisen die Champions-League-Finalisten
München und Dortmund. Die Bayern,
eine AG, aber nicht börsennotiert, haben
sich zu je rund zehn Prozent an Adidas
und Audi verkauft, dafür rund 190 Millionen
Euro Kapital bekommen. Die Konzerne
kriegen Dividende und exklusive Werbeverträge.
Dortmund wählte 2000 den
damals modischen Weg des Börsengangs,
gab aber schnell zu viel Geld aus
und war nur fünf Jahre später fast pleite.
Seitdem bleiben dem BVB nur die Mühen
der Ebene: zwei Kapitalerhöhungen, künftige
Einnahmen verpfänden, um das teuer
gemietete Stadion zurückzukaufen, auf
junge, nicht so teure Spieler setzen.
DIE WEICHEN STELLEN ANDERE
Das klappte, mit dem sportlichen Erfolg
kam auch der wirtschaftliche zurück. Die
Bilanz ist weitgehend saniert, rund 100
Millionen Euro Schulden abgebaut und
die Eigenkapitalbasis erheblich gestärkt;
der Club schreibt schwarze Zahlen. Trotz
Rally ist die Aktie nicht zu teuer (links).
Das ist das Verdienst der BVB-Manager.
Doch ob der Höhenflug weitergeht, hängt
nicht mehr nur von ihnen ab. Langfristig
das größte Risiko für die wachsenden
BVB-Einnahmen sind von Mäzenen gepäppelte
Konkurrenten. Denn die Erlöse
– vor allem jene, die sowohl Fans als auch
Anleger gerne sehen, etwa TV- und Sponsorengelder
– hängen davon ab, möglichst
weit in den internationalen Wettbewerben
zu kommen: Allein durch die
Champions League nahm Dortmund
2012/13 rund 50 Millionen Euro mehr ein
als etwa Mönchengladbach, das nur Euro-League
spielen durfte. Das entspricht
dem gesamten Umsatz eines mittleren
Bundesligaclubs. Doch an die internationalen
Fleischtöpfe wollen auch all die russischen
und arabischen Milliardäre, die
sich Vereine wie Manchester City oder
Paris kaufen und Hunderte Millionen Euro
in die Kader investieren. Auf Dauer wird
Dortmund seine Umsätze nur steigern
können, wenn die UEFA dem Treiben der
Mäzene Riegel vorschiebt. Sonst droht international
auf lange Sicht die Bedeutungslosigkeit;
der Umsatz würde bestenfalls
stagnieren. Ob die UEFA, die neue
Regeln ausgeheckt hat, diese ab 2015
ernsthaft umsetzt, ist unsicher.
stefan.hajek@wiwo.de
FOTO: DOMINIK ASBACH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
98 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Geld&Börse
Hart durchgegriffen
BUSSGELD | Ein privates Inkassounternehmen treibt bei Italien-
Urlaubern Knöllchen ein. Wer nicht zahlt, hat wenig zu befürchten.
Wie viele deutsche Autofahrer ärgert
es Stefan Kalter*, dass er bei Fahrten
in den Süden andauernd die
Geldbörse zücken muss. Zur Vignette in Österreich
und 49 Euro Maut vom Brenner bis
Rom kamen in diesem Jahr weitere 113 Euro.
Die verlangte das „Corpo di Polizia Roma
Capitale“ von ihm – weil er im Urlaub ein
Jahr zuvor ohne Genehmigung in eine
Sperrzone gefahren sein soll. Unterzeichnet
hat den „Protokollbescheid“ ein Dirigente
Dottore Pasquale Pelusi, und bezahlen soll
Kalter an das Inkassounternehmen Nivi-
Credit.
Alles wirkt hochoffiziell: römisches Wappen,
Aktenzeichen, juristische Fachsprache.
Kalter will trotzdem nicht zahlen, auch
der Rabatt von 30 Prozent, der ihm bei einer
Überweisung binnen fünf Tagen gewährt
würde, ändert daran nichts. Er überlegt
jetzt, ob er bei einem „Friedensrichter“
in italienischer Sprache Einspruch einlegen
soll.
Die Fragen beschäftigen Tausende Italienreisende,
die nach ihrem Urlaub Post
von NiviCredit bekommen. In Italien darf
das Inkassounternehmen aus Florenz offiziell
Gelder für Mautgesellschaften und Polizeibehörden
eintreiben. Das geschieht in
großem Stil und auch Jahre später. Die Forderungen
der privaten Gesellschaft verjähren
erst nach zehn Jahren. Aktuell fordert sie
Geld für die Jahre 2009 bis 2012.
Post von NiviCredit bekam auch Rainer
Schmidt*. Im Juli überreichte ihm sein Arbeitgeber
einen Brief, in dem er beschuldigt
wurde, mit seinem Dienstwagen im Oktober
2009 auf der Strecke Como–Grandate
zwei Euro Maut nicht bezahlt zu haben. 16
Euro soll das kosten. Schmidt ist aber nie
durch eine Mautschranke gebrettert.
Doch ebenso wie Kalter hat er ein ungutes
Gefühl, wenn er nicht zahlt. Irgendwann
wird er wieder nach Italien reisen. Schmidt
möchte nicht, dass sein Audi Q7 dann plötzlich
mit Parkkrallen am Straßenrand steht.
Wie aber kommt es zu der Miniforderung?
Der Rosenheimer Verkehrsrechtsexperte
Marc Herzog kennt die Fälle: „Es kommt
häufig vor, dass eine Kartenzahlung an einer
Station misslingt.“ Der Fahrer bekomme
* Namen von der Redaktion geändert
113 Euro kostet
die Fahrt in eine zeitweise
für den Verkehr gesperrte
Straße in Italien
Versteckte Kamera Wer das Schild nicht
kapiert, bekommt die Rechnung nach Hause
zwar einen Beleg, auf dem stehe aber, dass
die Zahlung nicht geleistet wurde. Die
Schranke öffnet sich, um Staus zu vermeiden,
deshalb ignorieren viele den Beleg. Die
Forderung gibt es also tatsächlich. Andere
Fälle, über die Autofahrer in Internet-Foren
wütend debattieren, sind nicht so eindeutig:
Ein Tourist bekam eine Zahlungsaufforderung
fürs Falschparken am Gardasee, obwohl
er das Knöllchen schon im Urlaub bei
einer Bank bar bezahlt hatte. Ein anderer
konnte nur einen Teil seiner Maut mit der
Videomautkarte begleichen. Die restlichen
13 Euro wollte er an der Station bar zahlen.
Dort teilte man ihm mit, dass er eine Rechnung
bekomme. Die betrug satte 201 Euro.
Nicht alles ist Schikane ausländischer Touristen:
Deutsche Bußgelder sind niedrig, die
in Italien hoch, auch für Italiener. „Das Land
hat viele Verkehrstote, und die EU-Kommission
verlangt, dass die Opferzahlen bis 2020
um die Hälfte sinken, deshalb hat Italien die
Sanktionen verschärft“, sagt Michael Nissen,
Leiter Internationales Recht beim ADAC.
Elf Stundenkilometer zu viel auf dem Tacho
kosten in Italien 170 Euro gegenüber 15
bis 35 Euro in Deutschland. Wer auf einer
Vespa ohne Helm fährt, muss den Roller für
60 Tage abgeben. Ein Auto wird zwangsversteigert,
wenn der Fahrer mit 1,5 Promille
Alkohol im Blut erwischt wird. Und die
Sperrzonen („Zona traffico limitato“) gibt es
heute in jeder Kleinstadt. In dem Schilderwald
übersieht mancher, dass die Durchfahrt
zeitweise verboten ist. „Wo deutsche
Polizisten ausländische Autofahrer mitunter
nur auf ihr Vergehen hinweisen, wird in
Italien hart durchgegriffen“, sagt Nissen. Die
Fahrt kostet 80 Euro, inklusive der Verwaltungskosten
werden daraus 113. Wer ein
zweites Mal hineinfährt, weil er bei der ersten
Runde sein Hotel nicht finden konnte,
der zahlt erneut. Diese Praxis wurde höchstrichterlich
gebilligt.
KEIN EU-BUSSGELDVERFAHREN
Wer die Schreiben von NiviCredit ignoriert,
geht ein kleines Risiko ein, in Italien belangt
zu werden. Anwalt Herzog kann sich
aber nicht erinnern, je von einem Fall gehört
zu haben, der nicht nach zwei Mahnungen
im Sande verlief. Von deutschen
Behörden haben Autofahrer nichts zu befürchten,
anders als etwa Holland- oder
Frankreichreisende: Italien, Irland und
Griechenland nehmen nämlich nicht an
der seit 2005 existierenden EU-weiten Bußgeldvollstreckung
teil. „Dadurch gibt es
keine wirksame Rechtsgrundlage, italienische
Forderungen hierzulande zu vollstrecken“,
sagt Jurist Nissen. Die Italiener bekommen
die Halterdaten vom Kraftfahrtbundesamt,
mehr nicht.
Italien könnte sich dem offiziellen Verfahren
anschließen und rückwirkend Forderungen
eintreiben. Ab 70 Euro Bußgeld würde
dann das Bonner Bundesamt für Justiz
übernehmen. Die Italiener hätten nur nichts
davon: Das eingesammelte Geld würde an
die deutschen Behörden fließen.
Für NiviCredit wiederum wäre eine Klage
zu kompliziert. „Sie müsste beim Gericht
am Wohnsitz des Fahrers eingereicht und
nach italienischem Recht geprüft werden“,
sagt Herzog. Das aber würde ein deutscher
Amtsrichter kaum auf sich nehmen. n
heike.schwerdtfeger@wiwo.de | Frankfurt
FOTO: MAURITIUS IMAGES/ALAMY
100 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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Spezial | Zertifikate
Zinsen für Mutige
ZERTIFIKATE | Neue Anlagepapiere bringen Jahresrenditen bis zu
acht Prozent – wenn die Börsen nicht abstürzen.
In großen Lettern prangt das Versprechen
auf der Zertifikateseite der DZ
Bank: „Wege aus dem Zinstief.“ Welchen
Anleger reizt eine solche Ansprache
nicht – bei nur 1,5 Prozent Durchschnittszinsen
auf Anleihen. Mit bis zu 3,3 Prozent
pro Jahr wirbt dagegen ein neues Zertifikat
der DZ Bank. Der Name klingt beeindruckend:
„ZinsFix Control Europa“. Der Zusatz
„2013/53“ deutet darauf hin, dass
schon mehrere Dutzend solcher Emissionen
unters Anlegervolk gebracht worden
sind. Das Zertifikat läuft bis Oktober 2016,
so viel ist sicher. Doch ob es bis dahin wirklich
3,3 Prozent Rendite pro Jahr werden,
ist ein Spiel mit mehreren Unbekannten.
„Zertifikate sind Inhaberschuldverschreibungen,
wie Anleihen auch. Ihr höherer
Kupon wird in vielen Fällen durch
Termingeschäfte finanziert“, sagt Dieter
Lendle, Vorstand des bankenunabhängigen
Zertifikateberaters Anlagematrix aus
Frankfurt. Für Anleger bedeutet das: Weil
das allgemeine Zinsniveau derzeit so niedrig
ist, können solche Papiere dank höherer
Kupons durchaus eine Alternative zu
herkömmlichen Zinspapieren sein. Doch
damit die Renditerechnungen funktionieren,
darf die Börse nicht abschmieren.
Das gilt auch für das neue DZ-Zinszertifikat
auf den Euro Stoxx (siehe Tabelle Seite
104). Die in Aussicht gestellte Jahresrendite
gibt es nur, wenn der europäische Aktienindex
in drei Jahren mindestens bei knapp
2000 Punkten notiert. Angesichts der leichten
Erholung in der Finanzkrise ist das
durchaus zu schaffen. Sollte Europa aber wider
Erwarten in die Rezession rutschen, wird
es knapp. 2003 und 2008 stand der Euro
»Höhere Kupons
werden durch
Termingeschäfte
finanziert«
Dieter Lendle, Anlagematrix
Stoxx weit unter 2000 Punkten. In beiden Fällen
hätte das Zertifikat Verluste eingefahren.
Wem angesichts eines solchen Risikos
3,3 Prozent zu mager sind, der kann mit
Zinszertifikaten auf Einzelaktien höhere
Renditen anpeilen. Infrage kommt etwa
ein sogenanntes Extra-Zinszertifikat auf
BASF (siehe Tabelle Seite 104) von der
Deutschen Bank. Das Zertifikat bietet zunächst
einen festen jährlichen Kupon von
3,0 Prozent. Bei aktuellen Kaufkursen von
97,25 Prozent und einer Laufzeit bis April
2015 wären das 4,9 Prozent Jahresrendite.
Der Kupon kann sogar auf 6,0 Prozent erhöht
werden, die jährliche Rendite würde
damit auf 7,9 Prozent klettern. Im Vergleich
zu einer klassischen BASF-Anleihe mit
ähnlicher Laufzeit (XS0412154378), die nur
0,5 Prozent Jahresrendite bringt, wäre das
ein enormer Zinsvorteil.
Das Problem dabei: Die sechs Prozent
gibt es nur, wenn die BASF-Aktie in eineinhalb
Jahren höher steht als heute. Das ist
selbst angesichts optimistischer Gewinnprognosen
für den Chemiekonzern (2014
plus zehn Prozent Nettoertrag) ein offenes
Spiel. Und auch die durch den Basiskupon
eingefahrene Rendite ist nicht zementiert.
Die Tilgung des Zertifikats erfolgt nämlich
nur dann zu 100 Prozent, wenn die BASF-
Aktie am abschließenden Bewertungstag
nicht um mehr als 18 Prozent unter dem
heutigen Niveau notiert. Wenn doch, werden
die Kursverluste der Aktie eins zu eins
ins Zertifikat eingerechnet.
ACHT PROZENT ODER AKTIEN
In diesem Fall wäre es ein Vorteil, wenn die
Tilgung nicht in bar, sondern in Aktien
stattfinden würde. Dann könnte man ohne
Termindruck auf eine nachfolgende Erholung
setzen. Genau diese Chance bieten
Aktienanleihen. Wie andere Zinszertifikate
auch verknüpfen sie zunächst einen vergleichsweise
hohen Kupon mit der stabilen
Entwicklung der Basisaktie. Als Rückzahlung
gibt es im Erfolgsfall 100 Prozent des
Nennwerts in bar. Geht diese Rechnung bis
zur Fälligkeit aber nicht auf, gibt es eine bestimmte
Anzahl der entsprechenden Basisaktien
ins Depot gebucht. „Bei Aktienanleihen
ist es deshalb grundsätzlich ratsam,
auf stabile Werte zu setzen und dafür auch
etwas niedrigere Kupons in Kauf zu nehmen“,
sagt Nicolai Tietze, Derivate-Fachmann
der Deutschen Bank.
Eine neue Aktienanleihe auf die Allianz
(siehe Tabelle Seite 104) etwa steht derzeit
bei 99,25 Prozent. Einschließlich bisher
aufgelaufener Stückzinsen kostet sie
»
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS
102 Nr. 42 14.10.2013 WirtschaftsWoche
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99,62 Prozent. Im Oktober 2014 gibt es
einen Kupon von 6,5 Prozent. Das wären,
aufs Jahr gerechnet, 7,2 Prozent Rendite.
Kein schlechtes Geschäft, selbst Allianz-
Anleihen mit Laufzeit bis 2016
(XS0275880267) bieten nur 0,9 Prozent
Jahresrendite.
Allerdings ist die Aktienanleihe nur dann
so rentabel, wenn die Allianz zur Fälligkeit
mindestens bei 112 Euro steht. Derzeit notiert
sie bei 116 Euro. Das wird knapp.
Wenn die Aktie am Laufzeitende unter diese
Grenze rutscht, gibt es pro 1000 Euro
Nennwert 8,929 Allianz-Aktien zum dann
aktuellen Kurs. (Bruchanteile werden in
bar ausgeglichen.) Mit diesen Aktien kann
man dann auf eine Erholung setzen.
SPIEL UM SCHNELLE VIER PROZENT
Seit Kurzem auf dem Markt ist eine Expressanleihe
auf Daimler von der LBBW
(siehe Tabelle). Die maximale Laufzeit beträgt
vier Jahre, dazu gibt es einen Kupon
von 4,0 Prozent. Wie bei einer Aktienanleihe
gibt es den Kupon in jedem Fall, unabhängig
von der Daimler-Notierung. Der
Verlauf der Aktie aber entscheidet, ob die
Anleihe vorzeitig getilgt wird. Am 19. September
2014 kommt es darauf an, ob die
Aktie über dem Auszahlungslevel von
»Solide
Aktien sind
wichtiger als hohe
Kuponzahlungen«
Nicolaj Tietze, Deutsche Bank
54,56 Euro steht. Wenn ja, wird das Papier
zum Nennwert zurückgezahlt, die Rendite
läge bei 4,0 Prozent. Erreicht die Daimler-
Aktie in einem Jahr dieses Niveau nicht,
geht das Spiel in die nächste Runde. Im
September 2015 und 2016 gibt es wieder
den Kupon, und es wird abermals geprüft,
ob Daimler mindestens bei 54,56 Euro
steht. Wenn ja, wird getilgt; wenn nicht, besteht
noch die letzte Chance am 15. September
2017. Dann genügt es, wenn die Aktie
bei 39,01 Euro steht. Gemessen am aktuellen
Kurs, wären das gut 30 Prozent Puffer.
Damit lässt sich ein mittlerer Rückgang
der Aktie abfedern, nicht aber eine Baisse
wie in den Jahren 2008/09. Doch wer damit
rechnet, für den sind solche Zertifikate ohnehin
die falsche Anlage.
FLOATER MIT MEHRWERT
Normale Anleihen sinken im Kurs, wenn
die Zinsen steigen. Eine Chance zum Gegensteuern
bieten Floater, anleiheähnliche
Zertifikate, deren Kupons an die allgemeine
Zinstendenz geknüpft sind. Basiswert ist,
etwa bei einem bis 2017 laufenden Floater
der Deutschen Bank (siehe Tabelle), der
12-Monats-Euribor – der Zins, zu dem sich
Europas Banken für zwölf Monate Geld
leihen. Derzeit sind das 0,54 Prozent. In
den Jahren vor der Finanzkrise stand der
Euribor zeitweise über fünf Prozent.
Damit die Zertifikate überhaupt etwas
einbringen, gibt es einen Mindestkupon
von 2,0 Prozent. Steht der Euribor (jeweils
am Fixing zum 2. Juli) darüber, zieht der
Kupon mit. Bei 5,0 Prozent ist der Deckel
drauf. 2017 erfolgt die Rückzahlung des
Zertifikats zu 100 Prozent des Nennwerts.
Bei Kaufkursen von 102,30 Prozent hat
das Papier eine jährliche Mindestverzinsung
von 1,4 Prozent – nur einen Tick mehr
als die klassische, ebenfalls bis 2017 laufende
Euro-Anleihe (DE000DB5S5U8) der
Deutschen Bank. Dazu haben Anleger mit
dem Floater die Chance, wenn die Zinswende
doch eines Tages kommt, etwas
mehr zu verdienen.
n
anton.riedl@wiwo.de
Wer mehr riskieren will, kann bis zu 7,9 Prozent Jahresrendite einfahren
Zertifikate für die Niedrigzinsphase, Floater für die Zinswende
Zertifikat (ISIN)
Zinszertifikat
(DE000AK0BE23)
auf europäische Aktien
Funktion
4,0 Prozent Kupon fest und Rückzahlung zu 100 Prozent, wenn Aktienindex Euro
Stoxx 50 am Bewertungstag (17. Oktober 2016) mindestens bei 68 Prozent des
Stands vom 15. Oktober 2013 notiert (mit aktuellem Index von 2900 Punkten gerechnet,
wären das 1972 Punkte); Rendite in diesem Fall 3,3 Prozent; notiert
Index tiefer, gehen Verluste eins zu eins ins Zertifikat über
Emittentin (Ausfallprämie)
DZ Bank
(1,0 Prozent = geringes
Ausfallrisiko)
Kurs
(Prozent)
102,00
Chance/
Risiko
6/5
Extra-Zinszertifikat
(DE000DB2GNE1)
auf BASF
3,0 Prozent Kupon fest und Rückzahlung zu 100 Prozent, wenn BASF (69,30 Euro)
vor Fälligkeit (17. April 2015) mindestens bei 56,74 Euro steht; Jahresrendite
dann 4,9 Prozent; Kupon steigt auf 6,0 Prozent, wenn BASF am 17. April 2014
und 2015 mindestens bei 70,92 Euro; Rendite dann 7,9 Prozent; steht BASF
zur Fälligkeit unter 56,74 Euro, gehen Verluste ins Zertifikat über
Deutsche Bank
(1,1 Prozent = geringes
Ausfallrisiko)
97,25
5/4
Aktienanleihe
(DE000TB4STT9)
auf Allianz
6,5 Prozent Kupon fest und Rückzahlung von 100 Prozent, wenn Allianz-Aktie
(aktuell 116 Euro) kurz vor Fälligkeit (17. Oktober 2014) mindestens bei 112 Euro
steht; Jahresrendite in diesem Fall 7,2 Prozent; notiert Aktie tiefer, gibt es je
1000 Euro Nennwert 8,929 Allianz-Aktien zum dann aktuellen Kurs; Verluste entstehen,
wenn Aktie zur Fälligkeit unter 103,59 Euro
HSBC Trinkaus
(0,9 Prozent = geringes
Ausfallrisiko)
99,25
7/6
Expressanleihe
(DE000LB0UG08)
auf Daimler
Floateranleihe
(DE000DB9ZGH3)
auf 12-Monats-Euribor
Quelle: Thomson Reuters, Banken, eigene Recherche, Stand 7.10.2013
4,0 Prozent Kupon und Rückzahlung zu 100 Prozent, wenn Daimler (57,50 Euro)
am 19. September 2014 mindestens bei 54,56 Euro; Jahresrendite 4,0 Prozent;