26.02.2014 Aufrufe

Wirtschaftswoche Ausgabe vom 2013-12-09 (Vorschau)

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Spurwechsel Als Frau in der Autowelt<br />

Mobilfunk Das beste Businessnetz<br />

50<br />

9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong>|Deutschland €5,00<br />

5 0<br />

4 1 98065 805008<br />

Angriff auf<br />

Ihr Geld<br />

Was bleibt nach<br />

Minuszins, Steuern,<br />

Vermögensabgabe<br />

Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | TschechischeRep.CZK 200,- | Ungarn FT 2000,-<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Einblick<br />

Wohl dem, der eine Autofabrik hat – sie ist der Wohlstandsmotor:<br />

das Städteranking der Wirtschafts-<br />

Woche mit verblüffenden Befunden. Von Roland Tichy<br />

Wohlstand im Autoland<br />

FOTO: HEIKE ROST FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Dass die Automobilindustrie für<br />

den Wohlstand in Deutschland<br />

wichtig, vielleicht sogar schon<br />

übermächtig ist, zeigen volkswirtschaftliche<br />

Daten, aber mehr noch<br />

das Alltagsleben in den Autostädten: Ein<br />

halbes Dutzend Museen, Arbeitskräftemangel<br />

und üppige Sozialleistungen in<br />

Ingolstadt (Audi), moderne Spitzenarchitektur<br />

anstelle der Notbauten in Wolfsburg<br />

(VW), Immobilienboom in Regensburg<br />

(BMW) und eine Aufholjagd mit<br />

neuen Arbeitsplätzen und messbar mit<br />

allen Wohlstandsindikatoren in Leipzig<br />

(Porsche und BMW) – die dynamischsten<br />

Städte Deutschlands sind die Autostandorte<br />

mit ihrem dichten Geflecht der Zulieferindustrie.<br />

Auch wenn die Autobauer<br />

in der Politik oft ausgebremst werden:<br />

Der führende Sektor baut seine wirtschaftliche<br />

Vormachtstellung immer weiter<br />

aus und ersetzt, was in der Chemie,<br />

Pharmazie und IT wegfällt. Und es sind<br />

längst nicht mehr nur die Autoklassiker<br />

München und Stuttgart. Es sind die mittelgroßen<br />

Städte, die profitieren. Zudem<br />

ist der Automobilbau längst nicht mehr<br />

geprägt von Männern mit ölverschmierten<br />

Händen, sondern von Ingenieuren<br />

und Akademikern, die wiederum Kunst,<br />

Kultur und Bildung gleichermaßen einfordern<br />

und leben – und von Seiteneinsteigerinnen<br />

auch am großen Steuerrad<br />

(siehe Seite 96).<br />

Überhaupt die mittelgroßen Städte: Sie<br />

prosperieren mit der höchsten wirtschaftlichen<br />

Dynamik und Lebensqualität. Sie<br />

bilden kreative Netzwerke entlang neuer<br />

Wachstumsachsen wie etwa die Rhein-<br />

Main-Metropolregion der vier Städte<br />

Frankfurt, Darmstadt, Mainz und Wiesbaden,<br />

die ausstrahlt und in kreativer<br />

Wechselbeziehung steht mit der Wissenschaftsstadt<br />

Heidelberg und der Technologieregion<br />

Karlsruhe.<br />

Das ist nicht nur im Westen so: In<br />

Thüringen hat Jena Anschluss an die<br />

Spitze gefunden; Dresden, Potsdam, sogar<br />

das lange abgeschlagene Rostock haben<br />

sich als Zentren ihrer Region und mit klar<br />

umrissenen Schwerpunkten an den<br />

Wachstumszug gehängt. Aber das <strong>vom</strong><br />

Datenmaterial umfangreichste Städteranking<br />

offenbart gnadenlos auch lokales<br />

Versagen.<br />

Im Osten spaltet sich das Land entlang<br />

neuer Brüche. Chemnitz, Cottbus und<br />

Halle bestätigen noch immer das Klischee<br />

der verfallenden sozialistischen Stadt mit<br />

ihren Industrieruinen und sich entleerenden<br />

Plattenbauten. Und gleichgültig, ob es<br />

um das erreichte Niveau an wirtschaftlicher<br />

und sozialer Leistungsfähigkeit geht<br />

oder um die Veränderungsdynamik: Am<br />

unteren Ende der Tabellen knubbeln sich<br />

nicht mehr ostdeutsche Städte. Die neuen<br />

Elendsquartiere sind fast ausschließlich<br />

Ruhrgebietsstädte.<br />

RUINEN DER ENERGIEWENDE<br />

Zwar zeigen sich punktuelle Erfolge wie in<br />

Duisburg, das sich als Logistikzentrum neu<br />

erfunden hat. Aber die wahren Verlierer<br />

der Energiewende sind Städte wie Wuppertal,<br />

das früher so wohlhabende Krefeld<br />

oder Oberhausen, das einstmals so erfindungsreiche<br />

Remscheid wie die früher<br />

kraftstrotzenden Städte Bottrop, Herne<br />

und Gelsenkirchen: Sie trifft der staatlich<br />

verordnete Niedergang der großen bundesweiten<br />

oder regionalen Energieerzeuger,<br />

die Auswirkung auf die Zulieferindustrien<br />

und zunehmend der sich<br />

beschleunigende Zusammenbruch der<br />

Grundstoffindustrien. Seit die administrierten<br />

Strompreise explodieren, kollabieren<br />

die Edelstahlwerke, und es beschleunigt<br />

sich die Deindustrialisierung, weil<br />

Chemiefabriken und Weiterverarbeiter still<br />

und leise „Tschüss!“ zur früheren Herzkammer<br />

der Industrie sagen.<br />

Es ist schwer für eine Stadt, vorwärts zu<br />

kommen, wenn die Schlüsselindustrien<br />

sterben, weil ihnen der Saft abgedreht wird.<br />

Und es ist ein Lehrstück über eine verächtliche<br />

Politik, die glaubt, dass Wirtschaft<br />

schon immer irgendwie und unbegrenzt<br />

weitergeht. Irgendwann geht sie weg. Eine<br />

Reise durch Deutschlands Städte zeigt<br />

Regionen der Tristesse – und Städte mit ungebrochenem<br />

Lebenswillen. Schauen Sie<br />

genau hin, auf den Seiten 18 bis 26. n<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 3<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Überblick<br />

Menschen der Wirtschaft<br />

6 Seitenblick Die Brennpunkte der Welt<br />

8 Deutsche Telekom: Abhören erschwert<br />

9 Zalando: Vorbereitung für Börsengang |<br />

Große Koalition: Wirtschaftsrat warnt<br />

10 Interview: Commerzbank-Vorstand Martin<br />

Zielke greift Direktbanken im Netz an<br />

<strong>12</strong> Burger King: Gerichtsvollzieher kommt |<br />

Zigarettenschmuggel: Konzerne wollen<br />

Vorschriften aufweichen | Elon Musk: Revolutionäres<br />

Konzept zur Solarfinanzierung<br />

14 Chefsessel | Startup Gute-Laune-Abo<br />

16 Chefbüro Jean-Frédéric Dufour, Chef des<br />

Luxusuhrenherstellers Zenith<br />

Politik&Weltwirtschaft<br />

18 Städteranking Wo gibt es in Deutschland<br />

die meisten Jobs, den größten Wohlstand<br />

und die besten Standortbedingungen? |<br />

Die Methodik | Immobilien: Große Unterschiede<br />

quer durch Deutschland<br />

28 SPD Parteichef Sigmar Gabriel setzt mit dem<br />

Mitgliederentscheid alles auf eine Karte.<br />

Gewinnt er, steht ihm jedes Amt offen<br />

31 Berlin intern<br />

Titel Im Angriffsmodus<br />

Negativzins, Vermögensabgabe,<br />

neue Steuern und Steuererhöhungen,<br />

Zwangsmaßnahmen – immer neue<br />

Enteignungsinstrumente werden von<br />

Politik und Notenbank geprüft. Müssen<br />

Anleger jetzt wegen der Schuldenkrise<br />

um ihr Erspartes fürchten? Seite 32<br />

Deutschlands Städte im Test<br />

Das Städteranking zeigt die überragende Bedeutung der Automobilindustrie<br />

für Deutschland. Wo Autos produziert werden, geht es<br />

den Kommunen blendend. So wie Wolfsburg. Seite 18<br />

Der Volkswirt<br />

32 Spareinlagen Eine Lösung der Schuldenkrise<br />

ist nicht in Sicht, also sollen Anleger<br />

bluten. Welche Zwangsmaßnahmen<br />

können auf die Sparer zukommen?<br />

42 Weltwirtschaft An ihrem 100. Geburtstag<br />

steht die US-Notenbank in der Kritik |<br />

Interview: Der Chef des Cato Institute, John<br />

Allison, fordert die Abschaffung der Fed<br />

47 Denkfabrik Hans-Werner Sinn widerspricht<br />

der Kritik an den deutschen Exportüberschüssen<br />

Unternehmen&Märkte<br />

50 Managerhaftung Immer mehr Konzernlenker<br />

lassen ihre Vorgänger für Fehler bezahlen<br />

– auch der Immobilienkonzern IVG<br />

56 Deutsche Bank Trotz der Rekordstrafe für<br />

die Manipulation von Referenzzinsen sitzt<br />

Co-Chef Anshu Jain fest im Sattel – noch<br />

58 PSA Der neue Herr über Peugeot und<br />

Citroën, Carlos Tavares, muss mehr umbauen,<br />

als der Eigentümerfamilie lieb sein kann<br />

62 Tobit Software Ein IT-Haus verwandelt<br />

Facebook-Fanseiten kostenlos in Apps<br />

66 Interview: Jan-Dirk Auris Der Henkel-<br />

Klebstoffvorstand plant Übernahmen<br />

68 Computerspiele Die Branche wandelt sich<br />

rasant durch Smartphones und Tablets<br />

72 Spezial Mittelstand Innovation: Fehlende<br />

Fachkräfte und Konkurrenz aus Asien sorgen<br />

für Druck | Maschinenbau: Mit Tüftlergeist<br />

zum Weltmarktführer | Outsourcing:<br />

Mittelständler lagern Forschungsprojekte<br />

aus | Dekra-Award : Auszeichnungen für<br />

Konzepte zu Umwelt und Personal<br />

Erste Wahl<br />

Vieltelefonierer, Datenjunkie,<br />

Sparfuchs – die<br />

Telefonprofile von<br />

Geschäftsleuten sind<br />

so verschieden wie<br />

ihre Jobs. Wir verraten,<br />

welcher Nutzertyp in<br />

welchem Netz am<br />

besten telefoniert.<br />

Seite 88<br />

TITELILLUSTRATION: EDEL RODRIGUEZ<br />

4 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Nr. 50, 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong><br />

Spurwechsel<br />

Die ehemalige Henkel-Managerin Tina Müller ist seit August<br />

Marketingvorstand von Opel. Wie findet sie sich in der fremden<br />

Welt zurecht? Auftakt einer mehrteiligen Serie. Seite 96<br />

Technik&Wissen<br />

88 Mobilfunk Klang, Tempo, Preis – deutsche<br />

Handynetze im Business-Check von<br />

WirtschaftsWoche und „Connect“ | Wo gestresste<br />

Vieltelefonierer abschalten können<br />

95 Valley Talk<br />

Management&Erfolg<br />

96 Serie Spurwechsel (I) So lebt sich Ex-<br />

Henkel-Managerin Tina Müller bei Opel ein<br />

99 Produktion Wie Unternehmen mit dem<br />

Baukastenprinzip Zeit und Geld sparen<br />

FOTOS: STEFAN KRÜGER, DOMINIK PIETSCH (2), MARKUS SCHWALENBERG, ALLE FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Teure Abrechnung<br />

Konzerne fordern immer öfter von früheren Top-Managern Millionensummen<br />

an Schadensersatz für Fehlverhalten. Wer betroffen ist,<br />

wie Vorstände und Aufsichtsräte sich schützen können. Seite 50<br />

Augenschmaus<br />

Gutes Papier, feiner Druck,<br />

reiche Bebilderung: Die<br />

Verlage setzen auf das schöne<br />

Buch, das auch visuelles und<br />

haptisches Vergnügen bietet<br />

– Empfehlungen für den<br />

Gabentisch. Seite <strong>12</strong>2<br />

Geld&Börse<br />

102 Serie Mut zum Risiko (III) Wie die deutsche<br />

Voxeljet an der US-Börse Furore machte |<br />

Börsenkandidaten, die Anleger im Blick<br />

behalten sollten | bmp-Chef Oliver Borrmann<br />

über Lehren aus dem Neuen Markt<br />

1<strong>12</strong> Gold Das antiquierte Preis-Fixing erleichtert<br />

Manipulationen<br />

114 Steuern und Recht Höheres Netto durch<br />

richtige Steuerklassen | Blinken verhindert<br />

Unfälle | Nebenkosten beim Immobilienkauf<br />

| Mehr Geld bei Dienstreisen<br />

116 Geldwoche Kommentar: Gefahren riskanter<br />

US-Kreditgeschäfte | Trend der Woche:<br />

Dax | Dax-Aktie: ThyssenKrupp |<br />

Hitliste: Performance der Weltbörsen |<br />

Aktien: PetSmart, Villeroy & Boch |<br />

Chartsignal: Dow Jones | Anleihe: Aton |<br />

Investmentfonds: Semper Real Estate<br />

Perspektiven&Debatte<br />

<strong>12</strong>2 Bücher Immer mehr Verlage bringen aufwendig<br />

illustrierte Bücher auf den Markt<br />

<strong>12</strong>5 Kost-Bar<br />

Rubriken<br />

3 Einblick, <strong>12</strong>6 Leserforum,<br />

<strong>12</strong>8 Firmenindex | Impressum, 130 Ausblick<br />

n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />

weltweit auf iPad oder iPhone:<br />

In dieser <strong>Ausgabe</strong> empfiehlt<br />

Christopher Schwarz Bücher und<br />

beschreibt die Schönheit<br />

von Eselsohren. Außerdem:<br />

Welche skurrilen<br />

Produkte Fans von Computerspielen<br />

kaufen.<br />

wiwo.de/apps<br />

n Griechenland Das Euro-Krisenland<br />

ist von einem ausgeglichenen<br />

Haushalt noch weit entfernt, schreibt<br />

Harvard-Ökonom Martin Feldstein.<br />

wiwo.de/schuldenkrise<br />

facebook.com/<br />

wirtschaftswoche<br />

twitter.com/<br />

wiwo<br />

plus.google.com/<br />

+wirtschaftswoche<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 5<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Seitenblick<br />

KONFLIKTE<br />

Brandherde der Welt<br />

Ukraine, Thailand, China – fast im Wochentakt brechen in<br />

vielen Regionen der Welt Unruhen aus. Welche Gefahren<br />

davon für andere Länder ausgehen.<br />

Iran<br />

URSACHE Die islamische Republik steht im Verdacht,<br />

eine Atombombe zu bauen.<br />

GEFAHR Schwere Sanktionen schwächen die<br />

Wirtschaft. Derzeit zeichnet sich eine leichte<br />

Besserung ab, da Teheran zugestimmt hat, ausländische<br />

Experten zur Inspektion des Kernkraftprogramms<br />

ins Land zu lassen. Allerdings<br />

könnte der Atomkompromiss noch<br />

scheitern, falls Iran den Westen nur hinhalten<br />

will. Dann droht eine Eskalation,<br />

da der Westen dem Bau einer Atombombe<br />

nicht tatenlos zuschauen wird.<br />

Syrien<br />

URSACHE Ein Großteil der Syrer<br />

demonstrierte für den Rücktritt von<br />

Diktator Baschar al-Assad – der<br />

wehrt sich mit militärischer Gewalt<br />

gegen sein eigenes Volk. Im Land<br />

tobt ein Bürgerkrieg, die Wirtschaft<br />

liegt darnieder, ein Ende des Blutvergießens<br />

zeichnet sich nicht ab.<br />

Allerdings ist die Opposition zersplittert.<br />

Einzelne Gruppen, darunter<br />

westlich orientierte Demokraten und<br />

radikale Islamisten, kämpfen nicht nur<br />

gegen Assad, sondern bekriegen sich<br />

auch gegenseitig. Mit der Vernichtung seiner<br />

Chemiewaffen kam Assad einem amerikanischen<br />

Militärschlag zuvor.<br />

GEFAHR Die Konflikte können auf den gesamten<br />

Nahen Osten übergreifen. Zudem leiden die<br />

Nachbarländer unter den Flüchtlingsströmen.<br />

Ägypten<br />

URSACHE Als der gewählte Präsident Mohammed Mursi sein<br />

Land zunehmend islamisierte, putschte das Militär. Die Gesellschaft<br />

ist gespalten in Anhänger und Gegner der Muslim-Bruderschaft um<br />

Mursi. Dem gestürzten Präsidenten wird der Prozess gemacht, seine Anhänger<br />

wollen ihn mit Verweis auf die demokratischen Wahlen wieder im Amt sehen.<br />

GEFAHR Der Staat ist instabil. Der Tourismus, die wichtigste Einnahmequelle, liegt<br />

darnieder. Auch andere Branchen stehen vor dem Ruin. Die Unruhe unter der darbenden Bevölkerung<br />

kann die gesamte Region erfassen.<br />

6 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Thailand<br />

URSACHE Eine wachsende Mittelschicht ärgert sich über Korruption des Regierungsclans. Demonstranten<br />

stürmten Regierungsgebäude und fordern den Rücktritt des Kabinetts.<br />

GEFAHR Thailand empfiehlt sich als günstige Werkbank der Weltwirtschaft – auch für<br />

deutsche Unternehmen. Längere Proteste könnten Lieferausfälle verursachen.<br />

China/Japan<br />

URSACHE Beide Länder erheben Anspruch auf unbewohnte<br />

Inseln im Ostchinesischen Meer, in deren Umgebung viel<br />

Fisch und Öl vermutet werden. Peking hat darüber eine<br />

Flugverbotszone eingerichtet, die die japanische Luftwaffe<br />

ignoriert. Aus dem Territorialkonflikt ist ein<br />

Kräftemessen um die Vorherrschaft im Pazifikraum<br />

geworden.<br />

GEFAHR An einer Eskalation ist keiner interessiert,<br />

aber eine Lösung ist nicht in Sicht.<br />

Ukraine<br />

URSACHE Auf Drängen Russlands<br />

hat Präsident Viktor Janukowitsch die<br />

versprochene Annäherung an die<br />

EU gestoppt. Hunderttausende<br />

Menschen fordern seinen Rücktritt.<br />

GEFAHR Die Konflikte schwächen<br />

ein Land, das am Rande des Bankrotts<br />

steht. Ein Sturz Janukowitschs<br />

ist weniger wahrscheinlich als die<br />

Zahlungsunfähigkeit.<br />

Türkei<br />

Brasilien<br />

URSACHE Die jungen Brasilianer<br />

sind Korruption und Vetternwirtschaft<br />

leid. Die Preiserhöhung im Nahverkehr<br />

war im Sommer der Auslöser für die<br />

größten Proteste seit den Achtzigerjahren.<br />

Präsidentin Dilma Rousseff lenkte<br />

ein: Sie versprach eine sozialere Politik<br />

und mehr Geld für Bildung.<br />

GEFAHR Mit Beginn der Fußballweltmeisterschaft<br />

im Juni könnten die Proteste wieder<br />

aufflammen – die teuren wie protzigen Stadien<br />

betrachten viele Brasilianer als Symbole der<br />

Verschwendung.<br />

URSACHE Die Istanbuler protestierten gegen die Umgestaltung des<br />

Gezi-Parks – und fanden landesweit Unterstützung von Türken, die sich<br />

an Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan stören. Er übt seit den Revolten<br />

Druck auf Oppositionelle und sogar Unternehmen aus.<br />

GEFAHR Die gesellschaftliche Spaltung vertieft sich, da Erdogan eine Islamisierung der<br />

Türkei forciert. Konflikte können spätestens zur Kommunalwahl im März ausbrechen.<br />

FOTOS: LAIF (2), INTERTOPICS, REUTERS (3), CORBIS, GETTY IMAGES<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 Redaktion: florian.willershausen@wiwo.de 7<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Menschen der Wirtschaft<br />

Vorreiter in Deutschland<br />

Telekom-Vorstand Kremer<br />

CYBERSPIONAGE<br />

Lauschangriffe erschwert<br />

Die Deutsche Telekom setzt eine neue<br />

Verschlüsselungstechnik ein. Gespräche<br />

über das Handy können künftig nicht<br />

mehr so leicht abgehört werden.<br />

Nicht nur für Geheimdienstler ist es ein Leichtes,<br />

Mobiltelefone abzuhören und herauszufinden, wo<br />

sich der Nutzer aufhält. Die Sicherheitsspezialisten<br />

und Ex-Hacker Karsten Nohl und Luca Melette<br />

demonstrierten schon vor mehr als einem Jahr in<br />

der WirtschaftsWoche, dass jeder Hobbybastler<br />

für rund 100 Euro eine Lauschstation bauen kann<br />

(wiwo.de/handyspionage). Zwar haben die Betreiber<br />

der Mobilfunknetze diese mit einem Verschlüsselungssystem<br />

ausgerüstet, dem A5/1, aber<br />

das ist veraltet, wurde bereits mehrfach geknackt<br />

und bietet deshalb keinen Schutz mehr.<br />

Jetzt will die Deutsche Telekom die Sicherheitslücke<br />

schließen, als erster Mobilfunkbetreiber in<br />

Deutschland. Telekom-Vorstand Thomas<br />

Kremer, verantwortlich für den Datenschutz, gab<br />

inzwischen grünes Licht für den flächendeckenden<br />

Einsatz der verbesserten Verschlüsselungssoftware<br />

A5/3. Bis Jahresende will die Telekom sie bundesweit<br />

in all ihren Mobilfunk-Basisstationen einsetzen.<br />

„Wir können unseren Kunden durch diese<br />

Verschlüsselung jetzt mehr Abhörsicherheit<br />

im Mobilfunknetz bieten“, verspricht Telekom-Vorstand<br />

Kremer.<br />

Der Konzern kommt damit den drei Wettbewerbern<br />

Vodafone, E-Plus und O2 zuvor. Sie wollen<br />

die neue Verschlüsselungstechnik erst in den<br />

kommenden Jahren einführen. Ursprünglich hatte<br />

Vodafone geplant, den verbesserten Sicherheitsstandard<br />

bis März dieses Jahres in Deutschland zu<br />

implementieren. Wegen technischer Probleme<br />

verschob der Mobilfunkbetreiber das Projekt aber<br />

um zwei Jahre auf 2015. Nur eine einzige Funkstation,<br />

nämlich die besonders schützenswerte rund<br />

um den Reichstag und das Kanzleramt im Berliner<br />

Regierungsviertel, rüstete Vodafone bisher um.<br />

Die kleineren Konkurrenten O2 und E-Plus, die<br />

im nächsten Jahr fusionieren wollen, können<br />

noch nicht genau sagen, wann sie die neue Technik<br />

einsetzen. „Es gibt Pläne, aber noch ist nichts<br />

entschieden“, heißt es gleichlautend aus beiden<br />

Firmenzentralen.<br />

Auch die Deutsche Telekom wollte den verbesserten<br />

Standard schon früher nutzen, unterschätzte<br />

aber die Probleme. Zwei Handys älterer Bauart<br />

reagierten so allergisch auf das neue System, dass<br />

bei ihnen massive Störungen auftraten. Telekom-<br />

Techniker mussten eine Spezialsoftware entwickeln,<br />

die dann ausgiebig getestet wurde. „Wir<br />

mussten eine gewisse Zeit abwarten“, erklärt die<br />

Telekom, „falls sich vielleicht doch noch Kunden<br />

mit Schwierigkeiten melden, die auf die Softwareeinführung<br />

zurückzuführen sind.“<br />

juergen.berke@wiwo.de<br />

Ausspioniert<br />

Wie viele deutsche<br />

Unternehmen wie oft<br />

Ziel von Cyberangriffen<br />

sind (in Prozent)*<br />

Täglich<br />

Mehrmals pro Woche<br />

11<br />

Etwa 1Mal pro Woche<br />

10<br />

2bis 3Mal pro Monat<br />

9<br />

Etwa 1Mal pro Monat<br />

11<br />

Seltener<br />

Nie<br />

4<br />

22<br />

33<br />

*Umfrage unter Führungskräften in<br />

Unternehmenmit mehr als 1000<br />

Mitarbeitern; Quelle:IfD-Allensbach<br />

8 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA (2), OSTKREUZ/ANNETTE HAUSCHILD, PR, ACTION PRESS (2), AP/TOPHAM<br />

ZALANDO<br />

Börsengang vorbereitet<br />

Der Online-Modehändler<br />

Zalando treibt seine Vorbereitungen<br />

für einen möglichen<br />

Börsengang voran. Bei einem<br />

Treffen am 29. Oktober in Berlin<br />

verständigten sich die Vertreter<br />

der Zalando-Gesellschafter<br />

über die Details sogenannter<br />

Optionsrechte für eine Beteiligung<br />

des Managements am Unternehmen.<br />

Demnach könnten<br />

Führungskräfte und Mitarbeiter<br />

in den kommenden Jahren mit<br />

Geschäftsanteilen im Wert von<br />

derzeit rund 88 Millionen Euro<br />

belohnt werden. In Unterlagen<br />

zu der Versammlung werden<br />

Ausübungsfristen vor und nach<br />

„einem Listing“ der Gesellschaft<br />

– also einem Börsengang<br />

Quelle:Muso<br />

187687<br />

THE<br />

BEATLES<br />

(IPO) – erwähnt. „Mittelfristig<br />

könnte ein IPO sehr attraktiv für<br />

uns sein“, hatte Geschäftsführer<br />

Rubin Ritter kürzlich erklärt.<br />

Die Optionsregelungen<br />

sehen vor, dass bis zu 1693<br />

Zalando-Geschäftsanteile und<br />

damit rund 1,4 Prozent am gesamten<br />

Unternehmen für die<br />

Geschäftsführung reserviert<br />

werden. Neben Ritter zählen<br />

dazu auch David Schneider und<br />

Robert Gentz, die als Unternehmensgründer<br />

ohnehin zum<br />

Gesellschafterkreis gehören.<br />

Weitere 1184 Geschäftsanteile,<br />

knapp ein Prozent am Unternehmen,<br />

sind für Führungskräfte<br />

und Mitarbeiter aus der Zalando-Gruppe<br />

vorgesehen.<br />

Nach Angaben des schwedischen<br />

Zalando-Großaktionärs<br />

Kinnevik wurde das Unternehmen<br />

zuletzt mit rund 3,7 Milliarden<br />

Euro bewertet. Demnach<br />

dürften die für das Top-Management<br />

reservierten Anteile<br />

derzeit 51,8 Millionen Euro,<br />

die weiteren Optionsanteile<br />

36,3 Millionen Euro wert sein.<br />

Zalando ist rasant gewachsen<br />

und könnte <strong>2013</strong> zwei Milliarden<br />

Euro Umsatz erzielen.<br />

henryk.hielscher@wiwo.de<br />

Zalando-Gründer Schneider,<br />

Ritter und Gentz (von links)<br />

Aufgeschnappt<br />

Geldschwemme Wer schon immer<br />

in Geld baden wollte, kann<br />

das jetzt tun. Auf der Online-<br />

Plattform JamesEdition wird ein<br />

Geldspeicher angeboten, gefüllt<br />

mit acht Millionen Fünf-Rappen-<br />

Münzen (Wert: 325 000 Euro).<br />

Die Initiatoren für ein bedingungsloses<br />

Grundeinkommen in<br />

der Schweiz hatten sie zuvor vor<br />

das Parlament in Bern geschüttet.<br />

Badewillige müssen aber<br />

nicht in die Schweiz reisen, der<br />

Tresor kann laut Anbieter „an<br />

jeden Ort der Welt“ geliefert<br />

werden.<br />

Dollar-Mangel Argentinier haben<br />

kaum eine Chance, legal an<br />

Dollar zu kommen. Der Schwarzmarktkurs<br />

steht sogar in den<br />

Zeitungen. Einziger Ausweg sind<br />

Auslandsreisen, auf denen die<br />

Bürger mit Kreditkarte zum<br />

offiziellen, viel zu niedrigen<br />

Wechselkurs einkaufen können.<br />

Doch nun verlangt der neue<br />

Wirtschaftsminister dafür einen<br />

Aufschlag von 35 Prozent.<br />

Alles nur geklaut<br />

Top10der auf illegalen Online-Plattformen angebotenen Musik-Downloads<br />

FLEETWOOD<br />

MAC<br />

72984<br />

60024<br />

BOB<br />

MARLEY<br />

LED<br />

ZEPPELIN<br />

59011<br />

44<strong>09</strong>3<br />

56576 45496<br />

CLIFF<br />

RICHARD<br />

JIMI<br />

HENDRIX<br />

STEVIE<br />

WONDER<br />

KOALITION<br />

Wirtschaftsrat<br />

empört<br />

Der Präsident des CDU-Wirtschaftsrates<br />

Kurt Lauk warnt<br />

seine Partei davor, dem Koalitionsvertrag<br />

zuzustimmen. „Aus<br />

wirtschaftlicher Sicht sind da<br />

viel zu viele Punkte drin, die<br />

die Schaffung von Wohlstand<br />

erschweren, wenn nicht gar verhindern.<br />

Und die Arbeitslosigkeit<br />

erhöhen. Das kann nicht<br />

das Ziel einer Politik der CDU<br />

sein.“ Wenn der Bundesausschuss<br />

an diesem Montag darüber<br />

berät, fürchtet Lauk, auf taube<br />

Ohren zu stoßen. „Man will<br />

nicht mehr hören, dass wesentliche<br />

Elemente und Positionen<br />

der sozialen Marktwirtschaft<br />

von der CDU geräumt worden<br />

sind“, sagt Lauk.<br />

Der Wirtschaftsrat kritisiere<br />

vor allem die Mütterrente, für<br />

die es sicher gute Gründe gebe,<br />

erklärt dessen Präsident.<br />

„Gleichzeitig gibt es aber auch<br />

die moralische Verpflichtung zu<br />

Zukunftsinvestitionen.“ Den<br />

Hinweis der SPD, auch der<br />

soziale Zusammenhalt stärke<br />

Deutschland, lässt Lauk nicht<br />

gelten. „Es kann doch nicht Ziel<br />

einer modernen Industrienation<br />

sein, dass wir gemeinsam in<br />

sozialer Harmonie ins Altersheim<br />

gehen.“<br />

henning.krumrey@wiwo.de | Berlin<br />

ELVIS<br />

40794<br />

35193<br />

ABBA<br />

34444<br />

THE<br />

ROLLING<br />

STONES<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 9<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Menschen der Wirtschaft<br />

FLOSKELCHECK<br />

Populismus<br />

Antidemokratisches<br />

Phänomen, dem auf<br />

medialem Gebiet entschieden<br />

entgegengewirkt<br />

werden muss.<br />

Namentlich öffentlichrechtliche<br />

Rundfunkanstalten<br />

sind demgemäß<br />

gehalten, die politische<br />

Willensbildung des<br />

Volkes vor jedem allzu<br />

weitreichenden Konsens<br />

in der Bevölkerung<br />

zu schützen. Bevorzugtes<br />

Mittel der Wahl sind<br />

hierzu tunlichst höchstmögliche<br />

Einschaltquoten,<br />

die jedoch nicht<br />

mit übermäßigen<br />

Profitinteressen verknüpft<br />

sein dürfen, was<br />

mit einer klugen,<br />

flächendeckenden<br />

Haushaltsabgabe<br />

erreicht wird.<br />

DER FLOSKELCHECKER<br />

Carlos A. Gebauer, 49,<br />

arbeitet als Rechtsanwalt in<br />

Düsseldorf, wurde auch als<br />

Fernsehanwalt von RTL und<br />

SAT.1 bekannt.<br />

INTERVIEW Martin Zielke<br />

»Da ist noch viel Luft<br />

für weiteres Wachstum«<br />

Der Privatkundenvorstand der Commerzbank<br />

will die Trennung zwischen dem Filialgeschäft<br />

und dem Online-Banking aufheben.<br />

Herr Zielke, 270 Steuerfahnder<br />

haben am Dienstag 40 Standorte<br />

der Commerzbank durchsucht.<br />

Wie reagieren Sie?<br />

Die Commerzbank ist nicht Gegenstand<br />

der aktuellen Untersuchung.<br />

Die Ermittlungen<br />

richten sich gegen Mitarbeiter<br />

eines fremden Finanzdienstleisters.<br />

Aber wir sind uns völlig<br />

bewusst, dass uns die Schlagzeilen<br />

nicht geholfen haben.<br />

Die Commerzbank will bis<br />

2016 eine Million neue<br />

Privatkunden gewinnen und<br />

mit ihnen mehr als 500 Millionen<br />

Euro verdienen. Wie weit<br />

sind Sie?<br />

Wir kommen schneller voran<br />

als erwartet. Von Januar bis<br />

September haben wir netto<br />

rund 180 000 neue Kunden gewonnen<br />

und im Privatkundensegment<br />

165 Millionen Euro<br />

Gewinn gemacht. Unser Neugeschäftsvolumen<br />

bei der Baufinanzierung<br />

betrug per Oktober<br />

rund 6,8 Milliarden Euro.<br />

Das ist ein Plus von 27 Prozent<br />

im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.<br />

Die Europäische Zentralbank<br />

(EZB) erwägt eine Strafgebühr<br />

für Banken, die bei ihr Geld<br />

bunkern. Was würde das für<br />

Sparer und Banken bedeuten?<br />

Negative Zinsen halte ich heute<br />

nicht für sehr wahrscheinlich.<br />

Falls es dazu aber kommen sollte,<br />

könnten Banken ganz gut<br />

damit umgehen. Unser Ziel ist<br />

ja nicht, Gelder bei der EZB anzulegen,<br />

sondern diese als Kredite<br />

zu vergeben. Die Kunden<br />

sind auf unterschiedliche Weise<br />

von der Zinsentwicklung betroffen:<br />

Sparer verlieren bei<br />

niedrigen Zinsen, Kreditnehmer<br />

profitieren durch bessere<br />

Konditionen.<br />

Bauherrn, die ihre Kredite noch<br />

zu hohen Zinsen abgeschlossen<br />

haben, fluchen jetzt.<br />

Kommen Sie Ihnen entgegen?<br />

Erst wenn die Altverträge<br />

ausgelaufen sind und die Verzinsung<br />

der Restschuld neu<br />

verhandelt wird, kann zu neuen<br />

DER MODERNISIERER<br />

Zielke, 50, ist seit 2010<br />

Vorstand der Commerzbank,<br />

Deutschlands<br />

zweitgrößtem Kreditinstitut.<br />

Dort ist der Nordhesse<br />

für das Privatkundengeschäft<br />

zuständig.<br />

Konditionen abgeschlossen<br />

werden.<br />

Wie gleichen Sie die Einbußen<br />

durch die niedrigen Zinsen aus?<br />

Tatsächlich kosten die niedrigen<br />

Zinsen uns im Privatkundenkundengeschäft<br />

einen dreistelligen<br />

Millionenbetrag im<br />

Jahr. Ein Grund ist, dass die<br />

Marge zwischen den Kosten für<br />

die von Sparern eingeworbenen<br />

Einlagen und den Zinseinnahmen<br />

aus den vergebenen<br />

Krediten geschrumpft ist. Kompensieren<br />

lässt sich das nur<br />

bedingt. Aber wir steuern ganz<br />

gut gegen. So erfreuen sich<br />

Baufinanzierungen steigender<br />

Beliebtheit. Die Commerzbank<br />

vergibt derzeit jede Woche<br />

private Baukredite im Volumen<br />

von 140 bis 175 Millionen Euro.<br />

Sie wollen das Privatkundengeschäft<br />

der Commerzbank<br />

modernisieren. Wie?<br />

Kern der neuen Strategie ist,<br />

die zunehmend künstliche<br />

Trennung zwischen Filialgeschäft<br />

und digitalem Banking<br />

aufzuheben. In wenigen Jahren<br />

werden Kunden rund die Hälfte<br />

ihrer Bankgeschäfte online<br />

abwickeln. Die meisten wollen<br />

trotzdem nicht auf eine Filiale<br />

verzichten. Deshalb investieren<br />

wir gleichzeitig in das Filialnetz<br />

und in unser Online-Angebot.<br />

In unser Filialnetz fließen bis<br />

2016 rund <strong>12</strong>0 Millionen Euro.<br />

Und wir testen gerade ein völlig<br />

überarbeitetes Online-Portal,<br />

das Ende Januar 2014 an den<br />

Start gehen soll. Ende 2014 bieten<br />

wir ein Online-Angebot,<br />

das dem einer Direktbank entsprechen<br />

wird.<br />

Nehmen Sie mit der Online-<br />

Offensive nicht Ihrer Direktbanktochter<br />

comdirect Kunden<br />

weg?<br />

Es gibt keine Kannibalisierung.<br />

Beide Unternehmen wachsen<br />

unter zwei verschiedenen Marken.<br />

Das funktioniert hervorragend.<br />

Commerzbank und comdirect<br />

haben zusammen einen<br />

Marktanteil von rund acht Prozent.<br />

Da ist also noch viel Luft<br />

für weiteres Wachstum.<br />

mark.fehr@wiwo.de | Frankfurt<br />

FOTO: BILDFOLIO/BERT BOSTELMANN; ILLUSTRATION: TORSTEN WOLBER<br />

10 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Menschen der Wirtschaft<br />

TESLA-GRÜNDER<br />

Finanzmodell<br />

für Solardach<br />

Gerade hat Elon Musk mit seiner<br />

Firma SpaceX als erster privater<br />

Unternehmer einen Satelliten<br />

ins All befördert. Nebenbei<br />

hat der visionäre Gründer des<br />

Elektroautoherstellers Tesla<br />

ein neues Finanzierungsinstrument<br />

für die Solarindustrie<br />

erfunden. SolarCity, die dritte<br />

Firma des Milliardärs, bietet<br />

institutionellen Investoren Anleihen<br />

in einem Umfang von<br />

54 Millionen Dollar an. Das Besondere:<br />

Es handelt sich um<br />

verbriefte Forderungen gegen<br />

SolarCity-Kunden.<br />

Geschäfte mit solchen Papieren<br />

hatten die Finanzkrise ausgelöst.<br />

Damals entpuppten sich<br />

Forderungen gegen Immobilienbesitzer<br />

als überbewertet.<br />

Die mit 4,8 Prozent verzinsten<br />

Solar-ABS-Papiere – ein Novum<br />

am Finanzmarkt – scheinen weniger<br />

toxisch. Sie basieren auf<br />

den Verpflichtungen von Solar-<br />

City-Kunden, denen das kalifornische<br />

Unternehmen kostenfrei<br />

Solaranlagen aufs Dach montiert.<br />

Die Kunden zahlen die<br />

Investition später über den<br />

Strompreis zurück. Analysten<br />

erwarten, dass andere Solarfirmen<br />

mit ähnlichen Anleihen<br />

nachziehen.<br />

martin.seiwert@wiwo.de | New York<br />

ZIGARETTENSCHMUGGEL<br />

Kontrollen<br />

eindämmen<br />

Gegen Ende der Verhandlungen<br />

zur EU-Tabakrichtlinie<br />

versuchen Zigarettenhersteller,<br />

die geplanten Vorschriften zur<br />

verschärften Überwachung aufzuweichen.<br />

EU-Kommission<br />

und Europäisches Parlament<br />

fordern, dass Zigarettenpäckchen<br />

künftig einheitlich gekennzeichnet<br />

werden, um den<br />

<strong>09</strong>.<strong>12</strong>. CDU Der Bundesausschuss der Partei berät am<br />

Montag den Koalitionsvertrag mit der CSU und<br />

der SPD. Die SPD-Mitglieder können bis zum<br />

<strong>12</strong>. Dezember schriftlich entscheiden, ob ihre<br />

Partei eine Koalition eingehen soll.<br />

10.<strong>12</strong>. Leiharbeit Das Bundesarbeitsgericht verkündet<br />

am Dienstag ein Grundsatzurteil über die Einsatzdauer<br />

von Leiharbeitern.<br />

11.<strong>12</strong>. Microsoft Das EU-Gericht entscheidet am<br />

Mittwoch, ob Microsoft das Internet-Unternehmen<br />

Skype übernehmen durfte. Microsoft hatte<br />

den Kauf im Mai 2011 bekannt gegeben, wenig<br />

später genehmigte ihn die EU-Kommission. Dagegen<br />

hat Cisco Systems geklagt.<br />

Bahn Die vier französischen Bahngewerkschaften<br />

bestreiken die staatliche Bahngesellschaft SNCF.<br />

Der Arbeitskampf beginnt am Mittwoch um 19.00<br />

Uhr und soll am Freitag früh um 8.00 Uhr enden.<br />

Der Protest richtet sich gegen die geplante Liberalisierung<br />

des Schienenverkehrs.<br />

14.<strong>12</strong>. SPD Die Parteizentrale zählt am Samstag die<br />

Stimmen des Mitgliederentscheids über den<br />

Koalitionsvertrag aus. Haben sich mindestens<br />

20 Prozent der Mitglieder an der Abstimmung<br />

beteiligt, ist das Ergebnis verbindlich.<br />

Raumfahrt Chinas unbemanntes Fahrzeug Yutu<br />

(Jadehase) soll auf dem Mond landen, drei Monate<br />

lang die Oberfläche erkunden und nach Rohstoffen<br />

suchen. Es ist Chinas erste Mondlandung.<br />

TOP-TERMINE VOM <strong>09</strong>.<strong>12</strong>. BIS 15.<strong>12</strong>.<br />

Schmuggel einzudämmen. EU-<br />

Kommissar Tonio Borg hat<br />

vorgeschlagen, ein unabhängiger<br />

Dienstleister soll den Weg<br />

jeder Schachtel von der Fabrik<br />

bis zum Einzelhändler nachverfolgen.<br />

Doch die Hersteller pochen<br />

darauf, dass nur der Weg<br />

zwischen Fabrik und Großhandel<br />

überwacht wird, wie das die<br />

Weltgesundheitsorganisation<br />

(WHO) in ihrem Anti-Schmuggel-Abkommen<br />

festlegt.<br />

Die Branche beklagt, dass sie<br />

die Kosten für die Überwachung<br />

tragen soll. Bei dem neuen Kontrollsystem<br />

sollen unabhängige<br />

Dienstleister die Handelswege<br />

der Zigarettenschachteln anhand<br />

der Daten überprüfen, die<br />

die Hersteller eingeben. Doch<br />

wer kontrolliert, ob die Daten<br />

korrekt sind? Zumal viele Tabakkonzerne<br />

in Osteuropa, dem<br />

Herkunftsland vieler Schmuggelzigaretten,<br />

und im Westen<br />

aktiv sind. Unterhändler der EU-<br />

Kommission, des Europäischen<br />

Parlaments und der EU-Staaten<br />

beraten am Mittwoch über die<br />

Richtlinie.<br />

silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />

BURGER KING<br />

Vollstrecker<br />

kommt<br />

Im Streit mit der Gewerkschaft<br />

NGG erlitt Burger King erneut<br />

eine Niederlage. In Augsburg<br />

zahlt der Hamburger-Bräter einem<br />

Betriebsrat seit Juli keinen<br />

Lohn und hat ihn bei der Krankenkasse<br />

AOK abgemeldet.<br />

Ein „eklatanter Rechtsverstoß“,<br />

Nur noch Berater Burger-King-<br />

Deutschland-Chef Bork<br />

befand das Gericht und verdonnerte<br />

die Burger King GmbH per<br />

einstweiliger Verfügung zur<br />

Zahlung von 1050 Euro. Da das<br />

Unternehmen trotzdem nicht<br />

zahlte, hat die NGG die Zwangsvollstreckung<br />

eingeleitet. „Wir<br />

schicken Franchisenehmer<br />

Ergün Yildiz jetzt den Gerichtsvollzieher“,<br />

sagt der Augsburger<br />

NGG-Geschäftsführer Tim<br />

Lubecki. Deutschland-Chef<br />

Andreas Bork weist jede Verantwortung<br />

von sich. Man könne<br />

den selbstständigen Franchisenehmern<br />

bei Personalfragen<br />

nur beratend zur Seite stehen.<br />

SPD-Chef Sigmar Gabriel<br />

schimpfte auf einer NGG-Veranstaltung<br />

über Burger King:<br />

„Das sind Radikale, die haben<br />

nichts auf dem Privatsektor<br />

verloren.“ Grund ist das massive<br />

Vorgehen gegen mehrere Betriebsräte,<br />

seit Franchisenehmer<br />

Yildiz 91 Burger-King-<br />

Filialen übernommen hat.<br />

oliver.voss@wiwo.de<br />

FOTOS: DDP IMAGES/NEWSCOM, PR<br />

<strong>12</strong> Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Menschen der Wirtschaft<br />

CHEFSESSEL<br />

STARTUP<br />

ERGO<br />

Silke Lautenschläger, 45,<br />

rückt am 1. Januar in den<br />

Vorstand des Versicherungskonzerns<br />

Ergo auf und verantwortet<br />

dort das neue<br />

Ressort Kunden- und Vertriebsservice.<br />

Bekannt wurde<br />

die Juristin vor allem als<br />

Ministerin. Von August 2001<br />

bis August 2010 gehörte die<br />

Christdemokratin dem Kabinett<br />

des damaligen hessischen<br />

Ministerpräsidenten<br />

Roland Koch an. Seit Januar<br />

2011 sitzt sie im Vorstand der<br />

Deutschen Krankenversicherung<br />

DKV, einer Tochter<br />

von Ergo.<br />

EU-RECHNUNGSHOF<br />

Klaus-Heiner Lehne, 56,<br />

seit 19 Jahren für die CDU im<br />

Europäischen Parlament,<br />

soll nach dem Willen der<br />

Bundesregierung als deutsches<br />

Mitglied an den EU-<br />

Rechnungshof wechseln.<br />

Dort würde er auf den SPD-<br />

Politiker Harald Noack folgen,<br />

der nach sechsjähriger<br />

FUSSBALL<br />

Amtszeit turnusgemäß ausscheidet.<br />

Die Zustimmung der<br />

anderen EU-Staaten gilt als<br />

Formsache. Auch das Europäische<br />

Parlament dürfte Lehnes<br />

Ernennung bestätigen. Seit<br />

20<strong>09</strong> saß der Düsseldorfer Jurist<br />

dem Rechtsausschuss vor. Aus<br />

der Kanzlei Taylor Wessing<br />

scheidet er nun aus, weil das<br />

Amt am EU-Rechnungshof alle<br />

Nebentätigkeiten verbietet.<br />

BAYERNLB<br />

Johannes-Jörg Riegler, 49,<br />

wechselt zum 1. April 2014 auf<br />

den Chefsessel der BayernLB.<br />

Der gebürtige Franke kommt<br />

von der Nord/LB, wo er zuletzt<br />

stellvertretender Vorstandsvorsitzender<br />

war. Bei der BayernLB<br />

tritt Riegler die Nachfolge von<br />

Gerd Häusler, 62, an, der Aufsichtsratschef<br />

des Münchner<br />

Geldhauses werden soll.<br />

COCA-COLA<br />

Torsten Hoppe, 46, steigt am<br />

1. Januar in den Vorstand des<br />

Berliner Abfüll- und Vertriebsunternehmens<br />

Coca-Cola Erfrischungsgetränke<br />

auf und verantwortet<br />

dann die Finanzen.<br />

Er löst Derek Cunningham, 60,<br />

ab, der den Posten seit Januar<br />

2007 innehat. Seit 2000 arbeitet<br />

Hoppe schon für Coca-Cola,<br />

zuletzt führte er in Shanghai ein<br />

neues IT-System ein.<br />

518 Millionen Euro<br />

beträgt der Marktwert der spanischen Fußballnationalmannschaft.<br />

Laut den Infodiensten Statista und Transfermarkt ist sie<br />

die wertvollste der Welt, gefolgt von Brasilien mit 437 Millionen<br />

und Italien mit 429 Millionen. Deutschland liegt weltweit auf Platz<br />

vier. Das Team erreicht einen Marktwert von 417 Millionen Euro.<br />

GUTE-LAUNE-ABO<br />

Briefe statt E-Mails<br />

Für sieben Euro gute Laune? Geht das? „Das geht“, meint Jutta<br />

Vogel. Gute Laune zu verbreiten ist ihr Geschäft. Klar, dass sie<br />

auch ihr neues Unternehmen in Bonn so genannt hat: Gute-Laune-Abo.<br />

Die ersten Kunden hat sie schon beglückt – mit Briefen.<br />

Täglich, mitunter minütlich treffen bei vielen Bürgern E-Mails ein,<br />

Werbung, kurze Botschaften, Grüße, Glückwünsche. Aber wie oft<br />

klingelt der Postbote und bringt einen privaten Brief, mit Marke in<br />

buntem Umschlag? „Alle wünschen sich, Briefe zu bekommen,<br />

aber niemand will schreiben“, sagt Vogel. Wer Briefe verschicken,<br />

aber nicht verfassen will, ist bei der ehemaligen Lehrerin an der<br />

richtigen Adresse. Im Auftrag von Kunden formuliert und versendet<br />

Vogel Briefe, etwa zu Geburtstag oder Hochzeitstag.<br />

Im Schnitt ist ein Brief zwei Seiten lang. „Je nach Anlass und<br />

Einfällen sind es mal mehr oder weniger“, sagt Vogel. „Dafür brauche<br />

ich zehn Minuten bis zu einer Stunde, je nach Recherche.“<br />

Allerdings greift sie nicht zum Füller, sondern setzt sich an ihren<br />

Computer. „Damit jeder den Text entziffern kann.“ Dann steckt sie<br />

die Bögen in einen bunten Umschlag. „Ich nehme gelbe oder rote,<br />

damit man sie von den<br />

Fakten zum Start<br />

Gründerin Ex-Lehrerin und<br />

Biografin Jutta Vogel, 62<br />

Preise je Brief 7 Euro, ab zehn<br />

Briefen je 6,50 Euro, ein<br />

Jahresabonnement mit 52 Briefen<br />

kostet 260 Euro<br />

Strom- oder Telefonrechnungen<br />

unterscheiden<br />

kann.“ Auch die Briefmarke<br />

wählt sie aus –<br />

passend zum Anlass. Ihre<br />

Aufträge erhält Vogel allerdings<br />

ganz zeitgemäß<br />

per E-Mail.<br />

hermann.olbermann@wiwo.de<br />

FOTOS: DDP/THOMAS LOHNES, ROBERT POORTEN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, GETTY IMAGES/AFP/ALAIN GROSCLAUDE<br />

14 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />

Jean-Frédéric Dufour<br />

Chef des Luxusuhrenherstellers Zenith<br />

Der Tisch war da. Der Bürostuhl<br />

war da. Die Schreibtischlampe<br />

war da. Auch das Bücherregal,<br />

die Besucherstühle und die<br />

steinerne Statue im Fenstereck<br />

waren schon da. Nur einen<br />

Gegenstand hat Jean-Frédéric<br />

Dufour, 46, einbauen lassen,<br />

als er das Büro in Le Locle im<br />

Schweizer Juragebirge bezog:<br />

den Tresor. „Dort bewahre ich<br />

Unternehmensunterlagen und<br />

Prototypen auf“, sagt Dufour,<br />

der seit Juni 20<strong>09</strong> den Luxusuhrenhersteller<br />

Zenith leitet. Zuvor<br />

hatte er schon für die Swatch<br />

Group und für Chopard gearbeitet.<br />

„Meine erste Sorge war<br />

sicher nicht, das Büro umzubauen“,<br />

sagt Dufour.<br />

„Die Prototypen sind<br />

nicht im Safe, weil sie<br />

besonders wertvoll<br />

sind, sondern weil es<br />

Unikate zum Prüfen<br />

sind.“ Leicht war der<br />

Start in dem Traditionsunternehmen<br />

360 Grad<br />

In unserer iPad-<br />

<strong>Ausgabe</strong> finden<br />

Sie an dieser<br />

Stelle ein interaktives<br />

360°-Bild<br />

nicht, das 1865 gegründet wurde<br />

und seit 1999 zur französischen<br />

Luxusholding LVMH<br />

gehört. Denn Zenith hatte 1969<br />

zwar das Uhrwerk El Primero<br />

mit besonders präzisen Werten<br />

konstruiert, Dufour hat für die<br />

Erfolge der vergangenen Jahre<br />

jedoch das Modellprogramm<br />

deutlich verändert. Der Schreibtisch,<br />

aus einem Holz,<br />

„das ich sehr altmodisch<br />

finde“, beherbergt<br />

wenige private<br />

Dinge, so Dufour: eine<br />

Puppe des Weltallspringers<br />

Felix Baumgartner<br />

und eine<br />

chinesische Holzfigur<br />

– das Geschenk einer scheidenden<br />

Mitarbeiterin. „Mach’s<br />

wie die Chinesen“ – ruhig und<br />

standfest bleiben, wollte sie<br />

dem Chef mit auf den Weg geben.<br />

Aus dem recht schmucklosen<br />

Unternehmensgebäude<br />

schaut Dufour auf historische<br />

Bauten. „Wir haben sehr starke<br />

Wurzeln in diesem Ort, denn<br />

Zenith ist nie woanders gewesen“,<br />

sagt Dufour. So wird sein<br />

Büro trotz seiner mäßigen Begeisterung<br />

für das vorhandene<br />

Mobiliar sicher noch eine Weile<br />

Bestand haben. Immerhin<br />

schaut er auf zwei Kunstwerke.<br />

„Die habe ich mir ausgesucht.“<br />

thorsten.firlus@wiwo.de<br />

FOTO: ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

16 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

Motoren des Aufschwungs<br />

STÄDTERANKING | Wo gibt es die meisten Jobs, die beste Wirtschaftsstruktur, wo brummt<br />

der Immobilienmarkt? Der große Städtetest der WirtschaftsWoche, in Kooperation<br />

mit Immobilienscout24 und IW Consult, untersucht die Stärken und Schwächen aller<br />

kreisfreien Städte ab 100 000 Einwohner. Die Ergebnisse sind vielfach überraschend –<br />

und zeigen die überragende Bedeutung der Automobilindustrie für Deutschland.<br />

Wer zum ersten Mal nach<br />

Wolfsburg kommt, sollte<br />

am Bahnhof den Hinterausgang<br />

nehmen. Dann<br />

steht er am Mittellandkanal<br />

und blickt unvermittelt auf das Wahrzeichen<br />

und Herz der Stadt. Er sieht keine Kirche,<br />

keine Altstadt, kein historisches Gemäuer<br />

– sondern ein riesiges Logo der<br />

Volkswagen AG und die vier unter Denkmalschutz<br />

stehenden Schornsteine des alten<br />

VW-Kraftwerks. Gleich daneben erstreckt<br />

sich auf 6,5 Quadratkilometern, einer<br />

Fläche so groß wie Gibraltar, das Werk<br />

des größten Autobauers Europas.<br />

Wer den Bahnhof vorne verlässt, landet<br />

in der Fußgängerzone. Die heißt zwar Porschestraße,<br />

verströmt aber den Charme einer<br />

ostdeutschen Einkaufszone vor der<br />

Wende. Es ist eine grau-braune Betonwüste,<br />

ein baulicher Albtraum. Überhaupt ist<br />

Wolfsburg eigentlich keine Stadt, sondern<br />

eine Ansammlung von Gebäuden. Gründungsvater<br />

war Adolf Hitler, der 1938 in der<br />

niedersächsischen Pampa bei Fallersleben<br />

ein Werk für den KdF-Wagen, den späteren<br />

Käfer, hochziehen ließ. Die um die Fabrik<br />

entstehenden Häuserzeilen waren eher<br />

Beiwerk, und das merkt man bis heute.<br />

Also schnell weg hier? „Das Vorurteil,<br />

Wolfsburg sei eine graue und langweilige<br />

Industriestadt, hält sich nur so lange, bis<br />

man herkommt“, sagt Oberbürgermeister<br />

Klaus Mohrs, 61. Und in der Tat: Wer zum<br />

ersten Mal nach Wolfsburg kommt, ist sehr<br />

schnell sehr erstaunt. Neben dem Bahnhof<br />

steht wie ein futuristisches Raumschiff das<br />

von Stararchitektin Zaha Hadid entworfene<br />

Technikmuseum Phaeno, für den britischen<br />

„Guardian“ eines „der zwölf bedeutendsten<br />

modernen Bauwerke der Welt“.<br />

Von hier erreichen Besucher über eine<br />

Brücke die von VW mit 435 Millionen Euro<br />

errichtete Autostadt, einen automobilen<br />

Erlebnispark mit dem besucherstärksten<br />

Automuseum der Welt. In Wolfsburg gibt<br />

es das erste in Deutschland errichtete Ritz-<br />

Carlton-Hotel, das mit drei Michelin-Sternen<br />

ausgezeichnete<br />

Restaurant Aqua und das erste<br />

innerstädtische Outletcenter,<br />

das in dieser Woche den dritten<br />

Erweiterungsbau eröffnet.<br />

Auch die Wolfsburger Binnensoziologie<br />

ist anders als gemeinhin<br />

erwartet. Eine Arbeiterstadt?<br />

Rund jeder zehnte Arbeitnehmer<br />

ist mittlerweile Ingenieur.<br />

Die Zahl der Akademiker ist in<br />

den vergangenen zehn Jahre um<br />

150 Prozent gestiegen. Die Arbeitsplatzversorgung<br />

ist nirgendwo<br />

in der Republik besser.<br />

Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt<br />

bundesweit an der Spitze – und ist fast viermal<br />

höher als in der Hauptstadt Berlin.<br />

Unter dem Strich verlief in keiner anderen<br />

deutschen Stadt die ökonomische Entwicklung<br />

in den vergangenen Jahren so dynamisch<br />

wie in der ehemaligen Zonenrandmetropole<br />

Wolfsburg. Zu diesem<br />

Ergebnis kommt der große Städtetest von<br />

WirtschaftsWoche, Immobilienscout24<br />

und IW Consult. Anhand von 89 Einzelindikatoren<br />

wurden in diesem Test alle kreisfreien<br />

Städte ab 100 000 Einwohner untersucht:<br />

Wo wächst die Wirtschaft – und wo<br />

nicht? Wo lässt es sich gut arbeiten und investieren,<br />

wo gibt es die meisten Jobs und<br />

den höchsten Wohlstand?<br />

Städte<br />

Serie<br />

Im nächsten Heft<br />

Interview mit<br />

Benjamin Barber –<br />

der US-Wissenschaftler<br />

fordert<br />

mehr politische<br />

Macht für die Städte<br />

Der Städtetest gliedert sich in zwei Teile.<br />

Erstens das Niveauranking, das den Ist-Zustand<br />

beschreibt (siehe Seite 22). Hier siegt<br />

wie in den Vorjahren München, gefolgt von<br />

Ingolstadt und Erlangen (siehe Tabelle Seite<br />

22). Ganz unten im Ranking: Herne und<br />

Gelsenkirchen. Das Dynamikranking untersucht<br />

hingegen die Veränderung<br />

ausgewählter Indikatoren<br />

seit 2007. Hier liegt Wolfsburg<br />

vorn, gefolgt von Ingolstadt, Erlangen<br />

und Regensburg. Die rote<br />

Laterne geht an Oberhausen<br />

und Remscheid.<br />

AUTOSTÄDTE VORN<br />

Die Ergebnisse zeigen, dass Mittelstädte<br />

im Wettbewerb mit<br />

den Ballungszentren in vieler<br />

Hinsicht mithalten können. Vor<br />

allem aber demonstrieren sie<br />

die überragende Bedeutung der<br />

Automobilindustrie für den<br />

Standort Deutschland. Niveausieger München<br />

ist Heimat von BMW. Unter den Top<br />

Five des Dynamikrankings befinden sich<br />

mit Wolfsburg (VW), Ingolstadt (Audi), Regensburg<br />

(BMW) und Leipzig (Porsche,<br />

BMW) gleich vier Autostädte.<br />

Die Branche beschäftigt in Deutschland<br />

über 1,8 Millionen Menschen und setzt im<br />

Jahr gut 350 Milliarden Euro um, ein Anteil<br />

von mehr als 20 Prozent am Gesamtumsatz<br />

des verarbeitenden Gewerbes. „In keinem<br />

anderen Land der Welt hat die Autoindustrie<br />

einen so großen Anteil an der Wertschöpfung“,<br />

sagt Antje Blöcker von der<br />

Ruhr-Universität Bochum. Die Ökonomin<br />

ist auf die Erforschung von Clustern spezialisiert,<br />

also auf die Vernetzung von<br />

»<br />

FOTO: STEFAN KRÖGER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE; ILLUSTRATION: KRISTINA DÜLLMANN<br />

18 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Golfsburg<br />

OB Klaus Mohrs und<br />

seine Stadt profitieren<br />

<strong>vom</strong> VW-Erfolg<br />

360 Prozent beträgt in<br />

Wolfsburg der Gewerbesteuerhebesatz.<br />

So günstig<br />

ist es für Betriebe sonst<br />

nur noch in Ulm<br />

108 165 Euro<br />

im Jahr erwirtschaftet<br />

im Schnitt jeder<br />

Wolfsburger –<br />

bundesweiter Rekord<br />

57 000 Menschen<br />

beschäftigt VW in<br />

Wolfsburg –<br />

statistisch fast jeden<br />

zweiten Einwohner<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

Branchen. Gerade im Automobilbau<br />

siedeln sich rund um die Hersteller viele<br />

Zulieferer und Dienstleister an. Alles in allem<br />

erwirtschaftet die Branche in Deutschland<br />

7,7 Prozent der Wirtschaftsleistung –<br />

ein im weltweiten Vergleich einsamer Spitzenwert.<br />

Das sind die nackten Zahlen. Was<br />

dies jedoch für den Mikrokosmos Stadt<br />

Stuttgart ist die Stadt mit<br />

den meisten Patentanmeldungen<br />

(1376 je 100 000<br />

Erwerbstätige). Schlusslicht<br />

Herne schafft nur 14<br />

und die Produktionsstandorte bedeutet,<br />

lässt sich wie unter einem Brennglas in<br />

Wolfsburg und Ingolstadt beobachten.<br />

TAUSENDE JOBS<br />

Natürlich ist der Erfolg von Wolfsburg der<br />

Erfolg von VW. In keiner anderen Stadt ist<br />

die Symbiose von Kommune und Konzern<br />

so vollkommen. „Es gibt in Wolfsburg eine<br />

gefühlte Schicksalsgemeinschaft zwischen<br />

Bevölkerung, Politik und VW. Hier hat fast<br />

jede Familie irgendwas mit VW zu tun“,<br />

sagt OB Mohrs. Im Werk arbeiten 57 000<br />

Menschen, das ist statistisch gesehen fast<br />

jeder zweite Einwohner. Hinzu kommen<br />

Tausende Jobs bei Zulieferern.<br />

Wachstum durch Technik<br />

Ingolstadts OB Lehmann<br />

mit Audi-Dienstwagen<br />

Was die Dynamiksieger so stark macht<br />

Steigende Produktivität...<br />

Veränderung des Bruttoinlandsprodukts<br />

je Erwerbstätigen (2007 zu 2011,<br />

in Prozent)<br />

Rang<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

.<br />

69<br />

70<br />

71<br />

Stadt<br />

Ingolstadt<br />

Wolfsburg<br />

Essen<br />

Salzgitter<br />

Rostock<br />

Bochum<br />

Bonn<br />

Krefeld<br />

Dresden<br />

Fürth<br />

Mittelwert<br />

Veränderung in jeweiligen Preisen;<br />

Quelle: VGR der Länder. Alle Daten:<br />

wiwo.de/produktivitaet<strong>2013</strong><br />

Wert<br />

19,2<br />

18,1<br />

13,1<br />

<strong>12</strong>,9<br />

<strong>12</strong>,2<br />

10,8<br />

10,4<br />

–5,5<br />

–5,8<br />

–6,3<br />

3,3<br />

...jede Menge Jobs...<br />

Arbeitsplatzversorgung (in Prozent)<br />

Rang<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

.<br />

69<br />

70<br />

71<br />

Stadt<br />

Wolfsburg<br />

Ingolstadt<br />

Fürth<br />

Erlangen<br />

Remscheid<br />

Augsburg<br />

Leverkusen<br />

Berlin<br />

Trier<br />

Heidelberg<br />

Mittelwert<br />

Wert<br />

68,4<br />

68,3<br />

67,2<br />

67,0<br />

65,4<br />

64,2<br />

63,9<br />

51,2<br />

51,0<br />

48,4<br />

59,4<br />

Anteil der sozialversicherungspfl. Beschäftigten/geringf.<br />

Beschäftigten an den erwerbsfähigen<br />

Einwohnern; Quelle: BA, 20<strong>12</strong>. Alle<br />

Daten: wiwo.de/arbeitsplaetze<strong>2013</strong><br />

...glückliche Kämmerer...<br />

Veränderung der kommunalen Steuerkraft<br />

je Einwohner (2007 zu 2011, in Euro)<br />

Rang<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

.<br />

69<br />

70<br />

71<br />

Stadt<br />

Wolfsburg<br />

Ingolstadt<br />

Bonn<br />

Jena<br />

Braunschweig<br />

Heidelberg<br />

Regensburg<br />

Darmstadt<br />

Salzgitter<br />

Frankfurt/Main<br />

Mittelwert<br />

Wert<br />

1<strong>12</strong>1<br />

425<br />

364<br />

<strong>12</strong>3<br />

<strong>12</strong>2<br />

104<br />

97<br />

–203<br />

–246<br />

–306<br />

35,9<br />

Grundsteuer, Gewerbesteuer, Gemeindeanteil<br />

an Einkommen- und Umsatzsteuer, abzügl.<br />

Gewerbesteuerumlage; Quelle: Destatis.<br />

Alle Daten: wiwo.de/steuerkraft<strong>2013</strong><br />

...und mehr Frauenpower<br />

Veränderung des Anteils der weiblichen<br />

Beschäftigten an den erwerbsfähigen<br />

Einwohnerinnen (in Prozentpunkten)*<br />

Rang<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

.<br />

69<br />

70<br />

71<br />

Stadt<br />

Wolfsburg<br />

Leipzig<br />

Ingolstadt<br />

Dresden<br />

Regensburg<br />

Würzburg<br />

Braunschweig<br />

Heidelberg<br />

Münster<br />

Offenbach<br />

Mittelwert<br />

Wert<br />

8,3<br />

7,2<br />

7,1<br />

6,3<br />

6,1<br />

6,0<br />

6,0<br />

2,6<br />

2,5<br />

2,1<br />

4,4<br />

* Veränderung am Wohnort 2007 zu 20<strong>12</strong>;<br />

Quelle: BA, Destatis, IW Consult.<br />

Alle Daten: wiwo.de/frauen<strong>2013</strong><br />

FOTO: ROBERT BREMBECK FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

20 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Ohne VW könnte Wolfsburg nicht existieren,<br />

und das wissen beide Seiten. Probleme<br />

werden nicht selten auf kurzem<br />

Dienstweg in der Loge des Fußball-Bundesligisten<br />

VfL Wolfsburg gelöst. „Die Stadt<br />

muss dafür sorgen, dass VW optimale<br />

Standortbedingungen vorfindet. Dass der<br />

Konzern hier seine Zentrale hat und behält,<br />

das ist ja nicht gottgegeben“, sagt SPD-<br />

Mann Mohrs. Bis 2016 will Wolfsburg gegen<br />

den Widerstand der Landesregierung<br />

mit dem Landkreis Helmstedt fusionieren<br />

– auch um neue potenzielle Gewerbeflächen<br />

für VW und Zulieferer zu bekommen.<br />

Bis 2018 will der Konzern rund 4,6 Milliarden<br />

Euro am Standort investieren.<br />

Die Kehrseite des Booms: „Immobilienmärkte<br />

sind Abbild der wirtschaftlichen<br />

Stärke und positiv empfundener Lebensqualität<br />

vor Ort“, sagt Marc Stilke, CEO von<br />

Immobilienscout24. Der Nachfrageüberhang<br />

auf dem Wohnungsmarkt ist daher<br />

gewaltig (siehe Seite 26). Die Immobilientochter<br />

von VW baut deswegen für gut 100<br />

Millionen Euro neue Mietwohnungen.<br />

Volkswagen fördert Kunst und Kultur, hat<br />

ein Freibad spendiert und mit dem Autostadt-Gelände<br />

„die Ankerattraktion der<br />

Stadt und einen Katalysator für die Entwicklung<br />

Wolfsburgs“ geschaffen,<br />

schwärmt Autostadt-Geschäftsführer Otto<br />

Wachs. Die Wolfsburg AG, ein Gemeinschaftsunternehmen<br />

von Stadt und VW,<br />

kümmert sich nicht nur um Startups und<br />

die Ansiedlung neuer Zulieferer, sondern<br />

mit einer rollenden Arztpraxis auch um<br />

die medizinische Versorgung im ländlichen<br />

Umland. „Stadt und Konzern sind<br />

darauf angewiesen, dass neue Fachkräfte<br />

in die Region ziehen. Dafür muss man den<br />

Leuten etwas bieten“, sagt Geschäftsführer<br />

Julius von Ingelheim.<br />

Die höchste Aufklärungsquote<br />

bei Straftaten hat<br />

Augsburg (70,9 Prozent).<br />

Letzter: Münster<br />

(42,6 Prozent)<br />

Die industrielle Monokultur birgt indes<br />

Risiken. Wolfsburg bestreitet rund 57 Prozent<br />

seiner <strong>Ausgabe</strong>n aus der volatilen Gewerbesteuer.<br />

Lässt die Autokonjunktur<br />

nach, merkt das der Kämmerer schnell. Auf<br />

die Frage nach Wachstumsbranchen jenseits<br />

des Automobils spricht OB Mohrs nebulös<br />

von „Dienstleistungen“; so richtig<br />

Sorgen macht er sich angesichts der globalen<br />

Präsenz von VW nicht. Für schlechte<br />

Zeiten habe die Stadt „finanzielle Puffer“.<br />

Und das ist noch vorsichtig formuliert.<br />

Derzeit wissen die Stadtoberen nicht, wohin<br />

mit all dem Geld, das auf sie niederregnet.<br />

20<strong>12</strong> kassierte die Stadt über 442 Millionen<br />

Euro an Gewerbesteuer – ein Zuwachs<br />

von 273 Prozent gegenüber 2008.<br />

Wolfsburg ist seit 20<strong>12</strong> schuldenfrei und<br />

kann in den kommenden Jahren mal eben<br />

200 Millionen Euro in die Modernisierung<br />

seiner Schulen investieren, speziell in die<br />

naturwissenschaftliche Ausstattung. Auch<br />

in Kindergärten, Ganztagsbetreuung und<br />

Sportstätten fließen Millionensummen.<br />

„Unser Problem ist nicht das Geld, sondern<br />

die Planung und Umsetzung unserer Projekte.<br />

Wir können ja nicht mehr beschließen,<br />

als sich in vertretbarer Zeit realisieren<br />

lässt“, sagt Mohrs. Solche Probleme hätten<br />

andere Stadtobere gern.<br />

ORT IM GLÜCK<br />

Das Spiegelbild zu Wolfsburg liegt 526 Kilometer<br />

südlich. An der Außenwand des Ingolstädter<br />

Stadttheaters formt eine gebogene<br />

Neonröhre das Wort „Glück“. Es geht<br />

um das Programm des Hauses, aber die<br />

Ansage lässt sich auf die gesamte Stadt anwenden.<br />

Ein Ort im Glück, gesegnet mit<br />

dem zentralen Standort eines der am<br />

stärksten prosperierenden Unternehmen<br />

Deutschlands: Audi.<br />

Die jüngere Stadtgeschichte von Ingolstadt<br />

liest sich wie eine Aneinanderreihung<br />

glücklicher Umstände. Audi kommt eigentlich<br />

aus dem sächsischen Zwickau. Nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg zeichnet sich aber<br />

schnell ab, dass es im sozialistischen Osten<br />

mit der freien Wirtschaft nicht lange weitergeht.<br />

Der Konzern sucht ein neues<br />

»<br />

Niveausieger München punktet mit...<br />

...dem besten Lehrstellenangebot...<br />

Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen<br />

je 100 Nachfrager<br />

...einer regen Gründerszene...<br />

Saldo aus Gewerbean- und -abmeldungen<br />

je 1000 Einwohner<br />

...vielen Besuchern...<br />

Gästeübernachtungen je Einwohner<br />

...und klugen Arbeitnehmern<br />

Anteil der hoch Qualifizierten<br />

(in Prozent)<br />

Rang<br />

Stadt<br />

Wert<br />

Rang<br />

Stadt<br />

Wert<br />

Rang<br />

Stadt<br />

Wert<br />

Rang<br />

Stadt<br />

Wert<br />

1<br />

München<br />

107,0<br />

1<br />

Offenbach<br />

5,1<br />

1<br />

Frankfurt/Main<br />

9,2<br />

1<br />

Erlangen<br />

29,3<br />

2<br />

Frankfurt/Main<br />

105,6<br />

2<br />

München<br />

3,5<br />

2<br />

München<br />

8,5<br />

2<br />

Jena<br />

29,2<br />

3<br />

Heidelberg<br />

105,5<br />

3<br />

Berlin<br />

3,3<br />

3<br />

Rostock<br />

7,4<br />

3<br />

München<br />

25,2<br />

4<br />

Regensburg<br />

105,1<br />

4<br />

Fürth<br />

3,2<br />

4<br />

Heidelberg<br />

7,2<br />

4<br />

Darmstadt<br />

24,5<br />

5<br />

Stuttgart<br />

103,9<br />

5<br />

Koblenz<br />

2,9<br />

5<br />

Trier<br />

7,2<br />

5<br />

Stuttgart<br />

24,5<br />

6<br />

Jena<br />

103,7<br />

6<br />

Hamburg<br />

2,5<br />

6<br />

Dresden<br />

7,2<br />

6<br />

Dresden<br />

24,0<br />

7<br />

.<br />

69<br />

Duisburg<br />

Berlin<br />

103,5<br />

95,0<br />

7<br />

.<br />

69<br />

Leipzig<br />

Rostock<br />

2,4<br />

–1,2<br />

7<br />

.<br />

69<br />

Regensburg<br />

Solingen<br />

6,7<br />

0,7<br />

7<br />

.<br />

69<br />

Heidelberg<br />

Solingen<br />

22,9<br />

8,2<br />

70<br />

Mülheim/Ruhr<br />

93,8<br />

70<br />

Bottrop<br />

–1,5<br />

70<br />

Bottrop<br />

0,7<br />

70<br />

Hamm<br />

8,1<br />

71<br />

Oberhausen<br />

93,8<br />

71<br />

Düsseldorf<br />

–1,6<br />

71<br />

Herne<br />

0,5<br />

71<br />

Bottrop<br />

6,4<br />

Mittelwert<br />

100,9<br />

Mittelwert<br />

0,7<br />

Mittelwert<br />

3,3<br />

Mittelwert<br />

15,4<br />

Quelle: BBSR, 2010.<br />

Alle Daten: wiwo.de/ausbildungsplaetze<strong>2013</strong><br />

Quelle: Destatis, 20<strong>12</strong>.<br />

Alle Daten: wiwo.de/gewerbe<strong>2013</strong><br />

Zahlen gerundet; Quelle: Destatis, 2011.<br />

Alle Daten: wiwo.de/gaeste<strong>2013</strong><br />

Akademikeranteil an den Beschäftigten;<br />

Zahlen gerundet; Quelle: BA, <strong>2013</strong>. Alle<br />

Daten: wiwo.de/hochqualifizierte<strong>2013</strong><br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 21<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

Die höchste Betreuungsquote<br />

für unter Dreijährige<br />

erreichen Jena und<br />

Rostock (57 Prozent)<br />

Verteilzentrum im Süden und wird in Ingolstadt<br />

fündig. Der Stadtkern der alten<br />

bayrische Festungsstadt besteht zum großen<br />

Teil aus Kasernen, die nun leer stehen.<br />

Zugleich ist die Stadt wegen ihrer damals<br />

strategischen Bedeutung hervorragend an<br />

das Verkehrsnetz angebunden. Die Kombination<br />

ist für Audi ideal. 1958 fällt die Entscheidung,<br />

hier das neue Zentralwerk zu<br />

bauen.<br />

50 Jahre später arbeiten 36 000 Menschen<br />

allein im Audi-Werk, das Gelände ist<br />

doppelt so groß wie die historische Altstadt.<br />

Und auch der Stadt geht es prächtig:<br />

20<strong>12</strong> landeten 241 Millionen Euro Gewerbesteuern<br />

in der Stadtkasse. In vergleichbar<br />

großen Städten wie Offenbach oder Paderborn<br />

waren es deutlich unter 100 Millionen<br />

Euro. Die Arbeitslosenquote liegt<br />

bei 2,1 Prozent, das ist die niedrigste Quote<br />

aller deutschen Großstädte.<br />

Das Problem ist hier eher, überhaupt<br />

noch Fachkräfte zu finden. Schon Mitte der<br />

Neunzigerjahre hob der heutige Oberbürgermeister<br />

Alfred Lehmann (CSU) als Referent<br />

für Wirtschaft die städtische Tochter<br />

„In-Arbeit GmbH“ aus der Taufe, die sich<br />

um die Unterstützung von Arbeitslosen<br />

kümmert. Lange bevor der Ein-Euro-Job<br />

erfunden war, gab es in Ingolstadt schon<br />

Drei-Mark-Jobber, die sich gemeinnützig<br />

Die größten kreisfreien Städte im Test<br />

Niveauranking*<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

<strong>12</strong><br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

24<br />

25<br />

26<br />

27<br />

28<br />

29<br />

30<br />

31<br />

32<br />

33<br />

34<br />

35<br />

36<br />

Stadt<br />

München<br />

Ingolstadt<br />

Erlangen<br />

Wolfsburg<br />

Stuttgart<br />

Frankfurt/Main<br />

Regensburg<br />

Darmstadt<br />

Heidelberg<br />

Mainz<br />

Ulm<br />

Münster<br />

Jena<br />

Düsseldorf<br />

Hamburg<br />

Freiburg<br />

Karlsruhe<br />

Bonn<br />

Wiesbaden<br />

Köln<br />

Potsdam<br />

Augsburg<br />

Würzburg<br />

Fürth<br />

Nürnberg<br />

Ludwigshafen<br />

Koblenz<br />

Mannheim<br />

Braunschweig<br />

Dresden<br />

Offenbach<br />

Heilbronn<br />

Oldenburg<br />

Hannover**<br />

Pforzheim<br />

Leverkusen<br />

64,9<br />

61,6<br />

61,4<br />

61,2<br />

60,5<br />

59,3<br />

59,0<br />

57,6<br />

56,6<br />

55,7<br />

55,6<br />

55,4<br />

55,1<br />

54,8<br />

54,7<br />

54,2<br />

54,2<br />

54,1<br />

53,5<br />

53,3<br />

53,3<br />

52,8<br />

52,0<br />

51,8<br />

51,6<br />

51,5<br />

51,3<br />

51,3<br />

51,1<br />

51,0<br />

50,8<br />

50,8<br />

50,4<br />

50,0<br />

49,5<br />

49,3<br />

40 %<br />

2<br />

4<br />

1<br />

3<br />

8<br />

13<br />

6<br />

7<br />

16<br />

11<br />

9<br />

14<br />

5<br />

22<br />

24<br />

20<br />

18<br />

23<br />

29<br />

27<br />

10<br />

15<br />

21<br />

17<br />

25<br />

31<br />

37<br />

26<br />

19<br />

<strong>12</strong><br />

40<br />

30<br />

35<br />

34<br />

33<br />

28<br />

Gewichtung<br />

30 % 20 %<br />

3<br />

5<br />

14<br />

2<br />

1<br />

4<br />

8<br />

21<br />

<strong>12</strong><br />

18<br />

19<br />

17<br />

33<br />

6<br />

7<br />

22<br />

16<br />

10<br />

13<br />

15<br />

45<br />

32<br />

28<br />

34<br />

25<br />

9<br />

11<br />

23<br />

36<br />

49<br />

20<br />

27<br />

35<br />

24<br />

38<br />

44<br />

Rang<br />

1<br />

3<br />

7<br />

13<br />

8<br />

2<br />

6<br />

5<br />

4<br />

9<br />

14<br />

<strong>12</strong><br />

19<br />

23<br />

11<br />

10<br />

18<br />

20<br />

16<br />

15<br />

21<br />

17<br />

24<br />

27<br />

26<br />

39<br />

40<br />

30<br />

34<br />

36<br />

31<br />

28<br />

22<br />

33<br />

37<br />

35<br />

10 %<br />

4<br />

14<br />

3<br />

18<br />

13<br />

8<br />

9<br />

1<br />

2<br />

32<br />

26<br />

7<br />

25<br />

24<br />

46<br />

5<br />

15<br />

10<br />

11<br />

37<br />

17<br />

36<br />

31<br />

33<br />

29<br />

22<br />

6<br />

40<br />

28<br />

23<br />

16<br />

42<br />

35<br />

45<br />

20<br />

50<br />

* Das Niveauranking basiert auf absoluten Werten. Die Zahlen sind gerundet, was zu gleicher Punktzahl bei unterschiedlichen Rängen führen kann. Aufgenommen wurden<br />

alle kreisfreien Städte ab 100 000 Einwohner (Einwohnerzahl vor Zensuskorrektur); ** Region/Stadtregion/Regionalverband<br />

37<br />

38<br />

39<br />

40<br />

41<br />

42<br />

43<br />

44<br />

45<br />

46<br />

47<br />

48<br />

49<br />

50<br />

51<br />

52<br />

53<br />

54<br />

55<br />

56<br />

57<br />

58<br />

59<br />

60<br />

61<br />

62<br />

63<br />

64<br />

65<br />

66<br />

67<br />

68<br />

69<br />

70<br />

71<br />

Stadt<br />

Aachen**<br />

Osnabrück<br />

Trier<br />

Kiel<br />

Bremen<br />

Bielefeld<br />

Kassel<br />

Mülheim/Ruhr<br />

Berlin<br />

Remscheid<br />

Rostock<br />

Erfurt<br />

Essen<br />

Leipzig<br />

Saarbrücken**<br />

Solingen<br />

Salzgitter<br />

Lübeck<br />

Chemnitz<br />

Bochum<br />

Magdeburg<br />

Krefeld<br />

Dortmund<br />

Hagen<br />

Wuppertal<br />

Cottbus<br />

Mönchengladbach<br />

Halle/Saale<br />

Duisburg<br />

Hamm<br />

Bremerhaven<br />

Bottrop<br />

Oberhausen<br />

Herne<br />

Gelsenkirchen<br />

49,0<br />

48,8<br />

48,5<br />

48,3<br />

47,6<br />

47,4<br />

47,3<br />

47,2<br />

47,1<br />

47,0<br />

47,0<br />

46,6<br />

46,4<br />

46,2<br />

46,2<br />

45,9<br />

45,4<br />

45,2<br />

45,2<br />

44,9<br />

44,9<br />

44,9<br />

44,8<br />

44,8<br />

44,7<br />

44,7<br />

44,1<br />

44,0<br />

43,4<br />

42,6<br />

42,6<br />

42,4<br />

41,8<br />

41,0<br />

40,3<br />

40 %<br />

39<br />

32<br />

45<br />

43<br />

47<br />

41<br />

55<br />

50<br />

65<br />

36<br />

44<br />

38<br />

59<br />

46<br />

52<br />

49<br />

48<br />

62<br />

42<br />

57<br />

51<br />

60<br />

66<br />

54<br />

58<br />

53<br />

63<br />

56<br />

61<br />

67<br />

68<br />

64<br />

69<br />

70<br />

71<br />

Gewichtung<br />

30 % 20 %<br />

41<br />

40<br />

51<br />

30<br />

31<br />

46<br />

37<br />

39<br />

29<br />

48<br />

65<br />

68<br />

26<br />

52<br />

42<br />

54<br />

50<br />

59<br />

62<br />

57<br />

63<br />

47<br />

43<br />

60<br />

53<br />

64<br />

56<br />

67<br />

55<br />

66<br />

58<br />

71<br />

70<br />

69<br />

61<br />

Rang<br />

Quelle: IW Consult; n bestes Ergebnis; n schlechtestes Ergebnis<br />

25<br />

42<br />

29<br />

43<br />

46<br />

49<br />

44<br />

47<br />

32<br />

62<br />

41<br />

48<br />

52<br />

64<br />

58<br />

50<br />

70<br />

38<br />

71<br />

51<br />

59<br />

53<br />

45<br />

63<br />

57<br />

61<br />

55<br />

67<br />

65<br />

56<br />

69<br />

54<br />

60<br />

66<br />

68<br />

Gesamtrang<br />

Gesamtpunkte<br />

Arbeitsmarkt<br />

Wirtschaftsstruktur<br />

Immobilienmarkt<br />

Lebensqualität<br />

Gesamtrang<br />

Gesamtpunkte<br />

Arbeitsmarkt<br />

Wirtschaftsstruktur<br />

Immobilienmarkt<br />

Lebensqualität<br />

10 %<br />

58<br />

38<br />

<strong>12</strong><br />

44<br />

59<br />

49<br />

27<br />

56<br />

21<br />

48<br />

19<br />

47<br />

51<br />

34<br />

39<br />

61<br />

60<br />

43<br />

30<br />

64<br />

55<br />

57<br />

66<br />

54<br />

53<br />

52<br />

63<br />

41<br />

69<br />

68<br />

62<br />

70<br />

65<br />

67<br />

71<br />

22 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


im Auftrag der Stadt verdingten. Die gesamte<br />

Arbeitsvermittlung übernimmt die<br />

Stadt als Optionskommune selbst, so können<br />

Stellen vor Ort gezielt mit Arbeitskräften<br />

aus Ingolstadt besetzt werden. Das Rezept<br />

scheint aufzugehen: An dem kleinen<br />

Außenposten, den die Bundesagentur für<br />

Arbeit noch in Ingolstadt unterhält, baumelt<br />

ein Werbeplakat mit der Frage: „Sie<br />

suchen qualifizierte Arbeitskräfte?“ Ob es<br />

Arbeitsplätze gibt, muss hier keiner fragen.<br />

Auch die Zusammenarbeit zwischen<br />

Stadt und Werk klappt ausgezeichnet. Vor<br />

»<br />

Die größten kreisfreien Städte im Test<br />

Dynamikranking*<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

<strong>12</strong><br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

24<br />

25<br />

26<br />

27<br />

28<br />

29<br />

30<br />

31<br />

32<br />

33<br />

34<br />

35<br />

36<br />

Stadt<br />

Wolfsburg<br />

Ingolstadt<br />

Erlangen<br />

Regensburg<br />

Leipzig<br />

Würzburg<br />

Braunschweig<br />

Berlin<br />

Kassel<br />

Oldenburg<br />

Dresden<br />

Potsdam<br />

Münster<br />

Augsburg<br />

München<br />

Hamburg<br />

Fürth<br />

Nürnberg<br />

Rostock<br />

Jena<br />

Freiburg<br />

Bonn<br />

Ludwigshafen<br />

Heilbronn<br />

Magdeburg<br />

Ulm<br />

Darmstadt<br />

Bremerhaven<br />

Heidelberg<br />

Erfurt<br />

Offenbach<br />

Kiel<br />

Hannover**<br />

Aachen**<br />

Köln<br />

Trier<br />

Gesamt<br />

punkte<br />

66,7<br />

63,2<br />

57,3<br />

56,8<br />

56,3<br />

55,4<br />

55,3<br />

54,9<br />

54,8<br />

54,0<br />

54,0<br />

53,7<br />

53,7<br />

53,4<br />

53,4<br />

53,0<br />

52,6<br />

52,5<br />

52,4<br />

52,3<br />

52,2<br />

52,0<br />

51,4<br />

51,4<br />

51,3<br />

51,3<br />

51,0<br />

51,0<br />

50,5<br />

50,5<br />

50,4<br />

50,4<br />

50,0<br />

50,0<br />

49,7<br />

49,6<br />

40 %<br />

3<br />

2<br />

16<br />

7<br />

1<br />

6<br />

8<br />

10<br />

5<br />

23<br />

4<br />

11<br />

14<br />

<strong>12</strong><br />

22<br />

9<br />

26<br />

20<br />

15<br />

18<br />

19<br />

33<br />

34<br />

30<br />

17<br />

39<br />

41<br />

25<br />

46<br />

21<br />

50<br />

32<br />

43<br />

45<br />

13<br />

38<br />

Gewichtung<br />

30 % 20 %<br />

1<br />

2<br />

3<br />

5<br />

11<br />

7<br />

14<br />

24<br />

50<br />

52<br />

58<br />

10<br />

35<br />

57<br />

16<br />

40<br />

59<br />

17<br />

23<br />

25<br />

22<br />

4<br />

13<br />

19<br />

21<br />

31<br />

47<br />

15<br />

18<br />

61<br />

9<br />

26<br />

28<br />

41<br />

66<br />

44<br />

Rang<br />

1<br />

2<br />

8<br />

9<br />

48<br />

<strong>12</strong><br />

13<br />

6<br />

7<br />

3<br />

11<br />

24<br />

18<br />

5<br />

14<br />

19<br />

4<br />

25<br />

30<br />

20<br />

38<br />

49<br />

21<br />

17<br />

46<br />

10<br />

16<br />

51<br />

23<br />

26<br />

27<br />

35<br />

29<br />

15<br />

41<br />

22<br />

10 %<br />

3<br />

4<br />

63<br />

13<br />

<strong>12</strong><br />

56<br />

10<br />

24<br />

45<br />

5<br />

39<br />

8<br />

1<br />

25<br />

9<br />

16<br />

28<br />

26<br />

37<br />

41<br />

7<br />

14<br />

35<br />

46<br />

57<br />

48<br />

2<br />

32<br />

33<br />

29<br />

19<br />

17<br />

31<br />

42<br />

21<br />

53<br />

* Das Dynamikranking basiert auf den Veränderungsraten der ausgewählten Indikatoren. Die Zahlen sind gerundet, was zu gleicher Punktzahl bei unterschiedlichen Rängen<br />

führen kann. Aufgenommen wurden alle kreisfreien Städte ab 100 000 Einwohner (Einwohnerzahl vor Zensuskorrektur); ** Region/Stadtregion/Regionalverband<br />

37<br />

38<br />

39<br />

40<br />

41<br />

42<br />

43<br />

44<br />

45<br />

46<br />

47<br />

48<br />

49<br />

50<br />

51<br />

52<br />

53<br />

54<br />

55<br />

56<br />

57<br />

58<br />

59<br />

60<br />

61<br />

62<br />

63<br />

64<br />

65<br />

66<br />

67<br />

68<br />

69<br />

70<br />

71<br />

Stadt<br />

Mainz<br />

Halle/Saale<br />

Lübeck<br />

Osnabrück<br />

Karlsruhe<br />

Stuttgart<br />

Koblenz<br />

Pforzheim<br />

Bremen<br />

Essen<br />

Wiesbaden<br />

Düsseldorf<br />

Saarbrücken**<br />

Chemnitz<br />

Frankfurt/Main<br />

Bochum<br />

Dortmund<br />

Bielefeld<br />

Cottbus<br />

Leverkusen<br />

Hamm<br />

Mannheim<br />

Mönchengladbach<br />

Bottrop<br />

Duisburg<br />

Hagen<br />

Gelsenkirchen<br />

Solingen<br />

Herne<br />

Mülheim/Ruhr<br />

Salzgitter<br />

Wuppertal<br />

Krefeld<br />

Oberhausen<br />

Remscheid<br />

Gesamt<br />

punkte<br />

49,5<br />

49,4<br />

49,4<br />

49,4<br />

49,4<br />

49,1<br />

48,7<br />

48,5<br />

48,4<br />

48,0<br />

47,9<br />

47,6<br />

47,4<br />

47,4<br />

47,1<br />

47,1<br />

47,0<br />

46,9<br />

46,8<br />

46,7<br />

46,2<br />

45,9<br />

45,3<br />

45,1<br />

45,1<br />

45,0<br />

44,5<br />

44,5<br />

44,4<br />

44,2<br />

44,1<br />

44,0<br />

43,9<br />

43,1<br />

42,4<br />

40 %<br />

31<br />

24<br />

28<br />

37<br />

42<br />

35<br />

51<br />

64<br />

53<br />

55<br />

29<br />

36<br />

58<br />

47<br />

27<br />

57<br />

52<br />

48<br />

61<br />

44<br />

67<br />

40<br />

62<br />

66<br />

60<br />

56<br />

63<br />

59<br />

71<br />

49<br />

54<br />

65<br />

68<br />

70<br />

69<br />

Gewichtung<br />

30 % 20 %<br />

38<br />

34<br />

48<br />

46<br />

37<br />

60<br />

30<br />

8<br />

36<br />

6<br />

68<br />

67<br />

43<br />

33<br />

71<br />

20<br />

53<br />

63<br />

29<br />

49<br />

<strong>12</strong><br />

70<br />

51<br />

32<br />

42<br />

55<br />

45<br />

62<br />

27<br />

69<br />

65<br />

39<br />

64<br />

56<br />

54<br />

Rang<br />

Quelle: IW Consult; n bestes Ergebnis; n schlechtestes Ergebnis<br />

39<br />

56<br />

42<br />

34<br />

31<br />

32<br />

45<br />

37<br />

28<br />

61<br />

36<br />

44<br />

33<br />

68<br />

43<br />

58<br />

50<br />

53<br />

47<br />

66<br />

65<br />

40<br />

55<br />

60<br />

62<br />

63<br />

59<br />

57<br />

54<br />

64<br />

69<br />

70<br />

52<br />

67<br />

71<br />

ber, ein eigener Telefonanbieter kümmert<br />

sich um den Ausbau der Glasfasernetze.<br />

Die großen städtischen Kliniken sichern eine<br />

Versorgung mit Fachärzten, wie sie sich<br />

sonst nur Universitätsstädte leisten können.<br />

Ein Blick in den Haushalt zeigt aber<br />

auch, welche Probleme in dieser glücklichen<br />

Ausgangslage angelegt sind. Die Stadt<br />

ist auf Wachstum angewiesen. Seit Jahren<br />

steigt die Zahl der Mitarbeiter. Während in<br />

der gesamten Republik Schwimmbäder<br />

schließen, eröffnet in Ingolstadt bald ein<br />

neues. Eine Aufzählung aller Bauprojekeinigen<br />

Jahren hat die Verwaltung in eigener<br />

Regie ein Güterverkehrszentrum in direkter<br />

Nachbarschaft zum Audi-Standort<br />

hochgezogen. Heute ist die Fläche komplett<br />

von Zulieferbetrieben besetzt. Für das Weiterbildungszentrum<br />

„Audi Akademie“ gibt<br />

die Stadt einige ihrer letzten Grundstücke<br />

in bester Innenstadtlage an den Konzern<br />

weiter. Über eine Reihe von städtischen<br />

Töchtern kümmert sich die Verwaltung zudem<br />

um so ziemlich alles, was Bürger und<br />

Wirtschaft sich wünschen könnten. Insgesamt<br />

sechs Museen betreibt die Stadt sel-<br />

Gesamtrang<br />

Arbeitsmarkt<br />

Wirtschaftsstruktur<br />

Immobilienmarkt<br />

Lebensqualität<br />

Gesamtrang<br />

Arbeitsmarkt<br />

Wirtschaftsstruktur<br />

Immobilienmarkt<br />

Lebensqualität<br />

10 %<br />

38<br />

62<br />

36<br />

20<br />

47<br />

34<br />

15<br />

30<br />

43<br />

49<br />

18<br />

11<br />

54<br />

27<br />

6<br />

44<br />

55<br />

22<br />

60<br />

50<br />

23<br />

68<br />

52<br />

64<br />

59<br />

65<br />

71<br />

67<br />

61<br />

58<br />

51<br />

66<br />

70<br />

40<br />

69<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 23<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


METHODIK<br />

Wie das Ranking<br />

zustande kommt<br />

Die Macher:<br />

Der Städtetest ist ein gemeinsames<br />

Projekt von WirtschaftsWoche, Immobilienscout24<br />

sowie IW Consult in Köln.<br />

Das Ranking ist der umfassendste kommunale<br />

Leistungs-Check in Deutschland.<br />

Das Konzept:<br />

Die Methodik und Auswahl der Indikatoren<br />

wurden gegenüber den Vorjahren<br />

überarbeitet. Der aktuelle Test untersucht<br />

nun die ökonomische und soziale Entwicklung<br />

aller kreisfreien Städte mit mehr als<br />

100 000 Einwohnern in Deutschland (Einwohnerzahl<br />

vor Zensuskorrektur). Die Untersuchung<br />

besteht aus zwei Teilen: Das<br />

sogenannte Niveauranking vergleicht Ist-<br />

Werte ausgewählter Kennziffern, also<br />

etwa das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je<br />

Erwerbstätigen. Basis sind die jeweils<br />

aktuellsten verfügbaren Daten. Das<br />

Dynamikranking hingegen betrachtet die<br />

Veränderungsraten in fünf zurückliegenden<br />

Jahren, also wie sich zum Beispiel das<br />

BIP in dieser Zeit entwickelt hat. So lässt<br />

sich herausfiltern, welche Stadt ihre Situation<br />

am meisten verbessern konnte –<br />

unabhängig <strong>vom</strong> bislang erreichten Stand.<br />

Das Dynamikranking zeigt umgekehrt,<br />

welche Stadt sich womöglich auf ihren<br />

Lorbeeren ausruht.<br />

Die Indikatoren:<br />

Die insgesamt 71 Städte traten in 89 Disziplinen<br />

gegeneinander an<br />

(Niveau: 50, Dynamik: 39);<br />

Um die Übersichtlichkeit zu<br />

erhöhen, wurden die Einzelindikatoren<br />

in vier unterschiedlich<br />

gewichteten Kategorien<br />

zusammengefasst. Die Rangfolge<br />

ergibt sich aus einem<br />

Punktesystem, das auch relative<br />

Unterschiede berücksichtigt:<br />

Wer etwa in einigen Bereichen<br />

mit geringem Abstand<br />

vorne liegt, in anderen Einzelwertungen<br />

jedoch mit großem<br />

Abstand hinten, der findet<br />

sich insgesamt eher auf hinteren<br />

Rängen wieder – und<br />

umgekehrt.<br />

wiwo.de<br />

Noch mehr Daten,<br />

Infografiken sowie<br />

detaillierte Stärken-<br />

Schwächen-Profile<br />

aller 71 Städte gibt es<br />

unter wiwo.de/<br />

staedteranking. Das<br />

komplette Ranking mit<br />

allen Auswertungen<br />

ist im Internet als<br />

PDF zum Preis von<br />

29,95 Euro unter<br />

wiwo.de/staedte<strong>2013</strong><br />

abrufbar.<br />

Die Gewichtung erklärt sich wie folgt:<br />

Als übergeordnete Zielvariablen definierten<br />

die Wissenschaftler von IW Consult<br />

hohe Beschäftigung und hohen Wohlstand.<br />

Die Gewichtung ergibt sich aus<br />

dem Einfluss der einzelnen Indikatoren<br />

auf diese beiden Zielvariablen.<br />

ARBEITSMARKT<br />

Gewichtung: 40 Prozent.<br />

Indikatoren unter anderem: Beschäftigung,<br />

Jugendarbeitslosigkeit, Ausbildungsplätze,<br />

Anteil der Schulabgänger<br />

ohne Abschluss, Pendlerdichte, Beschäftigungsquote<br />

von Frauen, Beschäftigtenanteil<br />

von Ingenieuren, Anteil der hoch<br />

Qualifizierten, Arbeitslosen- und Beschäftigungsquote<br />

älterer Arbeitnehmer, Zahl<br />

der Hartz-IV-Empfänger.<br />

WIRTSCHAFTSSTRUKTUR<br />

Gewichtung: 30 Prozent.<br />

Indikatoren unter anderem: Produktivität,<br />

Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, Saldo<br />

von Gewerbean- und -abmeldungen, Insolvenzquote,<br />

Arbeitskosten, kommunale<br />

Steuerkraft, Gewerbesteuerhebesätze,<br />

Patentanmeldungen, Beschäftigte in wissensintensiven<br />

Dienstleistungen, Arbeitsplatzversorgung.<br />

IMMOBILIENMARKT<br />

Gewichtung: 20 Prozent.<br />

Indikatoren: Zahl und Entwicklung der<br />

Baugenehmigungen, Mieten, fertiggestellte<br />

Wohnungen, lokale Nachfrage<br />

nach Miet- und Eigentumswohnungen,<br />

Verhältnis von Miet- und Immobilienpreisentwicklung.<br />

LEBENSQUALITÄT<br />

Gewichtung: 10 Prozent.<br />

Hier geht es nicht um subjektive<br />

Aspekte wie die Atmosphäre<br />

und Schönheit einer Stadt<br />

oder das kulturelle Leben,<br />

sondern um messbare Fakten,<br />

die das Leben beeinflussen.<br />

Dies sind unter anderem: Ärztedichte,<br />

Krankenhausbetten,<br />

Betreuungsplätze für unter<br />

Dreijährige und über Dreijährige,<br />

Häufigkeit und Aufklärungsquote<br />

von Straftaten, Lebenserwartung,<br />

Geburtenrate,<br />

Anteil der naturnahen Fläche,<br />

Fahrtzeit zur nächsten BAB.<br />

bert.losse@wiwo.de<br />

»<br />

te der Stadt führt schnell zu Ermüdungserscheinungen:<br />

Kongresszentrum, Museum,<br />

Landesgartenschau, Kulturzentrum,<br />

Regionalbahnhof, Klinikum.<br />

Zweifellos, die Stadt kann sich das im<br />

Moment leisten. „Wir müssen schließlich<br />

schauen, dass wir für qualifizierte Arbeitnehmer<br />

attraktiv sind“, sagt Oberbürgermeister<br />

Lehmann. „Sonst bleiben die in<br />

München oder Nürnberg und pendeln.“<br />

Doch mit den Investitionen ist es nicht getan.<br />

Bei vielen Projekten tritt die Stadt als<br />

Betreiber auf oder verpflichtet sich auf Betriebskostenzuschüsse.<br />

Diese Posten wird<br />

sie zahlen müssen, auch wenn die Zeiten<br />

weniger rosig werden. Schon heute<br />

schreibt das städtische Klinikum hohe Verluste,<br />

das Kongresszentrum wird einen<br />

sechsstelligen jährlichen Zuschuss kosten.<br />

Die Mitarbeiterzahl in der Kernverwaltung<br />

nähert sich der Marke 2000 – im ähnlich<br />

Die höchste Ärztedichte<br />

(je 100 000 Einwohner)<br />

schaffen Heidelberg<br />

(393) und Freiburg (376)<br />

großen, aber überschuldeten Offenbach<br />

sind es nur etwas mehr als 1000.<br />

Zwar sitzt in der Stadt neben Audi auch<br />

der Elektronikhändler Media-Saturn, und<br />

in der Nähe gibt es einen EADS-Standort.<br />

Im Vergleich fallen diese Arbeitgeber aber<br />

kaum ins Gewicht.<br />

So gut die Lage in Deutschlands Autostädten<br />

auch ist: Ihr Geschäftsmodell ist eine<br />

Wette auf konstantes Wachstum. Bleibt<br />

die Autobranche auf Kurs, werden auch die<br />

Standorte weiter florieren. Wenn nicht,<br />

kann sich der Erfolg schnell ins Gegenteil<br />

verkehren. Der Städtetest zeigt zudem, wie<br />

groß auch im allgemeinen Aufschwung die<br />

regionalen Unterschiede ausfallen. Auffällig<br />

gut schneidet etwa die Rhein-Main-Region<br />

ab. Mit Frankfurt, Mainz, Heidelberg, Darmstadt,<br />

Karlsruhe und Wiesbaden landen im<br />

Niveauranking gleich sechs Städte unter<br />

den ersten 20. Gemeinsam ist ihnen der attraktive<br />

Immobilienmarkt, auch die Wirtschaftsstruktur<br />

ist überdurchschnittlich gut.<br />

Den Wachstumskern der Region bildet der<br />

Finanzplatz Frankfurt – die Stadt belegt den<br />

sechsten Platz im Niveauranking. Allerdings<br />

schwächelt hier der Arbeitsmarkt: Mit sieben<br />

Langzeitarbeitslosen je 100 Einwohner<br />

landet die Stadt nur im Mittelfeld. Zu<br />

denken geben sollte den Verantwortlichen<br />

24 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Helfende Hände Münchens OB Christian Ude mit BMW-Mitarbeitern<br />

zudem die nachlassende Dynamik: So ist in<br />

Frankfurt das Bruttoinlandsprodukt pro<br />

Kopf in den vergangenen Jahren um 0,4 Prozent<br />

gesunken, während es im Schnitt aller<br />

Städte um sechs Prozent zunahm.<br />

Auch in anderen Großstädten halten sich<br />

Licht und Schatten die Waage. Berlin erfreut<br />

sich einer regen Gründerszene; beim Saldo<br />

der Gewerbean- und -abmeldungen schafft<br />

die Hauptstadt Rang drei. Sie hat aber, bezogen<br />

auf die Einwohnerzahl, nach Bremerhaven<br />

und Gelsenkirchen die meisten<br />

Hartz-IV-Empfänger. In Köln gibt es mehr<br />

Jobs und mehr Einwohner, aber eine miserable<br />

Aufklärungsquote bei Straftaten (44,3<br />

Prozent, Rang 68). Düsseldorf punktet traditionell<br />

mit hoher Produktivität (Rang<br />

sechs) und Steuerkraft (Rang vier), doch in<br />

beiden Bereichen haben sich die Werte verschlechtert.<br />

Auch leidet die NRW-Landeshauptstadt<br />

unter überproportional steigenden<br />

Arbeitskosten und hoher Kriminalität.<br />

Stuttgart darf sich über Platz fünf im Niveauranking,<br />

die höchsten Patentzahlen<br />

und den fünfthöchsten Anteil hoch Qualifizierter<br />

freuen. Viele Strukturdaten haben<br />

sich aber verschlechtert, sodass es im Dynamikranking<br />

nur zu Platz 42 reicht.<br />

In Ostdeutschland zeichnet sich derweil<br />

eine Art Marktbereinigung unter den Städten<br />

ab. Während die Bevölkerung insgesamt<br />

schrumpft, profitieren einige Städte<br />

von internen Wanderungen. So sind Jena<br />

und Potsdam inzwischen sogar im Niveauranking<br />

im oberen Drittel zu finden, Dresden<br />

folgt wenig später. Die Städte in der Peripherie<br />

hingegen fallen zurück. So leidet<br />

Chemnitz – bei Niveau und Dynamik im<br />

hinteren Bereich – unter der Sogwirkung<br />

von Dresden, Leipzig und Jena. In keiner<br />

anderen Großstadt hat die ältere Bevölkerung<br />

inzwischen so ein Übergewicht; der<br />

Saldo der Zu- und Fortzüge ist unterdurchschnittlich<br />

(Platz 46). Ähnlich prekär ist die<br />

Lage für Halle, die Stadt kann sich gegen<br />

Leipzig nur schwer behaupten.<br />

„Im Osten boomen die Städte, die sich<br />

als eindeutige Zentren ihrer Region und für<br />

bestimmte Branchen positionieren konnten“,<br />

sagt IW-Consult-Experte Michael<br />

Bahrke, wissenschaftlicher Leiter der Studie.<br />

So ist Rostock eine der Wachstumsgeschichten<br />

im Osten und punktet mit einem<br />

dynamischen Arbeitsmarkt (Platz 15). „Die<br />

Stadt hat sich konsequent entlang der maritimen<br />

Wertschöpfungskette aufgestellt“,<br />

so Bahrke. Heute wird im Hafen mehr<br />

Fracht umgeschlagen als zu DDR-Zeiten.<br />

Auch die Lebensqualität ist hoch: Bei den<br />

Angeboten zur Kinderbetreuung etwa liegt<br />

die Stadt bundesweit an der Spitze.<br />

Ähnlich stark: Leipzig und Dresden. Nirgendwo<br />

stieg die Zahl der Beschäftigten<br />

schneller als in Leipzig (plus 20 Prozent seit<br />

2007), nirgends sank die Jugendarbeitslosigkeit<br />

schneller als in Dresden (minus 5,7<br />

Prozentpunkte). Hier sorgt wie in Rostock<br />

zudem der Tourismus für Dynamik, bei<br />

den Gästeübernachtungen liegen die Städte<br />

auf den Plätzen drei und sechs.<br />

Wegen ihrer hübschen Altstädte müssen<br />

sich die Oststädte zudem um eines keine<br />

Sorgen machen: dass Besucher lieber den<br />

Hinterausgang nehmen.<br />

n<br />

bert.losse@wiwo.de, konrad.fischer@wiwo.de<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 26 »<br />

Ganz sicher: Fürth<br />

Straftaten (je 100000 Einwohner)<br />

Münster zieht an<br />

Entwicklung der Einwohnerzahl<br />

(in Prozent, 2007 zu 2011)<br />

Wer lebt am längsten?<br />

Durchschnittliche Lebenserwartung<br />

Neugeborener (in Jahren)<br />

Wo neue Stellen entstehen<br />

Veränderung der Beschäftigtenzahl am<br />

Wohnort (in Prozent, 2007 zu 20<strong>12</strong>)<br />

Rang<br />

Stadt<br />

Wert<br />

Rang<br />

Stadt<br />

Wert<br />

Rang<br />

Stadt<br />

Wert<br />

Rang<br />

Stadt<br />

Wert<br />

1<br />

Fürth<br />

5390<br />

1<br />

Münster<br />

6,9<br />

1<br />

Bonn<br />

82,3<br />

1<br />

Leipzig<br />

20,0<br />

2<br />

Erlangen<br />

6644<br />

2<br />

Potsdam<br />

5,4<br />

2<br />

Stuttgart<br />

82,3<br />

2<br />

Kassel<br />

16,6<br />

3<br />

Salzgitter<br />

6822<br />

3<br />

München<br />

5,1<br />

3<br />

Freiburg<br />

82,2<br />

3<br />

Braunschweig<br />

16,5<br />

4<br />

Jena<br />

6841<br />

4<br />

Frankfurt/Main<br />

4,9<br />

4<br />

München<br />

81,9<br />

4<br />

Regensburg<br />

16,4<br />

5<br />

Ingolstadt<br />

7087<br />

5<br />

Darmstadt<br />

4,8<br />

5<br />

Heidelberg<br />

81,8<br />

5<br />

Ingolstadt<br />

15,7<br />

6<br />

München<br />

7153<br />

6<br />

Freiburg<br />

4,4<br />

6<br />

Dresden<br />

81,7<br />

6<br />

Oldenburg<br />

15,5<br />

FOTO: DDP IMAGES/SEBASTIAN WIDMANN<br />

7<br />

.<br />

69<br />

70<br />

71<br />

Wolfsburg<br />

Köln<br />

Düsseldorf<br />

Frankfurt/Main<br />

Mittelwert<br />

Quelle: Bundeskriminalamt, 20<strong>12</strong>.<br />

Alle Daten: wiwo.de/straftaten<strong>2013</strong><br />

7190<br />

14590<br />

14966<br />

16310<br />

9 894<br />

7<br />

.<br />

69<br />

70<br />

71<br />

Dresden<br />

Hagen<br />

Salzgitter<br />

Remscheid<br />

Mittelwert<br />

4,4<br />

–3,3<br />

–3,4<br />

–3,8<br />

0,9<br />

Zahlen gerundet; Quelle: Destatis.<br />

Alle Daten: wiwo.de/einwohner<strong>2013</strong><br />

7<br />

.<br />

69<br />

70<br />

71<br />

Frankfurt/Main<br />

Oberhausen<br />

Bremerhaven<br />

Gelsenkirchen<br />

Mittelwert<br />

81,7<br />

78,3<br />

77,6<br />

77,4<br />

80,1<br />

Zahlen gerundet; Quelle: Destatis, BBSR<br />

2010. wiwo.de/lebenserwartung<strong>2013</strong><br />

7<br />

.<br />

69<br />

70<br />

71<br />

Münster<br />

Wuppertal<br />

Herne<br />

Remscheid<br />

Mittelwert<br />

Quelle: Bundesagentur für Arbeit.<br />

Alle Daten: wiwo.de/beschaeftigung<strong>2013</strong><br />

15,4<br />

2,8<br />

1,6<br />

1,3<br />

9,8<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 25<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

IMMOBILIEN<br />

Hotspot in der Ödnis<br />

Der Wohnungsmarkt ist ein Spiegelbild der wirtschaftlichen Dynamik.<br />

Wenn’s mit der Wohnung partout nicht<br />

klappen will, dann nimmt man halt das<br />

Auto. Die Entscheidung erleichtert, handelt<br />

es sich um einen nagelneuen Volkswagen<br />

– zum Mitarbeiterrabatt womöglich.<br />

Keine Stadt in Deutschland hat so<br />

viele Pendler wie Wolfsburg: Auf zwei Beschäftigte,<br />

die hier wohnen, kommt ein<br />

Dritter, der täglich zur Arbeit anreist. Und<br />

wohl die meisten machen dies nicht freiwillig,<br />

wie ein Blick in die einschlägigen<br />

Statistiken von Immobilienscout24 verrät,<br />

Deutschlands größtem Internet-Makler.<br />

In keiner anderen deutschen Stadt ist<br />

der Wohnungsmarkt so angespannt wie<br />

ausgerechnet hier – inmitten der großen<br />

Ödnis zwischen Hannover und Berlin.<br />

Nach einer Analyse von Immobilienscout24<br />

kommen auf eine angebotene<br />

Mietwohnung mehr als zehn Wohnungsgesuche<br />

(siehe Tabelle). Und schon nach<br />

durchschnittlich sechs Tagen im Angebot<br />

sind die Wohnungen weg – beides sind<br />

Spitzenwerte unter deutschen Großstädten.<br />

In München, der vermeintlichen<br />

Wohnungsnot-Hauptstadt mit Herz, kommen<br />

auf ein Wohnungsangebot gut acht<br />

Gesuche, angebotene Wohnungen sind<br />

im Schnitt acht Tage auf dem Markt.<br />

Knappheit lässt die Preise steigen – und<br />

diese generalisierende Annahme der Ökonomen<br />

bestätigen die Statistiken recht eindrucksvoll.<br />

Um 37,7 Prozent sind die Mieten<br />

in Wolfsburg zwischen dem 3. Quartal<br />

2008 und dem Vergleichszeitraum in diesem<br />

Jahr gestiegen. Das ist Platz 1 auf der<br />

Hitliste der Mietsteigerungen vor Ingolstadt<br />

(plus 31,5 Prozent) und Berlin (plus 28,9<br />

Prozent). Allerdings fällt dabei eines auf:<br />

Die Preise für Eigentumswohnungen haben<br />

sich in Wolfsburg im gleichen Zeitraum mit<br />

plus 34,5 Prozent zwar fast parallel zu den<br />

Mietpreisen entwickelt. Doch im Süden der<br />

Republik war die Dynamik auf diesem<br />

Marktsegment eine ganz andere: In Regensburg<br />

legten die Preise für Eigentumswohnungen<br />

um 63,5 Prozent zu, in Ingolstadt<br />

um 56,9 Prozent, in Fürth und<br />

München um 54,9 beziehungsweise 48,8<br />

Prozent.<br />

TEUERSTES PFLASTER<br />

Doch die Preissteigerung ist das eine, das<br />

Preisniveau das andere. Mit großem Abstand<br />

registriert das Online-Portal München<br />

als teuerstes Pflaster für Eigentumswohnungen.<br />

Der Quadratmeter kostet dort im<br />

Durchschnitt 4155 Euro – deutlich mehr<br />

als im zweitplatzierten Freiburg, wo<br />

Käufer 2974 Euro für den Quadratmeter<br />

hinlegen müssen. Auf dem dritten Platz<br />

findet sich Regensburg mit 2766 Euro pro<br />

Quadratmeter.<br />

KEINE BESSERUNG<br />

Hat etwa die Deutsche Bundesbank an<br />

diese Städte gedacht, als sie kürzlich vor<br />

Preisblasen auf dem Immobilienmarkt<br />

gewarnt hat? Immobilienscout24 jedenfalls<br />

vermutet in exakt diesen Städten das<br />

größte Blasenrisiko – die prozentuale<br />

Preissteigerung bei Eigentumswohnungen<br />

überstieg die von Mietwohnungen<br />

zwischen 2008 und <strong>2013</strong> in Regensburg<br />

um 49,4 Prozentpunkte, in München lag<br />

der Überhang bei 33,7 Prozentpunkten<br />

und in Freiburg bei 33,1 Prozentpunkten.<br />

In Regensburg zumindest scheint sich<br />

die Lage künftig zu entspannen. Bei den<br />

2011 fertiggestellten Wohnungen liegt<br />

die Stadt an der Donau mit 17,3 fertiggestellten<br />

Wohnungen je 1000 Wohnungen<br />

des Bestands an der Spitze, bei<br />

den Baugenehmigungen mit 15,5 je<br />

1000 Wohnungen des Bestands hinter<br />

Ingolstadt auf Platz zwei. In Wolfsburg<br />

dagegen ist für die vielen Pendler und<br />

Wohnungssuchenden noch keine Besserung<br />

in Sicht: Bei den fertiggestellten<br />

Wohnungen liegt die Autostadt mit 5,3 je<br />

1000 Bestandswohnungen auf Platz 20,<br />

bei den Baugenehmigungen mit sieben<br />

auf Platz 17.<br />

n<br />

konrad.handschuch@wiwo.de<br />

Hier entsteht Wohnraum<br />

Fertiggestellte Wohnungen* je 1000<br />

Wohnungen des Bestandes<br />

Gespaltener Markt<br />

Preisentwicklung von Eigentums–<br />

wohnungen (in Prozent)<br />

Bauboom in Heidelberg<br />

Entwicklung der Baugenehmigungen für<br />

Wohnungen (je 1000 Bestandsobjekte)<br />

Wohin Mieter drängen<br />

Anzahl der Gesuche pro Mietwohnung<br />

(Durchschnitt)<br />

Rang<br />

Stadt<br />

Wert<br />

Rang<br />

Stadt<br />

Wert<br />

Rang<br />

Stadt<br />

Wert<br />

Rang<br />

Stadt<br />

Wert<br />

1<br />

Regensburg<br />

17,3<br />

1<br />

Regensburg<br />

63,5<br />

1<br />

Heidelberg<br />

9,6<br />

1<br />

Wolfsburg<br />

10,2<br />

2<br />

Ingolstadt<br />

15,5<br />

2<br />

Ingolstadt<br />

56,9<br />

2<br />

Oldenburg<br />

8,5<br />

2<br />

München<br />

8,1<br />

3<br />

Erlangen<br />

<strong>12</strong>,2<br />

3<br />

Fürth<br />

54,9<br />

3<br />

Ulm<br />

7,7<br />

3<br />

Hamburg<br />

7,7<br />

4<br />

Darmstadt<br />

11,5<br />

4<br />

München<br />

48,8<br />

4<br />

Darmstadt<br />

7,2<br />

4<br />

Braunschweig<br />

7,2<br />

5<br />

Oldenburg<br />

10,6<br />

5<br />

Nürnberg<br />

48,2<br />

5<br />

Augsburg<br />

6,7<br />

5<br />

Hannover*<br />

6,1<br />

6<br />

Münster<br />

10,1<br />

6<br />

Freiburg<br />

47,7<br />

6<br />

Ingolstadt<br />

5,7<br />

6<br />

Köln<br />

6,0<br />

7<br />

...<br />

Augsburg<br />

9,5<br />

7<br />

...<br />

Hamburg<br />

47,4<br />

7<br />

...<br />

Regensburg<br />

5,1<br />

7<br />

...<br />

Berlin<br />

5,4<br />

69<br />

Bremerhaven<br />

0,9<br />

69<br />

Remscheid<br />

–1,4<br />

69<br />

Remscheid<br />

–1,7<br />

69<br />

Leipzig<br />

0,7<br />

70<br />

Halle/Saale<br />

0,8<br />

70<br />

Bottrop<br />

–2,3<br />

70<br />

Bochum<br />

–1,8<br />

70<br />

Bremerhaven<br />

0,7<br />

71<br />

Herne<br />

0,5<br />

71<br />

Gelsenkirchen<br />

–3,1<br />

71<br />

Hamm<br />

–2,6<br />

71<br />

Chemnitz<br />

0,5<br />

Mittelwert<br />

4,4<br />

* einschließlich Umbauten; Quelle: Destatis,<br />

2011. Alle Daten:<br />

wiwo.de/fertige-wohnungen<strong>2013</strong><br />

Mittelwert<br />

24,3<br />

Preis/m 2 , 3. Quartal 2008 zu 3. Quartal<br />

<strong>2013</strong>; Basis: Bestand Immobilienscout24.<br />

wiwo.de/eigentumswohnungen<strong>2013</strong><br />

Mittelwert<br />

1,4<br />

2007 zu 2011; ohne Maßnahmen an bestehenden<br />

Gebäuden; Quelle: Destatis.<br />

wiwo.de/baugenehmigungen<strong>2013</strong><br />

Mittelwert<br />

3,3<br />

Zahlen gerundet; 1.–3. Quartal <strong>2013</strong>; * Region;<br />

Quelle: Immobilienscout24.<br />

Alle Daten: wiwo.de/miete<strong>2013</strong><br />

26 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

Hier stehe ich...<br />

und will nicht anders:<br />

SPD-Chef Gabriel<br />

Basis-Effekte<br />

SPD | Je näher der Mitgliederentscheid über die große Koalition<br />

rückt, desto klarer wird: Parteichef Sigmar Gabriel dürfte daraus als<br />

einzige Führungsfigur hervorgehen.<br />

Der Widerstand ist zartblau und<br />

schnell zu übersehen. „Wer hat uns<br />

erneut verraten? Spezialdemokraten!“,<br />

hat jemand mit blasser Kreide auf das<br />

Pflaster vor dem Hamburger Curio-Haus<br />

gekritzelt. „Mindestlohn für alle Ja-Sager<br />

ab sofort!“ steht ein paar Schritte weiter<br />

und „Verstand statt GroKo“. Fünf Minuten<br />

anständiges Schmuddelwetter hätten<br />

schon gereicht, um diesen Protest einfach<br />

hinwegzuspülen.<br />

Die zwei angesprochenen Spezialdemokraten,<br />

SPD-Chef Sigmar Gabriel und<br />

Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz,<br />

dürften die Malereien ohnehin nicht gesehen<br />

haben, als sie in ihren Limousinen anrauschten.<br />

Im Saal wurden sie vergangenen<br />

Dienstagabend von 900 Genossen mit<br />

wohlwollendem Applaus empfangen. Nur<br />

auf die Idee von Standing Ovations, die Gabriel<br />

zuletzt in der Bundestagsfraktion entgegenbrandeten,<br />

kommt in Hamburg<br />

dann doch keiner.<br />

Berlin, das schwarz-rote Geschacher<br />

und nächtliche Ringen um den letzten<br />

Spiegelstrich, all das ist hier erst einmal<br />

weit weg und erklärungsbedürftig. Genauso<br />

erklärungsbedürftig wie in Bremen, Alfeld,<br />

Kamen, Nürnberg, Greifswald und allen<br />

anderen Städten, in die Spitzengenossen<br />

ausgeschwärmt sind, um möglichst<br />

vielen ihrer 473 000 Mitglieder den tiefroten<br />

Koalitionsvertrag aus der Hauptstadt<br />

nahezubringen. Die Basis hat bis Mitte Dezember<br />

das allerletzte Wort, ob die große<br />

Koalition wirklich kommt.<br />

In Hamburg stimmt der mit absoluter<br />

Mehrheit regierende Scholz die Mitglieder<br />

gewohnt nüchtern auf den Vorsitzenden<br />

ein. „Wir sind nicht gewählt worden, um<br />

nichts zu tun“, das ist schon sein leidenschaftlichster<br />

Satz. Die ganze SPD hätte<br />

gern mehr Stimmen für ihr gutes Programm<br />

bekommen, beendet Scholz wenig<br />

später seine Begrüßung. „Ham wir aber<br />

nich.“ Man kann nicht sagen, dass der Saal<br />

danach glüht vor Begeisterung.<br />

PATHOS UND POLEMIK<br />

Sigmar Gabriel dürfte das nur recht sein.<br />

Sein Redetalent ist bekannt, aber nach diesem<br />

Vorspiel kann er wirklich glänzen.<br />

Mindestlohn, Rente, Tarifverträge, Frauenquote<br />

– Wirtschaftsverbände und Ökonomen<br />

wenden sich mit Grausen ab, die<br />

SPDler in Hamburg hingegen klatschen<br />

sich bei seiner langen Aufzählung der Erfolge<br />

langsam warm. Der Vorsitzende gibt<br />

den verständnisvollen Parteipsychologen,<br />

den Polemiker, die Pathosmaschine oder<br />

den Kämpfer, je nach Bedarf. Herbert Wehner<br />

sei seinerzeit tätlich angegriffen worden,<br />

als er 1966 die erste große Koalition<br />

einging, erzählt Gabriel, aber sie habe<br />

schließlich in der Kanzlerschaft des verehrten<br />

Willy Brandt gemündet. Er erwähnt<br />

das, um mit der beliebten Katastrophen-<br />

Lesart der Jahre 2005 bis 20<strong>09</strong> aufzuräumen,<br />

die besagt, dass eine Liaison mit der<br />

Union nur im Wahldebakel enden könne.<br />

Von wegen: „Es steht eins zu eins“, ruft Gabriel.<br />

Der SPD-Chef hinterlässt keinen<br />

28 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


FOTO: ACTION PRESS/ANDRE MISCHKE<br />

Zweifel, dass er wild entschlossen ist, seine<br />

Mannschaft in Führung zu schießen.<br />

Am liebsten 2017. Gabriel hat eine spürbare<br />

Lust entwickelt, den vielen skeptischen<br />

SPD-Mitgliedern den Gedanken<br />

auszutreiben, in der Opposition könne<br />

man es sich mit hübschen Programmen<br />

wolkenkuckucksheimelig einrichten – und<br />

dann auch noch bessere Wahlergebnisse<br />

erzielen. Der Fortschritt sei vielleicht eine<br />

Schnecke, „aber messen kann man ihn<br />

doch“. Die SPD mache es sich „seit 150 Jahren<br />

schwer, um es anderen leichter zu machen“.<br />

Das gelte jetzt erst recht. Wenn der<br />

Vorsitzende so richtig in Form ist, dann<br />

klingt es, als habe ganz allein die SPD die<br />

soziale Marktwirtschaft erfunden.<br />

Es sind bedeutende Tage für Gabriel. Alles<br />

hat er auf eine Karte gesetzt. Entscheidet<br />

er das Mitgliedervotum am Ende für<br />

sich, wäre das vor allem sein Sieg. Dann ist<br />

der Weg frei für jeden Posten in der neuen<br />

Regierung, auch für den Fraktionsvorsitz<br />

und selbst für seine eigene Kanzlerkandidatur<br />

– und das trotz der Bundestagswahl,<br />

die er mit zu verantworten hat. Mit Olaf<br />

Scholz könnte man nur einen zweiten<br />

Steinbrück-Wahlkampf führen, also besser<br />

keinen. Und Hannelore Kraft, die NRW-<br />

Ministerpräsidentin, die mächtige Frau in<br />

der roten Herzkammer? Die schließt derzeit<br />

lieber die Türen vor der Öffentlichkeit,<br />

wenn sie ihren Genossen im Westen die<br />

große Koalition schmackhaft machen soll.<br />

So wie in Leverkusen, am vergangenen<br />

Montag: Dass es rustikal werden würde,<br />

war klar. Die NRW-Sozialdemokraten gelten<br />

als besonders kritisch. Kurz nach der<br />

Bundestagswahl war Kraft hier mit ihrer<br />

deutlich vorgetragenen Ablehnung einer<br />

großen Koalition zur Hoffnungsträgerin aller<br />

GroKo- und Gabriel-Feinde avanciert.<br />

Hatte sich weit vorgewagt, zu weit. Und<br />

jetzt? Jetzt steht genau diese Hannelore<br />

Kraft auf der Bühne und soll ihren Leuten<br />

einen Vertrag schmackhaft machen, den<br />

fast alle nicht wollten. Kein Wunder, dass<br />

sie die Öffentlichkeit lieber draußen lässt.<br />

Drinnen folgt zunächst eine schonungslose<br />

Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit.<br />

Dass die Wahl 20<strong>09</strong> zum Fiasko für<br />

die SPD wurde, habe nicht an Angela Merkel<br />

gelegen, „sondern daran, dass wir viel<br />

Scheiß gebaut haben“, flucht Kraft.<br />

„Scheiß“ ist ein Kraft-Ausdruck, den sie oft<br />

benutzt an diesem Abend. Der wichtigste<br />

Grund, den Koalitionsvertrag anzunehmen?<br />

„Wir haben jetzt die Chance, einen<br />

Teil von dem Scheiß rückgängig zu machen.“<br />

Der Mikrofonständer vor ihrer Nase,<br />

der den Blick versperrt? „Kann einer den<br />

Scheiß hier mal wegmachen?“ Die Absetzung<br />

des ehemaligen Parteichefs Kurt Beck<br />

am Potsdamer Schwielowsee? „War das<br />

Beschissenste, was ich in meiner gesamten<br />

politischen Laufbahn erlebt habe.“<br />

Kraft will brachialsprachlich deutlich<br />

machen: Jetzt wird Tacheles gesprochen,<br />

von mir hört ihr keine Floskeln. Ein Satz,<br />

der mit „Scheiß“ beginnt, kann nicht mit<br />

„alternativlos“ enden. Als sie die einzelnen<br />

Punkte des Koalitionsvertrags verteidigt,<br />

tut sie das in einer entsprechend einfachen<br />

Logik: Gewonnen oder verloren? Natürlich<br />

zählt sie mehr Siege als Niederlagen.<br />

»Wir machen es<br />

uns seit 150 Jahren<br />

schwer, um es<br />

anderen leichter<br />

zu machen«<br />

Sigmar Gabriel<br />

Im Saal braucht das Konzept ein bisschen,<br />

bis es seine Wirkung entfaltet. Die<br />

Begrüßung ist noch recht verhalten, auch<br />

bei den Wortmeldungen halten sich Zustimmung<br />

und Ablehnung ungefähr die<br />

Waage. Aber irgendwann kippt die Stimmung,<br />

vielleicht auch, weil Kraft neben der<br />

Macht der Argumente nun auf unverhohlenen<br />

Druck setzt. Sie beginnt, über den Wert<br />

von Vertrauen zu dozieren. „So wie ihr mir<br />

vertraut, dass ich eure Ziele umsetze, so<br />

muss ich mir jetzt auch sicher sein, dass ich<br />

euch vertrauen kann“, sagt Kraft. Und fragt<br />

dann ins Publikum: „Wer von euch hier ist<br />

denn ganz ohne Amt in der Partei oder<br />

Mandat? Also egal, auf welcher Ebene, bei<br />

welcher Gruppierung?“ Wenige Dutzend<br />

Mitglieder heben die Hand. „Ihr könnt hier<br />

ganz frei abstimmen, für die anderen aber<br />

gilt das nicht!“<br />

Ist das eine Drohung? Zumindest klingt<br />

es nach einer. Als Eva Lux, Kreisvorsitzende<br />

der SPD und Koalitionsskeptikerin, ans<br />

Rednerpult geht, wird die Ministerpräsidentin<br />

persönlich: „Beim Konvent haben<br />

insgesamt vier Genossen gegen Verhandlungen<br />

gestimmt, ich weiß, dass du eine<br />

davon warst.“ Da klingt die Landesmutter<br />

endgültig mehr nach Patin als nach Parteifreundin.<br />

Ein versprengter Haufen Jusos versäumt<br />

zwar nicht, jeden ablehnenden Wortbeitrag<br />

euphorisch zu beklatschen, doch deren<br />

Mitstreiter werden immer weniger. Das<br />

liegt auch daran, dass Kraft neben der<br />

kaum verhohlenen Drohung auf Versprechungen<br />

setzt, die sich nicht direkt im Koalitionsvertrag<br />

finden. Beim Kompromiss<br />

in der Gesundheitspolitik baut ihre Verteidigung<br />

einzig auf einer Nebenabrede auf.<br />

In der haben die Parteien vereinbart, dass<br />

die Arbeitgeber „langfristig“ durchaus an<br />

Beitragserhöhungen bei der Krankenversicherung<br />

beteiligt werden sollen. Als man<br />

ihr vorhält, dass die Partei keine Steuererhöhungen<br />

umsetzen konnte, verweist sie<br />

auf die Zukunft. Die Konjunktur könnte abschmieren,<br />

dann würde wohl gar nichts<br />

anderes übrig bleiben. „Ich habe schon<br />

Äußerungen von Angela Merkel vernommen,<br />

die einen solchen Richtungswechsel<br />

möglich machen“, sagt Kraft.<br />

Am Ende hinterlässt auch diese Veranstaltung<br />

den Eindruck, dass die meisten<br />

Parteimitglieder sich trotz Bauchschmerzen<br />

eher zu einer Zustimmung durchringen<br />

dürften. Teils wurden sie überzeugt,<br />

teils gefügig gemacht. 60 zu 40, 70 zu 30,<br />

das sind so sie Schätzungen, die unter prominenteren<br />

Genossen zirkulieren. Es läuft<br />

offenbar – vor allem auch für Gabriel.<br />

KRAFT-LOS IN BERLIN<br />

Der ist am selben Montagabend im Kasseler<br />

Vorort Baunatal, aber man wird ihm zugetragen<br />

haben, was Kraft in Leverkusen<br />

sonst noch sagt. Zum Beispiel: „Ich weiß,<br />

wo meine Stärken liegen. Und das ist der<br />

direkte Kontakt zu den Menschen. Das ist<br />

auch der Grund, warum ich nicht nach<br />

Berlin gehen werde, weil ich das da nicht<br />

einsetzen kann.“ Keine Kanzlerkandidatin<br />

Kraft 2017? Dabei wäre es genau das, was<br />

sich manche Linke in der Partei wünschen.<br />

Einflussreiche Sozialdemokraten wie der<br />

Chef der NRW-Landesgruppe in der Bundestagsfraktion,<br />

Axel Schäfer, werben nun<br />

für Gabriel als herausgehobene Führungsfigur<br />

– jetzt und für die Zukunft: „Der Parteichef<br />

kann alles werden, was er will. Er<br />

hat diese Partei zusammengehalten.“ Der<br />

Wind habe sich gedreht. „Die Genossen erkennen,<br />

was wir rausgeholt haben.“ Und<br />

auch Carsten Schneider, Sprecher des konservativen<br />

Seeheimer Kreises, ist voll des<br />

Lobes: „Sigmar Gabriel hat die Verhandlungen<br />

exzellent gemanagt. Damit hat er<br />

sich für jedes Amt qualifiziert.“<br />

Eine gute Basis nennt man das wohl. n<br />

max.haerder@wiwo.de I Berlin, konrad fischer<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 29<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

BERLIN INTERN | Nicht dass die SPD-Mitglieder<br />

abstimmen dürfen, ist das Problem, sondern<br />

worüber. Denn sie können bewerten, was die Wähler<br />

nie zu Gesicht bekamen. Von Henning Krumrey<br />

Verhältnis-Wahl<br />

FOTOS: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, GETTY IMAGES/SEAN GALLUP<br />

Was war das nur für eine Inszenierung,<br />

neulich im „heute<br />

journal“? Die Schöne und das<br />

Biest? Oder: Der Dicke und<br />

das Biest? So ganz ließ sich nicht klären,<br />

wer letztlich angefangen hatte mit dem<br />

pampigen Gestänkere. Hatte Moderatorin<br />

Marietta Slomka zu penetrant den Eindruck<br />

erweckt, dass anstelle eines gleich<br />

die ganze Phalanx deutscher Verfassungsrechtler<br />

die SPD-Mitgliederbefragung zur<br />

Koalitionsvereinbarung für bedenklich<br />

Drittstimme Wer Koalitionsverträge<br />

wählen darf, kauft nicht die Katze im Sack<br />

hielte? Oder hatte der SPD-Vorsitzende<br />

Sigmar Gabriel zu dünnhäutig reagiert,<br />

weil die schwankende Stimmung der eigenen<br />

Parteibasis ihm so auf die Nerven<br />

geht wie den Genossen das Verhandlungsergebnis<br />

mit der Union?<br />

Richtig ist Gabriels Argument, dass es<br />

sicherlich nicht demokratischer ist, wenn<br />

anstelle von 470 000 SPD-Mitgliedern 181<br />

Delegierte des CDU-Parteiausschusses oder<br />

die 55 Mitglieder des CSU-Parteivorstandes<br />

über den Koalitionsvertrag entscheiden.<br />

Beides begründet auch kein imperatives<br />

Mandat; die Bundestagsabgeordneten sind<br />

bei dem einen oder anderen Verfahren so<br />

frei oder fühlen sich gebunden, wie es ihr<br />

Gewissen (und natürlich auch der Fraktionszwang)<br />

eben zulässt.<br />

Zwar wirken die Parteien bei der „Willensbildung<br />

des Volkes mit“, wie es Artikel<br />

21 des Grundgesetzes vorsieht. Aber auch<br />

in einer repräsentativen Demokratie ist<br />

damit nicht vorgeschrieben, dass nur Delegierte<br />

entscheiden dürften, nicht die Basis.<br />

Andersherum: Während die CDU-Parteitagssitzer<br />

in den einzelnen Landesverbänden<br />

bereits vor x Monaten gewählt wurden,<br />

als von einer Elefantenhochzeit wenig und<br />

von diesem Koalitionsvertrag gar keine Rede<br />

war, die Übertragung der Stimmgewalt<br />

auf die Delegierten also höchst abstrakt<br />

erfolgte, entscheiden die Basisgenossen<br />

wenigstens im Lichte der vorliegenden<br />

Macht- und Sachfragen.<br />

Das führt zu einem Gedankenspiel, wie<br />

derlei Legitimationsprobleme vermieden<br />

werden könnten. Nicht dass die SPD-Mitglieder<br />

abstimmen dürfen, ist das Problem,<br />

sondern worüber. Denn sie können bewerten,<br />

was die Wähler nie zu Gesicht bekamen.<br />

Also wäre es doch viel ehrlicher und vor<br />

allem für den weiteren Fortgang der politischen<br />

Geschäfte viel besser, die Wähler<br />

stimmten nicht über mehr oder minder<br />

abstrakte Versprechen aus dem Wahlkampf-Wolkenkuckucksheim<br />

ab, sondern<br />

über die ganz konkreten Verhandlungsergebnisse.<br />

Da man nicht nach jeder Bundestagswahl<br />

einen quasi zweiten Wahlgang mit<br />

den Ergebnissen machen könnte (zumal<br />

dann vielleicht herauskäme, dass die Bürger<br />

diese konkrete Vereinbarung auf Vorhaben<br />

für die nächsten vier Jahre dann gar<br />

nicht mehr möchten), bliebe nur ein verrückt<br />

klingender Vorschlag:<br />

Zur Abstimmung stehen bei der Bundestagswahl<br />

nicht Parteien, sondern Koalitionsverträge.<br />

Dann müsste der Bürger nicht<br />

mehr die Katze im Sack kaufen, sondern<br />

könnte sich für ein ganz konkretes Programm<br />

entscheiden. Beim jüngsten Urnengang<br />

hätte es dann ein schwarz-gelbes, ein<br />

schwarz-rotes und vielleicht gar ein<br />

schwarz-grünes Programm gegeben. Außerdem<br />

natürlich ein rot-grünes Angebot,<br />

eventuell auch ein rot-rot-grünes. Die Variante<br />

mit der höchsten Zustimmung wird<br />

dann Regierungspolitik.<br />

Zugegeben, nur ein Gedankenspiel. Aber<br />

für sich allein werben könnte trotzdem jede<br />

Partei, denn für alle Parteien und alle verhandelten<br />

Konstellationen darf und sollte<br />

das selbstbewusste, machtpolitische Einmaleins<br />

gelten: Jede Regierung mit uns ist<br />

besser als jede Regierung ohne uns.<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 31<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Der Volkswirt<br />

Frontalangriff auf<br />

Ihr Geld<br />

FINANZIELLE REPRESSION | Negativzins, einmalige Vermögensabgabe, neue Steuern und<br />

Steuererhöhungen, Zwangsmaßnahmen – immer neue Enteignungsinstrumente<br />

werden von Politik und Notenbank geprüft. Müssen Anleger jetzt der Staatsschuldenkrise<br />

wegen um ihr Erspartes fürchten?<br />

Routiniert wie ein „Tagesschau“-Sprecher<br />

verliest Mario<br />

Draghi seine Einschätzung,<br />

souverän, kühl und emotionslos<br />

verpasst er Sparern einen<br />

Schlag mitten ins Gesicht. Die wichtigsten<br />

Leitzinssätze, sagt der Präsident der Europäischen<br />

Zentralbank (EZB) am Donnerstag<br />

in Frankfurt, dürften „für einen längeren<br />

Zeitraum auf dem aktuellen oder<br />

einem noch niedrigeren Niveau bleiben“.<br />

Mickrige 0,25 Prozent Zinsen gibt die<br />

EZB derzeit vor – und für den Zentralbankpräsidenten<br />

ist das Ende der Entwicklung<br />

nach unten noch nicht erreicht? Für Sparer<br />

wird der Leitzins so zum Leidzins.<br />

Schlimmer noch: Der Niedrigzins ist nur<br />

ein Teil eines großen, düsteren Bildes. Sparer<br />

sind zum Lieblingsziel der Zentralbanker<br />

und Politiker geworden. Ob Bargeld,<br />

Wertpapiere, Aktien oder Edelmetalle, auf<br />

längere Sicht ist das Geld nirgendwo mehr<br />

sicher. Denn Sparer werden die Zeche zahlen<br />

für eine exzessive Schuldenpolitik. Je<br />

Historisches Vorbild<br />

MitZinsenunterhalbder<br />

Inflationsrate*...<br />

5<br />

0<br />

–5<br />

–10<br />

FinanzielleRepression<br />

Realzins für<br />

Spareinlagen<br />

1945–1980: –1,94%<br />

1981–20<strong>09</strong>: 1,35%<br />

aberwitziger die Verpflichtungen werden,<br />

die Staaten bedienen müssen, desto dreister<br />

werden die Ideen, mit denen die Politik<br />

Zugriff auf unser Geld bekommen will.<br />

Viele Instrumente aus deren Folterkammer<br />

werden noch nicht angerührt. Doch<br />

es gibt Anhaltspunkte dafür, dass sich das<br />

ändern könnte: in der öffentlichen Debatte,<br />

bei politischen Vorstößen, mit Blick auf<br />

historische Beispiele – und zum Teil sogar<br />

im Koalitionsvertrag, wenn man ihn genau<br />

liest. Die WirtschaftsWoche skizziert die<br />

markantesten Bedrohungen, denen Sparer<br />

ausgesetzt sind.<br />

Bedrohung 1:<br />

Vom Niedrig- zum Negativzins<br />

Auf dem Tisch der Frankfurter Notenbanker<br />

liegen weitere Vorschläge, die die Wirtschaft<br />

mit Geld fluten und die Zinsen drücken<br />

sollen, von Geldleihgeschäften für<br />

die Banken bis hin zur Absenkung des<br />

Einlagenzinses der EZB unter null. Der<br />

...schmolzendie Industrieländer ihre<br />

Schuldennachdem Zweiten Weltkriegab**<br />

FinanzielleRepression<br />

–15<br />

20<br />

1945 1960 1970 1980 1990 2000 11 1945 1960 1970 1980 1990 2000 11<br />

*Realzins fürSpareinlagen, gleitender Dreijahresdurchschnitt in Prozent; **Schulden der Zentralregierungen in<br />

Prozentzum Bruttoinlandsprodukt; Quelle:CarmenReinhart, Belen Sbrancia: TheLiquidation of GovernmentDebt<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

Staatsschulden<br />

Einlagenzins ist der Zins, zu dem Banken<br />

nicht benötigtes Zentralbankgeld bei der<br />

EZB parken können. Früher erhielten sie<br />

dafür Zinsen, jetzt nicht mehr. Dennoch<br />

haben die Banken dort derzeit rund 50<br />

Milliarden Euro deponiert. Senkte die EZB<br />

den Zins auf –0,1 Prozent, wie manche Beobachter<br />

erwarten, müssten die Banken<br />

56 Millionen Euro Strafzinsen pro Jahr<br />

zahlen.<br />

Negativzinsen, so die offizielle Begründung,<br />

sollen die Banken dazu bewegen,<br />

Kredite an Unternehmen in den Krisenländern<br />

zu vergeben. Ob das Kalkül aufgeht,<br />

ist fraglich. Zu hoch sind die Schulden,<br />

unter denen Unternehmer und Bürger<br />

dort ächzen. Daher liegt der Verdacht<br />

nahe, dass Negativzinsen für EZB-Einlagen<br />

einem anderen Ziel dienen: „Die Banken<br />

sollen mit dem Geld verstärkt in<br />

marktfähige Assets der Krisenländer, vor<br />

allem in Staatsanleihen, investieren“, sagt<br />

Johannes Mayr, Volkswirt der BayernLB.<br />

MINUSZINS: STRAFE FÜR SPARER?<br />

Dass die EZB die Zinsen tatsächlich bald<br />

auf unter null senkt, wird unter Frankfurter<br />

Bankern ernsthaft diskutiert. „Negative<br />

Zinsen halte ich heute nicht für sehr wahrscheinlich.<br />

Falls es aber dazu kommen<br />

sollte, könnten Banken ganz gut damit<br />

umgehen“, sagt Commerzbank-Vorstand<br />

Martin Zielke (siehe Interview Seite 10).<br />

Technisch wäre die Umstellung problemlos.<br />

Das haben die Banker bereits intern<br />

geprüft. Allerdings halten sie es für<br />

unwahrscheinlich, dass die Institute den<br />

Negativzins weitergeben, indem sie von<br />

ihren Kunden tatsächlich Gebühren für<br />

die Geldverwahrung verlangen. „Das ist<br />

»<br />

FOTOS: F1ONLINE (2), MASTERFILE, GETTY IMAGE; MONTAGE: DMITRI BROIDO<br />

32 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Löcher ins Vermögen<br />

Geld Niedrigzinsen fressen am Ersparten,<br />

Notenbanker denken über Minuszinsen nach,<br />

und die Merkel-Garantie gilt auch nicht mehr<br />

Immobilien Forderung nach härterer Mietpreisbremse,<br />

Grund- und Grunderwerbsteuern<br />

steigen, historisch oft Zwangsabgaben<br />

Gold In Krisenphasen oft verboten,<br />

Mehrwertsteuerpflicht und Abschaffung der<br />

Spekulationsfrist drohen<br />

Aktien Finanztransaktionsteuer drückt, Forderung<br />

nach Abgeltungsteuer von 25 auf 32<br />

Prozent, Vermögensabgabe wird diskutiert<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 33<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Der Volkswirt<br />

Darf’s ein bisschen<br />

weniger sein?<br />

EZB-Präsident Draghi<br />

will die Zinsen niedrig<br />

und Sparer auf<br />

Nulldiät halten<br />

schmilzt das Vermögen. Die Nachkriegszeit<br />

dient den Regierungen nun als Modell<br />

für die finanzielle Repression, die aktuell<br />

auf die Sparer zurollt.<br />

Bedrohung 2:<br />

Einmalige Vermögensabgabe<br />

»<br />

nicht machbar“, sagt ein Bankvorstand.<br />

Sparer würden in Massen zu ausländischen<br />

Banken flüchten. Das Geld würde<br />

im Zweifel sogar in Banknotenbündeln in<br />

der eigenen Wohnung landen. Der Sparkassenverband<br />

DSGV spricht bereits von<br />

einem Lockprogramm für Wohnungseinbrecher.<br />

EINE WELT VOLLER SCHULDEN<br />

Staaten allerdings brauchen niedrige Zinsen,<br />

denn die Welt lebt auf Pump: 2007 waren<br />

die USA, Europa und Japan im Schnitt<br />

mit 73 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung<br />

(BIP) verschuldet, heute sind es 110 Prozent.<br />

Spätestens die Finanzkrise mit ihren<br />

Konjunktur- und Bankenrettungsprogrammen<br />

hat die Schulden der Industrieländer<br />

anschwellen lassen, wie es sonst<br />

nur Kriege vermögen.<br />

Ein Ende ist nicht in Sicht. Der Schuldenberg<br />

wächst immer weiter, allein in<br />

Europa um 100 Millionen Euro – pro Stunde.<br />

Das Wirtschaftswachstum ist nicht<br />

stark genug für höhere Einnahmen, mit<br />

denen sich die Schulden abzahlen ließen.<br />

Für niedrigere <strong>Ausgabe</strong>n wiederum, einen<br />

harten Sparkurs, fürchtet die Politik, von<br />

den Wählern abgestraft zu werden. So<br />

bleiben nur zwei Wege, um die Schulden<br />

abzutragen: niedrige Zinsen und mehr Inflation.<br />

Das Rezept funktionierte bereits nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg. Damals waren die<br />

Industrieländer, etwa die USA und Großbritannien,<br />

durch den Krieg überschuldet.<br />

Regierungen und Zentralbanken gelang es<br />

aber, die Zinsen über Jahre hinweg unter<br />

die Inflationsrate zu drücken. Schon in der<br />

ersten Nachkriegsdekade schrumpfte etwa<br />

der Schuldenberg Amerikas von 116<br />

auf 66 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung.<br />

„Negative Realzinsen haben die<br />

Staatsschulden abgeschmolzen“, heißt es<br />

in einer viel beachteten Untersuchung der<br />

US-Ökonominnen Carmen Reinhart und<br />

Belen Sbrancia.<br />

Inflation und negative Realzinsen (Zinsen<br />

unterhalb der Inflationsrate) entfernen<br />

die Schulden zwar nicht nominell,<br />

aber real. Grob: Wenn in zehn Jahren alles<br />

fünf Mal so teuer ist, aber auch alle fünf<br />

Mal so viel verdienen, tun die heutigen<br />

Schulden nicht mehr weh. Für Sparer bedeutet<br />

dies finanzielle Repression: Die<br />

Zinsen reichen nicht, um die Inflation auszugleichen,<br />

gemessen an der Kaufkraft,<br />

Mit der Höhe<br />

der Schulden<br />

werden die<br />

Ideen der Politik<br />

dreister<br />

Eine Lösung mit der Brechstange wäre, von<br />

Vermögenden eine einmalige Abgabe zu<br />

erheben und damit Schulden zu tilgen. Das<br />

hat es schon gegeben: den Lastenausgleich,<br />

der Flüchtlinge und Vertriebene<br />

entschädigen sollte. Dazu wurde zum 21.<br />

Juni 1948 (einen Tag nach der Währungsreform)<br />

das Vermögen festgestellt. Betroffen<br />

waren Konten, Wertpapiere und Immobilien<br />

über 5000 Mark Freibetrag.<br />

Insgesamt musste die Hälfte abgegeben<br />

werden. Die Belastung wurde auf 30 Jahre<br />

gestreckt, pro Jahr ergab das 1,67 Prozent<br />

Abgabe. In der Regel konnten diese Raten<br />

aus laufenden Erträgen bezahlt werden,<br />

deren reale Belastung durch die Geldentwertung<br />

der folgenden Jahre noch verringert<br />

wurde. Insgesamt kamen 135 Milliarden<br />

Mark zusammen. 1960 entsprach das<br />

etwa der Hälfte der Wirtschaftsleistung der<br />

Bundesrepublik. Verfassungsrechtlich wäre<br />

eine solche Abgabe heute nur in einer<br />

schweren Krise drin – in der befindet sich<br />

Deutschland nicht.<br />

BLAUPAUSE ZYPERN<br />

Viele haben die Stimme der Kanzlerin<br />

noch im Ohr: „Wir sagen den Sparerinnen<br />

und Sparern, dass ihre Einlagen sicher<br />

sind“, sagte Angela Merkel im Oktober 2008<br />

und verhinderte einen Bank-Run. Damals<br />

ging es um die gesamten Spareinlagen. Der<br />

Koalitionsvertrag kippt, weitgehend unbemerkt,<br />

die Merkel-Garantie. Jetzt gilt bloß:<br />

„Sparer mit einer Einlage bis zu 100 000 Euro<br />

werden geschützt.“ Die Summe ist kein<br />

Zufall, sondern EU-weit geregelt.<br />

Modell stand dabei ausgerechnet ein<br />

Land, das partout keines sein sollte: Zypern.<br />

Als die größten Banken im Sommer<br />

20<strong>12</strong> kurz vor der Pleite standen, bat Zypern<br />

die EU um Hilfe. Doch die zierte sich.<br />

Insgesamt 17 Milliarden Euro benötigte<br />

die Insel. Zypern war jedoch als Schwarzgeldparadies<br />

für reiche Russen verpönt,<br />

Oligarchen mit Steuergeldern rauszuboxen:<br />

undenkbar. Die Europäer setzten als<br />

Bedingung für Hilfskredite durch, dass die<br />

Sparer beteiligt wurden. Nach zähem<br />

Kampf um die Höhe des Freibetrags stand<br />

fest, dass alle Guthaben ab 100 000 Euro<br />

dran waren – rund die Hälfte wurde in<br />

»<br />

FOTO: LAIF/TIM WEGNER; ILLUSTRATION: DMITRI BROIDO<br />

34 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Der Volkswirt<br />

FOTO: GETTY IMAGES/AFP<br />

»<br />

Aktien der Bank umgewandelt, ein weiterer<br />

Teil eingefroren.<br />

Der niederländische Finanzminister<br />

und Euro-Gruppen-Chef Jeroen Dijsselblom<br />

bezeichnete die Lösung in Interviews<br />

als „Blaupause“ und warnte andere Länder,<br />

„seid euch im Klaren darüber, wenn<br />

Banken in Probleme geraten, kommen wir<br />

nicht automatisch, um sie zu lösen.“ Empört<br />

wiesen Politiker quer durch Europa<br />

diese Einschätzung zurück. In jedem Fall<br />

zeigt Zypern modellhaft, wie Politiker agieren:<br />

vorpreschen, austesten, den verbalen<br />

Rückzug antreten, als Einzelfall darstellen.<br />

Der US-Ökonom Barry Eichengreen<br />

hatte bereits in einer Studie von 1989<br />

(„Vermögensabgabe in Theorie und Praxis“)<br />

anhand historischer Beispiele von<br />

der Tschechoslowakei 1920 bis Japan 1946<br />

herausgearbeitet, wie eine erfolgreiche<br />

Zwangsmaßnahme ablaufen muss: Überraschend,<br />

schnell, ohne politische Debatten<br />

und lange Gesetzesinitiativen – sonst<br />

flieht das Kapital über die Grenzen oder in<br />

andere Anlageformen, und der Schnitt<br />

wird von Lobbygruppen verwässert: „Die<br />

wenigen erfolgreichen Vermögensabgaben<br />

ereigneten sich unter Umständen wie<br />

im Nachkriegs-Japan, wo wichtige Elemente<br />

des demokratischen Prozesses unterbunden<br />

wurden“, so Eichengreen. Die<br />

US-Besatzungsmacht hatte damals, anders<br />

als gewählte Regierungen, keinen<br />

Vertrauensverlust zu befürchten.<br />

Auf dem falschen Fuß erwischt Der Zypern-<br />

Schuldenschnitt hat Garantien aufgeweicht<br />

ZEHN PROZENT AUF ALLES?<br />

Trotz derartiger Einsichten hat die Debatte<br />

um eine Vermögensabgabe an Fahrt gewonnen.<br />

Der Internationale Währungsfonds<br />

(IWF) widmete im Oktober nur eine<br />

halbe Seite einer knapp 100 Seiten umfassenden<br />

Steuerstudie der Idee einer einmaligen<br />

Abgabe auf sämtliche Vermögen.<br />

Doch der Abschnitt hat es in sich.<br />

Die Vorteile der Abgabe beschreiben die<br />

Autoren knapp: Wenn sie so schnell durchgezogen<br />

wird, dass sich niemand entziehen<br />

kann, und wenn klar ist, dass es sich<br />

um eine einmalige Abgabe handelt, dann<br />

würde sie das Konsumverhalten der Menschen<br />

und damit das Wachstum kaum<br />

bremsen. Und: Die Abgabe dürfte von vielen<br />

als gerecht empfunden werden.<br />

Doch so neutral die kurze Beschreibung<br />

auch gehalten ist: Am Ende lassen sich die<br />

Autoren auf ein Gedankenspiel ein. Sie berechnen,<br />

wie hoch die Abgabe in den 15 Euro-Ländern<br />

ausfallen müsste, um<br />

die Staatsschuldenquoten auf das<br />

Vorkrisenniveau von 2007 zu drücken.<br />

Ergebnis: Jeder Euro-Land-<br />

Einwohner wäre mit zehn Prozent<br />

seines Vermögens dabei.<br />

Eine ganz ähnliche Größenordnung<br />

hatte das Deutsche Institut<br />

für Wirtschaftsforschung<br />

(DIW) schon vor gut einem Jahr angepeilt.<br />

Das Institut spielte durch, wie die Kosten<br />

der Krise verteilt werden könnten. Bei<br />

250 000 Euro Freibetrag pro Bürger könnten<br />

mit einer zehnprozentigen Vermögensabgabe<br />

230 Milliarden Euro eingetrieben<br />

werden. Ein Sprecher von Finanzminister<br />

Wolfgang Schäuble bezeichnete den Vorschlag<br />

als „interessant“ für manche südeuropäische<br />

Staaten. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident<br />

Reiner Haseloff (CDU) sah darin<br />

jedoch auch für Deutschland „eine Option,<br />

um zum Abbau der Verschuldung beizutragen“.<br />

Obwohl das DIW selbst sich mittlerweile<br />

von der Idee verabschiedet hat, findet sie<br />

immer mehr Beifall. Verdi-Chef Frank<br />

Bsirske etwa, der eine gestaffelte Abgabe<br />

vorschlug. Und Grünen-Fraktionschefin<br />

Katrin Göring-Eckhardt sagte, sie wolle<br />

„vermögende Privatpersonen beteiligen,<br />

mit 1,5 Prozent ihres Vermögens über zehn<br />

Jahre“.<br />

TEURER SCHULDENFONDS<br />

Wie kommen Zahlen wie diese zustande?<br />

Daniel Stelter, Ex-Berater der Boston Consulting<br />

Group, der den Thinktank Beyond<br />

Video<br />

Chefvolkswirt<br />

Malte Fischer<br />

erklärt, welche<br />

Folgen das<br />

„Geld aus dem<br />

Nichts“ hat<br />

the Obvious gegründet hat, hat<br />

nachgerechnet: Als gerade noch<br />

vertretbar haben Stelter und Kollegen<br />

eine Gesamtschuldenlast<br />

(Staaten, Kommunen, Firmen<br />

und Privatleute zusammen) von<br />

180 Prozent des BIPs ermittelt.<br />

Derzeit liegt sie in den Industrieländern<br />

im Schnitt bei mehr als<br />

340 Prozent des BIPs. Absolut liegt der<br />

Schuldenüberhang in den USA, Europa, Japan<br />

bei über 25 000 Milliarden Dollar. „Das<br />

einmalige Streichen des Schuldenüberhangs<br />

wäre die beste und sauberste Lösung“,<br />

meint Stelter, „sie ist aber politisch<br />

schwer durchsetzbar.“<br />

Machbar wäre es durchaus. Schulden<br />

sind zugleich Geldguthaben der Gläubiger.<br />

In Europa und den USA stehen dem Schuldenberg,<br />

immerhin, zwischen 75 000 und<br />

80 000 Milliarden Dollar an Finanzguthaben<br />

gegenüber. Etwa ein Drittel dieser<br />

Geldguthaben und damit der Schulden<br />

müsste man streichen, um auf einen tragbaren<br />

Schuldenstand zu kommen.<br />

Stelter plädiert aber nicht für einen einmaligen<br />

Schnitt, sondern für einen Fonds:<br />

Alle Schulden jenseits der langfristig tragbaren<br />

Gesamtschuldenlast von 180 Prozent<br />

des BIPs würden darin gebündelt.<br />

„Die Bank müsste allen Schuldnern, auch<br />

dem spanischen Häuslebauer, sofort 30<br />

Prozent seiner Schulden streichen und<br />

diese in der eigenen Bilanz abschreiben;<br />

gegenfinanziert würde dies der Bank aus<br />

dem Fonds“, erklärt Stelter. Refinanzieren<br />

würde sich der Fonds über von Staaten<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 35<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Der Volkswirt<br />

»<br />

gemeinschaftlich begebene Bonds.<br />

„Deren Zins läge unter dem, den Staaten<br />

und Private im Schnitt bezahlen müssten,<br />

wenn sich jeder für sich weiter am Kapitalmarkt<br />

verschuldete.“ Über 20 Jahre würde<br />

der Fonds getilgt, etwa über eine Vermögensteuer.<br />

Stelter hat errechnet, dass<br />

diese Steuer weniger als ein Prozent des<br />

Gesamtvermögens jedes EU-Bürgers pro<br />

Jahr ausmachen würde.<br />

Bedrohung 3:<br />

Mehr Steuern zahlen<br />

„Mit uns wird es keine Steuererhöhungen<br />

geben“, hatten die Spitzen von CDU und<br />

CSU im Chor während des Wahlkampfs intoniert.<br />

Und in der Tat finden sich in der<br />

Koalitionsvereinbarung keine solchen Pläne.<br />

Unterhändler Christian von Stetten hatte<br />

die Sozialdemokraten gleich zu Beginn<br />

gewarnt, der Gruppe mit derlei Vorschlägen<br />

die Zeit zu stehlen – das komme für die<br />

Union nicht infrage.<br />

TRÜGERISCHE RUHE<br />

Allerdings steht das laut vorgetragene Versprechen<br />

„keine Steuererhöhung“ nicht<br />

im Vertragstext. Dafür etliche milliardenschwere<br />

<strong>Ausgabe</strong>n, die sich – wenn überhaupt<br />

– nur finanzieren lassen, solange<br />

die Konjunktur stabil und die Steuereinnahmen<br />

hoch bleiben. Sonst steht die Koalition<br />

sofort wieder vor der Frage: Abgaben<br />

erhöhen oder Wohltaten streichen?<br />

Die Union beharrt erst mal auf ihrer Zusage,<br />

dass dann die <strong>Ausgabe</strong>n angepasst<br />

werden müssten. Für die Mütterrente gilt<br />

das freilich nicht, so der Fraktionsvorsitzende<br />

Volker Kauder. Ebenso wird auch die<br />

SPD zwingende Lieblingsprojekte haben.<br />

Dann stehen wieder Steuererhöhungen<br />

auf der Tagesordnung. So liegt eine rotgrüne<br />

Bundesratsinitiative zur Wiedereinführung<br />

der Vermögensteuer einstweilen<br />

auf Eis. Rund zehn Milliarden Euro Einnahmen<br />

hatte die SPD dafür kalkuliert.<br />

Die Abgeltungsteuer, mit der die Erträge<br />

von Geldanlagen aller Art erfasst werden,<br />

würde sie gern von 25 auf 32 Prozent erhöhen.<br />

Sollte das Geld nicht reichen, würde<br />

sie Zinsen und Dividenden wieder dem<br />

individuellen Steuersatz unterwerfen – für<br />

einkommenstarke Anleger noch teurer.<br />

Noch eine Ausnahme ist den Genossen<br />

ein Dorn im Auge: Bei vermieteten Immobilien<br />

sind Wertsteigerungen – anders als<br />

beispielsweise bei Aktien – steuerfrei, sofern<br />

Wohnung oder Haus länger als zehn<br />

Jahre dem Eigentümer gehörten.<br />

Böses Erwachen Währungsschnitte wie ’48<br />

in Deutschland treffen Sparer über Nacht<br />

Für alle Regelungen gilt: Wiedervorlage<br />

in der nächsten Krise.<br />

NUR GEGEN BÖSE SPEKULANTEN?<br />

Schon geeinigt haben sich die Großkoalitionäre<br />

auf eine Finanztransaktionsteuer.<br />

„Weit weg <strong>vom</strong> Bürger, trifft nur die bösen<br />

Spekulanten“, so die Denke. Im Koalitionsvertrag<br />

ist von einer „breiten Bemessungsgrundlage“<br />

die Rede. Klingt harmlos, bedeutet<br />

aber: Auch Altersvorsorgeanbieter<br />

wie Fonds und Lebensversicherungen<br />

müssen beim Wertpapierhandel zahlen.<br />

Laut EU-Kommission soll von jedem<br />

Kauf und Verkauf von Aktien und Anleihen<br />

jeweils 0,1 Prozent des gehandelten Wertes<br />

an den Fiskus gehen. Bei Aktien für 5000<br />

Euro sind das bei An- und Verkauf immerhin<br />

zehn Euro. Die Steuer zu umgehen<br />

Europas<br />

Schulden steigen<br />

um 100<br />

Millionen Euro<br />

pro Stunde<br />

wird schwierig. Wer seinen Wohnsitz in einem<br />

EU-Land hat, das die Steuer verlangt,<br />

muss sie auch zahlen. Der superschnelle<br />

Hochfrequenzhändler, dem sie das Geschäft<br />

vermiest, sitzt ohnehin in London<br />

oder der Schweiz, notfalls wird er umziehen.<br />

Ein Riester-Sparer wird das nicht tun.<br />

Und er zahlt nicht nur bei eigenen Aktiengeschäften.<br />

Altersvorsorgesparer werden sich später<br />

nur wundern, dass ihr Guthaben noch<br />

mickriger ausfällt. Die Fondsgesellschaft<br />

Union Investment berechnete für einen<br />

herkömmlichen Riester-Vertrag mit<br />

monatlich 100 Euro Beitrag nach 30<br />

Jahren ein Minus von 4100 Euro für den<br />

Anleger, allein wegen der Finanztransaktionsteuer.<br />

Bedrohung 4:<br />

Eingriff in die Vertragsfreiheit<br />

Ein Goldbesitzverbot wie in den USA zwischen<br />

1933 und 1974 hält Stefan Homburg<br />

auch in Europa für möglich. „So was hat es<br />

gegeben, und so etwas könnte auch wieder<br />

gemacht werden“, so der Professor am Institut<br />

für Öffentliche Finanzen an der Leibniz<br />

Universität Hannover. Die Bilanzen der<br />

Notenbanken sind geschwächt. Der Anteil<br />

der im Vergleich zu ausfallsicheren Goldbeständen<br />

nur mit schwachen oder fragwürdigen<br />

Sicherheiten unterlegten Vermögenspositionen<br />

in ihren Bilanzen hat in<br />

den Krisenjahren stark zugenommen.<br />

Theoretisch ließen sich die Bilanzen verbessern,<br />

wenn privater Goldbesitz in<br />

Staatsbesitz gelangte. Die Frage wäre dann<br />

nur: Würde für privates Gold ein fairer<br />

Marktpreis bezahlt – und passierte der<br />

Übergang freiwillig?<br />

GOLD VERBOTEN<br />

Das Beispiel USA zeigt, dass ein Besitzverbot<br />

für Gold eine knifflige Sache ist. Um<br />

den Dollar zu stützen und faktisch Spekulation<br />

mit Gold gegen ihn zu unterbinden,<br />

erließ US-Präsident Franklin D. Roosevelt<br />

1933 eine Verordnung, die das Horten von<br />

Gold unter Strafe stellte. Ausgenommen<br />

waren Goldmünzen und -zertifikate, deren<br />

Wert pro Person 100 Dollar nicht überstieg,<br />

sowie Sammlerstücke. US-Bürger<br />

hatten ihr Gold zum Festpreis von 20,67<br />

Dollar pro Unze bei der Notenbank abzugeben,<br />

anschließend wurde die Parität auf<br />

35 Dollar pro Unze fixiert. Für Anleger war<br />

der erzwungene Umtausch ein gewaltiges<br />

Verlustgeschäft. Das Verbot wurde erst am<br />

31. Dezember 1974, nach dem Zusam-<br />

»<br />

FOTO: AKG IMAGES/HILBICH; ILLUSTRATION: DMITRI BROIDO<br />

36 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Der Volkswirt<br />

»<br />

menbruch des Gold-Dollar-Standards<br />

von Bretton Woods, aufgehoben.<br />

Die Freigrenze von 100 Dollar, was etwa<br />

fünf Unzen Feingold (heute: 6000 Dollar)<br />

entsprach, war ein geschickter Schachzug,<br />

weil die Mehrheit der Bevölkerung nicht<br />

betroffen war. Entsprechend regte sich<br />

kaum Widerstand. Wer unter der Freigrenze<br />

lag, konnte an der späteren Aufwertung<br />

von Gold gar verdienen.<br />

Durchzusetzen ist das Verbot nur<br />

schwer. In den USA lag die Abgabequote<br />

während des dortigen Verbots geschätzt<br />

bei nur 30 Prozent. Im Moment gibt es<br />

hierzulande auch keine Debatte über ein<br />

Verbot. Mit ein paar Fallstricken sollten<br />

Goldbesitzer aber schon rechnen. Denkbar<br />

wäre eine von Brüssel aus betriebene<br />

Wiedereinführung einer europaweiten<br />

Mehrwertsteuer. Auch könnten Zugewinne<br />

mit Barren und Münzen, die nach<br />

über einem Jahr Haltefrist steuerfrei bleiben,<br />

künftig mit Abgeltungsteuer belegt<br />

werden.<br />

Die Koalition<br />

kippt die<br />

Merkel-<br />

Garantie<br />

weitgehend<br />

Lage, Lage und<br />

Nachfrage<br />

Anleger flüchten<br />

in Immobilien,<br />

Mieten ziehen an.<br />

Dumm nur: Hier<br />

kann der Staat<br />

leicht zugreifen<br />

IN STAATSANLEIHEN GETRIEBEN<br />

Auch eine Art von Zwangsmaßnahme: Versicherer<br />

und Banken und damit deren<br />

Kunden werden in Staatsanleihen getrieben.<br />

Europäische Versicherer sind eine fette<br />

Beute für die Politik – sie legen gigantische<br />

8,4 Billionen Euro an. Kapital, was Politiker<br />

gerne auf ihre Seite holen. Das geht<br />

einfach: Politiker drängen die größten Investoren<br />

– Banken und Versicherer – über<br />

Vorschriften zur Regulierung indirekt in<br />

Staatsanleihen. So wird es unter der geplanten<br />

Regulierung Solvency II für europäische<br />

Versicherer ab 2016 nötig, einen<br />

Risikopuffer (Eigenmittel) für neue Investments<br />

vorzuhalten.<br />

Die Idee dahinter ist auf den ersten Blick<br />

edel: Im Interesse der Kunden sollen Versicherer<br />

Mittel für mögliche Ausfälle vorhalten.<br />

Allerdings wird das für alle Investments<br />

außer Staatsanleihen so teuer, dass<br />

kaum ein Versicherer sie sich noch leisten<br />

wird. Aktien zu kaufen kostet etwa 39 Prozent<br />

extra. Wer eine Immobilie erwirbt,<br />

muss 25 Prozent extra für Wertverluste einplanen.<br />

Paradox: Bis heute ist kein Puffer<br />

für griechische Staatsanleihen vorgesehen<br />

– obwohl Investoren hier bereits einen Teil<br />

ihres Einsatzes abschreiben mussten.<br />

„Dass Staatsanleihen nicht besichert werden<br />

müssen, spiegelt nicht das Risiko wider,<br />

was Investoren angesichts hoch verschuldeter<br />

Staaten eingehen“, sagt der<br />

selbstständige Versicherungsanalyst Carsten<br />

Zielke. Der Zwang zu Staatsanleihen<br />

durch die Hintertür ist für Versicherte<br />

misslich. Kauft ihr Versicherer heute eine<br />

deutsche Staatsanleihe, die in zehn Jahren<br />

fällig wird, bekommt er nur 1,7 Prozent<br />

Rendite. Hohe Überschüsse können Sparer<br />

sich so abschminken.<br />

KEIN ENTKOMMEN<br />

Legale Wege, der finanziellen Repression<br />

und Zwangsmaßnahmen des Staates auszuweichen,<br />

gibt es für Normalbürger, die<br />

ihren Sitz nicht auf die Caymans verlegen<br />

können, nicht: Am Ende fangen Politik und<br />

Notenbanken alle Anleger ein. Besonders<br />

leicht zu greifen, weil – siehe Zypern –<br />

schnell und einfach erreichbar, sind Giro-,<br />

Tagesgeld- und Festgeldkonten. Staatsanleihen,<br />

auf deren permanenten Verkauf die<br />

verschuldeten Staaten angewiesen sind,<br />

könnten einen gewissen Schutz bieten. Die<br />

hochverzinslichen aber sind pleitegefährdet,<br />

und die sicheren bieten keinen Realzins.<br />

Das Gleiche gilt für Unternehmensanleihen.<br />

Bleiben neben Gold, das von den<br />

genannten Verboten bedroht sein könnte,<br />

noch Immobilien – und die von den Deutschen<br />

ungeliebten Aktien.<br />

WEICHES BETONGOLD<br />

Wer sein Erspartes wegen Angst vor Inflation<br />

und Repression in Immobilien anlegt,<br />

sollte sich nicht zu sicher fühlen. Denn<br />

der Staat ist erfinderisch, wenn es darum<br />

geht, Hausbesitzer zur Kasse zu bitten.<br />

Nach dem Ersten Weltkrieg und der anschließenden<br />

Hyperinflation führte<br />

Deutschland 1924 eine Hauszinssteuer<br />

ein, mit der Immobilienbesitzer an der<br />

Geldentwertung beteiligt werden sollten.<br />

Der Gedanke: Hypothekenschulden hatten<br />

teilweise komplett an Wert verloren,<br />

die damit finanzierten Grundstücke und<br />

Wohnungen jedoch nicht. Deren Besitzer<br />

wurden zum Ausgleich zur Kasse gebeten.<br />

Betongold schützt also nicht immer vor<br />

Inflation.<br />

Heute flüchten vor allem wohlhabende<br />

deutsche Anleger aus Angst vor kalter Enteignung<br />

in Immobilien. „Wir sehen mit<br />

zunehmendem Volumen tendenziell<br />

auch sehr hohe Immobilienanteile an den<br />

Gesamtvermögen“, sagt Tom Weber von<br />

der Capitell Vermögensverwaltung. In guten<br />

Lagen werden 25, in Ausnahmen bis<br />

zu 35 Nettojahreskaltmieten für Zinshäuser<br />

bezahlt. „So lässt sich nach Abzug aller<br />

Kosten und Steuern kaum noch eine Nettorendite<br />

von mehr als einem kümmerlichen<br />

Prozent erwirtschaften“, so Weber.<br />

»<br />

FOTO: VISUM/JÖRG AXEL FISCHER; ILLUSTRATION: DMITRI BROIDO<br />

38 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Der Volkswirt<br />

Die Einschläge kommen näher<br />

Mit welchen Maßnahmen Regier<br />

ihre Einführung ist, wie schmerz<br />

Niedrigzins<br />

Ben Bernanke, noch Chef der<br />

Fed, kauft US-Staatsanleihen<br />

und drückt die Zinsen weltweit<br />

Inflation zulassen<br />

Die USA enteigneten Gläubiger nach 1945<br />

schleichend; die Inflation lief, anders als in<br />

Deutschland 1923, nicht aus dem Ruder<br />

Negativzins<br />

Die EZB lässt den Leitzins<br />

vorerst bei 0,25 Prozent und<br />

diskutiert über –0,1 Prozent<br />

Vermögensabgabe<br />

Eine gab’s schon, den<br />

Lastenausgleich 1952<br />

unter Ludwig Erhard<br />

Instrument<br />

Niedrigzins<br />

Inflation<br />

zulassen<br />

Negativzins<br />

Vermögensabgabe<br />

(einmalig)<br />

Zwangsanleihe<br />

Neue Steuern<br />

Ausgestaltung<br />

Notenbank kauft<br />

direkt oder indirekt<br />

(über Banken,<br />

die günstig Geld<br />

bekommen)<br />

Staatsanleihen;<br />

Notenbank hält<br />

Leitzinsen unten<br />

Notenbanken<br />

schöpfen weiter<br />

Geld; Bürger<br />

verlieren Vertrauen;<br />

Umlaufgeschwindigkeit<br />

des Geldes steigt<br />

Notenbank setzt<br />

negativen Leitzins<br />

fest; Banken legen<br />

negative Zinsen<br />

auf die Guthaben<br />

von Sparern um<br />

oder verteuern<br />

Gebühren/Kredite<br />

Staat schneidet<br />

sich von allen<br />

Vermögenswerten<br />

einmalig<br />

ein Stück ab<br />

Staat zwingt<br />

Bürger, einen Teil<br />

ihres Vermögens<br />

in Staatsanleihen<br />

zu packen; wird<br />

(teilweise) zurückgezahlt<br />

Vermögensteuer,<br />

zum Beispiel<br />

ein Prozent auf<br />

steuerpflichtiges<br />

Vermögen<br />

(nach Abzug von<br />

Freibeträgen)<br />

Transaktionsteuer<br />

von 0,1 Prozent<br />

auf Aktien und<br />

Anleihen und 0,01<br />

Prozent auf<br />

Derivate; fällig für<br />

jedes Geschäft<br />

negativ<br />

betroffen<br />

wären/sind<br />

Konten, Anleihen,<br />

Lebensversicherung,<br />

Betriebsrenten,<br />

Versorgungswerke<br />

Bargeld, Konten,<br />

Anleihen, Lebensversicherung<br />

Konten<br />

Konten, Aktien, Anleihen, Immobilien<br />

Vermögen generell<br />

Aktien, Anleihen,<br />

Derivate; indirekt<br />

auch Fonds und<br />

Lebensversicherungen<br />

Eintrittswahrscheinlichkeit<br />

läuft bereits<br />

aktuell gering;<br />

langfristig wahrscheinlich<br />

ist bereits in der<br />

Diskussion<br />

wird diskutiert, aber starker<br />

Widerstand zu erwarten<br />

politische<br />

Forderung<br />

politisch herrscht<br />

Konsens<br />

wie<br />

gefährlich<br />

für das<br />

Vermögen?<br />

Inflation frisst<br />

Zinsen; Sparen<br />

lohnt sich kaum<br />

Hohe Inflation<br />

kann sämtliche<br />

Geldvermögen<br />

entwerten<br />

Erspartes leidet<br />

nominal durch<br />

Negativzinsen<br />

und real durch<br />

Inflation<br />

je reicher, desto<br />

härter<br />

hängt von<br />

Rückzahlung ab<br />

für Vermögende<br />

drückt auch<br />

Rendite von<br />

Fonds und<br />

Versicherungen<br />

Vorteil für<br />

Staaten<br />

niedrige Zinslast<br />

auf eigene<br />

Schulden<br />

Schulden werden<br />

nicht auf dem<br />

Papier, aber real<br />

drastisch<br />

verringert<br />

höheres<br />

Wachstum durch<br />

ausgeweitete<br />

Kreditvergabe<br />

erhofft<br />

kann Schulden<br />

sofort drastisch<br />

senken<br />

verschafft<br />

Spielraum bis<br />

zum Rückzahlungsdatum<br />

weitere<br />

Einnahmen<br />

weitere<br />

Einnahmen<br />

historische<br />

Vorbilder<br />

USA nach 1945<br />

Deutschland<br />

1923; Frankreich<br />

18. Jahrhundert;<br />

Zimbabwe 20<strong>09</strong><br />

Schweiz 1964,<br />

1970er;<br />

Schweden;<br />

Dänemark<br />

Deutschland<br />

1918/19, 1952<br />

Deutschland<br />

1914, 1922/23<br />

Deutschland,<br />

wurde 1997<br />

abgeschafft<br />

Deutschland<br />

1881–1991;<br />

Schweden<br />

1985–1992<br />

= unwahrscheinlich, = so gut wie sicher; = sehr niedrige Einbußen; = sehr hohe Einbußen<br />

40 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


ungen und Notenbanken Sparer attackieren könnten, wie wahrscheinlich<br />

haft sie wären und wie die hoch verschuldeten Staaten davon profitieren.<br />

Neue Steuern<br />

Transaktionsteuer<br />

trifft Sparer, nicht nur<br />

Spekulanten<br />

Abgeltungsteuer<br />

wird angehoben<br />

oder Spekulationsgewinne<br />

werden<br />

künftig nach individuellem<br />

Steuersatz<br />

versteuert<br />

Aktien, Anleihen,<br />

Derivate, Fonds<br />

SPD-Forderung;<br />

nicht im<br />

Koalitionsvertrag<br />

je nach Steuersatz;<br />

gerade Aktionäre<br />

wären getroffen<br />

Einnahmesteigerung;<br />

nur Minderheit<br />

der Wähler ist<br />

betroffen<br />

Steuererhöhung<br />

Grund- und Grunderwerbsteuer<br />

werden sukzessive<br />

angehoben<br />

Immobilien<br />

läuft<br />

Steuererhöhung<br />

SPD hat Forderung nach mehr Abgeltungsteuer<br />

nicht kassiert, auch wenn<br />

nichts dazu im Koalitionsvertrag steht<br />

Eigenheimnutzer schmerzt nur die<br />

Grundsteuer<br />

Einnahmesteigerung<br />

Spekulationsfrist<br />

wird gekippt<br />

Ausweitung Spekulationsfrist 1999<br />

Gold-Besitzverbot<br />

oberhalb einer<br />

festgelegten<br />

Höchstmenge<br />

Gold<br />

noch nicht<br />

diskutiert; Steuerverschlechterung<br />

ist möglich<br />

Enteignung gegen<br />

bescheidene<br />

Entschädigung<br />

Einnahmesteigerung;<br />

Basis für<br />

neues Währungssystem<br />

USA 1933–1974;<br />

China 1949–1983<br />

Verbote<br />

1933 stellte US-Präsident<br />

Franklin D. Roosevelt den<br />

Goldbesitz unter Strafe<br />

Verbote<br />

Verschärfung des<br />

Verbots von Mieterhöhungen;<br />

zum<br />

Beispiel in gefragten<br />

Gegenden<br />

bei bereits hoher<br />

Miete<br />

Immobilien<br />

(nur vermietete)<br />

im Koalitionsvertrag<br />

überraschend<br />

entschärft<br />

für Vermieter<br />

Zustimmung<br />

von der Mehrheit<br />

der Wähler<br />

in Deutschland<br />

seit 1974<br />

»<br />

Auffällig: Die beim Haus- oder Wohnungskauf<br />

anfallende Grunderwerbsteuer<br />

von 3,5 Prozent auf den Kaufpreis wird aktuell<br />

deutlich hochgeschraubt. So will die<br />

Schuldenmetropole Berlin ab Januar 2014<br />

sechs Prozent kassieren, in Bremen sollen<br />

fünf und in Schleswig-Holstein sogar 6,5<br />

Prozent fällig werden.<br />

Immobilienbesitzer sind leichte Beute,<br />

sie können nicht mit ihrem Vermögen ins<br />

Ausland flüchten. An die selbst genutzte<br />

Immobilie wird sich die Politik nicht so<br />

schnell heranwagen, meint Weber.<br />

Zwangsmaßnahmen gegen Vermieter aber<br />

treffen nur wenige. Der Widerstand dagegen<br />

dürfte eher schwach sein.<br />

AKTIEN IM VISIER<br />

Dass nur wenige getroffen werden, gilt<br />

auch für Maßnahmen gegen Aktionäre.<br />

Eine Besitzsteuer oder Abgabe eigens für<br />

Aktien gab es zwar noch nie, sagt Carsten<br />

Burhop. Doch der Professor für Wirtschafts-<br />

und Sozialgeschichte an der Universität<br />

Wien rät trotzdem davon ab, die<br />

Aktie als Bastion gegen den Staatszugriff<br />

zu sehen: „Aktienbesitz wurde bereits bei<br />

der Preußischen Vermögensteuer von<br />

1893 herangezogen“, sagt Burhop. Für den<br />

Staat ist es leicht, bei Aktien zuzuschlagen:<br />

Wo bei Immobilien oder Unternehmensbeteiligungen<br />

aufwendige Berechnungen<br />

nötig sind, um das Vermögen zu ermitteln,<br />

kann bei gehandelten Wertpapieren<br />

einfach der Kurs als Grundlage genommen<br />

werden.<br />

Bei der Währungsreform 1948 allerdings<br />

behielten Aktionäre ihre Papiere,<br />

verzeichneten zwar massive Kurseinbußen,<br />

im Wirtschaftswunder aber massive<br />

Gewinne. Dafür war vor allem Otto Ohlendorf<br />

verantwortlich, Vize-Staatssekretär<br />

im Reichswirtschaftsministerium. Eine<br />

„tief greifende Veränderung der Besitzund<br />

Eigentumsverhältnisse“ wollte er verhindern,<br />

schreibt das „Handelsblatt“. Mit<br />

Deutsche-Bank-Vorstand Herrmann Josef<br />

Abs, dem späteren Bundesbank-Präsidenten<br />

Karl Blessing und dem späteren Wirtschaftsminister<br />

Ludwig Erhard erarbeitete<br />

er ein Schuldenabbauprogramm, das Aktionäre<br />

schonte und im Zuge der Währungsreform<br />

1948 realisiert wurde.<br />

Auf eine Wiederholung der Geschichte<br />

sollten Anleger hier aber nicht setzen –<br />

ausnahmsweise.<br />

n<br />

frank doll, mark fehr, malte fischer, stefan hajek,<br />

henning krumrey, niklas hoyer, annina reimann,<br />

hauke reimer, anton riedl, heike schwerdtfeger,<br />

cornelius welp, florian zerfaß | geld @wiwo.de<br />

FOTOS: BLOOMBERG NEWS, GETTY IMAGES (2), INTERFOTO, KEYSTONE, DDP IMAGES, ACTION PRESS<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 41<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Der Volkswirt<br />

Todeswünsche<br />

zum Geburtstag<br />

USA | Vor 100 Jahren gründeten die USA eine Notenbank und<br />

monopolisierten die Geldversorgung. Kritiker sagen, heute<br />

gefährde sie das globale Finanzsystem, und fordern ihre Abschaffung.<br />

Welchen Kurs schlägt die neue Präsidentin Janet Yellen ein?<br />

Die Federal Reserve (Fed) in New<br />

York gleicht einer Festung. Schwer<br />

bewaffnete Polizisten des eigenen<br />

Sicherheitsapparates der amerikanischen<br />

Notenbank postieren vor 33 Liberty Street<br />

in Manhattan, gleich um die Ecke von Wall<br />

Street. Die Fenster des Gebäudes sind bis<br />

zum dritten Stock mit schwarzen Eisengittern<br />

verbarrikadiert. An den Ecken sind<br />

Überwachungskameras installiert. Besucher<br />

müssen ihre Taschen durchleuchten<br />

lassen, Ausweise zeigen, die Hosenbeine<br />

hochkrempeln.<br />

Wer glaubt, die Sicherheitsvorkehrungen<br />

sind deshalb so hoch, weil hier das viele<br />

Geld gedruckt wird, mit dem die Fed die<br />

US-Wirtschaft in Schwung bringen will, der<br />

liegt falsch. Die Druckerpressen stehen außerhalb<br />

von New York. Im Keller der Bank<br />

lagert viel Wertvolleres – die weltweit größten<br />

Goldreserven. Derzeit sind es 530 000<br />

Barren, die 60 Nationen gehören. Auch ein<br />

Teil des deutschen Goldschatzes befindet<br />

sich hier. Sicher verwahrt als eiserne Reserve,<br />

sollte irgendwann wieder eine globale<br />

Wirtschafts- und Finanzkatastrophe die<br />

Welt heimsuchen. „Wir haben hier eine<br />

ganz besondere Verantwortung“, sagt New<br />

York-Fed-Präsident William Dudley. Die<br />

New York Fed ist die mächtigste von allen<br />

zwölf regionalen Notenbanken im Federal-<br />

Reserve-System der USA. Sie wickelt das<br />

Wertpapiergeschäft der US-Notenbank ab<br />

und wacht auch über die Wall Street. Und<br />

sie gilt als Keimzelle des zentralisierten Notenbanksystems.<br />

Ihr erster Gouverneur<br />

Benjamin Strong nutzte erstmals die Instrumente<br />

der Geldpolitik, um die Konjunktur<br />

zu steuern.<br />

TAKTGEBER DER BÖRSE<br />

Ausgerechnet die Institution, der die Welt<br />

ihr Gold anvertraut, befeuert nach Ansicht<br />

ihrer Kritiker die nächste Krise. Noch nie<br />

seit der Gründung des Notenbanksystems<br />

am 23. Dezember vor 100 Jahren hat die<br />

Fed mit einer derart expansiven Geldpolitik<br />

in den Finanz- und Wirtschaftskreislauf<br />

eingegriffen wie seit der jüngsten Krise vor<br />

gut fünf Jahren. Den kurzfristigen Leitzins<br />

hält sie praktisch bei null. Um auch die<br />

langfristigen Zinsen niedrig zu halten, damit<br />

die Konjunktur endlich anspringt,<br />

pumpt sie monatlich 85 Milliarden Dollar<br />

für Staatsanleihen und Hypothekenpapiere<br />

in den Markt. Quantitative Lockerung<br />

nennt die Fed den Eingriff. Ihre Bilanz ist<br />

Gut bewacht Im Keller der New York Fed<br />

lagern die weltweit größten Goldschätze<br />

FOTOS: GETTY IMAGES/ANDREW BURTON, BLOOMBERG NEWS/ANDREW HARRER<br />

42 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


von 890 Milliarden Dollar Ende 2007 auf<br />

3,9 Billionen Dollar gestiegen.<br />

„Die Fed ist zur mächtigsten politischen<br />

Institution in den USA aufgestiegen. Sie<br />

diktiert die globalen Finanzmärkte – das ist<br />

beängstigend und gefährlich“, warnt der<br />

US-Ökonom John Allison (siehe Seite 46).<br />

Er stand 19 Jahre an der Spitze des US-Finanzinstituts<br />

BB&T und leitet seit 20<strong>12</strong> den<br />

liberalen Thinktank Cato Institute in Washington.<br />

Tatsächlich hat die Geldschwemme<br />

die Konjunktur bislang nicht beleben<br />

können. Unternehmen zögern zu investieren.<br />

Zu unsicher ist ihnen die geldpolitische<br />

und fiskalische Lage. Was passiert,<br />

wenn die Fed die Luft rauslässt?<br />

Seit 20<strong>09</strong> liegt das Wachstum in den USA<br />

im Durchschnitt bei mageren 1,2 Prozent.<br />

Zu wenig, um von einer nachhaltigen Erholung<br />

zu sprechen, zu wenig, als dass die<br />

USA als größte Volkswirtschaft der Welt Lokomotive<br />

für die globale Wirtschaft spielen<br />

könnte. Stattdessen bläst ihre expansive<br />

Geldpolitik eine Börsenblase auf. Seit Oktober<br />

2008 legte der Dow-Jones-Index von<br />

9955 Punkten um fast 50 Prozent zu. Dorthin<br />

strömt das Kapital, weil andere profitable<br />

Anlagemöglichkeiten fehlen.<br />

Die niedrigen Zinsen helfen dagegen der<br />

Regierung, ihr Defizit zu finanzieren. Für<br />

das Geld, das sich Amerika leiht, um seine<br />

Schulden von derzeit 16 Billionen Dollar<br />

bedienen zu können, zahlt es kaum Zinsen.<br />

Dank der Fed kann sich der Staat so<br />

viel leihen, wie er will, bis die Schuldengrenze<br />

erreicht ist, die der Kongress, wenn<br />

auch wie im Oktober erst in letzter Minute,<br />

immer wieder erhöht.<br />

Würde die Fed den Geldhahn zudrehen,<br />

käme dies nicht nur den Staat teuer zu stehen.<br />

Auch die Märkte könnten panisch reagieren.<br />

Allein die Andeutung des noch amtierenden<br />

Fed-Präsidenten Ben Bernanke,<br />

die Zentralbank könne ihre quantitative Lockerung<br />

zurückfahren, falls die Wirtschaft<br />

sich genügend erhole und die Arbeitslosenquote<br />

von derzeit mehr als sieben Prozent<br />

auf 6,5 Prozent falle, führte im Juni zu massiven<br />

Verlusten an den globalen Börsen. Der<br />

drohende Liquiditätsstopp löste Schockwellen<br />

bis hin in aufstrebende Schwellenländer<br />

wie Brasilien oder Indien aus. Investoren<br />

zogen nach der Ankündigung der Fed,<br />

weniger Geld auf den Markt werfen zu wollen,<br />

eilig ihr Kapital aus diesen Ländern ab.<br />

Was also tun? Bernanke muss sich darüber<br />

nicht mehr den Kopf zerbrechen. Seine<br />

derzeitige Vize-Chefin Janet Yellen übernimmt<br />

am 1. Februar 2014 die Führung der<br />

Notenbank. Die Top-Ökonomin ist dann<br />

die mächtigste Frau der Welt. Wird sie weitermachen<br />

wie bisher? Oder bringt sie die<br />

Einsicht auf, dass sich Sinn und Zweck des<br />

Federal Reserve Systems überholt haben,<br />

dass für die Zukunft etwas anderes an die<br />

Stelle der schier ungebremsten Geldschwemme<br />

rücken muss?<br />

Betrachtet man die Geschichte der Fed,<br />

ist die Hoffnung auf einen Wandel nicht<br />

groß. Seit ihrer Gründung war sie Reparaturbetrieb<br />

einer immer wieder aus den Fugen<br />

geratenden Finanzindustrie. Schon<br />

Anfang des vorigen Jahrhunderts hatten<br />

sich Banken zu hoch verschuldet, ein Institut<br />

nach dem anderen ging pleite.<br />

Um die Krise zu bändigen, hob damals<br />

der US-Kongress das Fed-System aus der<br />

Taufe. Im Krisenfall sollte die Fed die Banken<br />

mit genügend Geld versorgen. Aber<br />

Die Konjunktur<br />

hat die Geldschwemme<br />

der<br />

Fed nicht belebt<br />

schon bald missbrauchte die Fed ihre<br />

Macht. Um den Ersten Weltkrieg zu finanzieren,<br />

benötigte die US-Regierung dringend<br />

Geld. Benjamin Strong, erster Gouverneur<br />

der New York Fed, hob zeitweise die<br />

Koppelung des Dollar an den Goldstandard<br />

auf und brachte Kriegsanleihen unters Volk,<br />

mit denen er die Inflation gefährlich anheizte.<br />

In den Zwanzigerjahren dann alimentierte<br />

die Fed einen hauptsächlich durch Kredite<br />

finanzierten Konsumboom. An den Börsen<br />

stieg die Spekulation, bis die Blase am<br />

Schwarzen Freitag, dem 25. Oktober 1929,<br />

platzte. Was folgte, war eine weltweite Rezession<br />

ungeahnten Ausmaßes.<br />

Nur einmal hatte die Fed tatsächlich Erfolg:<br />

Anfang der Achtzigerjahre gelang es<br />

Notenbanker Paul Volcker, die Inflationsrate,<br />

die in den USA auf bis zu 13 Prozent im<br />

Jahresdurchschnitt 1980 emporgeschnellt<br />

war, zu stoppen. Ohne Rücksicht auf<br />

Wachstum und Arbeitsmarkt trieb er die<br />

Zinsen auf bis zu 17,5 Prozent in die Höhe.<br />

Die Rosskur wirkte. Innerhalb von drei Jahren<br />

fiel die Inflationsrate auf 3,5 Prozent,<br />

die Konjunktur erholte sich.<br />

TIEF EINGEFRESSEN<br />

Die folgenden Jahrzehnte waren geldpolitisch<br />

ein Desaster. Alan Greenspan, Volckers<br />

Nachfolger an der Fed-Spitze, wurde<br />

<strong>vom</strong> Platzen der Internet-Blase Anfang<br />

2000 überrascht und reagierte zu spät mit<br />

zu niedrigen Zinsen. An diesem Rezept<br />

hielt er auch nach den Terroranschlägen<br />

am 11. September 2001 und während des<br />

Irakkriegs fest. Damit aber bereitete Greenspan<br />

die nächste Krise vor – diesmal auf<br />

dem Immobilienmarkt. Die niedrigen Zinsen<br />

und eine politisch massiv erleichterte<br />

Kreditvergabe auch an Hauskäufer mit<br />

niedrigen Einkommen setzten einen Häuserboom<br />

in Gang. Die Immobilienpreise in<br />

den USA stiegen bis 2005 mit hohen zweistelligen<br />

Raten. Auch hier hatte die Fed die<br />

Gefahr zu spät erkannt. Noch 2006 rechnete<br />

Greenspans Nachfolger Bernanke nur<br />

mit einer moderaten Abschwächung des<br />

Häusermarktes. Dabei hatte sich die Krise<br />

zu dieser Zeit längst tief in das weltweite Finanzsystem<br />

gefressen.<br />

„Die Fed ist ein schwerfälliger, schlecht<br />

strukturierter Apparat, der Krisen nicht nur<br />

nicht rechtzeitig erkennt, sondern auch zu<br />

spät auf sie reagiert“, bilanziert der Ökonom<br />

George Selgin von der University of<br />

Georgia. Und weiter: „Die Fed ist nicht nur<br />

zu mächtig. Ihre Geldpolitik ist vor allem<br />

nicht berechenbar, und sie agiert nicht unabhängig<br />

von der Regierung, so wie sie es<br />

eigentlich sollte.“<br />

Nicht nur liberale Ökonomen, auch Politiker<br />

wie der einflussreiche Republikaner<br />

Ron Paul fordern die Abschaffung der monopolisierten<br />

Geldversorgung durch die<br />

Fed. Selbst Ökonomen, die davon überzeugt<br />

sind, ohne eine Zentralbank funktioniere<br />

keine moderne Wirtschaft, lassen<br />

kein gutes Haar an der US-Notenbank.<br />

„Das Problem der Fed ist, dass ihre Geldpolitik<br />

nicht konsequent ist“, sagt Eugene<br />

White, Ökonom und Wirtschaftshistoriker<br />

der Rutgers University in New Jersey. Zum<br />

einen habe die Fed Finanzinstitute wie<br />

Bear Stearns in der Finanzkrise vor dem<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 43<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Der Volkswirt<br />

»<br />

Untergang bewahrt. Die Investmentbank<br />

Lehman Brothers habe sie dagegen<br />

pleitegehen lassen, während sie den Versicherungskonzern<br />

AIG vor der Pleite gerettet<br />

habe, obwohl dieser nicht einmal ein<br />

Bankhaus sei. „Diese Aktionen verunsichern<br />

alle Marktteilnehmer. Was der Fed<br />

fehlt, sind klare Regeln und Grenzen der<br />

Geldpolitik“, sagt White.<br />

Einer der schärfsten Kritiker der US-Notenbank,<br />

der amerikanische Geldtheoretiker<br />

Allan Meltzer, sieht das Versagen aber<br />

auch in der Politik: „Washington ist nicht<br />

handlungsfähig, der Kongress streitet sich<br />

um alles. Da bleibt ja nur noch die Notenbank,<br />

die im Auftrag der US-Regierung<br />

Wirtschaftspolitik betreibt.“ Abschaffen ließe<br />

sich die Fed nicht, aber reformieren.<br />

Darüber ist sich Meltzer mit Ex-Zentralbanker<br />

Volcker einig: Die Fed müsse ihr<br />

duales Mandat aufgeben, um erfolgreicher<br />

die Finanzmärkte steuern zu können, und<br />

sich einzig und allein auf Preisstabilität<br />

konzentrieren. Seit Mitte der Siebzigerjahre<br />

verfolgt die Fed zwei Ziele mehr oder<br />

weniger gleichberechtigt: ein stabiles<br />

Preisniveau und einen hohen Beschäftigungsstand.<br />

Dahinter steht die Erwartung,<br />

die Fed müsse mit niedrigen Zinsen einspringen,<br />

wo die Politik versagt, und mit<br />

geldpolitischen Mitteln für steigende Beschäftigung<br />

sorgen. „Wir haben unrealistische<br />

und gefährliche Erwartungen an die<br />

Notenbank“, sagt Volcker.<br />

TAUBE OHREN<br />

Wird die neue Notenbank-Chefin auf den<br />

alten Zentralbankhasen Volcker hören? Es<br />

sieht nicht danach aus. Yellen gilt als Taube,<br />

was im Fed-Jargon bedeutet: Sie steht<br />

für eine lockere Geldpolitik, die vor allem<br />

auf die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt<br />

Rücksicht nimmt. Bei ihrem ersten öffentlichen<br />

Auftritt vor dem Senat im November<br />

betonte sie, die Wirtschaft müsse sich<br />

erst noch nachhaltig verbessern, bevor die<br />

expansive Geldpolitik verringert werden<br />

könne. Dazu müsse die Arbeitslosigkeit<br />

von derzeit 7,3 Prozent auf 6,5 Prozent<br />

sinken.<br />

Immerhin scheint Yellen nicht nur auf<br />

abstrakte ökonomische Modelle zu schauen.<br />

Sie war eine der wenigen Zentralbanker,<br />

die schon früh vor der jüngsten Immobilienblase<br />

gewarnt haben. „Dass Yellen<br />

nicht blind dem folgte, was die ökonomischen<br />

Modelle nicht rechtzeitig anzeigten,<br />

gibt zumindest Hoffnung für eine künftig<br />

bessere Geldpolitik“, sagt Kathy Bostjancic,<br />

Ökonomin beim Thinktank Conference<br />

Board in New York. Yellens zentrale Aufgabe<br />

sei, vor allem die Kommunikation mit<br />

den Märkten zu verbessern.<br />

Für New Yorks Fed-Präsident Dudley ist<br />

jetzt schon klar: „Geldpolitik wird auch zukünftig<br />

immer komplexer.“ Unkonventionelle<br />

geldpolitische Maßnahmen seien<br />

nun einmal notwendig, weil die bisherigen<br />

Mittel zur Stimulierung der Wirtschaft<br />

nicht ausreichten.<br />

Längst ist die Fed auf der Suche nach<br />

neuen Möglichkeiten, die Konjunktur anzukurbeln.<br />

So überlegt sie, den Zinssatz für<br />

Zentralbankgeld zu senken, das Banken<br />

kurzfristig bei der Notenbank parken. Derzeit<br />

erhalten die Institute dafür 0,25 Prozent.<br />

Wenn sie diese Zinsen senkt, so hofft<br />

die Fed, veranlasst dies die Banken dazu,<br />

mehr Kredite an Unternehmen und Konsumenten<br />

zu vergeben.<br />

Die Finanzinstitute reagierten prompt:<br />

Einlagen ihrer Kunden könnten sie dann<br />

kaum mehr kostenlos verwalten. Sie müssten<br />

ihrerseits Gebühren dafür erheben –<br />

will sagen, den Sparer für Guthaben auf<br />

dem Konto bestrafen. Neues Vertrauen in<br />

die Wirtschaft bringt das nicht.<br />

n<br />

angela.hennersdorf@wiwo.de | New York<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 46 »<br />

Generäle des Geldes<br />

Was frühere Fed-Chefs ausgezeichnet hat – und der künftigen -Chefin bevorsteht.<br />

1914 bis 1928<br />

Benjamin Strong<br />

Chef der New York Fed, kontrollierte<br />

erstmals die Inflation mittels<br />

Zinsen, steuerte die Geldmenge<br />

durch Kauf und Verkauf<br />

von Wertpapieren und sicherte<br />

die Geldversorgung. Mit Kriegsanleihen,<br />

„Liberty Bonds“, finanzierte<br />

er den Ersten Weltkrieg.<br />

1979 bis 1987<br />

Paul Volcker<br />

Gegen großen Protest trieb der<br />

Zuchtmeister der Märkte 1980<br />

die Zinsen auf bis zu 17,5 Prozent<br />

hoch. So bekämpfte er die<br />

auf bis zu 13 Prozent gestiegene<br />

Inflationsrate. Drei Jahre später<br />

stiegen die Preise nur noch um<br />

3,5 Prozent.<br />

1987 bis 2006<br />

Alan Greenspan<br />

Profilierte sich mit niedrigen<br />

Zinsen als Schutzheiliger der<br />

Märkte. Kurz nach seinem<br />

Amtsantritt kam es zum Börsencrash<br />

am 19. Oktober 1987 –<br />

die superexpansive Geldpolitik<br />

blieb und führte direkt in die Immobilien-<br />

und Finanzkrise.<br />

Ab Februar 2014<br />

Janet Yellen<br />

Die neue Fed-Chefin steht vor<br />

der heiklen Aufgabe, die lockere<br />

Geldpolitik ihres Vorgängers Ben<br />

Bernanke zu beenden, ohne<br />

Schocks an den Börsen auszulösen<br />

und die Konjunktur abzuwürgen.<br />

Eine harte Kehrtwende<br />

ist von ihr nicht zu erwarten.<br />

FOTOS: CORBIS/BETTMANN, LAIF/REDUX (3)<br />

44 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Der Volkswirt<br />

INTERVIEW John Allison<br />

»Die Fed muss weg«<br />

Der Chef des amerikanischen Cato Institute fordert die Abschaffung der<br />

US-Notenbank zugunsten eines freien Bankensystems.<br />

Mr. Allison, die Finanzmärkte fürchten<br />

einen baldigen Ausstieg der Fed aus<br />

dem Anleihekaufprogramm. Zu Recht?<br />

Nein, die designierte neue Fed-Chefin<br />

Janet Yellen wird noch einige Zeit genauso<br />

weitermachen wie ihr Vorgänger, Ben<br />

Bernanke.<br />

Yellen sagt, sie wolle das Entstehen<br />

neuer Preisblasen verhindern...<br />

Indem sie weiter künstliches Geld<br />

schafft? Die Fed kauft jeden Monat für 40<br />

Milliarden Dollar Hypothekenanleihen<br />

und schafft damit auf dem Immobilienmarkt<br />

erneut eine Blase. Die Technologiebörse<br />

Nasdaq hat vor knapp zwei Wochen<br />

zum ersten Mal seit 13 Jahren mehr<br />

als 4000 Punkte erreicht. Damals platzte<br />

die Dotcom-Blase. Jetzt schafft die Fed<br />

mit ihrer Geldpolitik neue Blasen, und<br />

sie behindert Unternehmen, statt sie zu<br />

unterstützen.<br />

Wie zum Beispiel?<br />

Sie hat für kleine und mittelständische<br />

Unternehmen, die wie in Deutschland<br />

auch in den USA die meisten neuen Jobs<br />

schaffen, die Bedingungen für die Kreditvergabe<br />

enorm verschärft. Damit verhindert<br />

die Fed die Entstehung vieler<br />

neuer kleiner Unternehmen und die<br />

Schaffung neuer Jobs.<br />

Hat die Fed ihren Zweck überlebt?<br />

Die Fed ist zur mächtigsten politischen<br />

Institution in den USA aufgestiegen. Sie<br />

diktiert die globalen Finanzmärkte – das<br />

ist beängstigend und gefährlich. Der<br />

Dollar ist doch nur deshalb relativ stabil,<br />

weil er eine internationale Reservewährung<br />

ist. Nur aus diesem Grund kann die<br />

Notenbank ungehindert Geld drucken<br />

und einen Schuldenberg anhäufen, der<br />

von keinem anderen Land akzeptiert<br />

werden würde. Die US-Geldpolitik hilft<br />

also vor allem dem amerikanischen<br />

Staat. Dank der niedrigen Zinsen kann<br />

sich Amerika, der größte weltweite<br />

Schuldner, günstig Geld leihen. Wären<br />

die Zinsen auf einem normalen Niveau<br />

von drei bis vier Prozent, sähe die fiskalische<br />

Lage der USA viel schlimmer aus.<br />

DER KRITIKER<br />

Allison, 65, ist seit 20<strong>12</strong> Präsident und CEO<br />

des renommierten amerikanischen Thinktanks<br />

Cato Institute in Washington. Davor<br />

war er 19 Jahre lang Chef eines der größten<br />

US-Finanzinstitute, der BB&T Corporation.<br />

Was wäre denn Ihre Alternative zum<br />

Zentralbanksystem?<br />

Vor 100 Jahren gab es kein Federal Reserve<br />

System in den USA. Die Bundesstaaten haben<br />

ihre Banken selbst reguliert. Das hat<br />

gut funktioniert.<br />

Bis zum großen Crash Anfang des<br />

19. Jahrhunderts. Um ähnliche Krisen<br />

zu verhindern, ist die Fed geschaffen<br />

worden.<br />

Sicherlich gab es damals Krisen, aber der<br />

Markt hat sie kurz und kräftig korrigiert.<br />

Diese Volatilität, die wir heute haben, gab<br />

es damals nicht. Die Fed ist 1913 gegründet<br />

worden, weil einige Wall-Street-Banken<br />

nach der Rettung durch den Staat<br />

riefen. Das war ein Fehler, weil die Banken<br />

mit der Fed im Rücken in aller Seelenruhe<br />

ihre hoch spekulativen Geschäfte betreiben<br />

können. Ein freies Bankensystem<br />

kann aber auch heute noch funktionieren.<br />

Wie denn?<br />

Finanzinstitute würden weniger risikoreiche<br />

Geschäfte betreiben, wenn sie<br />

nicht den Staat als Retter in der Hinterhand<br />

hätten, es keine Einlagensicherung<br />

gäbe und auch keine Bail-outs. Um das<br />

Risiko zu minimieren, müssten die Eigenkapitalforderungen<br />

erheblich höher<br />

liegen als heute, zwischen 15 und 20 Prozent.<br />

Dafür könnte man umfangreiche<br />

Regulierungen wieder abschaffen.<br />

Halten Sie das für realistisch?<br />

Es wäre das Beste, wenn wir die Fed abschaffen<br />

würden. Doch diese Institution<br />

ist zu tief in unserem politischen System<br />

verwurzelt. Bevor Alan Greenspan<br />

Chairman der Fed wurde, war er dafür,<br />

sie aufzulösen. Dann bekam er selbst<br />

den obersten Posten in Washington.<br />

Wie sollte die neue Fed-Chefin Yellen<br />

das System verbessern?<br />

Yellen muss der Fed eine neue Regel auferlegen,<br />

die Taylor-Regel zum Beispiel.<br />

Dies hätte den Vorteil, dass die Festlegung<br />

des Leitzinses für die Märkte nachvollziehbar<br />

wäre. Ich halte das duale<br />

Mandat der Notenbank, also für stabile<br />

Preise und für einen hohen Beschäftigungsgrad<br />

zu sorgen, für falsch. Die Fed<br />

sollte sich darauf konzentrieren, den Leitzins<br />

festzulegen. Sie sollte nicht so tun,<br />

als könne sie Finanz- oder Wirtschaftspolitik<br />

betreiben und den Arbeitsmarkt positiv<br />

beeinflussen. Die Notenbank muss<br />

ihre gefährliche Geldpolitik etappenweise<br />

beenden – so schnell wie möglich.<br />

Ein Börsen-Crash wäre die Folge.<br />

Die US-Zentralbank kann so viel Geld<br />

drucken, wie sie will – die Unternehmen<br />

haben kein Vertrauen, dass der Wert des<br />

Dollar verlässlich ist. Deshalb investieren<br />

sie nicht. Gelddrucken löst unsere<br />

wirtschaftlichen Probleme nicht.<br />

Inflation ist derzeit doch kein Problem.<br />

Das ist nicht die größte Sorge. Eine Inflation<br />

von zwei, drei Prozent würde Unternehmen<br />

nicht davon abhalten, Investitionen<br />

zu tätigen. Es sind die Folgen<br />

dieser fehlgeleiteten Geldpolitik, vor der<br />

sich Unternehmen fürchten. Zusätzlich<br />

schaffen immer mehr Regulierung für<br />

die Finanzindustrie und die Gesundheitsreform<br />

ein unternehmensfeindliches<br />

Klima in den USA. Viele Unternehmen<br />

profitieren doch derzeit von<br />

ihren steigenden Aktienkursen – warum<br />

sollten sie das Risiko eingehen und investieren?<br />

angela.hennersdorf@wiwo.de | New York<br />

FOTO: KELLY CULPEPPER<br />

46 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Der Volkswirt<br />

DENKFABRIK | Die Kritik an den deutschen Exportüberschüssen wächst, aber sie ist<br />

nicht gerechtfertigt. Diese Überschüsse sind das Spiegelbild der milliardenschweren<br />

Rettungsmaßnahmen für Krisenländer, zu denen Deutschland gedrängt wurde.<br />

Deutschland tilgt die Schulden Südeuropas mit seinen Autos. Von Hans-Werner Sinn<br />

Die Gesetze der Logik<br />

FOTOS: ROBERT BREMBECK FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, LAIF/MICHAEL LANGE<br />

Deutschland gerät wegen<br />

seiner Exportüberschüsse<br />

immer<br />

stärker unter Beschuss.<br />

Die EU-Kommission,<br />

die amerikanische Regierung<br />

und sogar mein geschätzter<br />

Kollege Paul Krugman kritisieren,<br />

dass Deutschland seine<br />

Konjunktur zu wenig ankurbelt<br />

und deshalb zu wenig Güter aus<br />

dem Ausland importiert. Auf die<br />

Kritik reagiert man in Deutschland<br />

verschnupft mit dem Argument,<br />

die Überschüsse seien<br />

das Ergebnis der Leistungsfähigkeit<br />

der deutschen Industrie<br />

und deswegen nicht verwerflich.<br />

Andere Länder sollten lieber<br />

von uns lernen, anstatt<br />

ständig herumzunörgeln.<br />

WINKELAKROBATIK<br />

Beide Positionen sind oberflächlich.<br />

Sie übersehen, dass die<br />

Überschüsse der vergangenen<br />

Jahre im Wesentlichen nur das<br />

Spiegelbild der Rettungskredite<br />

sind, zu denen Deutschland in<br />

der Krise gedrängt wurde. Ein<br />

Land kann dem Ausland per saldo<br />

nur dann Kredit geben, wenn<br />

es auch Güter liefert. Es ist finsterste<br />

Winkelakrobatik, wenn<br />

man Deutschland einerseits vorwirft,<br />

es sei bei den Rettungsaktionen<br />

zu knausrig, und ihm andererseits<br />

seine großen<br />

Exportüberschüsse anlastet.<br />

Auch die zitierte deutsche Gegenposition<br />

zeugt von einem tiefen<br />

Unverständnis der Zusammenhänge.<br />

Der Sachverhalt ist doch der:<br />

Als der Euro den Anlegern neue<br />

Sicherheit bei den Investitionen<br />

in Südeuropa vorgaukelte, verließen<br />

sie unser Land in Scharen.<br />

Deutschland erlahmte, weil<br />

es an inländischen Investitionen<br />

mangelte. Die boomenden Länder<br />

importierten mehr und exportierten<br />

weniger, weil sie immer teurer<br />

wurden. In Deutschland war es<br />

umgekehrt. Die Leistungsbilanzüberschüsse,<br />

die sich in Deutschlands<br />

Flaute aufbauten, waren das<br />

Ergebnis der Kapitalflucht.<br />

Als 2007/08 die Krise kam, wollte<br />

das Kapital reumütig zurück<br />

nach Deutschland. Doch wurde es<br />

großenteils durch die Rettungsaktionen<br />

der Europäischen Zentralbank<br />

und später der Staatengemeinschaft<br />

wieder als öffentliches<br />

oder öffentlich besichertes Kapital<br />

aus Deutschland in die Krisenlän-<br />

»Ein Land kann<br />

dem Ausland per<br />

saldo nur dann<br />

Kredit geben,<br />

wenn es auch<br />

Güter liefert«<br />

der verfrachtet. Das verzögerte die<br />

Reduktion der Leistungsbilanzsalden<br />

dieser Länder, verhinderte sie<br />

aber nicht, denn die neuen Kredite<br />

wurden nicht mehr nur dazu verwendet,<br />

Importe zu finanzieren,<br />

sondern auch dazu, ausländische<br />

Kapitalanleger auszuzahlen und<br />

ihnen die Flucht aus toxisch gewordenen<br />

Anlagen zu ermöglichen.<br />

Die Gläubiger Irlands, Italiens und<br />

Spaniens wurden auf diese Weise<br />

gerettet. Kein Wunder, dass die City<br />

of London wieder boomt und die<br />

US-Pensionsfonds ebenso wie die<br />

französischen Banken aufatmen.<br />

Dank deutscher Hilfe ist man noch<br />

mal davongekommen.<br />

men, der die Bodenhaftung verloren<br />

hat, der möge sich die Zahlen<br />

vor Augen führen. In den fünf ersten<br />

Krisenjahren von 2008 bis<br />

20<strong>12</strong> betrug der deutsche Leistungsbilanzüberschuss<br />

mit dem<br />

Rest der Welt 798 Milliarden Euro.<br />

Doch allein der Zuwachs an Krediten<br />

der Deutschen Bundesbank an<br />

andere Länder des Euro-Systems<br />

(Target) betrug 585 Milliarden Euro,<br />

also drei Viertel dieser Summe.<br />

Ferner hat Deutschland in der Periode<br />

anteilig für die fiskalischen<br />

Rettungskredite der verschiedenen<br />

Rettungsfonds (EFSF, ESM,<br />

EFSM, IWF) in Höhe von 284 Milliarden<br />

Euro gebürgt (was einem<br />

Die Gelder, die den Krisenländern<br />

als deutscher Kredit zuflossen,<br />

kamen für den Kauf deutscher<br />

Waren wieder zurück nach<br />

Deutschland. Letztlich wurden die<br />

Kredite, die Ausländer den Krisenländern<br />

gegeben hatten, mit deutschen<br />

Waren getilgt, wofür<br />

Deutschland entsprechende Forderungstitel<br />

öffentlicher Instanzen<br />

erhielt. Das zeigt die ganze Absurdität<br />

der Kritik an Deutschland. Wir<br />

hauen die Krisenländer und ihre<br />

Gläubiger mit unseren Waren heraus<br />

und werden dann auch noch<br />

dafür kritisiert.<br />

Wer glaubt, dies seien theoretische<br />

Hirngespinste eines Ökonodeutschen<br />

Haftungsrisiko von 60<br />

Milliarden Euro entspricht) sowie<br />

für 15 Milliarden Euro selbst Kredite<br />

nach Griechenland überwiesen.<br />

In der Summe kommt man<br />

ohne die Bundesbank auf etwa<br />

75 Milliarden Euro, mit ihr auf<br />

660 Milliarden Euro an deutschen<br />

Rettungskrediten.<br />

MEHR INVESTIEREN<br />

Zu normalen Zeiten hätte<br />

Deutschland dem Ausland den<br />

vollen Leistungsbilanzüberschuss<br />

von 798 Milliarden Euro<br />

privat kreditiert und entsprechende<br />

Vermögenstitel im Ausland<br />

erworben. Tatsächlich aber<br />

kreditierte es seinen Leistungsbilanzüberschuss<br />

in den fünf Krisenjahren<br />

zu 83 Prozent durch<br />

öffentliche Institutionen – während<br />

die privaten deutschen<br />

Kapitalanleger und ihre Banken<br />

entsprechende Wertpapiere öffentlicher<br />

Stellen erwarben, ihre<br />

von der Bundesbank bezogenen<br />

Kredite tilgten oder der Bundesbank<br />

selbst Geld liehen.<br />

Wem die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse<br />

als zu<br />

hoch vorkommen, der möge den<br />

Vorschlag unterbreiten, dass<br />

Deutschland die öffentlichen<br />

und öffentlich garantierten<br />

Kreditflüsse in die Krisenländer<br />

zugunsten verstärkter Investitionen<br />

in unsere Infrastruktur<br />

verringert. Über diesen Weg zur<br />

Verringerung der Leistungsbilanzüberschüsse<br />

kann man<br />

diskutieren. Nicht aber über den<br />

Versuch, die Gesetze der Logik<br />

zu durchbrechen.<br />

Hans-Werner Sinn ist Präsident<br />

des ifo Instituts und Ordinarius<br />

an der Ludwig-Maximilians-<br />

Universität in München.<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 47<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Jeder gegen jeden<br />

MANAGERHAFTUNG | Der insolvente Immobilienriese IVG<br />

will vier frühere Vorstände in Regress nehmen. Die Höhe<br />

der Forderungen könnte alle bisherigen Fälle von<br />

Managerhaftung übertreffen. Immer mehr Konzernlenker<br />

lassen ihre Vorgänger für Fehler zahlen – auch um sich<br />

selbst vor Schadensersatzansprüchen zu schützen.<br />

FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/EMPICS, ACTION PRESS/HANS-GÜNTHER OED<br />

Wolfhard Leichnitz wollte aus<br />

dem etwas verpennten ehemaligen<br />

Staatskonzern IVG<br />

eine ganz große Nummer<br />

im Immobiliengeschäft<br />

machen. Mitte 2006 kam der Manager nach<br />

erfolgreichen Stationen beim Baukonzern<br />

Hochtief und beim Großvermieter Viterra<br />

zu dem privatisierten Bundesunternehmen<br />

nach Bonn. Der Neue investierte mit viel<br />

Fremdkapital in Immobilienikonen wie<br />

den Londoner Büroturm Gherkin, kaufte<br />

der Allianz Gewerbeimmobilien für 1,3<br />

Milliarden Euro ab und steckte immer<br />

mehr Geld in das von seinem Vorgänger<br />

initiierte Airrail-Center am Frankfurter<br />

Flughafen, das heute Squaire heißt und<br />

größter Klotz am Bein der IVG ist. Statt geplanter<br />

650 Millionen Euro kostete Squaire<br />

fast das Doppelte und ist trotz intensiver<br />

Bemühungen noch nicht verkauft.<br />

TEURES NACHSPIEL<br />

Im Herbst 2008 erzwangen die damaligen<br />

Großaktionäre, das Kölner Bankhaus Sal.<br />

Oppenheim und die Schweizer Santo Holding,<br />

Leichnitz’ Abschied. In gut zwei Jahren<br />

hatte er die IVG-Schulden auf über 5<br />

Milliarden Euro verdoppelt und den Aktienkurs<br />

halbiert. In seine Amtszeit fällt der<br />

vermutlich entscheidende Niedergang der<br />

IVG, der im August dieses Jahres in den Insolvenzantrag<br />

mündete. Sie hat nun für<br />

Leichnitz und andere Ex-IVGler womöglich<br />

ein extrem teures Nachspiel.<br />

Denn nach Informationen der WirtschaftsWoche<br />

will der IVG-Vorstand – auf<br />

Anregung der Deutschen Schutzvereinigung<br />

für Wertpapierbesitz – eine Sonderprüfung<br />

aller IVG-Geschäfte von 2006 bis<br />

2008 initiieren. Die Zustimmung von IVG-<br />

Sachwalter Horst Piepenburg – er überwacht<br />

die Insolvenz in Eigenverwaltung –<br />

steht zwar noch aus. Angebote für die<br />

Durchführung der Prüfung hat die IVG<br />

nach WirtschaftsWoche-Informationen<br />

aber schon eingeholt, unter anderem beim<br />

Münchner Wirtschaftsprüfer Deloitte.<br />

Die Kleinen hängt man, die Großen lässt<br />

man laufen – das war einmal. Ein Tsunami<br />

von Schadensersatzforderungen wogt<br />

durch Deutschlands Chefetagen „Viele Manager<br />

sehen sich zunehmend in der Haftungsfalle<br />

und sind besorgt, was ihre eigene<br />

Haftungssituation und den Zugriff auf<br />

ihr Privatvermögen betrifft, den es früher<br />

so nicht gab“, beobachtet Headhunterin Sabine<br />

Hansen von der Personalberatung<br />

Amrop Delta in Düsseldorf.<br />

Vor den Gerichten sind derzeit rund<br />

6000 Managerhaftungsverfahren anhängig,<br />

schätzt Michael Hendricks, Geschäftsführer<br />

der auf Organ- und Managerhaftpflichtversicherungen<br />

(englisches Kürzel: D&O)<br />

spezialisierten Beratung Hendricks & Co in<br />

Düsseldorf. Hinzu kommen Fälle, die nicht<br />

vor Gericht landen, aber als Schadensfälle<br />

gemeldet sind. Bei durchschnittlich zwei<br />

bis drei Beklagten pro Fall bedeutet das:<br />

Rund 20000 Manager und Ex-Manager sind<br />

derzeit mit Schadensersatzforderungen<br />

konfrontiert, so Hendricks. Vier Fünftel der<br />

Ansprüche kommen <strong>vom</strong> Ex-Arbeitgeber,<br />

der Rest von außen, etwa von Gläubigern.<br />

Bei der IVG hat der Vorstand im Herbst<br />

zunächst durch die Kanzlei Hengeler<br />

Mueller nur den Kauf des Gherkin Towers<br />

prüfen lassen, den die IVG zusammen mit<br />

der britischen Investmentbank Evans Randall<br />

2007 für 950 Millionen Euro erwarb.<br />

»<br />

50 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Der Fall:<br />

IVG<br />

Von Ex-Vorstandschef Wolfhard Leichnitz<br />

und drei weiteren Vorständen aus dessen<br />

Ära fordert der insolvente Bonner Immobilienriese<br />

jetzt je 8,5 Millionen Euro plus<br />

Zinsen zurück. Die Manager sollen ohne<br />

ausreichende Rückendeckung des Aufsichtsrats<br />

beim Kauf des Londoner Büroturms<br />

Gherkin 2007 ein Darlehen in<br />

Höhe von 52 Millionen britische Pfund<br />

vergeben haben. Eine Sonderprüfung<br />

aller Geschäfte der Jahre 2006 bis 2008<br />

unter Leichnitz wird erwogen. Die Manager<br />

haben dazu gegenüber der WirtschaftsWoche<br />

nicht Stellung genommen.<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 51<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

Aufgrund von Fehlern, die Hengeler<br />

Mueller dabei feststellte, wurden Leichnitz<br />

und seine damaligen Vorstandskollegen<br />

Bernd Kottmann (Finanzen), Andreas<br />

Barth (Projektentwicklungen) und Georg<br />

Reul (Investment und Fonds) in diesen<br />

Tagen von Piepenburg mit Schadensersatzforderungen<br />

jeweils in Höhe von 8,5<br />

Millionen Euro plus Zinsen konfrontiert.<br />

Die Vorstände hätten dem Evans-Randall-Fonds<br />

ein Darlehen von 52 Millionen<br />

Pfund gewährt, das in dieser Höhe nicht<br />

<strong>vom</strong> Aufsichtsrat genehmigt war, haben die<br />

Hengeler-Mueller-Juristen herausgefunden.<br />

Sie halten wegen dieser „Pflichtverletzung<br />

der handelnden Vorstandsmitglieder“<br />

eine Klage durch den IVG-Aufsichtsrat<br />

„für aussichtsreich“ und „empfehlen<br />

Klageerhebung“. Die Manager haben gegenüber<br />

der WirtschaftsWoche zu den Vorwürfen<br />

nicht Stellung genommen.<br />

Es dürfte für die vier Herren aber noch<br />

dicker kommen. Derzeit wird bei der IVG<br />

diskutiert, ob das Gesamtverhalten des<br />

IVG-Managements unter Leichnitz „so<br />

schadensgeneigt“ war, dass man daraus eine<br />

allgemeine Schadensersatzpflicht ableiten<br />

könne. Bestätigt sich das, könnte die erwogene<br />

Sonderprüfung zu einem der<br />

größten Fälle von Managerhaftung in der<br />

deutschen Wirtschaft eskalieren.<br />

Korruptionsvorwürfe, Kartelldelikte,<br />

Fehlspekulationen – immer massiver werden<br />

Unternehmen für Compliance-Verstöße<br />

zur Kasse gebeten. Und immer mehr<br />

von den Bußen und Wiedergutmachungszahlungen<br />

holen sie sich von verantwortlichen<br />

Managern zurück.<br />

VERFOLGTE WÜRDENTRÄGER<br />

Versicherungsnehmer bei D&O-Policen ist<br />

das Unternehmen. Es schließt sie zum<br />

Schutz des Privatvermögens der Manager<br />

ab – als Vertrag zugunsten Dritter. Dass die<br />

Manager die Rechte aus der Police geltend<br />

machen, wenn ihr Arbeitgeber von ihnen<br />

Schadensersatz fordert, hilft aber auch der<br />

Firma: Sie bekommt Geld nicht nur im<br />

Rahmen des Privatvermögens ihrer Führungskräfte<br />

zurück, sondern bis zur Deckungssumme<br />

in oft zwei- oder dreistelliger<br />

Millionenhöhe.<br />

Genaue Zahlen gibt es nicht, denn<br />

D&O-Fälle werden dem Versicherungsverband<br />

nicht gemeldet. Unstrittig ist aber:<br />

Das Geschäft boomt. Zahlten deutsche Unternehmen<br />

laut Berater Hendricks von<br />

2001 bis 2005 insgesamt eine Milliarde Euro<br />

an D&O-Versicherungsprämien, erwartet<br />

er für 2011 bis 2015 schon 3,5 Milliarden<br />

Steigende Prämien<br />

Geschätzte Entwicklungvon Organ- und<br />

Managerhaftpflichtversicherungen<br />

(D&O-Versicherungen) in Deutschland<br />

1Mrd.€<br />

5Mio.€ 200 Mio.€<br />

1990–95 96–00 01–05 06–10 11–15<br />

Quelle: Hendricks &Co<br />

2Mrd.€<br />

3,5 Mrd. €<br />

Euro. Auszahlungen und Rückstellungen<br />

der Versicherer haben sich im selben Zeitraum<br />

auf vier Milliarden Euro verdoppelt.<br />

Die Forderungen machen vor keinem<br />

wirtschaftlichen Würdenträger mehr halt,<br />

seit Siemens infolge seines Mega-Korruptionsskandals<br />

Ex-Vorstandschef Heinrich<br />

von Pierer in Haftung nahm. Der Doyen<br />

der deutschen Wirtschaft einigte sich mit<br />

dem Siemens-Aufsichtsrat vor vier Jahren<br />

auf Zahlung von fünf Millionen Euro Schadensersatz<br />

an Siemens, Nachfolger Klaus<br />

Kleinfeld opferte zwei Millionen Euro.<br />

Der Fall:<br />

ARCANDOR<br />

Der Insolvenzverwalter der früheren<br />

Karstadt-Mutter Arcandor fordert von<br />

Ex-Chef Thomas Middelhoff 175 Millionen<br />

Euro, weil er mögliche Schäden<br />

aus Immobiliengeschäften nicht<br />

verhindert habe. Middelhoff wehrt<br />

sich und klagt gegen den Verwalter.<br />

Die geforderten Summen werden immer<br />

höher. So verlangt der Stahlriese Thyssen-<br />

Krupp von einem früheren Spartenvorstand<br />

wegen illegaler Preisabsprachen im<br />

Eisenbahngeschäft 103 Millionen Euro<br />

Schadensersatz. Beim früheren MAN-Chef<br />

Hakan Samuelsson geht es um 237 Millionen<br />

Euro und beim Ex-Chef der früheren<br />

Karstadt-Mutter Arcandor, Thomas Middelhoff,<br />

um 175 Millionen. Die fordert der<br />

Insolvenzverwalter von Middelhoff, weil<br />

dessen Vorvorgänger Wolfgang Urban<br />

einst beim Verkauf von Karstadt-Immobilien<br />

ungünstige Verträge abgeschlossen<br />

haben soll und Middelhoff nicht dagegen<br />

vorging. Dafür wiederum sei er selbst haftbar,<br />

was Middelhoff bestreitet.<br />

Dass Manager grundsätzlich schadensersatzpflichtig<br />

sein können, auch mit hohen<br />

Summen, stellte der Bundesgerichtshof<br />

schon 1997 im Arag-Fall klar. Bei dem<br />

Rechtsschutzversicherer hatte der Finanzvorstand<br />

mit unerlaubten Transaktionen<br />

Millionenverluste eingefahren. Zwei zerstrittene<br />

Familienstämme hinter der Arag<br />

fochten die Frage, ob der Mann verklagt<br />

werden sollte, bis in die letzte Instanz aus.<br />

Ergebnis: Aufsichtsräte müssen Schaden<br />

<strong>vom</strong> Unternehmen abwenden – auch<br />

durch Schadensersatzprozesse gegen eigene<br />

Manager. Der Arag-CFO wurde zu 55<br />

Millionen Mark Schadensersatz und viereinhalb<br />

Jahren Gefängnis verurteilt.<br />

Das Arag-Urteil war nur der Auftakt.<br />

Rechtsverschärfungen verbreiterten die<br />

Basis für Compliance-Streitsachen. 1999<br />

verbot das Strafrecht Bestechung, die bis<br />

dahin steuerlich abzugsfähig war. Es folgte<br />

der Corporate Governance Kodex, später<br />

verschärfte der Gesetzgeber das Aktienrecht.<br />

„Die erste größere Welle von Schadensfällen<br />

folgte auf den Zusammenbruch<br />

52 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


des Neuen Markts und seiner Stars“, erinnert<br />

sich D&O-Anwalt Oliver Sieg von der<br />

Kanzlei Noerr in Düsseldorf.<br />

Es folgte eine lange Reihe von aufgedeckten<br />

Kartellen. „Immer mehr heimliche<br />

Preisabsprachen kommen heraus, seit Unternehmen,<br />

die als Whistleblower voranpreschen,<br />

Rabatte bei den Millionenbußen<br />

oder sogar Straffreiheit bekommen können“,<br />

sagt Anwalt Oliver Maaß von der<br />

Kanzlei Heisse Kursawe in München. Die<br />

verhängten Bußgelder und die Schadensersatzzahlungen<br />

an die Kartellopfer holen<br />

sich die Unternehmen von den einst verantwortlichen<br />

Führungskräften zurück.<br />

Den nächsten großen Schwung von Managerhaftungsfällen<br />

bescherte die Finanzkrise.<br />

Der Gesetzgeber hat die Verjährungsfristen<br />

zur Verfolgung der Finanzbosse<br />

2011 auf zehn Jahre verdoppelt – dauern<br />

diese Fälle im Schnitt doch acht bis zehn<br />

Jahre. Die D&O-Anbieter HDI, VOV und<br />

Axa versichern wegen des hohen Risikos<br />

keine Finanzdienstleister mehr.<br />

FOTOS: ACTION PRESS/HENNING SCHACHT (2)<br />

JÄGER UND GEJAGTE<br />

Auch Insolvenzverwalter haben D&O-Policen<br />

für sich entdeckt: als Vermögenswert,<br />

den sie realisieren können. Eine Sonderprüfung<br />

bei der IVG wäre die erste im Rahmen<br />

eines Insolvenzverfahrens. „Viele Manager,<br />

die versuchen, Firmen zu sanieren,<br />

werden hinterher <strong>vom</strong> Insolvenzverwalter<br />

verfolgt“, klagte jüngst Ex-Arcandor-Grande<br />

Middelhoff.<br />

Gerne halten sich Insolvenzverwalter<br />

auch an den Aufsichtsrat – „insbesondere,<br />

wenn dort solvente Leute sitzen“, sagt der<br />

Düsseldorfer Insolvenzverwalter Dirk<br />

Andres. Er habe schon erlebt, „wie ein Aufsichtsrat<br />

100000 Euro aus der Privatschatulle<br />

zahlen musste“, weil er Zahlen des<br />

Wirtschaftsprüfers nicht hinterfragt hatte.<br />

Aufsichtsräte sind in Sachen Schadensersatz<br />

Jäger und Gejagte. Die juristische<br />

Schlachtordnung in vielen Unternehmen<br />

heißt heute jeder gegen jeden: Aufsichtsräte<br />

gegen Vorstand, Vorstand gegen Aufsichtsrat,<br />

Aufsichtsräte gegeneinander.<br />

So wie im Fall der Apobank in Düsseldorf.<br />

Die fordert 66 Millionen Euro von Ex-<br />

Vorständen: Mehrere Top-Manager hatten<br />

Finanzgeschäfte zugelassen, die zu<br />

Millionenschäden während der Subprime-<br />

Krise geführt hatten. Die verklagten Manager<br />

verweisen für den Fall, dass ihnen Fehler<br />

nachgewiesen werden, auf den Aufsichtsrat:<br />

Der habe alles gewusst. Kein<br />

Wunder, dass es inzwischen auch<br />

D&O-Policen für Aufsichtsräte gibt.<br />

Der Fall:<br />

HYPO REAL ESTATE<br />

Der mit Steuergeldern gerettete Immobilienfinanzierer<br />

HRE hat Ex-Chef<br />

Georg Funke und zwei weitere frühere<br />

Vorstände auf 220 Millionen Euro<br />

Schadensersatz wegen umstrittener<br />

Kreditvergaben verklagt. Die<br />

Manager bestreiten die Vorwürfe.<br />

„Auch immer mehr mittelständische<br />

Unternehmen verklagen ihre Führungskräfte“,<br />

beobachtet Versicherungsmakler<br />

Hendricks. So sollten die ehemaligen Geschäftsführer<br />

der deutschen Tochtergesellschaften<br />

eines italienischen Möbelherstellers<br />

jeweils 2,5 bis 15 Millionen Euro Schadensersatz<br />

zahlen – bei früheren Jahresgehältern<br />

von 100000 bis 200000 Euro.<br />

Der Grund: Von ihrer Konzernmutter<br />

hatten die Manager die Anweisung bekommen,<br />

eilig hohe Beträge nach Italien zu<br />

schicken, und das auch gemacht. Die<br />

Überweisungen hätten aber angesichts der<br />

Insolvenzgefahr zu dem Zeitpunkt wohl<br />

nicht mehr erfolgen dürfen. Nach vier Jahren<br />

Rechtsstreit einigte sich der Anwalt der<br />

Ex-Geschäftsführer mit Insolvenzverwalter,<br />

Banken und D&O-Versicherern. Die<br />

Manager kamen bei dem Millionenvergleich<br />

mit Selbstbeteiligungen zwischen<br />

5000 und 20000 Euro davon.<br />

Von den 300 bis 400 Millionen Euro, die<br />

D&O-Versicherer in Deutschland pro Jahr<br />

derzeit auszahlen, fließt ein großer Teil an<br />

die am Verfahren beteiligten Dienstleister.<br />

Experte Hendricks schätzt, „dass 50 bis 70<br />

Prozent der Auszahlungen der D&O-Versicherer<br />

in den vergangenen 15 Jahren nicht<br />

auf die Regulierung der Schäden selbst entfallen,<br />

sondern Abwehrkosten der Verteidigung<br />

der Manager für Anwälte, Wirtschaftsprüfer,<br />

Gutachter und Gerichte<br />

sind“. Die Stundenhonorare bei Compliance-Anwälten<br />

liegen für Partner zwischen<br />

320 und 400 Euro – je nach Disziplin. Kartellrechtler<br />

sind teurer als Arbeitsrechtler.<br />

Renommierte Compliance-Experten kassieren<br />

sogar 600 Euro pro Stunde.<br />

Am Fall Siemens etwa verdiente die Wirtschaftsprüfung<br />

Deloitte rund 235 Millionen<br />

Euro und der US-Anwaltsriese Debevoise<br />

& Plimpton mindestens 95 Millionen<br />

Euro. Insgesamt soll die Aufklärung der<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 53<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Der Fall:<br />

MAN<br />

237 Millionen Euro wollte der Lkw-<br />

Bauer infolge des Schmiergeldskandals<br />

von Ex-Chef Hakan Samuelsson.<br />

Ein Kompromiss sieht nun vor, dass<br />

der Schwede 1,25 Millionen Euro<br />

zahlen soll und die D&O-Versicherungen<br />

50 Millionen Euro übernehmen.<br />

Der Fall:<br />

BAYERNLB<br />

Ex-Chef Werner Schmidt<br />

und sieben weitere Manager<br />

sollen der BayernLB<br />

200 Millionen Euro wegen<br />

des Desasters beim Kauf der Hypo<br />

Group Alpe Adria zahlen. Sie weisen<br />

Vorwürfe und Forderungen zurück.<br />

Der Fall:<br />

SACHSEN LB<br />

Sachsen will für die irischen<br />

Verlustgeschäfte der<br />

Pleite-Bank von sechs Ex-<br />

Managern Schadensersatz.<br />

Der frühere Chef Herbert Süß soll<br />

190 Millionen Euro zahlen. Die Manager<br />

weisen die Forderungen zurück.<br />

Der Fall:<br />

ENBW<br />

Wegen dubioser Russland-<br />

Geschäfte fordert der<br />

Versorger von Technikvorstand<br />

Hans-Josef Zimmer<br />

80 Millionen Euro plus Zinsen. Der ist<br />

noch im Amt und will den Schadensersatzanspruch<br />

vor Gericht abwenden.<br />

Der Fall:<br />

APOBANK<br />

Ex-Chef Günter Preuß und<br />

vier weitere Manager sollen<br />

der Deutschen Apothekerund<br />

Ärztebank 66 Millionen<br />

Euro Verlust aus 2007 erfolgten<br />

Wertpapierkäufen ersetzen. Die<br />

Manager bestreiten Verfehlungen.<br />

»<br />

Korruptionsaffäre Siemens 474 Millionen<br />

Euro gekostet haben plus 239 Millionen<br />

Euro Strafen in Deutschland und 520<br />

Millionen Euro Steuernachzahlungen. 100<br />

Millionen erhielt Siemens von einem<br />

D&O-Konsortium unter Allianz-Führung<br />

als Schadensersatz zurück. Gefordert hatte<br />

der Konzern 250 Millionen Euro. Prozessual<br />

abgeschlossen ist die Affäre sieben Jahre<br />

nach ihrem Beginn aber noch nicht. Der<br />

frühere Finanzvorstand Heinz-Joachim<br />

Neubürger bestreitet die gegen ihn erhobenen<br />

Vorwürfe und prozessiert weiter mit<br />

Siemens. Neubürger ist eine Ausnahme.<br />

„90 Prozent der Managerhaftungsfälle enden<br />

mit einem Vergleich“, schätzt Heisse-<br />

Kursawe-Anwalt Maaß.<br />

Denn Gegenwehr ist schwierig. Einer der<br />

vier ehemaligen IVG-Manager, gegen den<br />

das Unternehmen nun vier Jahre nach seinem<br />

Abschied vorgeht, ist ratlos: „Ich habe<br />

keine Akten und bin komplett von den alten<br />

Informationen abgeschnitten.“ Auch<br />

ein Ex-Siemensianer klagt, er habe „nicht<br />

die Möglichkeit gehabt, sich zu verteidigen,<br />

weil man nicht an die Beweise herankommt,<br />

die einen entlasten“.<br />

Ein D&O-Fall „ist wie ein Berufsverbot“,<br />

sagt der Frankfurter Managerhaftungsanwalt<br />

Rolf Cyrus. Nur selten geht die Karriere<br />

auf hohem Niveau weiter: Ex-MAN-Lenker<br />

Samuelsson führt jetzt die Geschäfte<br />

von Volvo. Der frühere Siemens-Chef<br />

Kleinfeld ist Chef des US-Aluminiumriesen<br />

Alcoa. Den EnBW-Technikvorstand Hans-<br />

Josef Zimmer hat der Aufsichtsrat sogar<br />

trotz laufender 70-Millionen-Euro-Schadensersatzklage<br />

des Energieversorgers gegen<br />

ihn wieder ins Führungsgremium geholt.<br />

Und der streitbare Ex-Siemens-Vorstand<br />

Neubürger wurde im Mai 20<strong>12</strong> in den<br />

Aufsichtsrat der Deutschen Börse gewählt.<br />

Manche Manager schließen neuerdings<br />

zusätzlich eigene, persönliche D&O-Policen<br />

ab. Kostenpunkt: 5000 bis 30 000 Euro<br />

im Jahr. Die können gut investiert sein, etwa<br />

wenn die Deckungssumme nicht ausreicht.<br />

Schließlich steht die nur einmal im<br />

FOTOS: FOCUS/DIETER MAYR, CORBIS, PICTURE-ALLIANCE/DPA (3)<br />

54 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Jahr für sämtliche Manager eines Konzerns<br />

zur Verfügung und nicht für jeden Fall neu.<br />

Der Spielraum für die aktuell Verantwortlichen,<br />

Forderungen gegen Ex-Kollegen<br />

unter den Tisch fallen zu lassen, ist seit dem<br />

Arag-Urteil klein. Die Folge beschreibt einer<br />

der Beklagten in den Siemens-Verfahren:<br />

„Wenn immer mehr Manager vor dem<br />

Strafrichter landen, kann die Zusammenarbeit<br />

zwischen Vorstand und Aufsichtsrat<br />

nicht mehr vertrauensvoll sein.“<br />

Da Beklagte mit anderen Mitgliedern des<br />

Vorstands oder Aufsichtsrats gesamtschuldnerisch<br />

haften, fordern die Unternehmen<br />

meist von jedem Maximalsummen.<br />

Beim Vergleich zahlen die D&O-Versicherungen<br />

den Großteil des Schadensersatzes,<br />

fordern aber von den Sündern Selbstbehalte<br />

– umso mehr, je höher das Jahresgehalt<br />

ist. So schreiben es die Versicherer den<br />

Aktiengesellschaften in die Policen.<br />

Um Deckungssummen von 500 Millionen<br />

Euro und mehr zu garantieren, tun<br />

sich oft 20 bis 30 D&O-Versicherer zwecks<br />

Risikoteilung zusammen. Ausschlussklauseln<br />

in den Policen etwa für Kartell- oder<br />

Korruptionsvergehen sind nicht selten.<br />

Dann haftet der Vorstand mit seinem Privatvermögen,<br />

wenn im Unternehmen<br />

Schmiergeldzahlungen auffliegen.<br />

Für viele Top-Manager ist das Thema<br />

D&O eine Blackbox. Allenfalls „jeder zehnte<br />

kennt wenigstens den Namen des<br />

D&O-Versicherers“, wundert sich Eckhard<br />

Schmid, Chef-Arbeitsrechtler bei CMS Hasche<br />

Sigle in München. „Nur wirklich Aufgeweckte<br />

kennen den Inhalt der Policen<br />

oder haben Kopien von der aktuellen Vertragsversion.“<br />

Die Policen laufen nur ein<br />

Jahr, dann ändern sich die Bedingungen,<br />

oft kommen neue Ausschlüsse hinzu. Muss<br />

ein Manager von einer Minute auf die andere<br />

den Schreibtisch räumen, ist ihm der<br />

Zugang zu den Policen versperrt. Manche<br />

Unternehmen beginnen gar einen Rosenkrieg<br />

mit ihrem Ex-Manager und lassen<br />

sich auf Herausgabe des Versicherungsscheins<br />

verklagen.<br />

UNVERSICHERT BEI VORSATZ<br />

Schutzlos steht im Regen, wer den Schaden<br />

mit Absicht verursacht hat. Das wirft<br />

das Oberlandesgericht München der Deutschen<br />

Bank und ihrem Ex-Chef Rolf Breuer<br />

vor. Mit seiner Äußerung zur Kreditfähigkeit<br />

des Medienunternehmers Leo Kirch<br />

vor elf Jahren habe er Kirch vorsätzlich geschädigt.<br />

Die Höhe des Schadens – je nach<br />

Interessenlage <strong>12</strong>0 Millionen bis 1,5 Milliarden<br />

Euro – sollen nun Gutachter klären.<br />

„Bei dieser Konstellation braucht kein<br />

D&O-Versicherer einzuspringen“, sagt Experte<br />

Hendricks. Müsse die Deutsche Bank<br />

Regress an die Kirch-Erben leisten, könne<br />

Breuer „persönlich im schlimmsten Fall bis<br />

zur Pfändungsfreigrenze von 1030 Euro pro<br />

Monat“ zur Rechenschaft gezogen werden.<br />

Bei vielen der aktuellen Verfahren werden<br />

die Versicherer aber zahlen müssen.<br />

Sie bilden deshalb zurzeit Rückstellungen,<br />

die zusammen mit den Auszahlungen die<br />

jährlichen Prämieneinnahmen von rund<br />

700 Millionen Euro um „das Doppelte<br />

übersteigen“, schätzt Hendricks. Trotz<br />

Wachstum sei deshalb das D&O-Geschäft<br />

„in Deutschland für die Versicherer schon<br />

seit Jahren nicht profitabel“ – immer neue<br />

Wettbewerber drängten in den Markt und<br />

verdürben die Preise. Angesichts der weiter<br />

steigenden Schadenssummen erwartet<br />

Hendricks dennoch: „Die Zeit der günstigen<br />

D&O-Prämien ist bald vorbei.“ n<br />

harald.schumacher@wiwo.de, claudia.tödtmann@wiwo.de,<br />

henryk hielscher<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Katze statt Tiger<br />

DEUTSCHE BANK | Trotz der Rekordstrafe für die Manipulation<br />

von Referenzzinsen sitzt Co-Chef Anshu Jain fest im Sattel. Noch.<br />

Millionenteure Forderungen<br />

Bei der Deutschen Bank<br />

steht vor allem der Beritt<br />

von Co-Chef Jain unter<br />

verschärfter Beobachtung<br />

Esist ein Heimspiel. Trotzdem kommt<br />

Anshu Jain, seines Zeichens Co-Chef<br />

der Deutschen Bank, kaum aus der<br />

Deckung. Bei der Tagung des Weltbankenverbandes<br />

im Oktober in Washington sitzen<br />

im Publikum vor allem Banker. Die haben<br />

zu der Frage, wozu man noch Großbanken<br />

brauche, eine klare, wenn auch<br />

nicht ganz objektive Meinung. Jains Diskussionspartner<br />

Jamie Dimon, Chef der<br />

US-Bank JP Morgan, nutzt den Auftritt für<br />

Werbung in eigener Sache: „Wir sind stolz<br />

auf das, was wir für unsere Kunden und unser<br />

Land tun.“ Von Jain dagegen sind besinnliche<br />

Töne zu vernehmen: Es gebe keinen<br />

Zweifel, dass das Vertrauen zwischen<br />

Banken und Gesellschaft angeschlagen,<br />

wenn nicht gar zerbrochen sei, sagt er. Und<br />

dass es Jahre dauern werde, den verspielten<br />

Kredit wieder zurückzugewinnen.<br />

Da hat er zweifellos recht. Denn am vergangenen<br />

Mittwoch hat das Vertrauen mal<br />

wieder einen Rückschlag erlitten. Die<br />

Deutsche Bank muss mit 725 Millionen Euro<br />

die mit Abstand höchste Vergleichssumme<br />

im Kartellverfahren der EU wegen Manipulationen<br />

der Referenzzinsen Libor<br />

und Euribor zahlen.<br />

Damit gerät auch Jain wieder unter<br />

Druck. Die Frage, ob er als früherer Chef<br />

des Investmentbankings der Richtige ist,<br />

um gemeinsam mit Jürgen Fitschen das<br />

Großprojekt Kulturwandel voranzutreiben,<br />

ist auch eineinhalb Jahre nach seinem<br />

Amtsantritt nicht geklärt. Mit jeder Strafzahlung,<br />

jeder Verurteilung, jedem Verdacht,<br />

jeder Prüfung taucht sie wieder auf.<br />

Denn fast alle anrüchigen Deals haben<br />

ihren Ursprung in den Handelssälen der<br />

Investmentbank, an deren Spitze Jain über<br />

Jahre stand. Noch ist sein Rückhalt in der<br />

Bank groß. Doch weitere Rückschläge<br />

könnten ihn in ernste Bedrängnis bringen.<br />

Auch deshalb hält sich Jain vor allem in der<br />

deutschen Öffentlichkeit sehr zurück. Der<br />

indische Tiger tritt als Kätzchen auf.<br />

TEURE MELANGE<br />

Gut vier Milliarden Euro hat die Bank für<br />

Rechtsstreitigkeiten zurückgestellt – das<br />

13-Fache des Jahresüberschusses 20<strong>12</strong>.<br />

Dahinter verbirgt sich eine Melange aus<br />

Schadensersatz- und Bußgeldforderungen<br />

wegen möglicher Manipulationen von Referenzwerten,<br />

Geschäften mit US-Ramschhypotheken<br />

und der Mitschuld an der Pleite<br />

des verstorbenen Medienunternehmers<br />

Leo Kirch. Die Risiken belasten den Aktienkurs<br />

ebenso wie die Bemühungen um einen<br />

Neustart. Nach Bekanntwerden des<br />

FOTO: LAIF/REA/ERIC TSCHAEN<br />

56 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Vergleichs droschen Politiker aller Lager<br />

einmal mehr auf das Institut ein. Finanzminister<br />

Wolfgang Schäuble drohte, bei der<br />

Regulierung eine Schippe nachzulegen.<br />

Aufsichtsratschef Paul Achleitner überraschen<br />

weder der Aufschrei noch die Zahlung:<br />

„Das Problematische ist, dass es im<br />

Prozess zur Vergangenheitsbewältigung<br />

ständig Anlässe gibt, über ein und denselben<br />

Vorgang erneut zu berichten. Dadurch<br />

wird der Eindruck erweckt, Banker hätten<br />

immer noch nichts gelernt – haben sie<br />

aber“, sagte er der WirtschaftsWoche.<br />

Achleitner sieht die Bank unter der Führung<br />

des Duos Jain und Fitschen auf dem<br />

richtigen Weg, weiß aber, dass der dornig<br />

Teures Kartell<br />

Strafzahlungender Banken im EU-<br />

Verfahren (inMillionen Euro)<br />

Deutsche Bank<br />

Société Générale<br />

RoyalBank of Scotland<br />

JP Morgan<br />

Citi<br />

RP Martin<br />

Quelle:EU-Kommission<br />

0,2<br />

80<br />

70<br />

446<br />

391<br />

725<br />

walt Klaus Nieding. In den USA ist die<br />

Rechtslage anders, hier gibt es bereits größere<br />

Klagen. „Mein Telefon hat nach der<br />

EU-Entscheidung den ganzen Nachmittag<br />

geklingelt“, sagt auch Lianne Craig, Partnerin<br />

bei der Kanzlei Hausfeld in London.<br />

Klar ist seit Mittwoch, dass die Deutsche<br />

Bank nicht am Rande, sondern neben UBS,<br />

Barclays und Royal Bank of Scotland im<br />

Zentrum des Skandals steht. Bei den Instituten<br />

hatte es personelle Konsequenzen<br />

auch im Vorstand gegeben. Die Führung in<br />

Frankfurt ist stets bemüht, zu erklären, warum<br />

die Sache bei ihr anders liegt.<br />

Nachfolgediskussionen werden intern<br />

bisher kaum geführt. Gerade Co-Chef Fit-<br />

Lastenberg<br />

Rückstellungender DeutschenBank für<br />

Rechtsrisiken(in Milliarden Euro)*<br />

0,8<br />

2,4<br />

III IV<br />

20<strong>12</strong><br />

2,4<br />

*GesamtbestandimQuartal;<br />

Quelle:Unternehmensangaben<br />

I<br />

3,0<br />

II<br />

<strong>2013</strong><br />

4,1<br />

und von Rückschlägen begleitet ist: „Wir<br />

können die Vergangenheit nicht wegwünschen,<br />

sondern müssen die Konsequenzen<br />

tragen. Der Abbau von Altlasten kann genauso<br />

wie der Aufbau einer neuen Kultur<br />

nur Schritt für Schritt erfolgen.“<br />

In der Tat ist schon das Thema Libor bei<br />

Weitem nicht abgeschlossen. Aufsichtsbehörden<br />

in den USA, Großbritannien und<br />

Asien ermitteln weiter. Die britische Finanzaufsicht<br />

FCA dürfte Anfang 2014 Ergebnisse<br />

bekannt geben. Die dortigen Finanzwächter<br />

können ebenso wie ihre US-<br />

Kollegen hohe Strafzahlungen verhängen.<br />

Die deutsche BaFin kann das nicht, durchforstet<br />

die Deutsche Bank aber weiter nach<br />

Fehlern. In einem Zwischenbericht hatte<br />

sie organisatorische Mängel festgestellt.<br />

Unkalkulierbar sind Forderungen aus Zivilklagen<br />

wegen der möglichen Manipulation<br />

von Referenzzinsen. In Deutschland<br />

droht wohl keine Prozesswelle. „Für Klagen<br />

gibt es viele Hindernisse, es wird schon<br />

schwer, einen konkreten Schaden nachzuweisen“,<br />

sagt der Frankfurter Aktionärsanschen,<br />

gegen den wegen Falschaussage im<br />

Kirch-Prozess und Beihilfe zur Steuerhinterziehung<br />

ermittelt wird, gilt intern mehr<br />

als unglückliches Opfer staatsanwaltschaftlichen<br />

Geltungsdrangs denn als Täter.<br />

„Einen weiteren Rückschlag würde Jain<br />

nicht überstehen“, heißt es jedoch in der<br />

Bank. So überprüfen Aufseher weltweit<br />

jetzt die Ermittlung wichtiger Referenzwerte<br />

auf mögliche Manipulationen, darunter<br />

die Festlegung des Goldpreises (siehe Seite<br />

1<strong>12</strong>) und von Devisenkursen.<br />

„Bei allen Verfahren hat ein kleiner Personenkreis<br />

einen großen Einfluss auf einen<br />

riesigen Markt“, sagt ein Investmentbanker.<br />

„Und bei allen sind die Verfahren seit Jahrzehnten<br />

unverändert und haben mit der<br />

technischen Entwicklung nicht Schritt gehalten.“<br />

Zudem seien die für die Kursfestlegung<br />

verantwortlichen Händler oft über<br />

Jahre auf ihrer Position, was Absprachen<br />

erleichterte. „Es ist kaum vorstellbar, dass<br />

niemand die sich bietende Gelegenheit<br />

ausgenutzt hat“, sagt der frühere Kapitalmarktvorstand<br />

einer Großbank.<br />

III<br />

Die BaFin und internationale Behörden<br />

stellen jedenfalls alles auf den Prüfstand.<br />

Einen konkreten Verdacht gibt es laut Ba-<br />

Fin bisher nicht. So hat sie bisher keine<br />

Sonderprüfung bei Banken eingeleitet,<br />

sondern lediglich Auskünfte angefordert.<br />

Die Deutsche Bank ermittelt auch intern,<br />

befragt Mitarbeiter und überprüft E-Mails.<br />

ZU LAXE KONTROLLEN<br />

Um Tricksereien zu vermeiden, hat die Ba-<br />

Fin Ende Oktober ein Rundschreiben verschickt.<br />

Das listet Selbstverständlichkeiten<br />

auf, die offenbar nicht gegeben waren. So<br />

mahnt die Behörde zum Vier-Augen-Prinzip,<br />

zur Definition klarer Zuständigkeiten<br />

und zu geeigneten unabhängigen Kontrollprozessen.<br />

Dass es daran bei der Deutschen<br />

Bank fehlte, hat auch das Frankfurter<br />

Arbeitsgericht festgestellt: Vor dem hatten<br />

vier wegen der Libor-Affäre entlassene<br />

Händler deshalb mit Erfolg geklagt. Die<br />

Bank hat dagegen Berufung eingelegt.<br />

Intern hat Jain die Milliardenfehler vor<br />

allem als Folge zu laxer Kontrollen identifiziert.<br />

Eine Milliarde Euro will die Bank nun<br />

für die Verbesserung ihrer Systeme ausgeben.<br />

Sie hat ihren Händlern die Nutzung<br />

von Chats verboten. Mitarbeiter, die gegen<br />

Richtlinien verstoßen, werden in einer Datenbank<br />

gespeichert. Die Kontrollfunktionen<br />

werden aufgewertet. Die interne Revision<br />

etwa befand sich nach Angaben eines<br />

Insiders in einem beklagenswerten Zustand.<br />

Verstöße wurden oft nach einem<br />

Jahr noch nicht korrigiert, heute müssen<br />

sie nach drei Monaten abgestellt sein. „Da<br />

ist viel mehr Zug dahinter“, so der Insider.<br />

Mit aller Macht wollen Jain und Fitschen<br />

ihr Projekt durchdrücken: Bis 2017 soll die<br />

Bank sauber sein, sollen die Altlasten abgearbeitet<br />

und Mitarbeiter sowie Mechanik<br />

so weit adjustiert sein, dass es keine neuen<br />

Missetaten mehr gibt. Die Bank zieht sich<br />

zudem aus dem umstrittenen Handel mit<br />

Agrarprodukten und Energie zurück.<br />

Als Treiber des Prozesses gilt vor allem<br />

Fitschen. Die verstärkte Hinwendung zu<br />

Unternehmenskunden erscheint bei ihm<br />

glaubwürdig. Jain dagegen gilt als Stratege,<br />

der blitzschnell analysiert, wie sich veränderte<br />

Marktbedingungen auf die Bank auswirken.<br />

Und der darauf auch mit Totalumbauten<br />

reagiert, etwa im Investmentbanking<br />

und in der Vermögensverwaltung. Damit<br />

hat er einige Skeptiker in Frankfurt von<br />

sich überzeugt. Diese Aufgabenverteilung<br />

ist eine Folge von Neigung und Talent –<br />

und von Glaubwürdigkeit.<br />

n<br />

cornelius.welp@wiwo.de | Frankfurt<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 57<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Kollateralschäden inbegriffen<br />

AUTOINDUSTRIE | Der neue Herr über die französischen Traditionsmarken Peugeot und Citroën,<br />

Carlos Tavares, muss im Konzern mehr umbauen, als es die Eigentümerfamilie bisher wollte.<br />

Über Auszeichnungen reden Unternehmen<br />

sonst gern und öffentlich.<br />

Doch als ein verdienter Ex-Unternehmer<br />

der Region vor wenigen Tagen im<br />

Peugeot-Museum der ostfranzösischen<br />

Stadt Sochaux für seine Verdienste um die<br />

Autoindustrie zum Ritter der Ehrenlegion<br />

ernannt wurde, war das anders. Zuerst wurden<br />

die Medien ein- und dann wieder ausgeladen.<br />

So entschied es der Hausherr und<br />

Aufsichtsratsvorsitzende des französischen<br />

Autokonzerns PSA Peugeot Citroën, Thierry<br />

Peugeot. Dies sei eine private Feier, für<br />

Außenstehende uninteressant.<br />

Dabei hätte es für Außenstehende jede<br />

Menge zu erzählen gegeben. Immerhin<br />

hatte der höchste Vertreter der altehrwürdigen<br />

Autodynastie gerade bekannt gegeben,<br />

dass Carlos Tavares 2014 den bisherigen<br />

PSA-Chef Philippe Varin ablösen wird<br />

– obwohl dessen Vertrag erst im Frühjahr<br />

um vier Jahre verlängert worden war.<br />

Die Personalie und die Angst vor der<br />

Öffentlichkeit lassen tief in den Abgrund<br />

beim zweitgrößten europäischen Autobauer<br />

blicken. Tavares, bis August 20<strong>12</strong><br />

zweiter Mann nach Carlos Ghosn beim<br />

heimischen Konkurrenten Renault, soll<br />

PSA aus seiner tiefsten Krise ziehen.<br />

Kein Hersteller hat im zu Ende gehenden<br />

Jahr <strong>2013</strong> so viel an Absatz verloren wie die<br />

Arm abschneiden, um zu überleben<br />

Verschärft SAP-Chef Tavares den Sparkurs?<br />

älteste noch existierende Automarke der<br />

Welt. Nach einem Verlust von fünf Milliarden<br />

Euro 20<strong>12</strong> wird der Konzern auch <strong>2013</strong><br />

mit einem Minus beenden. Trotz drastischer<br />

Sparmaßnahmen und dem Abbau<br />

von mehr als 11 000 Arbeitsplätzen bis Mitte<br />

2014 verbrennt PSA pro Monat noch immer<br />

rund 100 Millionen Euro.<br />

Während Wettbewerber auf die anziehende<br />

Autokonjunktur in Europa hoffen,<br />

scheinen sich die dunklen Wolken über<br />

PSA festzusetzen. Die Allianz mit der amerikanischen<br />

Opel-Mutter General Motors<br />

(GM) <strong>vom</strong> Februar 20<strong>12</strong> bleibt hinter den<br />

Erwartungen zurück. Die geplante gemeinsame<br />

Plattform für einen Kleinwagen<br />

steht infrage. Dass der chinesische Autobauer<br />

Dongfeng und womöglich der französische<br />

Staat als Geldgeber einspringen,<br />

ist eine der Ungewissheiten, die zusätzlich<br />

Unruhe in den Konzern bringen.<br />

Kann Tavares bei dieser Ausgangslage<br />

PSA überhaupt noch retten? „Er wird die<br />

strukturellen Kosten mit denen von Renault<br />

vergleichen. Die sind niedriger“, sagt<br />

Johnny Favre, Vorsitzender der Auto-Sektion<br />

bei der gemäßigten Gewerkschaft<br />

CFDT. „Wir fürchten um Arbeitsplätze.“<br />

Die Sorgen scheinen begründet. „Tavares<br />

müsste einen weiteren Restrukturierungsplan<br />

präsentieren“, sagt Bertrand Rakoto,<br />

Analyst beim US-Marktforschungsunternehmen<br />

R.L. Polk. „Varin ging nicht weit genug,<br />

um die Kosten zu senken und die Effizienz<br />

zu stärken. Manchmal muss man sich<br />

den Arm abschneiden, um zu überleben.<br />

PSA ist genau in dieser Situation.“<br />

»<br />

PSA leidet am meisten<br />

16,3<br />

Pkw-Absatz<strong>2013</strong>inEuropa<br />

Veränderung (zum Vorjahr in Prozent)<br />

0,3 0,5<br />

1,5<br />

5,0<br />

10,6<br />

–10,3<br />

PSA 1<br />

–9,2<br />

–8,1<br />

Andere Fiat Volvo<br />

–6,6 –6,1 –5,7 –5,5 –5,2 –2,8 –2,6 –1,9 –1,6 –0,9<br />

Mitsubishi<br />

Suzuki GM 2 Ford VW 3 Nissan Toyota Hyundai Honda<br />

BMW,<br />

Mini<br />

Kia<br />

Jaguar,<br />

Renault 4 Daimler 5 Land<br />

Rover<br />

Mazda<br />

Verkäufe (gerundet, in Tausend)<br />

2588<br />

1138<br />

823 770<br />

633<br />

364<br />

73<br />

185<br />

63 <strong>12</strong>7<br />

1<br />

Peugeot, Citroën; 2 Opel, Vauxhall; 3 Audi, Seat, Skoda; 4 Renault, Dacia; 5 Mercedes,Smart;Quelle:ACEA<br />

457<br />

361<br />

<strong>12</strong>1<br />

668<br />

287<br />

907<br />

580<br />

116 <strong>12</strong>5<br />

FOTO: CORBIS/REUTERS<br />

58 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

Entscheidend wird sein, welche Rolle<br />

der chinesische Partner Dongfeng spielt –<br />

und ob sich der gebürtige Portugiese Tavares<br />

bei PSA durchsetzen kann. Denn ihm<br />

gegenüber steht auf der einen Seite der<br />

französische Staat, der auf einem sanfteren<br />

Kurs bestehen könnte. Seit die sozialistische<br />

Regierung vor einem Jahr eine Bürgschaft<br />

in Höhe von sieben Milliarden Euro<br />

für die PSA Bank übernommen hat, sitzen<br />

ein Vertreter des Staates und ein Repräsentant<br />

der Gewerkschaften im Aufsichtsrat.<br />

AUF PARTNERSUCHE<br />

Auf der anderen Seite wird Tavares den Widerstand<br />

der Eigentümerfamilie Peugeot<br />

überwinden müssen. Die hält derzeit 24,5<br />

Prozent der Aktien und 38,1 Prozent der<br />

Stimmrechte. Die Peugeots gelten als verbohrt<br />

und mitverantwortlich für die Misere<br />

des Unternehmens. Ihre Fehlentscheidungen<br />

reichen zurück in die Siebzigerjahre,<br />

als sie den Wettbewerber Citroën aus dem<br />

Besitz des französischen Reifenherstellers<br />

Michelin erwarben. Die Traditionsmarke<br />

mit dem Doppelwinkel hätte nach Ansicht<br />

von Experten das Potenzial gehabt, sich zu<br />

einer Art Audi des Konzerns zu entwickeln.<br />

Der Citroën DS aus den 60er Jahren gilt bis<br />

heute als Kultauto. Aber die Peugeots wollten<br />

nicht, dass der eigene Name hinter<br />

dem des einstigen Rivalen Citroën zurücksteht.<br />

Damit verabschiedeten sie sich praktisch<br />

aus dem Premiumsegment, das heute<br />

die deutschen Hersteller beherrschen.<br />

Als ebenso großer Fehler erweist sich,<br />

dass die Familie trotz der seit 20 Jahren bestehenden<br />

Partnerschaft mit dem chinesischen<br />

Autobauer Dongfeng nicht rechtzeitig<br />

eine Strategie für das boomende Reich<br />

der Mitte entwickelt hat. Nun hat PSA zu viel<br />

Mittelklasse und ist auf Europa fokussiert.<br />

Schön war die Zeit An die Erfolge der<br />

„Deesse“ in den 60er Jahren will Citroën mit<br />

der styligen DS-Linie anknüpfen<br />

Auch der andere französische Autobauer,<br />

Renault, steht nicht glänzend da,<br />

aber dank der Allianz mit dem japanischen<br />

Hersteller Nissan, der Billigmarke Dacia<br />

und nun auch noch einem Joint Venture<br />

mit Dongfeng deutlich besser. „Tavares<br />

wird vermutlich versuchen, den Erfolg von<br />

Dacia aufzuholen“, sagt Denis Gancel, Chef<br />

der Agentur W&Cie. „PSA hat sich bisher<br />

gescheut, von ‚low cost‘ zu sprechen. Das<br />

war falsch.“ Außerdem müssten Autos mit<br />

wenig Wertschöpfung an den günstigsten<br />

Produktionsstandorten <strong>vom</strong> Band laufen,<br />

auch außerhalb Frankreichs. Im Inland<br />

sollten nach deutschem Vorbild nur margenstarke<br />

Modelle produziert werden.<br />

Auch das ein Novum für die Peugeots, die<br />

made in France gern wörtlich nehmen.<br />

»Die enge Partnerschaft<br />

mit Dongfeng<br />

wäre die vielversprechendste«<br />

Mit seiner Modellpolitik war Varin bei<br />

PSA durchaus auf gutem Weg. Die DS-Linie<br />

soll Citroën zurück ins Premium bringen<br />

und kommt beim Publikum gut an.<br />

Der vor wenigen Wochen eingeführte neue<br />

Kompaktwagen Peugeot 308 und der neue<br />

2008, eine Mischung aus Klein- und Geländewagen,<br />

verkaufen sich ebenfalls gut. Der<br />

neue Citroën C4 Picasso hat gerade das<br />

Goldene Lenkrad <strong>2013</strong> gewonnen.<br />

Die Frage ist nun aber, wem sich PSA<br />

künftig wie weit öffnet. Laut Christian Peugeot,<br />

im Konzern Direktor für Außenbeziehungen,<br />

wird die Suche nach neuen Partnern<br />

nicht von Forderungen der Eignerfamilie<br />

belastet. „Es geht nicht um die Kontrolle,<br />

sondern um die Zukunft von PSA“,<br />

sagte er der WirtschaftsWoche.<br />

Da ist zum einen die Kooperation mit<br />

Dongfeng, die nun durch das Joint Venture<br />

zwischen den Chinesen und Renault in<br />

Frage gestellt ist. Das Staatsunternehmen<br />

hat zwar auch Joint Ventures mit Nissan,<br />

Honda und KIA. Zudem wurde im Juli die<br />

dritte gemeinsame Fabrik mit PSA eröffnet.<br />

Die Produktion soll hier bis 2015 auf<br />

750 000 Fahrzeuge hochfahren. Doch die<br />

Allianz birgt jede Menge Zündstoff. „Immer<br />

wieder gab es Streit, da PSA veraltete<br />

Modelle in China herstellen ließ“, sagt Jochen<br />

Siebert von der Unternehmensberatung<br />

JSC in Shanghai.<br />

BEDROHTE ARBEITSPLÄTZE<br />

Gleichwohl wissen die Chinesen, dass sie<br />

die Einzigen sind, die bei PSA Gewinn machen:<br />

umgerechnet rund 200 Millionen<br />

Euro in diesem Jahr. Autoexperte Siebert<br />

hält es deshalb für plausibel, dass Dongfeng<br />

mit zehn Prozent bei PSA einsteigt.<br />

„Dank des wachsenden asiatischen Marktes<br />

ist eine enge Partnerschaft mit Dongfeng<br />

die vielversprechendste“, sagt auch<br />

W&Cie-Chef Gancel.<br />

Andererseits ist GM mit sieben Prozent<br />

an PSA beteiligt. R.L.-Polk-Analyst Rakoto<br />

glaubt, dass der geschasste PSA-Chef Varin<br />

Gespräche mit Dongfeng nur führte, um<br />

GM zu bewegen, seinen Anteil an PSA aufrecht<br />

zu halten. Dank der Stärke von Opel<br />

bei Benzinmotoren und der PSA-Vorherrschaft<br />

bei Dieselmotoren würde eine engere<br />

Partnerschaft Synergien ermöglichen.<br />

Allerdings hätte ein stärkeres Engagement<br />

von GM auch „Kollateralschäden“ zur<br />

Folge, glaubt Rakoto, sowohl bei PSA als<br />

auch bei der GM-Tochter Opel. „Mit Sicherheit<br />

würden Arbeitsplätze abgebaut.“ n<br />

karin.finkenzeller@wiwo.de | Paris,<br />

philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />

FOTOS: JOKER/MARKUS GLOGLER, CORBIS/REUTERS<br />

60 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Trojanischer Trick<br />

TOBIT SOFTWARE | Ein IT-Haus im Münsterland verwandelt Facebook-Fanseiten<br />

kostenlos in Apps für Smartphones. Eine neue Ära<br />

für Kleinunternehmen und Selbstständige im mobilen Internet?<br />

Tobias Groten ist der Typ Gründer,<br />

dem es schnell langweilig wird. Eigentlich<br />

verdient er sein Geld mit<br />

Kommunikationssoftware für Unternehmen.<br />

Das Geschäft läuft seit 27 Jahren, und<br />

es läuft offenbar gut, bedeutet der Chef von<br />

Tobit, einem IT-Haus mit 250 Beschäftigten<br />

in Ahaus an der niederländischen Grenze.<br />

Doch offenkundig reicht das dem<br />

47-jährigen Münsterländer nicht. Erst baute<br />

er auf dem Firmengelände am Ortseingang<br />

von Ahaus den Prototypen eines vernetzten<br />

Hauses, um dort die neuesten<br />

High-Tech-Ideen auszuprobieren. Dann<br />

ließ er einen Miniflughafentower samt<br />

Hangar errichten, um darin einen Flugsimulator<br />

zu installieren. Noch heute erinnert<br />

daran der Hubschrauber auf dem<br />

Dach des Gebäudes, in dem Groten inzwischen<br />

eine Bar mit Beach Club für die<br />

Landjugend betreibt.<br />

Waren solche Projekte bisher eher Spielereien,<br />

hat Groten nun viel Größeres vor,<br />

das die Welt auch außerhalb der<br />

40000-Einwohner-Gemeinde im Westmünsterland<br />

verändern soll. Der Mittelständler<br />

plant den Einstieg ins Geschäft<br />

mit Apps und will nicht weniger als jedem<br />

Otto-Normal-Smartphone-Besitzer zu einer<br />

eigenen App verhelfen.<br />

„Bisher kostet eine App den Auftraggeber<br />

einen fünfstelligen Betrag“, sagt Groten.<br />

Denn jede App ist eine eigens konzipierte<br />

Software, die aufwendig von IT-Spezialisten<br />

programmiert werden muss. Das können<br />

sich viele kleine Unternehmen oder<br />

Gewerbetreibende nicht leisten, weswegen<br />

sich viele mit einer Seite auf Facebook zufriedengeben,<br />

um Kontakt zu Kunden und<br />

Geschäftspartnern zu halten.<br />

Der Appetitmacher<br />

Tobit-Chef Groten will<br />

100 000 Apps in zwei<br />

Jahren schaffen<br />

SO WICHTIG WIE EINE HOMEPAGE<br />

Um dies zu ändern, hat Groten eine Software<br />

namens Chayns entwickelt, die allen<br />

Finanzschwachen in der Social-Media-<br />

Welt zunächst kostenlos zur eigenen App<br />

verhelfen soll. „Im aufziehenden mobilen<br />

Zeitalter ist eine App irgendwann genauso<br />

wichtig wie heute eine Unternehmens-<br />

Homepage“, wirbt Groten für seine Idee.<br />

Die neue Software des Münsterländers<br />

macht die individuelle App-Programmierung<br />

überflüssig. Stattdessen verwandelt<br />

Chayns mit wenigen Mausklicks eine Facebook-Fanseite<br />

in eine Smartphone-App –<br />

und zwar für alle vier großen Mobilplattformen<br />

Apple, Android, Windows Phone sowie<br />

Blackberry gleichzeitig. Dadurch erscheint<br />

jedes Posting auf der Facebook-<br />

Fanseite eines Unternehmens oder eines<br />

Selbstständigen automatisch auch auf der<br />

App – ob Fotos, Videos oder Web-Links.<br />

Dank Chayns kann fortan jedermann<br />

mit einer Fanseite – ob Friseur, Restaurantbesitzer,<br />

Arzt oder Sportverein – seine eigene<br />

App bauen. Er muss dazu nur Chayns<br />

über die Tobit-Homepage aufrufen, ein Logo<br />

sowie einen möglichst kurzen Namen<br />

für die App auswählen – alles Weitere inklusive<br />

der Anmeldung der Apps in den<br />

vier Stores übernimmt die Software.<br />

Der Vorteil für die neuen App-Besitzer<br />

liegt im ersten Schritt darin, dass sie auf<br />

diese Weise einen direkten Draht zu ihren<br />

Kunden, Patienten, Mandanten oder Mitgliedern<br />

aufbauen können, ohne dass<br />

»<br />

FOTO: DOMINIK ASBACH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

62 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

Cooles Design Cafeteria für 250 Tobit-Mitarbeiter im münsterländischen Ahaus<br />

diese dazu über Facebook gehen müssen.<br />

Die App direkt auf dem Display erspart<br />

den Nutzern unnötiges Suchen, Antippen<br />

und Scrollen – gemäß dem Motto: Wisch<br />

und schon da. „Der Ansatz von Tobit, mittels<br />

Facebook eine App zu bauen, klingt<br />

vielversprechend“, sagt Nicole Dufft, Senior-<br />

Analystin mit Fokus auf das Mobilgeschäft<br />

beim Marktbeobachter PAC in Berlin.<br />

Geld verdienen will Groten weniger mit<br />

Chayns, sondern vielmehr mit Zusatzfunktionen<br />

in der App, die Tobit in einem eigenen<br />

Online-Store anbietet. So kann beispielsweise<br />

ein Restaurantbetreiber seine<br />

App mit wenigen Klicks um ein mobiles<br />

Tisch-Reservierungs-Modul erweitern<br />

oder ein Kino den Ticketverkauf per App<br />

anbieten. Für solche Erweiterungen verlangt<br />

Tobit bis zu 8,50 Euro im Monat.<br />

Groten gibt sich kämpferisch. „Unser<br />

Ziel ist, dass innerhalb von 24 Monaten<br />

100 000 Firmen und Vereine mithilfe von<br />

Chayns eine eigene App auf den Markt<br />

bringen“, sagt Groten. Geht seine Rechnung<br />

auf, würde Tobit so zum größten<br />

App-Hersteller der Welt aufsteigen.<br />

Groten schweigt zu seinen Geschäftszahlen.<br />

Den Hauptumsatz macht Tobit mit<br />

David, einem Softwarepaket für die integrierte<br />

Telefon-, E-Mail-, Fax- und SMS-<br />

Kommunikation in Unternehmen. Laut<br />

Bundesanzeiger setzte Tobit 2011 knapp 16<br />

Millionen Euro um und erzielte einen Nettogewinn<br />

von fast zwei Millionen Euro.<br />

Der Endvierziger scheint zu spüren, dass<br />

Chayns sein größter Coup werden könnte.<br />

Sein Büro im Tobit-Hauptgebäude direkt<br />

gegenüber dem firmeneigenen Club ist<br />

seine Steuerzentrale. Die äußere Glas- und<br />

Aluminiumverkleidung gibt dem Unterfangen<br />

die passende futuristische Fassade.<br />

An der Wand in Grotens Büro hängt ein riesiger<br />

Flachmonitor mit 2,5 Meter Diagonale.<br />

Dort laufen auf einer Deutschland-Karte<br />

die neuesten Zahlen für seine Apps auf.<br />

Und es sind Superlativen. Ende November,<br />

nur gut acht Wochen nach dem Start<br />

Millionenmarkt Smartphone-Apps<br />

Anzahl der verfügbaren Apps in den<br />

vier größtenStores*<br />

1000000 1000000<br />

190000<br />

<strong>12</strong>0000<br />

AppStore Google Play Windows<br />

Phone Store Blackberry<br />

World<br />

*Stand:Oktober <strong>2013</strong>,jeweilsletzteverfügbare<br />

Zahl;Quelle:Statista, Unternehmensangaben<br />

gantische Größenordnungen vorstoßen zu<br />

können. Allein in Deutschland gibt es aktuell<br />

rund 750000 Facebook-Fanseiten, rechnet<br />

er vor. Die großen Marken wie VW oder<br />

Adidas, die bereits eine eigene App haben,<br />

seien jedoch in der Minderheit. Der ganz<br />

große Rest stehe weiterhin ohne da.<br />

Den großen Run auf Chayns verspricht<br />

sich Groten von einer besonderen Fähigkeit<br />

seiner Umwandlungssoftware. Bisherige,<br />

individuell programmierte Smartphone-Anwendungen<br />

leiden darunter,<br />

dass sie bei jeder Änderung des mobilen<br />

Betriebssystems angepasst werden müssen.<br />

Für die Betreiber der Apps ist das ein<br />

der Software Anfang Oktober, hat Tobit die<br />

Marke von 10000 Apps überschritten, die<br />

mit Chayns erzeugt und in den App Stores<br />

von Apple, Google (Android), Microsoft<br />

(Windows Phone) sowie Blackberry angemeldet<br />

wurden. In der Spitze kommen inzwischen<br />

250 Apps am Tag hinzu.<br />

Zwar spüren Apple und Google mit jeweils<br />

rund einer Million Apps in ihren<br />

Stores Tobit noch nicht. Doch für Microsoft<br />

und Blackberry, die jeder weniger als<br />

200000 Apps im Angebot haben, ist die<br />

Vermehrung der Miniprogramme durch<br />

Groten durchaus bemerkenswert. Und der<br />

ist zuversichtlich, mit seinen Apps in gienormer<br />

Aufwand. Diese Anpassungen<br />

würden bei Tobit entfallen, verspricht Groten.<br />

Chayns sei eine Art Standardsoftware:<br />

„Da wir die notwendigen Änderungen programmieren,<br />

sind alle Apps automatisch<br />

auf dem neuesten Stand.“<br />

Einzige Voraussetzung, die der Betreiber<br />

einer Facebook-Fanseite zu erfüllen hat,<br />

um mithilfe von Chayns eine eigene App<br />

generieren zu können: Er muss mindestens<br />

100 „gefällt mir“-Klicks auf seiner Facebook-Seite<br />

sowie jeweils drei veröffentlichte<br />

Bilder und Statusmeldungen vorweisen.<br />

Mit solchen Vorgaben will Groten eine Inflationierung<br />

der Apps verhindern, „damit<br />

nicht jeder eine Spaß-App baut“.<br />

WERBEMITTEL FÜR HEINEKEN<br />

Groten ist nicht darauf angewiesen, schnell<br />

viel Geld mit seiner App-Maschine zu verdienen.<br />

Als Hauptanteilseigner von Tobit –<br />

er hält laut Handelsregisterauszug knapp<br />

83 Prozent der Firmenanteile – hat er keine<br />

Aktionäre im Nacken, die ständig nach<br />

neuen Erlösen und mehr Einnahmen verlangen.<br />

„Es begeistert mich, Dinge zu machen,<br />

die noch nicht da waren“, sagt Groten<br />

entspannt. So kann sich der Tobit-Chef<br />

leisten, statt auf Einnahmen zunächst massiv<br />

auf Reichweite zu setzen, also auf eine<br />

möglichst hohe Zahl verschiedener Apps.<br />

Um zum Erfolg zu kommen und Chayns<br />

unter die Leute zu bringen, schaltet Groten<br />

gezielt namhafte Unternehmen ein. So verkaufte<br />

der Münsterländer unlängst für einen<br />

fünfstelligen Betrag Chayns-Lizenzen<br />

an den niederländischen Bierbrauer Heineken.<br />

Diese Lizenzen gelten für eine spezielle<br />

Version von Chayns, in die eine Art<br />

trojanisches Pferd einprogrammiert ist.<br />

Heineken verschenkt diese Chayns-Version,<br />

verpackt in schicken Umschlägen, an<br />

Clubs und DJs. Basteln die damit eine eigene<br />

App, erscheint in dieser das Heineken-<br />

Logo. Ebenso kann Heineken auf diesen<br />

Apps zum Beispiel Werbebotschaften oder<br />

Gewinnspiele schalten. Wenn in kurzer<br />

Zeit 1500 Clubs und DJs eine eigene App<br />

bauen und jede dieser Apps 50 Nutzer findet,<br />

erreicht Heineken auf einen Schlag<br />

75000 Leute. „Diese Apps sind für Heinken<br />

eine Art digitales Werbemittel“, sagt Groten.<br />

Ähnliche Partnerschaften ist er mit<br />

L’Oréal und Schalke 04 eingegangen.<br />

Auch die Internationalisierung hat der<br />

Tobit-Chef bereits im Blick. Demnächst erscheinen<br />

englische und niederländische<br />

Versionen von Chayns. „Damit“, sagt Groten,<br />

„ fahren wir das Tempo weiter hoch.“ n<br />

michael.kroker@wiwo.de<br />

FOTO: DOMINIK ASBACH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

64 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

»Kleben statt nähen«<br />

INTERVIEW | Jan-Dirk Auris Der Henkel-Vorstand verantwortet die<br />

wichtigste Sparte Klebstoff und will die Weltmarktführerschaft<br />

durch Übernahmen und neue Technologien weiter ausbauen.<br />

Herr Auris, die Klebstoffsparte hat im<br />

dritten Quartal eine Umsatzrendite von<br />

17,8 Prozent erzielt – die höchste, die je<br />

bei Henkel abgeliefert wurde. Können Sie<br />

das noch toppen?<br />

Das ist unser Ziel. Der Weltmarkt für Klebstoffe<br />

hat ein Umsatzvolumen von etwa 60<br />

Milliarden Euro. Auf Henkel entfallen davon<br />

rund 14 Prozent. Diese Größenordnung,<br />

kombiniert mit unserer Strategie, auf<br />

Märkte und Branchen mit überproportionalem<br />

Wachstum zu setzen, lässt genügend<br />

Luft nach oben, um weiter profitabel<br />

zu wachsen.<br />

Was verstehen Sie unter profitablem<br />

Wachstum?<br />

Die Wachstumsraten und Perspektiven<br />

verschiedener Marktsegmente sind sehr<br />

unterschiedlich. Es gibt zum Beispiel Klebstoffe<br />

für Briefumschläge mit einem weltweiten<br />

Marktvolumen von mehreren Hundert<br />

Millionen Euro. Das sind relativ einfache<br />

Produkte, die auf Kartoffel- oder Maisstärke<br />

basieren: Das ist für uns heute ein<br />

gutes und etabliertes Geschäft. Dieser<br />

Markt wird aber nicht mehr wesentlich<br />

wachsen. Dagegen wächst der etwa gleich<br />

große Markt mit Klebstoffen für die Herstellung<br />

von Smartphones und Tablets im<br />

Durchschnitt um 25 bis 40 Prozent pro Jahr.<br />

Hier entwickeln und vermarkten wir High-<br />

Tech-Produkte, die die unterschiedlichsten<br />

Materialien in fünf bis sieben Klebeschritten<br />

verbinden. In jedem Smartphone<br />

steckt je nach Modell Klebstoff im Wert von<br />

bis zu 80 Cent. Gerade in diesem zukunftsorientierten<br />

Technologiebereich investieren<br />

wir deutlich mehr in Entwicklung, Mitarbeiter<br />

und Kundenpflege.<br />

Damit der Klebstoff-Weltmarktführer<br />

Henkel auch in diesem Markt die<br />

Nummer eins wird?<br />

Ja, daran arbeiten wir intensiv. Die Poleposition<br />

in diesem Segment haben historisch<br />

bedingt die Japaner. Aber wir tun einiges<br />

dafür, dass sich das langfristig ändert.<br />

Zum Beispiel?<br />

Anfang des Jahres haben wir das Henkel<br />

Display Center in Shanghai eröffnet. Das ist<br />

ein Forschungslabor, in dem wir gemeinsam<br />

mit allen wichtigen Smartphone- und<br />

DAS EIGENGEWÄCHS<br />

Auris, 45, führt seit Januar 2011 den Bereich<br />

Klebstoffe, die mit 8,2 Milliarden Euro<br />

Jahresumsatz mit Abstand größte Sparte<br />

des Henkel-Konzerns. Schon mit 16 Jahren<br />

fing er als Auszubildender zum Industriekaufmann<br />

in der Klebstoffsparte an – und<br />

blieb dort kleben. Mehrere Jahre arbeitete<br />

Auris für Henkel in den USA und in China,<br />

bevor der Vater einer Tochter im Januar<br />

2011 in den Vorstand nach Düsseldorf<br />

berufen wurde.<br />

Kleber liefern Kohle<br />

OperativeRendite 1 (Ebit, in Prozent)<br />

15,1<br />

17,8<br />

14,5 15,9 14,5 14,9<br />

20<strong>12</strong> <strong>2013</strong> 2 20<strong>12</strong> <strong>2013</strong> 2 20<strong>12</strong> <strong>2013</strong> 2<br />

Klebstoffe Wasch- und Kosmetik/<br />

Reinigungsmittel Körperpflege<br />

1<br />

bereinigtumeinmalige Aufwendungen und<br />

Erträgesowie Restrukturierungsaufwendungen;<br />

2<br />

3. Quartal; Quelle:Henkel<br />

Tablet-Herstellern an der Entwicklung von<br />

Bildschirmen und Displays arbeiten. In<br />

Kürze werden wir ein ähnliches Labor im<br />

koreanischen Seoul eröffnen.<br />

Die Gewinne der Klebstoffsparte sind<br />

auf Rekordniveau, der Umsatz aber<br />

sank im dritten Quartal um 2,7 Prozent.<br />

Warum?<br />

Wir haben unseren Umsatz, in lokalen<br />

Währungen betrachtet, im dritten Quartel<br />

um mehr als vier Prozent gesteigert – und<br />

konnten uns im Jahresverlauf stetig verbessern.<br />

In Euro betrachtet, ging der Umsatz<br />

aber zurück. Neben kleineren Verkäufen<br />

von Randaktivitäten geht der Rückgang fast<br />

ausschließlich auf Währungseffekte zurück,<br />

insbesondere durch die Schwäche<br />

des US-Dollar. Aber auch einige Währungen<br />

in den Wachstumsmärkten, in denen<br />

wir etwa 50 Prozent der Klebstoffumsätze<br />

erzielen, trugen dazu bei. In Indien zum<br />

Beispiel ist die Rupie vor rund zwei Monaten<br />

auf den tiefsten Stand seit Jahren gefallen.<br />

Solche Turbulenzen erleben wir in dieser<br />

Form zum ersten Mal.<br />

Wenn dies die Umsätze so beeinträchtigt,<br />

warum nicht auch die Gewinne aus diesen<br />

Ländern?<br />

Wir konnten unsere Kosten weiter senken<br />

und sind in vielen Bereichen von Produktion<br />

und Lieferkette effizienter geworden.<br />

Zudem kamen uns leicht rückläufige Rohstoffpreise<br />

zugute. Daher sind die Wechselkurseffekte<br />

nicht auf das operative Ergebnis<br />

durchgeschlagen.<br />

Übernahmen sind ein wesentlicher Bestandteil<br />

der Henkel-Strategie. Nun gab<br />

es die letzten großen Zukäufe mit den US-<br />

Unternehmen National Starch und Cytec<br />

in Ihrem Beritt. Ist die Klebstoffsparte<br />

überhaupt schon wieder an der Reihe?<br />

(lacht) Man könnte aus der Historie den<br />

Eindruck gewinnen, dass es bei Henkel immer<br />

schön reihum geht. Das ist aber natürlich<br />

nicht so. Übernahmen sind wesentlicher<br />

Teil unserer Strategie. Wir haben eine<br />

umfangreiche Liste mit potenziellen Kaufkandidaten.<br />

Kann der Weltmarktdominator Henkel<br />

denn so einfach zukaufen, ohne das Veto<br />

einer Kartellbehörde zu fürchten?<br />

Der weltweite Klebstoffmarkt unterteilt<br />

sich in etwa 70 Segmente, und es gibt insgesamt<br />

rund 1000 Wettbewerber. Da gibt es<br />

nur relativ wenig nennenswerte Überschneidungen.<br />

Kartellrechtlich dürfte es<br />

daher nur in seltenen Fällen Einschränkungen<br />

geben.<br />

Einschränkungen haben Sie aber selbst<br />

vorgenommen, um den Wust von bisher<br />

FOTO: PR<br />

66 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


600 Marken in Ihrem Klebstoffgeschäft<br />

einzudämmen. Wie weit sind Sie damit?<br />

Das ist ein komplexes Thema. Da müssen<br />

von Produktentwicklung über Produktion<br />

und Marketing bis zur Logistik fast alle Bereiche<br />

einbezogen werden. Aber wir kommen<br />

gut voran und liegen derzeit nur noch<br />

bei rund 170 Marken. Bis 2016 wollen wir<br />

80 Prozent unseres Klebstoffumsatzes mit<br />

neun Markenplattformen im Industrieund<br />

Konsumentenbereich abdecken.<br />

Bei den Industrieklebern spielte die<br />

Marke aber doch ohnehin bisher keine<br />

große Rolle?<br />

Das stimmt – bis auf wenige international<br />

bekannte, starke Produktmarken wie zum<br />

Beispiel Loctite. Das liegt vor allem daran,<br />

dass wir weltweit 130 000 Direktkunden<br />

haben, die wir persönlich beraten und die<br />

häufig ein auf sie zugeschnittenes, individuell<br />

für sie hergestelltes Produkt bekommen.<br />

Künftig wird im Industriegeschäft unserer<br />

Herstellermarke Henkel eine viel stärkere<br />

Bedeutung bekommen.<br />

In welchen Branchen und Märkten steckt<br />

denn außer bei Smartphones und Tablets<br />

noch Wachstumsfantasie?<br />

Zum Beispiel überall dort, wo Leichtbaukonstruktionen<br />

an Bedeutung gewinnen.<br />

So soll im Automobilbau das Gewicht der<br />

Fahrzeuge sinken und damit der Kraftstoffverbrauch<br />

und CO 2 -Ausstoß. Es wird<br />

also immer mehr geklebt statt gelötet, genietet<br />

oder geschweißt. Und bei den sogenannten<br />

Composites, also bei Verbundwerkstoffen,<br />

werden Carbon- oder Glasfasern<br />

mit unseren Harzen kombiniert. So<br />

entsteht etwa eine neue Blattfeder, die im<br />

Vergleich zu üblichen Stahl-Blattfedern bis<br />

zu 65 Prozent weniger wiegt – und das bei<br />

gleicher Festigkeit und Widerstandsfähigkeit.<br />

Die Blattfeder wird seit ein paar Monaten<br />

bei Daimler im Fahrwerk an der Vorderachse<br />

des Sprinter-Modells serienmäßig<br />

eingesetzt.<br />

Auf welche Trends setzen Sie in anderen<br />

Geschäftsfeldern?<br />

Kleben statt nähen zum Beispiel. Regina<br />

Miracle, der größte chinesische Hersteller<br />

von Büstenhaltern, der auch für viele in Europa<br />

bekannte Anbieter produziert, nutzt<br />

immer mehr Henkel-Klebstoffe und ist dadurch<br />

ein großer Kunde für uns geworden.<br />

Kleben verbessert den Tragekomfort, weil<br />

es keine störenden Nähte mehr gibt. So ergeben<br />

sich für uns immer neue Anwendungsfelder.<br />

Und wenn das beim BH funktioniert,<br />

dann sicherlich auch bei anderen<br />

Textilien.<br />

n<br />

mario.brueck@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 67<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Schlacht der Bildschirme<br />

COMPUTERSPIELE | Wie sich die Branche durch Smartphones und Tablets rasant wandelt<br />

und der Filmindustrie immer ähnlicher wird.<br />

Seit 14 Jahren macht Lars Gustavsson<br />

im Prinzip das Gleiche. 1999 begann<br />

der Schwede, als Designer an einem<br />

Ballerspiel mitzuarbeiten. Inzwischen ist<br />

„Battlefield“ einer der erfolgreichsten Titel<br />

des kalifornischen Spieleriesen Electronic<br />

Arts (EA). Soeben erschien die elfte Version<br />

für die neuen Konsolen Playstation 4 und<br />

Xbox One, <strong>vom</strong> Vorgänger wurden insgesamt<br />

20 Millionen Exemplare verkauft.<br />

Gustavsson ist als Kreativchef des zu EA<br />

gehörenden Spielestudios Dice dafür verantwortlich,<br />

sich immer wieder etwas Neues<br />

für das simple Spielprinzip „Erschieße<br />

so viele Feinde wie möglich“ auszudenken.<br />

So können auf den neuen Konsolen 64 statt<br />

bisher 24 Spieler gleichzeitig kämpfen.<br />

Trotzdem wünscht sich der Schwede neue<br />

Herausforderungen: „Ich würde mich<br />

schneller weiterentwickeln, wenn ich öfter<br />

mit anderen Spieletypen arbeiten könnte.“<br />

Doch von den 14 Dice-Spielen seit 2004<br />

tragen 11 den Titel „Battlefield“.<br />

Das aus Hollywood bekannte Blockbuster-Prinzip<br />

hat auch in der Spielebranche<br />

Einzug gehalten. Die Anbieter setzen auf<br />

immer neue Folgen populärer Titel, die –<br />

wie Kinofilme – zwei- bis dreistellige Millionensummen<br />

kosten. Das Konzept funktioniert:Das<br />

Actionspiel „Grand Theft Auto V“<br />

(GTA V) spielte binnen 24 Stunden weltweit<br />

815 Millionen Dollar ein. Die Milliarde erreichte<br />

das erfolgreichste Spiel aller Zeiten<br />

nach drei Tagen. Der bisher finanziell beste<br />

Film „Avatar“ benötigte dazu noch 17 Tage.<br />

Doch das klassische Geschäftsmodell ist<br />

bedroht, Online-Spiele und Apps auf<br />

Smartphones und Tablets konkurrieren mit<br />

den Computerspielen um die Daddelzeit.<br />

2014 dürften sie mit 35 Milliarden Dollar<br />

erstmals mehr einbringen als klassische PCund<br />

Konsolenspiele, so die Beratung PricewaterhouseCoopers<br />

(siehe Grafik Seite 70).<br />

Allein die Spieler der „Candy Crush Saga“<br />

geben pro Tag fast eine Million Dollar aus.<br />

ZYNISCHE GESELLSCHAFTSKRITIK<br />

Dabei sind die Smartphone-Spiele oft erst<br />

einmal kostenlos. Die Hersteller agieren<br />

wie Fernsehsender, die den Markt mit Castingshows<br />

und anderen billig produzierten<br />

Inhalten überschwemmen. Dort rufen die<br />

Zuschauer an, voten und zahlen, damit die<br />

Show weitergeht. Bei den anfangs kostenlosen<br />

Spielen müssen sie zahlen, um weiterzukommen.<br />

Eine weitere Parallele zur Filmbranche:<br />

Hersteller wie Rovio verdienen mit Merchandising<br />

so viel wie mit dem Verkauf der<br />

„Angry Birds“-Spiele.<br />

Millionen mit<br />

Merchandising<br />

Angry-Birds-Freizeitpark<br />

in China<br />

68 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


FOTOS: IMAGINE CHINA/WENG LEI<br />

815 Millionen Dollar<br />

in 24 Stunden<br />

Rekordspiel Grand<br />

Theft Auto V<br />

Autoknacker weit vorn<br />

DiemeistverkauftenSpiele* fürPlaystation undXbox(Stückzahl in Millionen, gerundet)<br />

GrandTheft Call of Duty:<br />

Auto V Ghosts<br />

25,55<br />

9<br />

Wochen<br />

am<br />

Markt<br />

7,49<br />

2<br />

FIFA<br />

Soccer 14<br />

6,19<br />

8<br />

*<strong>2013</strong>erschienen; Quelle:VGChartz<br />

TheLast<br />

of Us<br />

3,43<br />

23<br />

Ein Wechselspiel zwischen Film- und Spielebranche<br />

gibt es seit Jahren: Das Spiel zum<br />

Film ist so normal wie die Verfilmung von<br />

Videospielen. 1996 erschien erstmals das<br />

Spiel „Tomb Raider“, im Kino verkörperte<br />

Angelina Jolie die Archäologin 2001. Die<br />

Spielvorlage wurde <strong>2013</strong> neu aufgelegt und<br />

schaffte es unter die zehn Top-Seller.<br />

Die bislang stärkste Verschmelzung zwischen<br />

Film und Games bot in diesem Jahr<br />

das Spiel „Beyond: Two Souls“. Die Schauspieler<br />

Willem Dafoe und Ellen Page verleihen<br />

den Spielfiguren eine bislang kaum gekannte<br />

Persönlichkeit.<br />

Auch wenn sie mancher als Ballerorgien<br />

abtut, sind Videospiele auf dem Weg, zum<br />

kulturellen Leitmedium des 21. Jahrhunderts<br />

aufzusteigen. So ist das brutale<br />

„Grand Theft Auto“ um den Bankräuber<br />

und Autoknacker Trevor Philips immer<br />

auch eine zynische Gesellschaftskritik.<br />

Neue Spiele werden von Fans heute so<br />

sehnsüchtig erwartet wie sonst nur das<br />

neueste iPhone. Wenige Produkte werden<br />

häufiger unter dem Weihnachtsbaum<br />

liegen als Playstation 4, Xbox One und die<br />

dazugehörigen Spiele.<br />

Doch viele Branchenkenner sind sich einig,<br />

dass die Konsolen wohl die letzten ihrer<br />

Art sein dürften. Spiele im Netz und auf<br />

mobilen Geräten laufen ihnen den Rang<br />

ab. „Es wird aber weiter das Bedürfnis nach<br />

Spielen geben, mit denen man nicht nur einige<br />

Minuten Wartezeit auf den Bus totschlägt,<br />

sondern für mehrere Stunden eintaucht“,<br />

sagt Spieledesigner Gustavsson.<br />

Doch was tun, wenn der Bushaltestellen-<br />

Spieler später auf der Couch doch ein oder<br />

zwei Stunden weiter mit seinem Tablet<br />

daddelt, statt die Konsole anzuwerfen?<br />

Schon jetzt spüren die etablierten Hersteller<br />

die Konkurrenz. Lange verkündeten<br />

sie das Mantra, Handyspieler seien nur zusätzliche<br />

Kunden. Eine Studie des US-<br />

Marktforschers Eedar zeigt jedoch, dass<br />

ausgerechnet diejenigen, die am meisten<br />

für Mobile Games ausgeben, klassische<br />

Konsolenspieler sind.<br />

Und so versuchen deren Anbieter, ihre<br />

Hardcore-Fans auch unterwegs zu fesseln.<br />

„Die größte Herausforderung bei ,Battlefield<br />

4‘ war die Frage, wie man das Spielerlebnis<br />

auf mehrere Bildschirme erweitert“,<br />

sagt Gustavsson. Die Mobilzusätze dürfen<br />

nicht wie ein überflüssiges Gimmick wirken,<br />

aber auch nicht so notwendig sein,<br />

dass Spieler ohne Lust aufs Smartphone<br />

ausgeschlossen werden. Gustavsson entwickelte<br />

daher eine App, um die mit- und<br />

gegeneinander kämpfenden Spielergruppen<br />

zu koordinieren. „Es ist dabei nicht<br />

sichtbar, ob der Commander auf dem Sofa<br />

an der Konsole oder mit dem Tablet im<br />

Café sitzt“, sagt Gustavsson stolz.<br />

Wie erfolgreich die Mobilspiele inzwischen<br />

sind, zeigt die „Candy Crush Saga“:<br />

Jeden Tag versuchen 6,5 Millionen Menschen<br />

bei dem optisch an „Tetris“ erinnernden<br />

Puzzle-Spiel Reihen aus Süßigkeiten<br />

zu bilden. Das Spiel startete mit 30 Levels,<br />

doch der britische Anbieter King.com<br />

gibt den Bonbonsüchtigen immer neue<br />

Nahrung und hat die Zahl auf 544 hochgeschraubt.<br />

ERINNERUNG AN FRÜHEREN HYPE<br />

Um ein Level weiterzukommen, hat jeder<br />

Spieler fünf Versuche. Schafft er es dabei<br />

nicht, muss er für einen neuen Anlauf eine<br />

halbe Stunde warten oder 89 Cent bezahlen.<br />

Auch Zusatz-Züge und Zeit können<br />

sich die Spieler erkaufen. Viele sind dazu<br />

bereit: 875000 Dollar verdient King.com<br />

nach Schätzungen des New Yorker Spieledienstleisters<br />

Think Gaming so jeden Tag<br />

mit dem eigentlich kostenlosen Spiel.<br />

Dieses im Branchenjargon Free-to-Play<br />

genannte Geschäftsmodell ist bei den<br />

meisten Spiele-Apps und Online-Spielen<br />

inzwischen Standard. Zwar haben mehr als<br />

60 Prozent aller Spieler, die das letzte Level<br />

Tomb<br />

Raider<br />

2,79<br />

37<br />

BioShock<br />

Infinite<br />

2,42<br />

34<br />

Battlefield<br />

4<br />

2,41<br />

3<br />

Minecraft<br />

1,80<br />

24<br />

GodofWar:<br />

Ascension<br />

1,43<br />

36<br />

Wochen<br />

erreicht haben, laut King.com keinen Cent<br />

ausgegeben. Aber fast 40 Prozent haben<br />

gezahlt. Normal war bisher ein einstelliger<br />

Prozentsatz zahlender Nutzer.<br />

Auch der Anbieter Supercell hat die Verführung<br />

perfektioniert. Die Finnen haben<br />

nur zwei Online-Spiele im Angebot, doch<br />

mit dem Fantasy-Strategiespiel „Clash of<br />

Clans“ und der Bauernhof-Simulation<br />

„Hay Day“ nimmt das Unternehmen pro<br />

Tag 2,5 Millionen Dollar ein.<br />

Im Oktober bezahlte der japanische Telekomriese<br />

Softbank 1,5 Milliarden Dollar<br />

für einen 51-Prozent-Anteil an Supercell.<br />

Das Unternehmen wird also mit etwa drei<br />

Milliarden Dollar bewertet – fast so viel wie<br />

die von Facebook, Yahoo und Google geschluckten<br />

Super-Startups Instagram,<br />

Tumblr und Waze zusammen.<br />

Bei solchen Bewertungen fühlt sich manch<br />

einer an den Hype um Facebook-Spiele erinnert,<br />

der im Börsengang und schnellen<br />

Abstieg von Zynga gipfelte. „Mobile Gaming<br />

geht durch die gleiche Blase“, prophezeit<br />

Khaled Helioui, Chef des Hamburger<br />

Online-Spieleentwicklers Bigpoint.<br />

„Die Supercell-Story klingt eher nach<br />

Google als nach Zynga“, widerspricht Klaas<br />

Kersting. Der Karlsruher hatte 2003 mit<br />

Gameforge einen Gratisspiel-Pionier gegründet<br />

und ist heute Chef von Flare-<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 69<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

games. Kersting hat sich schon 2011<br />

an einer Zwölf-Millionen-Dollar-Finanzierung<br />

für Supercell beteiligt, als die Handyspiele<br />

der Finnen noch in der Entwicklung<br />

waren. Als Investor hat er also ein Eigeninteresse,<br />

wenn er Supercell als „Kronjuwel<br />

der Spielebranche“ bezeichnet. Doch der<br />

Unternehmenskenner bietet eine gute Begründung:<br />

Bei einem Jahresumsatz von<br />

schätzungsweise 650 Millionen Dollar bleibe<br />

gut die Hälfte als Gewinn hängen. Eine<br />

Bewertung von drei Milliarden Dollar entspreche<br />

also dem Zehnfachen des Gewinns<br />

– das sei ein absolut vertretbarer Aufschlag.<br />

Seit einiger Zeit wird „Candy Crush“-Macher<br />

King.com schon als Kandidat für die<br />

Börse gehandelt, im Sommer sollen bereits<br />

Banken damit betraut worden sein. Doch<br />

noch zögert das Unternehmen.<br />

Ein Grund dürfte das Desaster um Zynga<br />

sein. Vor zwei Jahren galt der Erfinder von<br />

Facebook-Spielchen als Vorbild für die<br />

Branche. Doch nach dem Börsengang brachen<br />

Zyngas Umsatz und Aktienkurs ein.<br />

Es folgten Massenentlassungen, am Ende<br />

musste Chef und Gründer Marc Pincus<br />

selbst gehen. Entscheidender Grund: Zynga<br />

hat den Boom mobiler Spiele verpasst.<br />

Überholmanöver<br />

WeltweiteUmsätze mitKinofilmenund<br />

Computerspielen* (inMilliarden Dollar)<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

Online- &Mobile Games<br />

10 11 <strong>12</strong> 13 14 15 16 17<br />

*ab<strong>2013</strong>Prognose; Quelle:PwC<br />

Kino<br />

Konsolen &PC-Spiele<br />

King.com hat mit „Candy Crush“ ebenfalls<br />

auf Facebook begonnen, doch die Briten<br />

haben schneller auf den Smartphone-<br />

Boom umgeschaltet. Auch Jens Begemann,<br />

Chef des Berliner Zynga-Konkurrenten<br />

Wooga, hatte Anfang 20<strong>12</strong> eine<br />

neue Strategie ausgegeben: „Wir entwickeln<br />

alle Spiele zuerst für Smartphones<br />

und Tablets.“ Erst dann wird entschieden,<br />

ob sie auch auf Facebook kommen.<br />

Auch wenn die PC- und Handyspiele<br />

optisch gleich wirken, gibt es große Unterschiede.<br />

„Es gibt starke Eingriffe in das<br />

Spielkonzept“, sagt Begemann. Mit der<br />

Maus kann man viel genauer zielen, dafür<br />

machen andere Aktionen keinen Spaß:<br />

Verstreut herumliegende Objekte einzusammeln<br />

ist am Rechner mühsam. Auf<br />

mobilen Geräten ist es per Fingerwisch<br />

eine der häufigsten Spielfunktionen.<br />

Inzwischen werden aber so viele Spiele<br />

für die mobilen Geräte entwickelt, dass<br />

selbst für gut gemachte Titel der Erfolg<br />

schwieriger ist denn je. „Der Markt und die<br />

Spielerakquise werden härter“, sagt Flaregames-Gründer<br />

Kersting. 4000 neue Spiele<br />

drängen jeden Monat auf den Markt. Um<br />

genug Nutzer anzulocken, müssen die Anbieter<br />

mit teurer Werbung nachhelfen.<br />

„Wenn man zum Start nicht sechs- oder<br />

siebenstellige Beträge investiert, wird es<br />

schwierig“, sagt Wooga-Chef Begemann.<br />

ZAHLEN, UM ZU GEWINNEN<br />

Auch für die Spieler hat das Folgen. Bei den<br />

vermeintlichen Gratisspielen, deren Nutzer<br />

freiwillig die Bezahl-Buttons drücken,<br />

ist die Balance entscheidend: Der Zusatznutzen<br />

muss groß genug sein, damit Spieler<br />

dafür löhnen wollen. Sie dürfen aber<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


nicht so große Vorteile haben, dass die<br />

Masse der Gratisspieler vergrault wird.<br />

Doch immer öfter kippt die Balance. Die<br />

Free-to-Play-Spiele verwandeln sich in<br />

Pay-to-Win-Spiele, bei denen man zahlen<br />

muss, um gewinnen zu können. Anfangs<br />

leichte Spiele werden mit der Zeit so<br />

schwierig, dass viele Spieler ohne kostenpflichtige<br />

Zusatzgegenstände im Spiel<br />

kaum weiterkommen. Nachdem die französische<br />

Softwareschmiede Ubisoft umfangreiche<br />

Bezahlfunktionen im Spiel<br />

„Mighty Quest“ eingeführt hatte, gingen<br />

die Fans auf die Barrikaden. „Uns ist klar<br />

geworden, dass wir zu weit gegangen sind<br />

und sich das Geschäftsmodell nicht mehr<br />

fair anfühlt“, räumte Ubisoft kleinlaut ein.<br />

Auch Electronic Arts zog sich mit dem<br />

zweiten Teil des beliebten Spiels „Pflanzen<br />

gegen Zombies“ Kritik zu. Hier muss man<br />

sich mit Erbsenkanonen oder fleischfressenden<br />

Pflanzen gegen Zombies zur Wehr<br />

setzen. Doch neue Sorten des Kampfkrautes<br />

gibt es oft nur noch gegen Geld. Auch in<br />

weitere Level kommt man nur gegen Gebühr<br />

– es sei denn, bestimmte Aufträge werden<br />

immer wieder erledigt. „Das gesamte<br />

Spiel ist darauf ausgelegt, an allen Ecken<br />

und Enden zu bezahlen“, klagt ein Nutzer im<br />

App Store. „Ich hoffe, dass euch eure Geldgier<br />

im Hals stecken bleibt.“ Auch andere<br />

Spieler schimpfen. Nicht wenige wünschen<br />

sich die Zeiten zurück, als sie noch einen<br />

Festpreis für das Spiel bezahlen mussten.<br />

SPIELZEUG UND VOGELPARKS<br />

Der bekannteste Anbieter von Handyspielen<br />

hat einen anderen Weg gefunden,<br />

um seine Einnahmen zu steigern. Mehr als<br />

zwei Milliarden Mal wurden die verschiedenen<br />

Titel der „Angry Birds“-Reihe heruntergeladen.<br />

Doch der finnische Entwickler<br />

Rovio hat eine noch viel bessere<br />

Geldquelle aufgetan und sich dabei auch<br />

von der Filmindustrie inspirieren lassen.<br />

Merchandising lautet die Zauberformel.<br />

Rovio hat den Umsatz im Vorjahr auf 152<br />

Millionen Euro mehr als verdoppelt. Wichtiger<br />

Treiber waren dabei Plüschtiere,<br />

T-Shirts oder Tassen. 45 Prozent steuerte<br />

die Sparte bereits bei, in diesem Jahr dürfte<br />

sie der größte Umsatzbringer werden.<br />

Rovio kooperiert mit 500 Unternehmen:<br />

So stellen die Süßwarenkonzerne Pez und<br />

Mondelez oder die Puma-Tochter Brandon<br />

Produkte mit den wütenden Vögeln her. Im<br />

Sommer haben die Finnen einen Deal mit<br />

Hasbro geschlossen. Der US-Konzern entwickelt<br />

eine Reihe neuer Spielzeuge und<br />

liefert einen wichtigen Baustein zu dem in<br />

dieser Woche erscheinenden Go-Kart-<br />

Rennspiel „Angry Birds Go!“: die Telepods.<br />

Die kleinen Plastikautos sind zum Spielen<br />

und Sammeln. Wenn die Kamera von<br />

Smartphone oder Tablet sie erkennt, werden<br />

sie zudem in das Spiel „teleportiert“.<br />

Sechs Angry-Bird-Freizeitparks gibt es<br />

inzwischen, in denen die Besucher an Katapulten<br />

mit Plüschvögeln auf Spielzeugschweine<br />

schießen können. Der jüngste<br />

wurde kürzlich auf Gran Canaria eröffnet,<br />

weitere sollen folgen: „Wir sind interessiert<br />

daran, den Bereich auszubauen“, sagt Rovio-Vizepräsidentin<br />

Saara Bergström. „Wir<br />

sehen uns nicht als mobile Spielefirma,<br />

sondern als Unterhaltungskonzern.“<br />

Rovio hat eine eigene Zeichentrickserie<br />

im Programm, auch der Schritt auf die ganz<br />

große Leinwand ist geplant: Am Angry-<br />

Birds-Kinofilm wird intensiv gearbeitet.<br />

Nur die Zeitspannen sind im Filmgeschäft<br />

andere als in der schnelllebigen Spielebranche<br />

– Starttermin ist der 1. Juli 2016. n<br />

oliver.voss@wiwo.de<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Spezial | Mittelstand<br />

Viel Sitzfleisch<br />

Um einen Entwicklungsingenieur<br />

zu<br />

finden, braucht<br />

Sedus-Stoll-Chef<br />

Kallup mehr als<br />

ein Jahr. Der Büromöbelhersteller<br />

aus dem Schwarzwald<br />

setzt auf<br />

interne Fortbildung<br />

Vier Megatrends für Mittelständler<br />

PERSONALENGPASS<br />

Der Nachwuchsmangel<br />

erschwert es, Fachkräfte<br />

für Forschung und Entwicklung<br />

im Wettbewerb mit<br />

Konzernen an attraktiven<br />

Standorten zu finden.<br />

FINANZIERUNG<br />

Öffentliche Programme<br />

sind vielfach mit komplizierten<br />

Antragsverfahren<br />

verbunden, die kleine und<br />

mittelgroße Unternehmen<br />

häufig überfordern.<br />

FERNOST-KONKURRENZ<br />

Noch haben Deutschlands<br />

Mittelständler einen Vorsprung<br />

bei Innovationen.<br />

Doch die Finanzkraft Chinas<br />

wird in den nächsten<br />

Jahren zur Bedrohung.<br />

INNOVATIONSDRUCK<br />

Auch traditionelle Industrien<br />

müssen ihre<br />

Forschungsaktivitäten<br />

ausweiten, weil sie nur<br />

durch innovative Produkte<br />

überleben können.<br />

72 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Welkende Lorbeeren<br />

FORSCHUNG UND ENTWICKLUNG | Nachwuchsmangel, wachsender Konkurrenzdruck aus<br />

Fernost und Engpässe bei der Finanzierung gefährden den Vorsprung, den sich<br />

viele Mittelständler in den vergangenen Jahren gegenüber Wettbewerbern im Ausland<br />

verschafft haben. Was Politik und Unternehmen dagegen tun können.<br />

FOTO: TANJA DEMARMELS FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Wenn Bernhard Kallup sich<br />

von seinem Schreibtisch<br />

erhebt und zum Bürofenster<br />

geht, genießt er reinste<br />

Idylle. Der Vorstandschef<br />

des Büromöbelherstellers Sedus Stoll<br />

blickt auf Wälder und sattes Grün, bei guter<br />

Fernsicht auf die Berge. Die Schweiz ist nur<br />

wenige Hundert Meter entfernt; es gibt weniger<br />

malerische Orte in Deutschland.<br />

Der Firmensitz mit Kallups Büro liegt in<br />

Waldshut-Tiengen, einem Städtchen mit<br />

knapp 23 000 Einwohnern am südlichen<br />

Rand des Schwarzwalds. Im Sommer laden<br />

Berge, im Winter Langlaufloipen zu ausgiebigen<br />

Bergtouren ein. Nach Zürich mit seinem<br />

reichhaltigen Kulturangebot ist es<br />

nicht weit.<br />

Doch Kallup hat ein Problem, er braucht<br />

qualifiziertes Personal. Und um das anzulocken,<br />

reichen die hübschen Täler und<br />

Höhen nicht aus. Das merkt er immer<br />

mehr. „Einen Entwicklungsingenieur zu<br />

finden kann leicht ein Jahr dauern“, klagt<br />

Kallup.<br />

Sedus Stoll fertigt im Schwarzwald sowie<br />

am Bodensee und in Geseke in Ostwestfalen<br />

und beschäftigt insgesamt 45 Entwickler<br />

und Designer. Das Unternehmen mit<br />

insgesamt 880 Mitarbeitern und einem<br />

Umsatz von zuletzt rund 160 Millionen<br />

Euro versteht sich als Premiumanbieter.<br />

Derzeit arbeiten die Entwicklungsteams an<br />

einer Mechanik für Bürostühle, die mindestens<br />

600 000 „Lastenwechsel“ aushält,<br />

wie die Experten sagen. Das heißt, eine Rückenlehne<br />

könnte durch Anlehnen und<br />

Vorbeugen dann 600 000 Mal vor und zurück<br />

bewegt werden, ohne dass das Sitzmöbel<br />

Schaden nimmt.<br />

„Damit könnten wir einen Stuhl mit einer<br />

lebenslangen Garantie anbieten“, sagt<br />

Kallup. Womöglich ginge es noch schneller,<br />

gäbe es die Engpässe bei den Fachkräften<br />

nicht.<br />

Fehlendes Personal ist nur eines der Probleme<br />

mittelständischer Unternehmen bei<br />

Forschung und Entwicklung (F&E). Bürokratische<br />

Hürden, immer weiter steigende<br />

Energiekosten, unübersichtliche Förderprogramme,<br />

aber auch wachsender Druck<br />

von Konkurrenten aus Fernost, vor allem<br />

aus China, bremsten zuletzt die Dynamik<br />

bei Innovationen. „Es besteht die Gefahr,<br />

dass Deutschland sich jetzt auf den Lorbeeren<br />

der Vergangenheit ausruht“, warnt<br />

Klaus-Heiner Röhl <strong>vom</strong> Institut der Deutschen<br />

Wirtschaft (IW) in Köln.<br />

LEER GEFEGTE REGION STUTTGART<br />

Bisher galt der Mittelstand hierzulande als<br />

Motor für Innovationen. Insgesamt 60 000<br />

kleine und mittlere Unternehmen in<br />

Deutschland betreiben Forschung und<br />

Entwicklung. Nach der<br />

Krise Anfang des vergangenen<br />

Jahrzehnts<br />

haben die Mittelständler<br />

ihre Aktivitäten kräftig<br />

ausgeweitet, nicht<br />

zuletzt mithilfe öffentlicher<br />

Förderprogramme.<br />

Gut 8,7 Milliarden Euro<br />

haben mittelständische<br />

Firmen im Jahr 2010 in<br />

Forschung und Entwicklung<br />

investiert (siehe<br />

Grafik Seite 78). Gegenüber<br />

2004 war das ein<br />

Plus von 71 Prozent. Ihr<br />

Spezial | Mittelstand<br />

72 Innovation Fehlende Fachkräfte<br />

und Konkurrenz aus<br />

Asien sorgen für Druck<br />

80 Maschinenbau Mit Tüftlergeist<br />

zum Weltmarktführer<br />

82 Outsourcing Immer mehr<br />

Mittelständler lagern<br />

Forschungsprojekte aus<br />

86 Dekra-Award Auszeichnungen<br />

für Konzepte zu<br />

Umwelt und Personal<br />

Forschungspersonal haben die Mittelständler<br />

im selben Zeitraum um 52 Prozent<br />

aufgestockt.<br />

Die Aufwendungen haben sich gelohnt.<br />

Zwischen 2007 und 2010 hat mehr als die<br />

Hälfte aller kleinen und mittleren Unternehmen<br />

mindestens eine Produkt- oder<br />

Prozessinnovation auf den Markt gebracht.<br />

Neuere Zahlen liegen nicht vor.<br />

Doch zunehmende Klagen aus den Unternehmen<br />

deuten darauf hin, dass die Dynamik<br />

in jüngster Zeit nachgelassen hat.<br />

Firmen in Bayern rechnen vor, dass sie<br />

durch eine Verlagerung der Produktion ins<br />

Ausland bei den Stromkosten bis zu 75<br />

Prozent sparen könnten. Manche Unternehmen<br />

wollen Teile der Entwicklung<br />

gleich mit verlegen. Der im Koalitionsvertrag<br />

festgeschriebene Mindestlohn werde<br />

zudem dazu führen, dass an anderer Stelle<br />

gespart werde, auch bei den Forschungsausgaben,<br />

heißt es in manchen Firmen.<br />

Zu schaffen macht den Unternehmen<br />

aber vor allem der Mangel an Fachkräften.<br />

Besonders in den Berufen<br />

mit mathematischnatur-wissenschaftlich-<br />

technischem Hintergrund<br />

fehlen schon<br />

heute Zigtausend Nachwuchskräfte.<br />

Zwar sei<br />

der Mangel bisher noch<br />

auf bestimmte Regionen<br />

und Branchen beschränkt,<br />

konstatiert<br />

IW-Experte Röhl. Wer<br />

zum Beispiel in der Region<br />

Stuttgart einen<br />

Elektroingenieur sucht,<br />

braucht viel Geduld.<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 73<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Spezial | Mittelstand<br />

Kann ja mal<br />

vorkommen.<br />

Doch kein Zufall?<br />

»<br />

Doch die Gefahr wächst, dass der Mangel<br />

bald alle erfasst – und am schlimmsten<br />

die Mittelständler, die mit Konzernen in attraktiven<br />

Metropolen um Kräfte buhlen.<br />

„In den nächsten Jahren kommt das Problem<br />

mit Macht auf uns zu“, prognostiziert<br />

IW-Experte Röhl.<br />

Ursache dafür ist nicht nur der Nachwuchsmangel<br />

durch zu wenig Junge und<br />

zu viele Alte in der Gesellschaft. Verschärft<br />

werden die Folgen des demografischen<br />

Wandels auch dadurch, dass die Unternehmen<br />

an immer ausgefeilteren und raffinierteren<br />

Produkten arbeiten. Anders als<br />

noch vor 20 Jahren haben etwa Lebensmittelhersteller<br />

heute längst Kekssortimente<br />

im Angebot, bei denen beispielsweise nur<br />

ein Gebäckstück in der Packung nach<br />

Orange schmeckt und der Rest nach anderen<br />

Obstsorten. Damit das Zitrusaroma<br />

nicht auf alle Kekse übergreift, benötigt der<br />

Hersteller Biochemiker, die Orangenaroma-Moleküle<br />

mikroverkapseln können.<br />

FEHLENDE AUFSTIEGSCHANCEN<br />

Vor allem für Mittelständler ist es ein Problem,<br />

solche Fachkräfte zu finden und an<br />

sich zu binden. „Bei Angebotsknappheit<br />

am Fachkräftemarkt sind kleine und mittlere<br />

Unternehmen meist nicht in der Lage,<br />

ähnlich hohe finanzielle und nichtmaterielle<br />

Arbeitsangebote zu machen wie<br />

Großunternehmen“, resümiert eine aktuelle<br />

Studie des Zentrums für Europäische<br />

Wirtschaftsforschung (ZEW) und des Prognos-Instituts.<br />

Dazu komme, dass karriereorientierte<br />

Nachwuchskräfte kleine Unternehmen<br />

oft mieden, weil die Aufstiegschancen<br />

begrenzt seien.<br />

Sedus-Stoll-Chef Kallup kennt das Problem.<br />

Wenige Kilometer weiter, auf der anderen<br />

Seite der Grenze, verdienen Ingenieure<br />

und Wissenschaftler in großen<br />

Schweizer Unternehmen wie Novartis bis<br />

zu 30 Prozent mehr als in Waldshut-Tiengen.<br />

Etwa 15 000 der 80 000 Erwerbstätigen<br />

im Landkreis Waldshut pendeln darum jeden<br />

Tag zur Arbeit in die Schweiz. In<br />

Waldshut herrscht dadurch Vollbeschäftigung,<br />

sprich: Der Arbeits- und Fachkräftemarkt<br />

ist leer gefegt.<br />

MANGEL AN FINANZIERUNGEN<br />

Dabei sind die Arbeitsbedingungen in einem<br />

kleinen Unternehmen nicht selten<br />

viel attraktiver als in einem Großbetrieb.<br />

„Ich war überrascht über die Möglichkeiten,<br />

die ich hier habe“, sagt Judith Daur. Die<br />

28-jährige Marburgerin hat in Darmstadt<br />

Industriedesign studiert. Zunächst der Liebe<br />

wegen wollte die junge Frau nach ihrem<br />

Abschluss in den Süden der Republik und<br />

hat unter anderem mit München geliebäugelt.<br />

Jetzt arbeitet sie in einem kleinen Entwicklungsteam<br />

bei Sedus Stoll. Das Unternehmen,<br />

das jedes Jahr zwischen vier und<br />

fünf Prozent des Umsatzes in die Forschung<br />

und Entwicklung steckt, hat in den<br />

vergangenen Jahren zahlreiche Design-<br />

Auszeichnungen gewonnen.<br />

In Waldshut-Tiengen arbeitet die Designerin<br />

eng mit den Entwicklungsingenieuren<br />

und Technikern des Unternehmens zusammen.<br />

„Das Schöne hier ist, dass ich verfolgen<br />

kann, wie aus meinem Entwurf ein<br />

fertiges Produkt wird“, sagt Daur, „das ist<br />

völlig anders, wenn man in einer Agentur<br />

oder einem Konzern arbeitet.“ Bei Sedus<br />

Stoll kann sie von dem kleinen Entwicklungszentrum<br />

auch mal schnell in die Fabrik<br />

rübergehen und sich die Fertigung ihres<br />

Produktes ansehen und, wenn nötig,<br />

auch noch Änderungen vornehmen.<br />

Schwierig ist neben der Suche nach<br />

Fachkräften für viele kleinere Unternehmen<br />

auch die Finanzierung von Forschungs-<br />

und Entwicklungsvorhaben.<br />

Noch immer bedienen sich viele Mittel-»<br />

Irgendetwas<br />

scheinen wir richtig<br />

zu machen.<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Spezial | Mittelstand<br />

»<br />

ständler dazu der laufenden Einnahmen<br />

oder des Eigenkapitals. Zugang zu Bankfinanzierungen<br />

für Forschungsvorhaben habe<br />

nur ein „kleinerer Teil meist etablierter<br />

mittelständischer Unternehmen“, so die<br />

ZEW-Studie.<br />

Auch der Zugang zu Beteiligungskapital,<br />

um Innovationen zu finanzieren, ist in<br />

Deutschland vielen Unternehmen versperrt.<br />

Beim Anteil der Beteiligungs- und<br />

Wagniskapitalinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt<br />

liegt Deutschland im europäischen<br />

Vergleich nur im Mittelfeld. „Um<br />

zur Spitzengruppe aufschließen zu können,<br />

müssten die Beteiligungskapitalinvestitionen<br />

mindestens verdoppelt werden“,<br />

resümiert die gemeinsame Studie von ZEW<br />

und Prognos.<br />

HOFFEN AUF ELEKTROAUTOS<br />

Zwar hat die Bundesregierung die öffentliche<br />

Forschungsförderung kräftig ausgeweitet.<br />

Vor allem das 2008 <strong>vom</strong> Bundeswirtschaftsministerium<br />

aufgelegte Zentrale<br />

Innovationsprogramm Mittelstand<br />

(ZIM) erfreute sich großer Nachfrage.<br />

Rund 10 000 kleine und mittlere Unternehmen<br />

kamen bisher in den Genuss der Förderung,<br />

auch weil die Behörden die Antragstellung<br />

vereinfacht haben.<br />

Unter Strom Andreas Lapp, Vorstandsvorsitzender<br />

bei Lapp Kabel, hofft, von der<br />

zunehmenden Verbreitung von Elektroautos<br />

zu profitieren. Erste Erfolge sind da<br />

Denn noch immer wirken auf viele Mittelständler<br />

mit möglicherweise vielversprechenden<br />

Forschungsprojekten die<br />

zum Teil sehr detaillierten Vorschriften abschreckend,<br />

nach denen sie ihre Vorhaben<br />

in Förderungsanträgen präsentieren müssen.<br />

Zudem gibt es ein enges Regelkorsett,<br />

das den Unternehmen bisweilen eine Kofinanzierung<br />

durch Wissenschaftseinrichtungen<br />

vorschreibt.<br />

Gegenwind kommt aber auch von den<br />

aufstrebenden Volkswirtschaften in Fernost.<br />

Vor allem aufgrund der westlichen<br />

Bildungssysteme, die im Unterschied zu<br />

Der Markt für<br />

Wagniskapital<br />

wächst nur unterdurchschnittlich<br />

Asien stark auf Kreativität setzen, werden<br />

deutsche Mittelständler ihren Vorsprung<br />

zunächst noch halten können. Doch der<br />

Druck wird zwangsläufig zunehmen.<br />

Karl Knezar steht in einer Fabrikhalle am<br />

Stadtrand von Stuttgart. Neben ihm hängen<br />

an hohen Eisenständern frisch produzierte<br />

graue, blaue und orangefarbene Kabel.<br />

Zusammen mit zwei weiteren Ingenieuren<br />

tüftelt der Maschinenbautechniker<br />

zurzeit an neuartigen Ladekabeln für<br />

Elektroautos. Knezar arbeitet für das Unternehmen<br />

Lapp, einen Hersteller anspruchsvoller<br />

Kabel, die bisher unter anderem<br />

im Maschinen- und Anlagenbau verwendet<br />

werden. Ende der Fünfzigerjahre<br />

hatte Oskar Lapp mit einer Handvoll Mitarbeitern<br />

das Unternehmen gegründet. Heute<br />

lenkt Sohn Andreas die Geschicke der<br />

Firma mit etwa 3100 Mitarbeitern und<br />

einem Umsatz von fast 900 Millionen Euro.<br />

Die Elektromobilität soll das große Thema<br />

des Unternehmens aus Stuttgart-Vaihingen<br />

werden, und Knezar und seine zwei<br />

Kollegen spielen die Schlüsselrollen. Siebenstellige<br />

Beträge investiert Lapp in die<br />

Entwicklung hochmoderner Ladekabel.<br />

Erste Erfolge können die Stuttgarter inzwischen<br />

vorweisen. Knezar entwickelte einen<br />

Mechanismus, der den Ladevorgang bei<br />

»<br />

FOTO: CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

76 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Spezial | Mittelstand<br />

Noch fließt das Geld...<br />

Aufwendungen fürForschung und<br />

Entwicklunginmittelständischen<br />

Unternehmen (inMillionen Euro)<br />

»<br />

2007<br />

2008 20<strong>09</strong> 2010 2011<br />

Quelle:Stifterverband fürdie Deutsche Wissenschaft<br />

einem E-Auto automatisch unterbricht,<br />

wenn der Stecker zu heiß wird.<br />

Wichtig ist dies vor allem, wenn der Fahrer<br />

sein E-Auto an herkömmlichen –<br />

schlimmer noch: veralteten – Steckdosen<br />

auflädt. Die lassen Kabel und Stecker oft zu<br />

stark erhitzen oder fangen sogar Feuer.<br />

Knezars Neuentwicklung kann unterscheiden<br />

zwischen Hitze, die von außen wirkt<br />

wie zum Beispiel Sonnenlicht, und gefährlicher<br />

Wärme, die im Stecker entsteht. Die<br />

Wunderkabel verkauft Lapp bereits an einen<br />

großen deutschen Autohersteller, der<br />

vor Kurzem mit viel Tamtam ein neues<br />

Elektroauto auf den Markt gebracht hat.<br />

Mit solchen Neuentwicklungen werde<br />

Deutschland noch eine Zeit lang seinen<br />

Vorsprung gegenüber Asien halten können,<br />

glaubt Michael Collet, Geschäftsführer<br />

bei Lapp und zuständig für Innovationen.<br />

Die Stuttgarter beschäftigen am<br />

Stammsitz rund 80 Entwickler. Dazu<br />

kommt eine ausgegliederte Abteilung in<br />

Zug in der Schweiz, wo Lapp Grundlagenforschung<br />

betreibt. Zwischen drei und fünf<br />

Prozent seines Umsatzes steckt das Unternehmen<br />

in Forschung und Entwicklung.<br />

Mittelfristig allerdings werde der Druck aus<br />

Fernost massiv zunehmen, glaubt Collet<br />

und verweist auf die rasch steigende Zahl<br />

chinesischer Patente und die geballte Finanzkraft<br />

Pekings.<br />

SUCHE NACH ALTEN TUGENDEN<br />

„Die Entwicklung verläuft dort ähnlich wie<br />

vor drei Jahrzehnten in Südkorea“, sagt Collet.<br />

Die Koreaner hätten auch zunächst<br />

Technologien aus dem Ausland eingesetzt<br />

und diese dann weiterentwickelt, oftmals<br />

so, dass sie sie preisgünstiger anbieten<br />

konnten. Mit Blick auf die Konkurrenz aus<br />

...und die Zahl der Tüftler steigt<br />

Personal fürForschung undEntwicklung<br />

in mittelständischen Unternehmen<br />

(Vollzeitstellen,inTausend)<br />

73,5<br />

2007<br />

76,0<br />

77,7<br />

2008 20<strong>09</strong> 2010 2011<br />

Quelle:Stifterverband fürdie Deutsche<br />

Wissenschaft<br />

79,9<br />

88,4<br />

Asien wünscht man sich bei Lapp eine<br />

Rückbesinnung auf alte Tugenden bei der<br />

Schulbildung. „Früher war das alles straffer<br />

und disziplinierter“, sagt Collet.<br />

Um die Engpässe beim Nachwuchs zu<br />

überbrücken, helfen sich viele Mittelständler<br />

inzwischen selbst und investieren mehr<br />

in Aus- und Fortbildung. Der Kabelhersteller<br />

Lapp etwa ködert Talente mit Traineeprogrammen,<br />

die die jungen Leute zum<br />

Teil in ausländischen Niederlassungen absolvieren.<br />

Vielversprechenden Auszubildenden<br />

finanzieren die Stuttgarter nach<br />

Abschluss der Lehre ein Studium an einer<br />

dualen Hochschule, die früher Berufsaka-<br />

Deutschlands Vorsprung<br />

gegenüber<br />

Asien wird schnell<br />

kleiner werden<br />

demie hieß und die den Unternehmen die<br />

Weiterbeschäftigung des Kandidaten während<br />

der Uni-Zeit ermöglicht.<br />

Für Mittelständler sind dies willkommene<br />

Einrichtungen, um talentierte junge<br />

Leute zu halten. Zwischen 65 und 70 Azubis<br />

beschäftigt der Büromöbelhersteller<br />

Sedus Stoll. Wer mit der Abschlussnote<br />

über dem Durchschnitt liegt, dem macht<br />

der Mittelständler aus dem Schwarzwald<br />

ein Übernahmeangebot. Wer deutlich darüber<br />

liegt, kann auf Kosten des Unternehmens<br />

an der dualen Hochschule in Lörrach<br />

studieren.<br />

Doch genauso wichtig wie Hochschulabsolventen<br />

seien gut ausgebildete Facharbeiter,<br />

sagt Andreas Lapp, Vorstandsvorsitzender<br />

des Unternehmens. „Ein deutscher<br />

Meisterbrief ist oft genauso viel wert wie<br />

ein Master in anderen Ländern.“<br />

Experten fordern zur Überwindung des<br />

Fachkräftemangels allerdings viel breiter<br />

angelegte Maßnahmen. Der Essener Stifterverband<br />

für die Deutsche Wissenschaft,<br />

der eng mit der Wirtschaft zusammenarbeitet,<br />

setzt etwa auf Zuwanderer aus dem<br />

Ausland. Allerdings beklagt der Verband,<br />

dass die Politik immer noch nicht klar definiert<br />

hat, wie sie durch gezielte Zuwanderung<br />

Engpässe überwinden will.<br />

ABSCHRECKENDE FÖRDERUNG<br />

Die Expertenkommission Forschung und<br />

Innovation (Efi), die die Bundesregierung<br />

berät, fordert, die Politik müsse Frauen den<br />

Weg in mathematische, naturwissenschaftliche<br />

und technische Berufe erleichtern.<br />

In ihrem jüngsten Gutachten schlägt<br />

die Kommission eine Frauenquote für<br />

Führungspositionen in Wissenschaft und<br />

Wirtschaft vor. Gleichzeitig müssten sich<br />

die Schulen stärker darum bemühen, bei<br />

den Schülerinnen das Interesse an technischen<br />

und naturwissenschaftlichen Fächern<br />

zu wecken.<br />

Bei der Finanzierung fordern sowohl das<br />

IW als auch der Stifterverband seit Langem<br />

eine steuerliche Abzugsfähigkeit von Forschungsausgaben,<br />

wie es sie in vielen europäischen<br />

Ländern bereits gibt. Damit werde<br />

vor allem den kleinen Unternehmen geholfen,<br />

die vor der Antragsbürokratie bei<br />

öffentlichen Fördertöpfen zurückschrecken.<br />

Im schwarz-gelben Koalitionsvertrag<br />

war die steuerliche Förderung festgeschrieben,<br />

kam aber nie. Die Hoffnung der<br />

Unternehmen richtet sich nun auf die<br />

künftige Bundesregierung.<br />

Darüber hinaus verlangen Fachleute, es<br />

müssten endlich vernünftige rechtliche<br />

und steuerliche Rahmenbedingungen geschaffen<br />

werden, um Finanzierungen<br />

durch Beteiligungskapital zu erleichtern.<br />

Allerdings muss sich der Mittelstand<br />

auch an die eigene Nase fassen, wenn er<br />

mangelnde Finanzierungsmöglichkeiten<br />

beklagt. Die Autoren des jüngsten ZEW-<br />

Papiers zu Innovationshemmnissen bei<br />

kleinen und mittleren Unternehmen etwa<br />

sparen nicht mit Kritik. Die Unternehmen<br />

müssten bestehende Informationsangebote<br />

besser nutzen und auch „den Auftritt am<br />

Kapitalmarkt professionalisieren“. n<br />

matthias.kamp@wiwo.de | München<br />

78 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Spezial | Mittelstand<br />

Kleine Pillen, dicke Bretter<br />

MASCHINENBAU | Wie der westfälische Tüftler Lorenz Bohle sein Unternehmen zu einem<br />

Weltmarktführer in der Pharmatechnik gemacht hat.<br />

Dröhnende Stimme, kräftiger Händedruck,<br />

breite Schultern: Bei einem<br />

Casting für die Rolle eines westfälischen<br />

Firmenpatriarchen würde Lorenz<br />

Bohle wahrscheinlich alle Mitbewerber<br />

ausstechen. Der Hüne entspricht ganz<br />

dem Bild eines konservativen Familienunternehmers<br />

aus dem Münsterland. Doch<br />

Bohle spielt keine Filmrolle, er ist mit<br />

seinem Unternehmen L.B. Bohle einer der<br />

erfolgreichsten Mittelständler Deutschlands.<br />

Bohle hat es geschafft, seinen Ein-Mann-<br />

Betrieb zu einem der weltweit führenden<br />

Hersteller von Maschinen für die Tablettenproduktion<br />

zu machen, der heute mit<br />

230 Mitarbeitern jährlich 46 Millionen<br />

Euro umsetzt. Das Erfolgsgeheimnis des<br />

Unternehmers liegt in der Mischung aus<br />

Tüftlergeist, Qualitätsbesessenheit und<br />

Marktgespür.<br />

ZU TEURE PATENTE<br />

Dabei denkt der Bauernsohn während des<br />

Studiums und zu Anfang seiner Laufbahn<br />

als Ingenieur noch nicht ans Unternehmertum.<br />

Doch früh schon kommt es zu<br />

Spannungen mit seinen Arbeitgebern wegen<br />

der Verwertung von Patenten für von<br />

Bohle entwickelte Verfahren. Sein erster<br />

Arbeitgeber, ein Akku-Hersteller, verweigert<br />

nach sechsjähriger Entwicklung die<br />

Anmeldung eines Patentes, weil er nach<br />

Innovativer<br />

Ingenieur<br />

Unternehmer<br />

Bohle startete<br />

mit einem<br />

eigenen Patent<br />

»Wir sind ein<br />

Familienunternehmen<br />

und denken<br />

nicht in Vierteljahreszyklen«<br />

Lorenz Bohle<br />

dem Arbeitnehmererfindergesetz viel Geld<br />

hätte zahlen müssen.<br />

Beim zweiten, einem mittelständischen<br />

Lohnfertiger für die Pharmaindustrie, meldet<br />

Bohle nach und nach mehrere Patente<br />

an. Als er Ende Dezember 1981 mit einer<br />

weiteren Neuentwicklung zu seinem Chef<br />

kommt, stellt der ihm frei, das Patent – ein<br />

Verfahren zur Kontrolle der Dicke von Tabletten<br />

– selbst zu nutzen. Man sei ja Pharmazeut<br />

und kein Maschinenbauer. Nach<br />

dem Gespräch geht Bohle nach Hause und<br />

sagt zu seiner Frau: „Mädchen, jetzt müssen<br />

wir entweder den Kopf einziehen oder<br />

etwas riskieren.“<br />

Die beiden entscheiden sich für das Risiko.<br />

Sein Chef kann nicht glauben, dass er<br />

kündigen will. Über neun Jahre hatten die<br />

beiden gemeinsam die anfangs völlig veraltete<br />

Produktion auf Vordermann gebracht.<br />

Jetzt sei es doch an der Zeit, die Früchte der<br />

durchgearbeiteten Nächte zu genießen.<br />

„Sie verwechseln da etwas“, antwortet Bohle,<br />

„ich bin 41, nicht 61 Jahre alt.“<br />

Damit ist die Entscheidung unumkehrbar.<br />

Bohle mietet ein Konstruktionsbüro<br />

und eine Versuchswerkstatt. Zunächst lässt<br />

der frischgebackene Gründer seine Maschinen<br />

für die Tablettenherstellung<br />

fremdproduzieren. Die Hälfte der Zeit arbeitet<br />

er am Zeichentisch und in der Testwerkstatt;<br />

den Rest der Zeit ist er unterwegs,<br />

um seine Anlagen zu verkaufen. Das<br />

Geschäft läuft von Anfang an besser als erwartet.<br />

Einer seiner frühen Kunden ist trotz<br />

der Trennung sein ehemaliger Arbeitgeber.<br />

Der Durchbruch kommt nach vier Jahren,<br />

als es Bohle gelingt, als Zulieferer eine<br />

Anlage zur Penicillinherstellung beim<br />

Pharmariesen Bayer so zu modernisieren,<br />

dass sie staubfrei wird. „Damit hatten wir<br />

eine erstklassige Referenz“, sagt Bohle.<br />

Er entschließt sich, die Fertigung selbst<br />

in die Hand zu nehmen und eine Fabrik zu<br />

bauen. Zwischen 1987 und 1994 steigt die<br />

Zahl der Mitarbeiter von 20 auf 100. Jahre<br />

mit einem Wachstum von 50 Prozent sind<br />

nicht ungewöhnlich.<br />

Einer der wichtigsten Umsatztreiber ist<br />

der Bohle Film Coater. Diese Maschinen<br />

beschichten Tabletten von außen mit einem<br />

Wirkstoff, statt diesen wie sonst im Inneren<br />

der Pille zu platzieren.<br />

Ein amerikanischer Interessent kam vor<br />

neun Jahren zu Bohle mit der Vorgabe der<br />

dortigen Arzneimittel-Zulassungsbehörde<br />

FDA, wonach die Streuung beim Gewicht<br />

des Wirkstoffes von Pille zu Pille nur drei<br />

Prozent betragen dürfe. Bohle blieb unter<br />

dem Grenzwert und bekam den Auftrag.<br />

Selbst der beste Wettbewerber konnte nur<br />

Abweichungen von sechs Prozent garantieren.<br />

Heute macht Bohle ein Drittel des Umsatzes<br />

in den USA. „Ich wusste von anderen<br />

Unternehmern, wie schwer der Markteintritt<br />

dort ist“, sagt Bohle, „aber ich bohre<br />

gern dicke Bretter.“ Nach der Gründung<br />

1990 braucht seine amerikanische Niederlassung<br />

drei Jahre, bis sie ihr erstes Geld<br />

verdient. Für Bohle kein Problem: „Wir<br />

FOTOS: PR (2)<br />

80 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


sind ein Familienunternehmen und denken<br />

nicht in Vierteljahreszyklen.“<br />

In den vergangenen drei Jahren hat Bohle<br />

seinen Betrieb gleich mehrfach erweitert.<br />

Während andere Maschinenbauer<br />

nach dem Katastrophenjahr 20<strong>09</strong> zwei<br />

oder drei Jahre brauchen, bis die Umsätze<br />

wieder auf Vorkrisenniveau sind, fährt<br />

Bohle schon im Jahr nach der Krise wieder<br />

am Limit. Im April 2011 beginnt Bohle mit<br />

der drei Millionen Euro teuren Erweiterung<br />

des Zweitstandortes in Sassenberg,<br />

wenige Kilometer <strong>vom</strong> Stammwerk in Ennigerloh<br />

entfernt. Sechs Monate später<br />

sind Konstruktionsbüros und Fertigungsstätten<br />

in Betrieb.<br />

KAPAZITÄTEN VERDOPPELT<br />

Wenige Wochen nach der Einweihung<br />

kauft Bohle 20 000 Quadratmeter Bauland<br />

in der Nähe des Stammsitzes, um die dortigen<br />

Kapazitäten zu verdoppeln. Die Produktion<br />

soll in Kürze anlaufen. Im Frühjahr<br />

hat der Unternehmer zudem mit dem Bau<br />

eines neuen Test- und Technologiezentrums<br />

in Ennigerloh begonnen. Insgesamt<br />

investiert Bohle in die drei Objekte mehr<br />

als elf Millionen Euro.<br />

High Tech von 1981 Bohle (links) und der von<br />

ihm entwickelte Kontrollautomat für Tabletten<br />

Ist der Patron größenwahnsinnig geworden?<br />

Endet der Höhenflug mit einer<br />

Bruchlandung? „Wir brauchen diese Erweiterungen<br />

dringend“, antwortet Bohle<br />

auf kritische Fragen zu seinem Investitionstempo.<br />

„Wir platzten zuvor aus allen<br />

Nähten.“ Bohle verweist auf das Auftragspolster,<br />

das für zehn Monate reicht, und auf<br />

die Eigenkapitalquote von über 50 Prozent.<br />

In den kommenden vier Jahren erwartet<br />

der gelernte Maschinenschlosser und<br />

studierte Maschinenbau-Ingenieur ein<br />

durchschnittliches jährliches Wachstum<br />

von 20 Prozent. Rund 80 Prozent des Bohle-Geschäfts<br />

kommen heute aus dem Ausland.<br />

„Begriffe wie Zuverlässigkeit, Qualität<br />

und Effizienz stehen nicht nur für die Maschinen,<br />

sondern auch für die Dienstleistungen“,<br />

fasst Hans-Georg Feldmeier, Geschäftsführer<br />

des Pharmaherstellers Mibe<br />

aus Brehna in Sachsen-Anhalt, seine Erfahrungen<br />

mit Unternehmen und Gründer<br />

Bohle zusammen.<br />

Der inzwischen 74-Jährige bereitet seinen<br />

Wechsel in den Beirat vor. Sohn Armin<br />

ist 40 Jahre alt und seit zehn Jahren im Unternehmen,<br />

derzeit als technischer Leiter.<br />

2014 soll eine Lösung für die Nachfolge<br />

und die künftige Geschäftsführung gefunden<br />

werden. Den Beirat hat Bohle schon<br />

2011 gegründet, damit die Mitglieder beim<br />

Übergang eingearbeitet sind. Bohle, der als<br />

Mittsechziger durchgehen würde, will sich<br />

nicht mit einem Leben im Ohrensessel begnügen,<br />

sondern seine Rolle im Beirat aktiv<br />

gestalten: „Ich werde mit vollem Herzen<br />

dabei sein, aber ich will nicht mehr die alleinige<br />

Verantwortung tragen.“<br />

n<br />

lothar schnitzler | unternehmen@wiwo.de<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Spezial | Mittelstand<br />

Flott unterwegs<br />

Designer Boehm<br />

sucht ständig nach<br />

neuen Formen für<br />

Zweiräder<br />

Impulse von außen<br />

OUTSOURCING | Um effizienter und flexibler arbeiten zu können,<br />

lagern immer mehr Mittelständler Entwicklungsprojekte aus.<br />

Jesko Boehm schaut auf seinen Bildschirm:<br />

Dreidimensionale, sich drehende<br />

Fahrradrahmen sind zu sehen.<br />

„Wir müssen einen Rahmen entwickeln für<br />

ein neues E-Bike“, sagt Boehm. „Es soll<br />

nicht wuchtig wirken, eher sportlich.“<br />

Der Produktdesigner des Hamburger<br />

Fahrradherstellers Bergamont sucht nach<br />

neuen Formen. Das Unternehmen, das vor<br />

20 Jahren nur mit Fahrrädern handelte, ist<br />

inzwischen auch ein florierender Produzent<br />

mit 60 Mitarbeitern und 28 Millionen Euro<br />

Umsatz. Zweiräder sind in urbanen Zentren<br />

wie der Hansestadt beliebt. Städter greifen<br />

dafür tief ins Portemonnaie. Seit ein paar<br />

Jahren hat Bergamont auch Pedelecs im Angebot,<br />

das sind Fahrräder mit Elektromotor.<br />

„Die Nachfrage wächst seit etwa fünf Jahren<br />

kontinuierlich“, sagt Boehm. Doch die Fans<br />

elektrischer wie konventioneller Räder erwarten<br />

Jahr für Jahr Innovationen. Bei Bergamont<br />

kümmern sich zehn Mitarbeiter um<br />

neue Entwicklungen. Zusätzlich holen sich<br />

die Hanseaten Ideen <strong>vom</strong> Industriedesign-<br />

Unternehmen Teams Design mit Hauptsitz<br />

in Esslingen: „Wir brauchen Impulse von<br />

außen“, konstatiert Boehm, „die technische<br />

Umsetzung danach können wir selbst.“<br />

HILFE VOM DIENSTLEISTER<br />

Damit ist Bergamont in guter Gesellschaft.<br />

Immer mehr Konzerne, aber auch Mittelständler<br />

übertragen große Teile ihrer Entwicklungsbudgets<br />

teilweise oder sogar<br />

komplett an externe Dienstleister. Der<br />

Markt für Technologieberatung und Ingenieurdienstleistungen<br />

in Deutschland hat<br />

heute ein Volumen von 8,5 Milliarden Euro,<br />

so eine Studie des in Kaufbeuren ansässigen<br />

Marktforschers Lünendonk (siehe Grafik<br />

Seite 84). Lünendonk listet jedes Jahr die 25<br />

größten Anbieter auf, darunter Bertrandt,<br />

IAV, Ferchau, Altran und MBtech.<br />

„Der hohe Innovationsdruck, komplexe<br />

Technologien, verbunden mit kurzen Innovationszyklen,<br />

sowie eine limitierte Zahl<br />

an internen Ingenieuren verstärken die<br />

Nachfrage nach externen Entwicklungsdienstleistungen“,<br />

sagt Studienautor Hartmut<br />

Lüerßen. Größter Auftraggeber ist die<br />

Automobilindustrie, gefolgt von der Luftund<br />

Raumfahrtbranche.<br />

Der Hamburger Teams-Design-Geschäftsführer<br />

Ulrich Schweig übernimmt<br />

nicht nur Entwicklungsaufgaben für Bergamont.<br />

Das international tätige Unternehmen,<br />

das mit 30 Mitarbeitern 3,2 Millionen<br />

Euro umsetzt, liefert Kreativ- und Strategieberatung<br />

in unterschiedlichen Planungs-<br />

und Umsetzungsstadien.<br />

So werden die Industriedesigner auch<br />

zu Rate gezogen, wenn die Technik be-<br />

»<br />

FOTO: PR<br />

82 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Spezial | Mittelstand<br />

»<br />

reits da ist, ein ausgereiftes Produkt aber<br />

noch fehlt. Bosch kam mit einem Fahrrad-<br />

Elektromotor zu Teams Design, um ihn<br />

marktreif zu entwickeln. Die Hanseaten erarbeiteten<br />

mit Bosch ein Konzept, um das<br />

Unternehmen zum Komponentenlieferanten<br />

für E-Bike-Hersteller zu machen.<br />

Heute ist Bosch mit 30 Prozent Marktanteil<br />

ein führender Teilelieferant im E-Bike-<br />

Geschäft.<br />

Auch Bode Chemie holt sich Hilfe von<br />

außen. Seit 90 Jahren stellen die Hamburger<br />

Mittel zur Desinfektion, Hygiene und<br />

zum Hautschutz her. Die rund 400 Produkte<br />

des Mittelständlers mit einem Umsatz<br />

von zuletzt rund 100 Millionen Euro sollen<br />

Keime und Bakterien töten und Infektionen<br />

verhindern. Das Unternehmen arbeitet<br />

bei der Forschung mit dem ortsansässigen<br />

öffentlichen Centrum für Angewandte<br />

Nanotechnologie (CAN) zusammen.<br />

Gemeinsam erforschen die Partner neue<br />

Methoden, um unterschiedliche Oberflächen<br />

wie Tischplatten oder PC-Bildschirme<br />

einfacher zu desinfizieren. „Wir sehen<br />

uns als verlängerte Forschungs- und Entwicklungsbank<br />

der Wirtschaft“, sagt Frank<br />

Schröder-Oeynhausen, Geschäftsführer<br />

des Gemeinschaftsprojektes, das als öffentlich-private<br />

Partnerschaft geführt wird.<br />

Die Betriebe kämen meistens schon mit<br />

relativ konkreten Produktideen auf das<br />

CAN zu, sagt er. Gemeinsam definiere man<br />

dann die notwendigen Forschungs- und<br />

Entwicklungsschritte. Entsteht am Ende<br />

ein marktfähiges Produkt, erhält das CAN<br />

häufig eine Gewinnbeteiligung.<br />

SCHNELLER AUF DEN MARKT<br />

Bode-Chemie-Forschungsleiterin Barbara<br />

Krug lobt das professionelle Projektmanagement<br />

und den ausgeprägten Forschergeist<br />

der externen Wissenschaftler: „Durch<br />

die Ausgliederung einiger F&E-Aktivitäten<br />

werden viele Prozesse beschleunigt, und<br />

wir können schneller mit neuen Produkten<br />

auf den Markt kommen.“<br />

Neben der Geschwindigkeit gibt es noch<br />

andere Gründe für den zunehmenden<br />

Trend zum Outsourcing. Bei vielen Mittelständlern,<br />

insbesondere technisch orientierten,<br />

sind Fachkräfte knapp.<br />

So braucht etwa Klaus Onderka, Prokurist<br />

bei Salzbrenner Stagetec Mediagroup,<br />

einem Unternehmen mit 260 Mitarbeitern<br />

aus dem fränkischen Buttenheim, dringend<br />

Ingenieure für neue Entwicklungsprojekte.<br />

Doch der Arbeitsmarkt ist leer gefegt.<br />

Salzbrenner Stagetec hat gerade das<br />

Opernhaus in Sydney und das Bolschoi<br />

Konstruieren, programmieren, projektieren<br />

Ingenieurdienstleister Ferchau und seine<br />

Mitarbeiter unterstützen Mittelständler<br />

Hilfe für den Mittelstand<br />

Umsatzentwicklungbei den 25 führenden<br />

deutschenTechnologieberaternund<br />

Ingenieurdienstleistern (inProzent, im<br />

Vergleichzum Vorjahr)<br />

10,8 10,1<br />

–4,6<br />

15,9<br />

14,8<br />

2008 20<strong>09</strong> 2010 2011 20<strong>12</strong><br />

Quelle:Lünendonk Marktforschung<br />

Theater in Moskau mit professioneller<br />

Ton- und Videotechnik sowie speziellen<br />

Signalanlagen für Theater ausgestattet.<br />

„Solche Großaufträge sind für uns ohne externe<br />

Dienstleister nicht zu schaffen“, sagt<br />

Onderka.<br />

20<strong>12</strong> hat sein Unternehmen 60 Millionen<br />

Euro umgesetzt. Die Franken entwerfen für<br />

Kunden rund um den Globus maßgeschneiderte<br />

hochwertige Audio- und Video-Lösungen,<br />

die hauptsächlich in<br />

Opernhäusern, Sportstadien und Fernsehstationen<br />

zum Einsatz kommen.<br />

Seit zehn Jahren arbeitet Onderka regelmäßig<br />

mit Ingenieuren des Gummersbacher<br />

Dienstleisters Ferchau Engineering<br />

zusammen. Für die Arbeiten in Australien<br />

benötigte Onderka 16 externe Fachkräfte:<br />

„Federführend bei den Projekten bleiben<br />

aber immer unsere eigenen Mitarbeiter.“<br />

Die Angst in mittelständischen Chefetagen,<br />

Kernkompetenzen nach draußen zu<br />

geben, kennt Frank Ferchau. Er führt mit<br />

mehr als 5700 Mitarbeitern in über 60 Niederlassungen<br />

einen der größten deutschen<br />

Dienstleister für Engineering und Outsourcing.<br />

20<strong>12</strong> lag der Umsatz bei 430 Millionen<br />

Euro. Seine Spezialisten arbeiten vor allem<br />

für Mittelständler aus Autoindustrie, Maschinenbau<br />

und Luftfahrt: „Wir entwickeln,<br />

konstruieren, projektieren – kurz:<br />

unterstützen den Kunden in allen Bereichen<br />

des Engineerings“, sagt Ferchau.<br />

Neben den Dienstleistungen wie bei<br />

Salzbrenner Stagetec, bei dem die Fachkräfte<br />

des Dienstleisters zum Kunden kommen<br />

und ihn bei Projekten unterstützen,<br />

bearbeitet das Unternehmen auch ganze<br />

Auftragspakete in den eigenen Büros.<br />

KOSTEN DRÜCKEN<br />

Solche Kooperationen funktionieren aber<br />

auch in umgekehrte Richtung. Das Karlsruher<br />

Institut für Technologie (KIT) beispielsweise,<br />

das zur Helmholtz-Gemeinschaft<br />

gehört, holt sich Rat in der Wirtschaft.<br />

Olaf Wollersheim, Projektleiter am<br />

KIT, und seine Forscherkollegen wollen<br />

mit ihrem Projekt Competence E die Kosten<br />

für die Produktion von Lithium-Ionen-<br />

Batterien drücken. Darum beauftragten sie<br />

den Anlagenbauer M+W Group aus Stuttgart,<br />

der zuletzt auf einen Jahresumsatz<br />

von 2,5 Milliarden Euro kam, mit dem Bau<br />

eines Trockenraums, in dem Lithium-<br />

Ionen-Akkus gebaut werden können.<br />

Seit ein paar Wochen ist der Raum fertig.<br />

„Durch die Kooperation haben wir eine<br />

enorme Qualität erreicht“, sagt Wollersheim.<br />

„Unsere Messgeräte sind an der unteren<br />

Grenze ihres Messbereichs angelangt,<br />

es ist fast keine Luftfeuchtigkeit<br />

mehr feststellbar.“ Das seien optimale Voraussetzungen<br />

für die Herstellung von<br />

Stromspeichern.<br />

„Die Kooperation gibt uns die Möglichkeit,<br />

unsere Entwicklungsergebnisse direkt<br />

in neue Fabrikkonzepte für die Batterieherstellung<br />

einfließen zu lassen und damit<br />

weltweit zu vermarkten“, sagt Andreas<br />

Gutsch, Koordinator des Projekts am KIT.<br />

Und auch der Dienstleister profitiert: „Gemeinsam<br />

werden wir schneller zu neuen<br />

Möglichkeiten der Kostensenkung in der<br />

Batterieproduktion unserer Kunden kommen“,<br />

sagt Jürgen Wild, Vorsitzender der<br />

Geschäftsführung bei M+W.<br />

Es gibt aber auch Grenzen für Outsourcing.<br />

So würde Bergamont-Fahrraddesigner<br />

Boehm auf keinen Fall die Projektleitung<br />

aus der Hand geben. „Das Briefing<br />

muss immer unsere Aufgabe bleiben.<br />

Wir müssen den Überblick behalten.“ n<br />

anja steinbuch | unternehmen@wiwo.de<br />

FOTO: PR<br />

84 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Spezial | Mittelstand<br />

Von Menschen und<br />

Prozessen<br />

DEKRA-AWARD | Die Auszeichnungen für wegweisende Konzepte<br />

im Bereich Umwelt und nachhaltige Personalpolitik gehen an zwei<br />

mittelständische Unternehmen.<br />

„Es gibt bei uns nicht nur Friede, Freude,<br />

Eierkuchen. Aber bei allem Zeit- und Leistungsdruck<br />

versuchen wir ein Umfeld zu<br />

schaffen, das es den Mitarbeitern erlaubt,<br />

ihre maximale Leistung zu bringen, ohne<br />

sich dabei zu verausgaben“, erklärt Orthaus<br />

die Arbeitsphilosophie des Hauses.<br />

Das Konzept trägt Früchte. Vanderlande<br />

Industries, die deutsche Softwaretochter<br />

des gleichnamigen niederländischen Maschinenbaukonzerns<br />

mit einem Umsatz<br />

von rund 750 Millionen Euro, ist nicht nur<br />

wiederholt als beliebtester Ausbildungsbetrieb<br />

im Ruhrgebiet ausgezeichnet worden.<br />

Für seine nachhaltige Personalpolitik wurde<br />

der Mittelständler aus Dortmund jetzt<br />

auch mit dem Dekra-Award in der Kategorie<br />

Gesundheit geehrt:„Die Firma“, heißt es<br />

in der Laudatio der Jury, „hat ein ganzheitliches<br />

Konzept eingeführt, welches die aktive<br />

Suche nach Nachwuchskräften beinhaltet.<br />

Zudem misst das Unternehmen mit<br />

innovativen Methoden regelmäßig die<br />

Auslastung der Mitarbeiter, fördert sportliche<br />

Aktivitäten und sorgt mit einem Gesundheitskonzept<br />

dafür, dass die Mitarbeiter<br />

eine gute Work-Life-Balance finden.“<br />

Gesundes Arbeitsklima<br />

Das Softwareunternehmen<br />

Vanderlande sorgt<br />

für stressfreie Meetings<br />

Sechs Wochen ist noch Zeit, dann<br />

muss das Programm für den Kunden<br />

geschrieben und getestet sein. Eine<br />

große Supermarktkette am anderen Ende<br />

der Welt – der Kunde legt Wert auf Diskretion<br />

– hat am Rande einer Millionenstadt ein<br />

Kühlhaus gebaut, in dem Fleisch reifen<br />

soll. Stücke von Rind, Schwein und Lamm<br />

werden hier in koffergroße Transportbehälter<br />

gepackt und von automatisch arbeitenden<br />

Fördersystemen im Hochregallager<br />

verstaut – um Stunden oder Tage später in<br />

der benötigten Menge hervorgeholt und in<br />

einer Fleischfabrik für den Verkauf portioniert,<br />

filetiert oder verwurstet zu werden.<br />

Vor Inbetriebnahme der Anlage sind im<br />

fernen Dortmund noch etliche Fragen für<br />

die Steuerungssoftware zu klären: Wie viel<br />

Material kommt im Kühlhaus täglich an?<br />

Und wie stapelt man die Ware so, dass sie<br />

nicht nur wenig Platz beansprucht, sondern<br />

auch nach Frischegrad sortiert ist?<br />

Außerdem sollte die Software auch Lieferdaten<br />

aus dem Schlachtbetrieb verarbeiten<br />

können – Wunsch des Kunden ist eine<br />

durchgängige Informationskette.<br />

Stress ist bei der Teambesprechung der<br />

Softwareentwickler von Vanderlande Industries<br />

dennoch nicht zu spüren. Es wird<br />

geflachst, es wird gelacht, Mandarinen<br />

werden gepellt – um dann wieder konzentriert<br />

am nächsten Detail des Kommissionierungssystems<br />

zu feilen.<br />

STÖRFAKTOREN GESUCHT<br />

Zwischendurch findet einer der jungen<br />

Mitarbeiter sogar noch Zeit für eine wöchentliche<br />

Routine – das Feedback-Gespräch<br />

mit seinem Vorgesetzten Frank Orthaus.<br />

Dieser möchte von ihm hören, ob aktuell<br />

möglicherweise irgendwelche Faktoren<br />

eine effektive Arbeit stören oder verhindern.<br />

Lange braucht das Gespräch<br />

nicht: Schon nach einer Viertelstunde brütet<br />

der Entwickler wieder über dem Kühlhaus-Projekt.<br />

FRÜCHTEKÖRBE FÜR ALLE<br />

Der Kopf hinter der preisgekrönten Initiative<br />

ist Bodo Schlenker. Der Elektrotechnik-<br />

Ingenieur leitet seit 2008 das operative Geschäft.<br />

Software aus Dortmund steuert die<br />

Abläufe in automatisierten Lagerhäusern<br />

in aller Welt, aber auch Gepäckfördersysteme<br />

an Großflughäfen wie Berlin.<br />

Das Geschäft brummt: Der Internet-<br />

Handel lässt überall neue Warenverteilzentren<br />

emporwachsen – und sorgt dafür,<br />

dass bei Vanderlande Industries die Arbeit<br />

nicht ausgeht und wohl auch 2014 neue<br />

Kräfte eingestellt werden müssen. Nur ist<br />

das Unternehmen außerhalb der Branche<br />

und des Dortmunder Technologieparks<br />

kaum bekannt. Um neue Mitarbeiter zu gewinnen<br />

und wertvolle Kräfte zu halten, hat<br />

Schlenker ein Bündel von Maßnahmen<br />

entwickelt, die für ein gutes Arbeitsklima<br />

und einen außergewöhnlich niedrigen<br />

Krankenstand von unter zwei Prozent sorgen.<br />

Auf allen Fluren und in allen Konferenzräumen<br />

stehen Obstkörbe für die 200 Mitarbeiter.<br />

Es gibt Sportaktivitäten, Healthand-Safety-Schulungen<br />

sowie eine regelmäßige<br />

Überprüfung der Arbeitsplätze<br />

durch die Berufsgenossenschaft. Wöchentliche<br />

Feedback-Gespräche mit den Führungskräften<br />

und Resilienzprogramme sollen<br />

verhindern, dass im Projektgeschäft<br />

FOTO: DOMINIK ASBACH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PR<br />

86 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


der Stress überhandnimmt. E-Mails an Urlauber<br />

sind genauso verpönt wie Anrufe<br />

bei Beschäftigten außerhalb der Arbeitszeiten<br />

– Notfälle ausgenommen. Schlenker:„Wir<br />

verstehen uns hier als Kollektiv, in<br />

dem sich jeder um den anderen kümmert.“<br />

Probleme erkennen, noch ehe sie entstehen,<br />

und Lösungen unbürokratisch und in<br />

Eigeninitiative entwickeln: Diese Geschäftsphilosophie<br />

eint Vanderlande Industries<br />

mit dem zweiten Preisträger des<br />

Dekra-Awards, die Fritz-Gruppe aus Heilbronn.<br />

Das familiengeführte mittelständische<br />

Speditionsunternehmen – Jahresumsatz<br />

20<strong>12</strong>: 69,3 Millionen Euro – überzeugte<br />

die Jury in der Kategorie Umwelt mit einem<br />

umfassenden Klimaschutz-Programm.<br />

„Als zukunftsorientiertes Logistikunternehmen<br />

und im Interesse künftiger Generationen<br />

stehen wir vor der Herausforderung,<br />

ökologische und ökonomische Notwendigkeiten<br />

intelligent miteinander zu<br />

verknüpfen“, erklärt Geschäftsführer Wolfram<br />

Fritz seine Motivation, das 1938 gegründete<br />

Transportunternehmen auf<br />

„Green Logistics“ zu trimmen.<br />

So senkte eine neue Lkw-Waschanlage<br />

den jährlichen Wasserverbrauch um mehr<br />

Mit Eco-Fahrtraining in die Zukunft<br />

Spediteur Fritz setzt auf Umweltschutz<br />

als 27 Prozent, ein aufwendiges Abfallmanagement<br />

die im Betrieb anfallende Restmüllmenge<br />

um fast 30 Prozent. Fotovoltaikmodule<br />

über der Laderampe sollen in<br />

diesem Jahr rund <strong>12</strong>0 000 Kilowattstunden<br />

Strom erzeugen und damit den Energieverbrauch<br />

bei Lagerhaltung und in der Verwaltung<br />

deutlich senken. Der Sonnenstrom<br />

wird unter anderem dazu genutzt,<br />

um die elektrisch betriebenen Gabelstapler<br />

auf dem Werksgelände zu laden.<br />

Die größten Fortschritte, berichtet der<br />

Umweltbeauftragte Andreas Nohe, seien<br />

im Fuhrpark erzielt worden. Die Fritz-<br />

Gruppe, die unter anderem Autoteile, Lebensmittel,<br />

Chemikalien und Flüssigmetalle<br />

transportiert, setzt im internationalen<br />

Verkehr über 100 Lastzüge ein. Das<br />

Gros der Trucks erfüllt die Schadstoffnorm<br />

Euro 5, zwei nagelneue Zugmaschinen<br />

von Scania sogar die nochmals strengere<br />

Euro-6-Norm. Um die Flotte effektiv<br />

nutzen zu können, hat Geschäftsführer<br />

Fritz ein Telematiksystem installieren lassen.<br />

Damit werden sämtliche Fahrten<br />

haarklein dokumentiert.<br />

Und Nohe hat alle Kraftfahrer zum Eco-<br />

Intensiv-Training geschickt. Wie er andeutet,<br />

hatten einige der altgedienten Trucker<br />

anfangs Mühe, sich mit den „neumodischen“<br />

Fahrtechniken anzufreunden. Inzwischen<br />

lässt sich der Erfolg der Schulung<br />

mit Tankquittungen belegen: Der<br />

Spritverbrauch sank in drei Jahren um fast<br />

ein Drittel auf unter 30 Liter pro 100 Kilometer.<br />

Unter dem Strich stand eine<br />

Ersparnis von fast 700 000 Liter Diesel.<br />

Nohe: „Fragen nach dem Sinn der Schulungen<br />

werden inzwischen nicht mehr<br />

gestellt.“<br />

n<br />

franz.rother@wiwo.de<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Technik&Wissen<br />

Erste Wahl<br />

MOBILFUNK | Bester Klang, Datenturbo beim mobilen Online-Zugriff oder ein ausgewogener<br />

Mix aus Sprache und Daten – Geschäftskunden haben ganz unterschiedliche<br />

Anforderungen an ihr Handynetz. Der exklusive Business-Check der WirtschaftsWoche und<br />

des Fachmagazins „Connect“ zeigt, welches Mobilfunknetz für wen am besten passt.<br />

Top oder Flop? Wenn die Experten<br />

<strong>vom</strong> Stuttgarter Mobilfunkmagazin<br />

„Connect“ alljährlich<br />

im Dezember ihren Netztest publizieren,<br />

ist das für die Technikchefs<br />

von Deutscher Telekom, Vodafone,<br />

Telefónica O2 oder E-Plus immer ein wenig<br />

wie der Besuch <strong>vom</strong> Nikolaus: Wo die Netze<br />

schwächeln, setzt es verbale Haue – erst<br />

von „Connect“, dann <strong>vom</strong> Vorstand.<br />

Für die Sieger aber gibt es Süßes, Lob für<br />

die Qualität, die sich erfolgreich bewerben<br />

lässt: „Deutschlands bestes Netz“ – der renommeeträchtige<br />

Titel, den die Deutsche<br />

Telekom in diesem Jahr zum dritten Mal in<br />

Folge erringt, zählt am Markt. Und doch ist<br />

das Urteil über alle Technikdisziplinen,<br />

von der Dauer beim Gesprächsaufbau von<br />

Telefonaten bis zur Zahl der Ruckler beim<br />

mobilen YouTube-Konsum, für viele Kunden<br />

weniger wichtig, als es scheint. Das gilt<br />

speziell für Geschäftsleute.<br />

Deren Jobs sind heute ohne Handy zwar<br />

kaum mehr denkbar. Doch ob Managerin<br />

oder Monteur, Sozialarbeiterin oder Servicetechniker,<br />

alle haben ganz unterschiedliche<br />

Anforderungen ans Funknetz:<br />

Bester Klang, höchstes Tempo bei Daten,<br />

ein ausgewogener Mix oder ein optimales<br />

Preis-Leistungs-Verhältnis – was für den einen<br />

zählt, ist für den anderen Nebensache.<br />

FOKUS AUF GESCHÄFTSKUNDEN<br />

Auch in diesem Jahr hat die Wirtschafts-<br />

Woche daher auf Basis der von „Connect“<br />

zur Verfügung gestellten Daten eine exklusive<br />

zweite Analyse erstellt und so die optimalen<br />

Business-Netze ermittelt – jeweils<br />

ausgerichtet an den Bedürfnissen von vier<br />

typischen Geschäftskunden: Denn das im<br />

Wähler-Votum<br />

Stärken-und-Schwächen-Profil der<br />

deutschen Netzbetreiber, gemessen in<br />

Prozent der optimalen Versorgungsqualität<br />

Telefonie<br />

Ballungsraum<br />

Telefonie Land/<br />

Autobahn<br />

Daten<br />

Ballungsraum<br />

Daten Land/<br />

Autobahn<br />

Gesamturteil<br />

(gewichtet)<br />

Telekom Vodafone<br />

89<br />

81<br />

96<br />

90<br />

91<br />

Quelle: Connect, P3 Communications,<br />

eigene Berechnungen<br />

Durchschnitt beste Netz ist nicht für jeden<br />

Nutzertyp die beste Wahl. Für manchen<br />

passt das Angebot der Konkurrenz besser.<br />

Basis der Bewertung sind 16 000 Testanrufe,<br />

100000 Web-Seiten-Abrufe und 40000<br />

Dateiübertragungen via Handy oder Tablet.<br />

Die Experten des „Connect“-Messpartners<br />

P3 Communications haben die Daten auf<br />

Tausenden Kilometern Testfahrten durch<br />

die Republik erfasst – von Aachen bis Dresden<br />

und von München bis Kiel.<br />

Viele Gigabyte an Messwerten zur Stabilität<br />

und Leistungsfähigkeit der Sprachund<br />

Datenverbindungen fließen so in die<br />

Stärke-und-Schwäche-Profile der vier<br />

deutschen Mobilfunknetze ein. Sie bestimmen<br />

die Empfehlungen auf den folgenden<br />

Seiten. Und sie fallen für einzelne Business-Bedürfnisse<br />

zum Teil ganz anders aus<br />

als das in dieser Woche parallel veröffentlichte<br />

Universalurteil aus Stuttgart.<br />

60<br />

56<br />

88<br />

81<br />

77<br />

O2<br />

73<br />

59<br />

81<br />

41<br />

70<br />

E-Plus<br />

86<br />

65<br />

66<br />

49<br />

68<br />

Dabei steckt die Branche mitten im radikalen<br />

Wandel. Denn der anhaltende<br />

Smartphone-Boom zwingt die Mobilfunker,<br />

ihre Netze komplett umzustellen. Die<br />

etablierte GSM- und UMTS-Technik stößt<br />

angesichts der explosionsartig wachsenden<br />

Datenmengen an ihre Grenzen. Telekom,<br />

Vodafone und O2 rüsten ihre Sendestationen<br />

daher schon mit der neuen ultraschnellen<br />

LTE-Technik auf. E-Plus will im<br />

kommenden Jahr nachziehen.<br />

TÜCKEN BEIM TURBO<br />

Doch der Umbau hat Tücken: LTE ist zwar<br />

in der Lage, immense Datenmengen zu<br />

übertragen; teils schneller als viele DSL-<br />

Festnetzanschlüsse. Zugleich aber ist der<br />

Übertragungsstandard Voice over LTE<br />

(VoLTE) für Telefonate über die neue Netztechnik<br />

weder etabliert, noch beherrschen<br />

die aktuellen Smartphones die Technik.<br />

Und so müssen die Telefone bei Anrufen<br />

immer erst den Datenturbo kappen, um<br />

dann Sprachverbindungen über die ältere<br />

GSM- oder UMTS-Technik aufzubauen.<br />

Unerwünschter Nebeneffekt: „Speziell bei<br />

Vodafone und O2 geht der LTE-Tempogewinn<br />

bei Daten zulasten von Geschwindigkeit<br />

und Erfolgsquote beim Aufbau von<br />

Sprachverbindungen“, erklärt „Connect“-<br />

Cheftester Bernd Theiss die, verglichen mit<br />

dem Vorjahr, teils merklich schlechteren<br />

Ergebnisse einiger Anbieter.<br />

Wie sich das in den vier Nutzerszenarien<br />

bemerkbar macht, welches Netz sich für<br />

welchen Mobilfunkbedarf am besten eignet<br />

und auch, wie Handyasketen glücklich<br />

werden, das lesen Sie auf den folgenden<br />

Seiten.<br />

thomas.kuhn@wiwo.de, thiemo bräutigam<br />

FOTO: ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

88 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Jede Silbe zählt<br />

Investmentbanker Riedlbauer<br />

managt Telefonkonferenzen via<br />

Handy – auch aus dem Taxi<br />

Manager<br />

Wenn Julian Riedlbauer mal<br />

den Anschluss verliert, könnte<br />

das richtig teuer werden. Denn der<br />

39-Jährige, Partner bei der Investmentbank<br />

GP Bullhound, steckt als Experte für Unternehmenszukäufe<br />

und -zusammenschlüsse<br />

von Technologieunternehmen regelmäßig<br />

Stunden in Telefonkonferenzen, um die<br />

Gespräche potenzieller Geschäftspartner<br />

zu moderieren.<br />

t<br />

Priorität Qualität<br />

Viel reisend<br />

Stets erreichbar<br />

Höchste Sprachqualität<br />

Vielfach <strong>vom</strong> Handy aus, weil Riedlbauer<br />

pro Woche oft mehr Zeit unterwegs als<br />

an seinem Berliner Schreibtisch verbringt.<br />

„Erstklassige Sprachqualität und ein<br />

schneller Verbindungsaufbau“ sind für den<br />

M&A-Berater daher Top-Kriterien bei der<br />

Wahl des Handynetzes. Für Mobilfunkkunden<br />

wie ihn, bei denen das Smartphone<br />

zum mobilen Büro mutiert, sind Wartezeiten<br />

bei der Anwahl, Abbrüche, Störgeräusche<br />

oder Silben, die im Funknetz<br />

verloren gehen, schlicht inakzeptabel. „Bei<br />

den Gesprächen kommt es auf jedes Wort<br />

an“, sagt Riedlbauer, „da ist die zuverlässige<br />

Handyverbindung ein absolutes Muss.“<br />

Ein paar Euro mehr oder weniger für den<br />

Mobilfunktarif zählen nicht, wenn es um<br />

Millionendeals geht. Kunden wie er setzen<br />

stattdessen auf modernste Übertragungstechnik<br />

und beste Netzabdeckung, auch<br />

abseits der Ballungsräume.<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 89<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Technik&Wissen<br />

»<br />

Die Stabilität der Internet-Verbindungen<br />

ist eher nachrangig. Klar, E-Mails und<br />

Anhänge müssen zügig ankommen,<br />

aber höchstes Tempo<br />

bei Versand oder Download<br />

der Nachrichten fällt – im Vergleich<br />

mit Verlässlichkeit und<br />

Verständlichkeit der Sprachverbindungen<br />

– weniger ins<br />

Gewicht.<br />

Klarer Sieger dieses Business-Szenarios<br />

ist die Deutsche<br />

Telekom. Ihr Netz liefert<br />

nicht nur in den besser ausgebauten<br />

Ballungsräumen Bestwerte,<br />

sondern auch auf den<br />

Strecken dazwischen, die durch<br />

ländliche Regionen führen. Mit<br />

98 Prozent Erfolgsrate beim<br />

Verbindungsaufbau, 99,6 Prozent<br />

durchgehend akzeptablen<br />

Verbindungen und nur 6,3 Sekunden<br />

Wartezeit beim Rufaufbau<br />

setzen die Bonner Standards. Umso<br />

mehr, als die Telekom bereits in Teilen des<br />

Netzes die hochwertige HD-Voice-Technik<br />

einsetzt, was eine deutlich hörbar bessere<br />

Klangqualität ermöglicht.<br />

Auf HD-Voice müssen Kunden von<br />

E-Plus zwar verzichten. Doch bei dem in<br />

diesem Szenario Zweitplatzierten, der lange<br />

unter Qualitätsproblemen litt, zahlen<br />

sich nun die massiven Investitionen ins<br />

Netz aus. Zwar hat E-Plus als einziger Anbieter<br />

noch nicht mit dem LTE-Ausbau begonnen.<br />

Doch wer primär telefoniert, und<br />

das auch noch bevorzugt in städtischen<br />

Gebieten, bekommt sehr gute Sprachverbindungen<br />

auch in diesem Netz – und das<br />

für weniger Geld.<br />

Netz-Tipp: Deutsche Telekom<br />

Bedarf: Zehn Stunden Sprachtelefonie<br />

im Monat, Gesprächsverteilung Festnetz/<br />

Mobil: 2/3 zu 1/3; zwei Gigabyte Datenvolumen,<br />

mittlere Datengeschwindigkeit<br />

Top-Anbieter: Kein Netz baut Telefonate<br />

in Städten und Umland so schnell und so<br />

verlässlich auf wie das der Telekom – und<br />

das trotz des potenziell zeitaufwendigen<br />

Wechsels von LTE zu GSM/UMTS. Auch<br />

fern der Städte auf den Autobahnen ist die<br />

Telekom nicht zu schlagen<br />

Alternativen: Schnelle und verlässliche<br />

Anwahl, stabile Verbindungen, das bietet<br />

E-Plus in Stadt und Umland für weniger<br />

Geld als die Telekom. Auf dem Land wird<br />

der Abstand zum Gesamtsieger größer –<br />

aber nicht markant<br />

Priorität Preis<br />

Selbstständige<br />

Gute<br />

Erreichbarkeit in<br />

Ballungsräumen<br />

Niedrige Kosten<br />

t<br />

Im Grunde genommen<br />

könnte Emine Ortac ihr Bürotelefon<br />

auch abmelden.<br />

Schließlich sei sie „ohnehin<br />

fast den ganzen Tag unterwegs“,<br />

sagt die <strong>vom</strong> Gericht<br />

bestellte gesetzliche Berufsbetreuerin,<br />

die im<br />

Düsseldorfer Umland für<br />

seelisch Kranke tätig ist.<br />

Nicht nur für ihre Klienten<br />

ist die 50-Jährige fast<br />

ausschließlich über ihr Mobiltelefon<br />

erreichbar. Auch<br />

die täglich hohe zweistellige<br />

Zahl von Telefonaten<br />

mit Behörden, Gerichten,<br />

Krankenhäusern, Banken<br />

oder Sozialarbeitern erledigt<br />

die examinierte Krankenschwester<br />

per Handy. „Wenn ich abends ins<br />

Büro komme, ist es für Rückrufe eh zu spät“,<br />

sagt sie, die am Schreibtisch stattdessen Papierkram<br />

und E-Mail-Verkehr erledigt.<br />

Gute Erreichbarkeit, aber zu vertretbaren<br />

Preisen, das ist für kostenbewusste<br />

Selbstständige wie<br />

Emine Ortac das entscheidende<br />

Kriterium. Wenn es dafür bei der<br />

Anwahl des Gesprächspartners mal<br />

etwas länger dauert, dann nehmen<br />

sie das im Tausch gegen ein merklich<br />

niedrigeres Mobilfunkbudget<br />

gern in Kauf. Und auch beim mobilen<br />

Zugriff aufs Internet oder dem Austausch<br />

von E-Mails spielt Schnelligkeit zumeist<br />

eine geringere Rolle. Erst recht, wenn<br />

die Masse der Schreibarbeiten ohnehin am<br />

Büro-PC anfällt.<br />

Dass der „Connect“-Gesamtsieger Deutsche<br />

Telekom beispielsweise Daten mehr<br />

als fünf-, der Zweitplatzierte Vodafone immerhin<br />

noch knapp dreimal schneller<br />

durch den Äther schiebt als der – mangels<br />

LTE-Infrastruktur – langsamste Netzbetreiber<br />

E-Plus, fällt in diesem Nutzerszenario<br />

folglich nicht ins Gewicht. Hier bieten die<br />

Düsseldorfer Mobilfunker für Kunden wie<br />

Betreuerin Ortac das passende Angebot.<br />

Umso mehr, als E-Plus-Kunden umgekehrt<br />

durch sehr kurze Rufaufbauzeiten<br />

sogar davon profitieren, dass der potenziell<br />

zeitraubende Wechsel der Funktechnik –<br />

noch – wegfällt. Das könnte sich durch den<br />

LTE-Ausbau ab nächstem Jahr ändern,<br />

muss aber nicht. Denn die Netztechniker<br />

der Telekom beweisen mit extrem schnellen<br />

Verbindungen, dass sich die Umschalt-<br />

Gedenksekunden dem Netz auch abtrainieren<br />

lassen.<br />

Netz-Tipp: E-Plus<br />

Bedarf: Vier Stunden Sprachtelefonie,<br />

Gesprächsverteilung Festnetz/Mobil:<br />

1/3 zu 2/3; 500 Megabyte Datenvolumen,<br />

niedrige Datengeschwindigkeit<br />

Top-Anbieter: Lange der abgeschlagene<br />

letzte unter den vier Netzbetreibern, hat<br />

E-Plus deutlich aufgeholt und sich zum<br />

attraktivsten Angebot für preissensible<br />

Telefonkunden ohne große Ansprüche bei<br />

mobilen Internet-Zugriffen gemausert<br />

Alternativen: Ebenfalls preiswerter als die<br />

beiden D-Netze und – dank der teils<br />

schon installierten LTE-Infrastruktur – bei<br />

Datenübertragungen leistungsstärker,<br />

empfiehlt sich O2 für Preisbewusste mit<br />

etwas höheren Ansprüchen an mobile<br />

Datenübertragungen<br />

Netzwerker<br />

Prorität Leistung<br />

Schnelle Datenübertragung<br />

Gute Sprachqualität<br />

Manchmal sagt ein Bild eben mehr als<br />

alle Worte, um Kunden eine Idee zu vermitteln.<br />

Dann ist Michael Herling gefragt,<br />

die Vorstellungen zu visualisieren. „Da hilft<br />

es, schnell ein Foto oder Video einer Location<br />

zu machen und per Handy zu verschicken“,<br />

sagt der Grafikdesigner und Videokünstler,<br />

der in Brühl bei Köln mit seiner<br />

Frau die Agentur für Design und Gestaltung<br />

Digitale Frische betreibt.<br />

Längst dient das Smartphone dabei für<br />

den 45-Jährigen als kommunikatives<br />

Allzweckwerkzeug. „Ich bin oft unterwegs,<br />

bearbeite Mails und lade oder verschicke<br />

Präsentationsvideos.“ VimeoPlus-Account<br />

und Dropbox-App zum Austausch großer<br />

Dateien fordern das Funknetz zusätzlich.<br />

Kein Wunder, dass Herling kürzlich einen<br />

Nachschlag aufs Telefon- und Datenvolumen<br />

dazugebucht hat. Denn zuletzt<br />

hielt das Inklusivvolumen mit dem wachsenden<br />

Kommunikationsbedarf nicht<br />

mehr mit.<br />

t<br />

FOTO: DOMINIK PIETSCH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

90 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Priorität Daten<br />

Ob Web-Zugriff oder Telefonkonferenz,<br />

das erfordere eine gute Netzleistung – sowohl<br />

bei der Gesprächsqualität als auch<br />

beim Datenverkehr, sagt der Designer, der<br />

auch beim Versand von E-Mails und Dateien<br />

Wert auf möglichst hohe Geschwindigkeiten<br />

legt. Für Kunden mit einem solchen<br />

Nutzerprofil gibt es aktuell keine ernsthafte<br />

Alternative zu den beiden großen Netzbetreibern.<br />

Wer auf besonders schnelle<br />

Uploads angewiesen ist, kommt bei Vodafone<br />

etwas besser weg.<br />

Netz-Tipp: Vodafone<br />

Bedarf: Sechs Stunden Sprachtelefonie;<br />

Gesprächsverteilung Festnetz/Mobil: 3/4<br />

zu 1/4; drei Gigabyte Datenvolumen mit<br />

hoher Geschwindigkeit auch beim Upload<br />

Top-Anbieter: Wer Wert auf hohe Sprachqualität<br />

legt und bereit ist, für schnellere<br />

Uploads etwas weniger Tempo beim<br />

Download (gemessen an den herausragend<br />

hohen Geschwindigkeiten der Telekom) in<br />

Kauf zu nehmen, der ist bei Vodafone gut<br />

aufgehoben, das O2 und E-Plus beim<br />

mobilen Internet klar hinter sich lässt<br />

Alternativen: Deutlich mehr Tempo beim<br />

Gesprächsaufbau und speziell beim Laden<br />

großer Daten aus dem Netz bietet die Telekom.<br />

Einen etwas verlässlicheren Verbindungsaufbau<br />

als Vodafone bietet O2, das<br />

preisgünstiger, aber bei Daten auch merklich<br />

langsamer ist<br />

Onliner<br />

Wenn’s beim Mobilfunk<br />

klemmt, bekommt Heinz Sattler<br />

Probleme. Denn ohne leistungsstarken<br />

Mobilzugang zum Internet kann der 55-<br />

Jährige bei seinen Kunden oft wenig ausrichten.<br />

Sattler verantwortet beim Druckund<br />

Dokumentenmanagement-Spezialisten<br />

Kyocera die technische Händler- und<br />

Projektbetreuung.<br />

„Updates mit neuen Funktionen oder<br />

zur Anpassung von Druckern und Multifunktionsgeräten<br />

an die IT der Kunden<br />

sind unser Tagesgeschäft“, sagt der Büromaschinenexperte<br />

aus Meerbusch. „Oft<br />

genug sind die Updates viele Megabyte<br />

groß.“ Der einfachste Weg aber, die Daten<br />

über den Netzzugang der Kunden einzuspielen,<br />

ist oft verbaut. „Vielfach kollidiert<br />

das mit IT-Sicherheitsvorgaben“, erklärt<br />

Sattler, zu dessen Kunden Banken, Sparkassen,<br />

Versicherungen und Krankenhäuser<br />

gehören. „Die erlauben es Externen<br />

nicht, sich ans interne Netz anzudocken.“<br />

Für Geschäftsleute wie Sattler und sein<br />

elf Köpfe starkes Team ist der mobile Internet-Zugang<br />

daher Pflicht. Und hohe Datengeschwindigkeit<br />

ist ebenso wichtig wie Verfügbarkeit<br />

in abgelegenen Regionen, wo<br />

mancher Kunde seinen Sitz hat. Und während<br />

der Techniker zum Telefonieren notfalls<br />

noch vor die Tür treten kann, geht beim<br />

t<br />

Maximales Tempo und Verlässlichkeit<br />

der Datenverbindung<br />

Auch abseits von Städten<br />

Update der großen Drucksysteme ohne<br />

In-Haus-Funkversorgung gar nichts.<br />

Für solche Nutzerszenarien bietet erneut<br />

die Telekom dank des gut ausgebauten<br />

LTE-Netzes das beste Angebot. Sie ist je<br />

nach Übertragstyp bis zu zwei Mal schneller<br />

als Konkurrent Vodafone – und bietet<br />

bis zu fünf Mal mehr Tempo als E-Plus.<br />

Netz-Tipp: Telekom<br />

Bedarf: Sprachtelefonie ist hier irrelevant;<br />

sechs Gigabyte Datenvolumen bei höchster<br />

Übertragungsgeschwindigkeit<br />

Top-Anbieter: So schnell wie die Telekom<br />

funkt im Test kein Anbieter die Daten <strong>vom</strong><br />

Netz zum Endgerät. Und auch die Erfolgsrate<br />

beim Datenabruf ist fast durchweg<br />

besser als bei der Konkurrenz<br />

Alternativen: Außerhalb der Ballungsräume<br />

reicht Vodafone bei Download und<br />

Verbindungsqualität fast an die Telekom<br />

heran. Wer dort unterwegs ist, wird auch in<br />

diesem Netz gut versorgt – umso mehr,<br />

als Vodafone beim Upload fast durchweg<br />

etwas bessere Werte liefert als die Telekom<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 92 »<br />

Bilder sprechen lassen<br />

Designer Herling schickt<br />

seinen Kunden per<br />

Smartphone Fotos und<br />

Videos von Event-Locations<br />

WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 91<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Technik&Wissen<br />

KOMMUNIKATION<br />

Urlaub im Funkloch<br />

Wo gestresste Vieltelefonierer abschalten können.<br />

Kennen Sie die Diagnose<br />

„Servus Manicus Smartfonicum“,<br />

auch bekannt<br />

als „Sklaven-Phonitis“? So<br />

beschreibt die Bestsellerautorin<br />

Anitra Eggler in ihrem Buch<br />

„Facebook macht blöd, blind und erfolglos“<br />

augenzwinkernd ein verbreitetes<br />

Phänomen der Handygesellschaft: „Vom<br />

Smartphone versklavt. Ständig erreichbar,<br />

niemals wirklich da.“ Als Therapie<br />

verschreibt Eggler ihren Lesern eine<br />

simple Radikalkur: einfach mal abschalten.<br />

Wortwörtlich.<br />

Urlaub im Funkloch, der Gedanke trifft<br />

bei deutschen Urlaubern auf wachsendes<br />

Interesse. So ermittelte etwa das Reisebuchungsportal<br />

Lastminute.de in seiner<br />

jährlichen Umfrage eine sinkende Bereitschaft<br />

der Deutschen, sich auch im<br />

Urlaub oder während der Freizeit zum Sklaven<br />

von iPhone und Co. zu machen.<br />

Nur vier von zehn Befragten fanden es<br />

bei der jüngsten Erhebung noch akzeptabel,<br />

außerhalb der Bürozeiten am Smartphone<br />

zu arbeiten. „Das sind immer noch<br />

viele, aber es werden weniger“, sagt Lastminute.de-Geschäftsführer<br />

Jörg Burtscheidt.<br />

Zwei Jahre zuvor bezeichneten<br />

sich noch 53 Prozent als „Urlaubsarbeiter“.<br />

Noch sind die radikalen Handyabstinenzler<br />

eine Minderheit, doch die Nachfrage<br />

steigt: Immer mehr Menschen wollen den<br />

Urlaub auch kommunikativ abgenabelt genießen<br />

und verzichten ganz bewusst auf die<br />

Option der ständigen Erreichbarkeit durch<br />

Smartphone oder mobiles Internet.<br />

Darauf stellt sich die Tourismusbranche<br />

nun ein. Lastminute.de etwa hat eine<br />

eigene Rubrik an Urlaubszielen „Klingelfreier<br />

Urlaub“ in sein Internet-Buchungsprogramm<br />

integriert. Die Onliner folgen einem<br />

Trend, wie er auch in den USA oder Großbritannien<br />

schon von Reiseveranstaltern<br />

aufgegriffen wurde. „Black Hole Hotels“,<br />

also Hotels im Schwarzen Loch, oder „Digital<br />

Detox“, die digitale Entgiftung, sollen all<br />

jenen Erholung bieten, die das Handygebimmel<br />

in der Freizeit nervt.<br />

Denn Stress macht krank. Das sagt jedenfalls<br />

Michael Kastner, Arzt und Betriebspsychologe.<br />

„Wer im Urlaub ständig<br />

seine Mails abruft, gefährdet langfristig<br />

seine Gesundheit.“ Gäste im Inselstaat St.<br />

Vincent und Grenadinen, die eine Detox-<br />

Pauschale buchen, bekommen daher <strong>vom</strong><br />

Gastgeber gleich zu Beginn ein ausführliches<br />

Handbuch mit der Aufforderung unter<br />

Punkt 1: „Schalten Sie jetzt Ihr Handy aus.“<br />

Das ist vermutlich sogar angebracht. Immerhin<br />

ermittelte der High-Tech-Verband<br />

Bitkom bereits vor zwei Jahren, dass gerade<br />

einmal 18 Prozent der Bundesbürger ihr<br />

Handy überhaupt noch deaktivieren. Vermutlich<br />

ahnt ein Großteil der Deutschen inzwischen<br />

nicht einmal mehr, wo sich der<br />

Aus-Knopf überhaupt befindet.<br />

FOTO: PR<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Zumindest wird, wer sich im Netz auf<br />

eigene Faust auf die Suche nach „handyfreiem<br />

Urlaub“ begibt, immer öfter fündig: Unter<br />

den Zielen für Telefon-Averse findet sich<br />

– natürlich – gedanklich Naheliegendes:<br />

etwa Reisen durchs australische Outback,<br />

wo Urlauber, selbst wenn sie wollten, nicht<br />

erreichbar sind, oder Spaziergänge in den<br />

Dünen der namibischen Wüsten. Und wer<br />

wollte ernsthaft beim Trip durch die kanadische<br />

<