Wirtschaftswoche Ausgabe vom 2013-12-09 (Vorschau)
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Spurwechsel Als Frau in der Autowelt<br />
Mobilfunk Das beste Businessnetz<br />
50<br />
9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong>|Deutschland €5,00<br />
5 0<br />
4 1 98065 805008<br />
Angriff auf<br />
Ihr Geld<br />
Was bleibt nach<br />
Minuszins, Steuern,<br />
Vermögensabgabe<br />
Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | TschechischeRep.CZK 200,- | Ungarn FT 2000,-<br />
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Einblick<br />
Wohl dem, der eine Autofabrik hat – sie ist der Wohlstandsmotor:<br />
das Städteranking der Wirtschafts-<br />
Woche mit verblüffenden Befunden. Von Roland Tichy<br />
Wohlstand im Autoland<br />
FOTO: HEIKE ROST FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Dass die Automobilindustrie für<br />
den Wohlstand in Deutschland<br />
wichtig, vielleicht sogar schon<br />
übermächtig ist, zeigen volkswirtschaftliche<br />
Daten, aber mehr noch<br />
das Alltagsleben in den Autostädten: Ein<br />
halbes Dutzend Museen, Arbeitskräftemangel<br />
und üppige Sozialleistungen in<br />
Ingolstadt (Audi), moderne Spitzenarchitektur<br />
anstelle der Notbauten in Wolfsburg<br />
(VW), Immobilienboom in Regensburg<br />
(BMW) und eine Aufholjagd mit<br />
neuen Arbeitsplätzen und messbar mit<br />
allen Wohlstandsindikatoren in Leipzig<br />
(Porsche und BMW) – die dynamischsten<br />
Städte Deutschlands sind die Autostandorte<br />
mit ihrem dichten Geflecht der Zulieferindustrie.<br />
Auch wenn die Autobauer<br />
in der Politik oft ausgebremst werden:<br />
Der führende Sektor baut seine wirtschaftliche<br />
Vormachtstellung immer weiter<br />
aus und ersetzt, was in der Chemie,<br />
Pharmazie und IT wegfällt. Und es sind<br />
längst nicht mehr nur die Autoklassiker<br />
München und Stuttgart. Es sind die mittelgroßen<br />
Städte, die profitieren. Zudem<br />
ist der Automobilbau längst nicht mehr<br />
geprägt von Männern mit ölverschmierten<br />
Händen, sondern von Ingenieuren<br />
und Akademikern, die wiederum Kunst,<br />
Kultur und Bildung gleichermaßen einfordern<br />
und leben – und von Seiteneinsteigerinnen<br />
auch am großen Steuerrad<br />
(siehe Seite 96).<br />
Überhaupt die mittelgroßen Städte: Sie<br />
prosperieren mit der höchsten wirtschaftlichen<br />
Dynamik und Lebensqualität. Sie<br />
bilden kreative Netzwerke entlang neuer<br />
Wachstumsachsen wie etwa die Rhein-<br />
Main-Metropolregion der vier Städte<br />
Frankfurt, Darmstadt, Mainz und Wiesbaden,<br />
die ausstrahlt und in kreativer<br />
Wechselbeziehung steht mit der Wissenschaftsstadt<br />
Heidelberg und der Technologieregion<br />
Karlsruhe.<br />
Das ist nicht nur im Westen so: In<br />
Thüringen hat Jena Anschluss an die<br />
Spitze gefunden; Dresden, Potsdam, sogar<br />
das lange abgeschlagene Rostock haben<br />
sich als Zentren ihrer Region und mit klar<br />
umrissenen Schwerpunkten an den<br />
Wachstumszug gehängt. Aber das <strong>vom</strong><br />
Datenmaterial umfangreichste Städteranking<br />
offenbart gnadenlos auch lokales<br />
Versagen.<br />
Im Osten spaltet sich das Land entlang<br />
neuer Brüche. Chemnitz, Cottbus und<br />
Halle bestätigen noch immer das Klischee<br />
der verfallenden sozialistischen Stadt mit<br />
ihren Industrieruinen und sich entleerenden<br />
Plattenbauten. Und gleichgültig, ob es<br />
um das erreichte Niveau an wirtschaftlicher<br />
und sozialer Leistungsfähigkeit geht<br />
oder um die Veränderungsdynamik: Am<br />
unteren Ende der Tabellen knubbeln sich<br />
nicht mehr ostdeutsche Städte. Die neuen<br />
Elendsquartiere sind fast ausschließlich<br />
Ruhrgebietsstädte.<br />
RUINEN DER ENERGIEWENDE<br />
Zwar zeigen sich punktuelle Erfolge wie in<br />
Duisburg, das sich als Logistikzentrum neu<br />
erfunden hat. Aber die wahren Verlierer<br />
der Energiewende sind Städte wie Wuppertal,<br />
das früher so wohlhabende Krefeld<br />
oder Oberhausen, das einstmals so erfindungsreiche<br />
Remscheid wie die früher<br />
kraftstrotzenden Städte Bottrop, Herne<br />
und Gelsenkirchen: Sie trifft der staatlich<br />
verordnete Niedergang der großen bundesweiten<br />
oder regionalen Energieerzeuger,<br />
die Auswirkung auf die Zulieferindustrien<br />
und zunehmend der sich<br />
beschleunigende Zusammenbruch der<br />
Grundstoffindustrien. Seit die administrierten<br />
Strompreise explodieren, kollabieren<br />
die Edelstahlwerke, und es beschleunigt<br />
sich die Deindustrialisierung, weil<br />
Chemiefabriken und Weiterverarbeiter still<br />
und leise „Tschüss!“ zur früheren Herzkammer<br />
der Industrie sagen.<br />
Es ist schwer für eine Stadt, vorwärts zu<br />
kommen, wenn die Schlüsselindustrien<br />
sterben, weil ihnen der Saft abgedreht wird.<br />
Und es ist ein Lehrstück über eine verächtliche<br />
Politik, die glaubt, dass Wirtschaft<br />
schon immer irgendwie und unbegrenzt<br />
weitergeht. Irgendwann geht sie weg. Eine<br />
Reise durch Deutschlands Städte zeigt<br />
Regionen der Tristesse – und Städte mit ungebrochenem<br />
Lebenswillen. Schauen Sie<br />
genau hin, auf den Seiten 18 bis 26. n<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 3<br />
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Überblick<br />
Menschen der Wirtschaft<br />
6 Seitenblick Die Brennpunkte der Welt<br />
8 Deutsche Telekom: Abhören erschwert<br />
9 Zalando: Vorbereitung für Börsengang |<br />
Große Koalition: Wirtschaftsrat warnt<br />
10 Interview: Commerzbank-Vorstand Martin<br />
Zielke greift Direktbanken im Netz an<br />
<strong>12</strong> Burger King: Gerichtsvollzieher kommt |<br />
Zigarettenschmuggel: Konzerne wollen<br />
Vorschriften aufweichen | Elon Musk: Revolutionäres<br />
Konzept zur Solarfinanzierung<br />
14 Chefsessel | Startup Gute-Laune-Abo<br />
16 Chefbüro Jean-Frédéric Dufour, Chef des<br />
Luxusuhrenherstellers Zenith<br />
Politik&Weltwirtschaft<br />
18 Städteranking Wo gibt es in Deutschland<br />
die meisten Jobs, den größten Wohlstand<br />
und die besten Standortbedingungen? |<br />
Die Methodik | Immobilien: Große Unterschiede<br />
quer durch Deutschland<br />
28 SPD Parteichef Sigmar Gabriel setzt mit dem<br />
Mitgliederentscheid alles auf eine Karte.<br />
Gewinnt er, steht ihm jedes Amt offen<br />
31 Berlin intern<br />
Titel Im Angriffsmodus<br />
Negativzins, Vermögensabgabe,<br />
neue Steuern und Steuererhöhungen,<br />
Zwangsmaßnahmen – immer neue<br />
Enteignungsinstrumente werden von<br />
Politik und Notenbank geprüft. Müssen<br />
Anleger jetzt wegen der Schuldenkrise<br />
um ihr Erspartes fürchten? Seite 32<br />
Deutschlands Städte im Test<br />
Das Städteranking zeigt die überragende Bedeutung der Automobilindustrie<br />
für Deutschland. Wo Autos produziert werden, geht es<br />
den Kommunen blendend. So wie Wolfsburg. Seite 18<br />
Der Volkswirt<br />
32 Spareinlagen Eine Lösung der Schuldenkrise<br />
ist nicht in Sicht, also sollen Anleger<br />
bluten. Welche Zwangsmaßnahmen<br />
können auf die Sparer zukommen?<br />
42 Weltwirtschaft An ihrem 100. Geburtstag<br />
steht die US-Notenbank in der Kritik |<br />
Interview: Der Chef des Cato Institute, John<br />
Allison, fordert die Abschaffung der Fed<br />
47 Denkfabrik Hans-Werner Sinn widerspricht<br />
der Kritik an den deutschen Exportüberschüssen<br />
Unternehmen&Märkte<br />
50 Managerhaftung Immer mehr Konzernlenker<br />
lassen ihre Vorgänger für Fehler bezahlen<br />
– auch der Immobilienkonzern IVG<br />
56 Deutsche Bank Trotz der Rekordstrafe für<br />
die Manipulation von Referenzzinsen sitzt<br />
Co-Chef Anshu Jain fest im Sattel – noch<br />
58 PSA Der neue Herr über Peugeot und<br />
Citroën, Carlos Tavares, muss mehr umbauen,<br />
als der Eigentümerfamilie lieb sein kann<br />
62 Tobit Software Ein IT-Haus verwandelt<br />
Facebook-Fanseiten kostenlos in Apps<br />
66 Interview: Jan-Dirk Auris Der Henkel-<br />
Klebstoffvorstand plant Übernahmen<br />
68 Computerspiele Die Branche wandelt sich<br />
rasant durch Smartphones und Tablets<br />
72 Spezial Mittelstand Innovation: Fehlende<br />
Fachkräfte und Konkurrenz aus Asien sorgen<br />
für Druck | Maschinenbau: Mit Tüftlergeist<br />
zum Weltmarktführer | Outsourcing:<br />
Mittelständler lagern Forschungsprojekte<br />
aus | Dekra-Award : Auszeichnungen für<br />
Konzepte zu Umwelt und Personal<br />
Erste Wahl<br />
Vieltelefonierer, Datenjunkie,<br />
Sparfuchs – die<br />
Telefonprofile von<br />
Geschäftsleuten sind<br />
so verschieden wie<br />
ihre Jobs. Wir verraten,<br />
welcher Nutzertyp in<br />
welchem Netz am<br />
besten telefoniert.<br />
Seite 88<br />
TITELILLUSTRATION: EDEL RODRIGUEZ<br />
4 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Nr. 50, 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong><br />
Spurwechsel<br />
Die ehemalige Henkel-Managerin Tina Müller ist seit August<br />
Marketingvorstand von Opel. Wie findet sie sich in der fremden<br />
Welt zurecht? Auftakt einer mehrteiligen Serie. Seite 96<br />
Technik&Wissen<br />
88 Mobilfunk Klang, Tempo, Preis – deutsche<br />
Handynetze im Business-Check von<br />
WirtschaftsWoche und „Connect“ | Wo gestresste<br />
Vieltelefonierer abschalten können<br />
95 Valley Talk<br />
Management&Erfolg<br />
96 Serie Spurwechsel (I) So lebt sich Ex-<br />
Henkel-Managerin Tina Müller bei Opel ein<br />
99 Produktion Wie Unternehmen mit dem<br />
Baukastenprinzip Zeit und Geld sparen<br />
FOTOS: STEFAN KRÜGER, DOMINIK PIETSCH (2), MARKUS SCHWALENBERG, ALLE FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Teure Abrechnung<br />
Konzerne fordern immer öfter von früheren Top-Managern Millionensummen<br />
an Schadensersatz für Fehlverhalten. Wer betroffen ist,<br />
wie Vorstände und Aufsichtsräte sich schützen können. Seite 50<br />
Augenschmaus<br />
Gutes Papier, feiner Druck,<br />
reiche Bebilderung: Die<br />
Verlage setzen auf das schöne<br />
Buch, das auch visuelles und<br />
haptisches Vergnügen bietet<br />
– Empfehlungen für den<br />
Gabentisch. Seite <strong>12</strong>2<br />
Geld&Börse<br />
102 Serie Mut zum Risiko (III) Wie die deutsche<br />
Voxeljet an der US-Börse Furore machte |<br />
Börsenkandidaten, die Anleger im Blick<br />
behalten sollten | bmp-Chef Oliver Borrmann<br />
über Lehren aus dem Neuen Markt<br />
1<strong>12</strong> Gold Das antiquierte Preis-Fixing erleichtert<br />
Manipulationen<br />
114 Steuern und Recht Höheres Netto durch<br />
richtige Steuerklassen | Blinken verhindert<br />
Unfälle | Nebenkosten beim Immobilienkauf<br />
| Mehr Geld bei Dienstreisen<br />
116 Geldwoche Kommentar: Gefahren riskanter<br />
US-Kreditgeschäfte | Trend der Woche:<br />
Dax | Dax-Aktie: ThyssenKrupp |<br />
Hitliste: Performance der Weltbörsen |<br />
Aktien: PetSmart, Villeroy & Boch |<br />
Chartsignal: Dow Jones | Anleihe: Aton |<br />
Investmentfonds: Semper Real Estate<br />
Perspektiven&Debatte<br />
<strong>12</strong>2 Bücher Immer mehr Verlage bringen aufwendig<br />
illustrierte Bücher auf den Markt<br />
<strong>12</strong>5 Kost-Bar<br />
Rubriken<br />
3 Einblick, <strong>12</strong>6 Leserforum,<br />
<strong>12</strong>8 Firmenindex | Impressum, 130 Ausblick<br />
n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />
weltweit auf iPad oder iPhone:<br />
In dieser <strong>Ausgabe</strong> empfiehlt<br />
Christopher Schwarz Bücher und<br />
beschreibt die Schönheit<br />
von Eselsohren. Außerdem:<br />
Welche skurrilen<br />
Produkte Fans von Computerspielen<br />
kaufen.<br />
wiwo.de/apps<br />
n Griechenland Das Euro-Krisenland<br />
ist von einem ausgeglichenen<br />
Haushalt noch weit entfernt, schreibt<br />
Harvard-Ökonom Martin Feldstein.<br />
wiwo.de/schuldenkrise<br />
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wirtschaftswoche<br />
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WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 5<br />
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Seitenblick<br />
KONFLIKTE<br />
Brandherde der Welt<br />
Ukraine, Thailand, China – fast im Wochentakt brechen in<br />
vielen Regionen der Welt Unruhen aus. Welche Gefahren<br />
davon für andere Länder ausgehen.<br />
Iran<br />
URSACHE Die islamische Republik steht im Verdacht,<br />
eine Atombombe zu bauen.<br />
GEFAHR Schwere Sanktionen schwächen die<br />
Wirtschaft. Derzeit zeichnet sich eine leichte<br />
Besserung ab, da Teheran zugestimmt hat, ausländische<br />
Experten zur Inspektion des Kernkraftprogramms<br />
ins Land zu lassen. Allerdings<br />
könnte der Atomkompromiss noch<br />
scheitern, falls Iran den Westen nur hinhalten<br />
will. Dann droht eine Eskalation,<br />
da der Westen dem Bau einer Atombombe<br />
nicht tatenlos zuschauen wird.<br />
Syrien<br />
URSACHE Ein Großteil der Syrer<br />
demonstrierte für den Rücktritt von<br />
Diktator Baschar al-Assad – der<br />
wehrt sich mit militärischer Gewalt<br />
gegen sein eigenes Volk. Im Land<br />
tobt ein Bürgerkrieg, die Wirtschaft<br />
liegt darnieder, ein Ende des Blutvergießens<br />
zeichnet sich nicht ab.<br />
Allerdings ist die Opposition zersplittert.<br />
Einzelne Gruppen, darunter<br />
westlich orientierte Demokraten und<br />
radikale Islamisten, kämpfen nicht nur<br />
gegen Assad, sondern bekriegen sich<br />
auch gegenseitig. Mit der Vernichtung seiner<br />
Chemiewaffen kam Assad einem amerikanischen<br />
Militärschlag zuvor.<br />
GEFAHR Die Konflikte können auf den gesamten<br />
Nahen Osten übergreifen. Zudem leiden die<br />
Nachbarländer unter den Flüchtlingsströmen.<br />
Ägypten<br />
URSACHE Als der gewählte Präsident Mohammed Mursi sein<br />
Land zunehmend islamisierte, putschte das Militär. Die Gesellschaft<br />
ist gespalten in Anhänger und Gegner der Muslim-Bruderschaft um<br />
Mursi. Dem gestürzten Präsidenten wird der Prozess gemacht, seine Anhänger<br />
wollen ihn mit Verweis auf die demokratischen Wahlen wieder im Amt sehen.<br />
GEFAHR Der Staat ist instabil. Der Tourismus, die wichtigste Einnahmequelle, liegt<br />
darnieder. Auch andere Branchen stehen vor dem Ruin. Die Unruhe unter der darbenden Bevölkerung<br />
kann die gesamte Region erfassen.<br />
6 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Thailand<br />
URSACHE Eine wachsende Mittelschicht ärgert sich über Korruption des Regierungsclans. Demonstranten<br />
stürmten Regierungsgebäude und fordern den Rücktritt des Kabinetts.<br />
GEFAHR Thailand empfiehlt sich als günstige Werkbank der Weltwirtschaft – auch für<br />
deutsche Unternehmen. Längere Proteste könnten Lieferausfälle verursachen.<br />
China/Japan<br />
URSACHE Beide Länder erheben Anspruch auf unbewohnte<br />
Inseln im Ostchinesischen Meer, in deren Umgebung viel<br />
Fisch und Öl vermutet werden. Peking hat darüber eine<br />
Flugverbotszone eingerichtet, die die japanische Luftwaffe<br />
ignoriert. Aus dem Territorialkonflikt ist ein<br />
Kräftemessen um die Vorherrschaft im Pazifikraum<br />
geworden.<br />
GEFAHR An einer Eskalation ist keiner interessiert,<br />
aber eine Lösung ist nicht in Sicht.<br />
Ukraine<br />
URSACHE Auf Drängen Russlands<br />
hat Präsident Viktor Janukowitsch die<br />
versprochene Annäherung an die<br />
EU gestoppt. Hunderttausende<br />
Menschen fordern seinen Rücktritt.<br />
GEFAHR Die Konflikte schwächen<br />
ein Land, das am Rande des Bankrotts<br />
steht. Ein Sturz Janukowitschs<br />
ist weniger wahrscheinlich als die<br />
Zahlungsunfähigkeit.<br />
Türkei<br />
Brasilien<br />
URSACHE Die jungen Brasilianer<br />
sind Korruption und Vetternwirtschaft<br />
leid. Die Preiserhöhung im Nahverkehr<br />
war im Sommer der Auslöser für die<br />
größten Proteste seit den Achtzigerjahren.<br />
Präsidentin Dilma Rousseff lenkte<br />
ein: Sie versprach eine sozialere Politik<br />
und mehr Geld für Bildung.<br />
GEFAHR Mit Beginn der Fußballweltmeisterschaft<br />
im Juni könnten die Proteste wieder<br />
aufflammen – die teuren wie protzigen Stadien<br />
betrachten viele Brasilianer als Symbole der<br />
Verschwendung.<br />
URSACHE Die Istanbuler protestierten gegen die Umgestaltung des<br />
Gezi-Parks – und fanden landesweit Unterstützung von Türken, die sich<br />
an Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan stören. Er übt seit den Revolten<br />
Druck auf Oppositionelle und sogar Unternehmen aus.<br />
GEFAHR Die gesellschaftliche Spaltung vertieft sich, da Erdogan eine Islamisierung der<br />
Türkei forciert. Konflikte können spätestens zur Kommunalwahl im März ausbrechen.<br />
FOTOS: LAIF (2), INTERTOPICS, REUTERS (3), CORBIS, GETTY IMAGES<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 Redaktion: florian.willershausen@wiwo.de 7<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
Vorreiter in Deutschland<br />
Telekom-Vorstand Kremer<br />
CYBERSPIONAGE<br />
Lauschangriffe erschwert<br />
Die Deutsche Telekom setzt eine neue<br />
Verschlüsselungstechnik ein. Gespräche<br />
über das Handy können künftig nicht<br />
mehr so leicht abgehört werden.<br />
Nicht nur für Geheimdienstler ist es ein Leichtes,<br />
Mobiltelefone abzuhören und herauszufinden, wo<br />
sich der Nutzer aufhält. Die Sicherheitsspezialisten<br />
und Ex-Hacker Karsten Nohl und Luca Melette<br />
demonstrierten schon vor mehr als einem Jahr in<br />
der WirtschaftsWoche, dass jeder Hobbybastler<br />
für rund 100 Euro eine Lauschstation bauen kann<br />
(wiwo.de/handyspionage). Zwar haben die Betreiber<br />
der Mobilfunknetze diese mit einem Verschlüsselungssystem<br />
ausgerüstet, dem A5/1, aber<br />
das ist veraltet, wurde bereits mehrfach geknackt<br />
und bietet deshalb keinen Schutz mehr.<br />
Jetzt will die Deutsche Telekom die Sicherheitslücke<br />
schließen, als erster Mobilfunkbetreiber in<br />
Deutschland. Telekom-Vorstand Thomas<br />
Kremer, verantwortlich für den Datenschutz, gab<br />
inzwischen grünes Licht für den flächendeckenden<br />
Einsatz der verbesserten Verschlüsselungssoftware<br />
A5/3. Bis Jahresende will die Telekom sie bundesweit<br />
in all ihren Mobilfunk-Basisstationen einsetzen.<br />
„Wir können unseren Kunden durch diese<br />
Verschlüsselung jetzt mehr Abhörsicherheit<br />
im Mobilfunknetz bieten“, verspricht Telekom-Vorstand<br />
Kremer.<br />
Der Konzern kommt damit den drei Wettbewerbern<br />
Vodafone, E-Plus und O2 zuvor. Sie wollen<br />
die neue Verschlüsselungstechnik erst in den<br />
kommenden Jahren einführen. Ursprünglich hatte<br />
Vodafone geplant, den verbesserten Sicherheitsstandard<br />
bis März dieses Jahres in Deutschland zu<br />
implementieren. Wegen technischer Probleme<br />
verschob der Mobilfunkbetreiber das Projekt aber<br />
um zwei Jahre auf 2015. Nur eine einzige Funkstation,<br />
nämlich die besonders schützenswerte rund<br />
um den Reichstag und das Kanzleramt im Berliner<br />
Regierungsviertel, rüstete Vodafone bisher um.<br />
Die kleineren Konkurrenten O2 und E-Plus, die<br />
im nächsten Jahr fusionieren wollen, können<br />
noch nicht genau sagen, wann sie die neue Technik<br />
einsetzen. „Es gibt Pläne, aber noch ist nichts<br />
entschieden“, heißt es gleichlautend aus beiden<br />
Firmenzentralen.<br />
Auch die Deutsche Telekom wollte den verbesserten<br />
Standard schon früher nutzen, unterschätzte<br />
aber die Probleme. Zwei Handys älterer Bauart<br />
reagierten so allergisch auf das neue System, dass<br />
bei ihnen massive Störungen auftraten. Telekom-<br />
Techniker mussten eine Spezialsoftware entwickeln,<br />
die dann ausgiebig getestet wurde. „Wir<br />
mussten eine gewisse Zeit abwarten“, erklärt die<br />
Telekom, „falls sich vielleicht doch noch Kunden<br />
mit Schwierigkeiten melden, die auf die Softwareeinführung<br />
zurückzuführen sind.“<br />
juergen.berke@wiwo.de<br />
Ausspioniert<br />
Wie viele deutsche<br />
Unternehmen wie oft<br />
Ziel von Cyberangriffen<br />
sind (in Prozent)*<br />
Täglich<br />
Mehrmals pro Woche<br />
11<br />
Etwa 1Mal pro Woche<br />
10<br />
2bis 3Mal pro Monat<br />
9<br />
Etwa 1Mal pro Monat<br />
11<br />
Seltener<br />
Nie<br />
4<br />
22<br />
33<br />
*Umfrage unter Führungskräften in<br />
Unternehmenmit mehr als 1000<br />
Mitarbeitern; Quelle:IfD-Allensbach<br />
8 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA (2), OSTKREUZ/ANNETTE HAUSCHILD, PR, ACTION PRESS (2), AP/TOPHAM<br />
ZALANDO<br />
Börsengang vorbereitet<br />
Der Online-Modehändler<br />
Zalando treibt seine Vorbereitungen<br />
für einen möglichen<br />
Börsengang voran. Bei einem<br />
Treffen am 29. Oktober in Berlin<br />
verständigten sich die Vertreter<br />
der Zalando-Gesellschafter<br />
über die Details sogenannter<br />
Optionsrechte für eine Beteiligung<br />
des Managements am Unternehmen.<br />
Demnach könnten<br />
Führungskräfte und Mitarbeiter<br />
in den kommenden Jahren mit<br />
Geschäftsanteilen im Wert von<br />
derzeit rund 88 Millionen Euro<br />
belohnt werden. In Unterlagen<br />
zu der Versammlung werden<br />
Ausübungsfristen vor und nach<br />
„einem Listing“ der Gesellschaft<br />
– also einem Börsengang<br />
Quelle:Muso<br />
187687<br />
THE<br />
BEATLES<br />
(IPO) – erwähnt. „Mittelfristig<br />
könnte ein IPO sehr attraktiv für<br />
uns sein“, hatte Geschäftsführer<br />
Rubin Ritter kürzlich erklärt.<br />
Die Optionsregelungen<br />
sehen vor, dass bis zu 1693<br />
Zalando-Geschäftsanteile und<br />
damit rund 1,4 Prozent am gesamten<br />
Unternehmen für die<br />
Geschäftsführung reserviert<br />
werden. Neben Ritter zählen<br />
dazu auch David Schneider und<br />
Robert Gentz, die als Unternehmensgründer<br />
ohnehin zum<br />
Gesellschafterkreis gehören.<br />
Weitere 1184 Geschäftsanteile,<br />
knapp ein Prozent am Unternehmen,<br />
sind für Führungskräfte<br />
und Mitarbeiter aus der Zalando-Gruppe<br />
vorgesehen.<br />
Nach Angaben des schwedischen<br />
Zalando-Großaktionärs<br />
Kinnevik wurde das Unternehmen<br />
zuletzt mit rund 3,7 Milliarden<br />
Euro bewertet. Demnach<br />
dürften die für das Top-Management<br />
reservierten Anteile<br />
derzeit 51,8 Millionen Euro,<br />
die weiteren Optionsanteile<br />
36,3 Millionen Euro wert sein.<br />
Zalando ist rasant gewachsen<br />
und könnte <strong>2013</strong> zwei Milliarden<br />
Euro Umsatz erzielen.<br />
henryk.hielscher@wiwo.de<br />
Zalando-Gründer Schneider,<br />
Ritter und Gentz (von links)<br />
Aufgeschnappt<br />
Geldschwemme Wer schon immer<br />
in Geld baden wollte, kann<br />
das jetzt tun. Auf der Online-<br />
Plattform JamesEdition wird ein<br />
Geldspeicher angeboten, gefüllt<br />
mit acht Millionen Fünf-Rappen-<br />
Münzen (Wert: 325 000 Euro).<br />
Die Initiatoren für ein bedingungsloses<br />
Grundeinkommen in<br />
der Schweiz hatten sie zuvor vor<br />
das Parlament in Bern geschüttet.<br />
Badewillige müssen aber<br />
nicht in die Schweiz reisen, der<br />
Tresor kann laut Anbieter „an<br />
jeden Ort der Welt“ geliefert<br />
werden.<br />
Dollar-Mangel Argentinier haben<br />
kaum eine Chance, legal an<br />
Dollar zu kommen. Der Schwarzmarktkurs<br />
steht sogar in den<br />
Zeitungen. Einziger Ausweg sind<br />
Auslandsreisen, auf denen die<br />
Bürger mit Kreditkarte zum<br />
offiziellen, viel zu niedrigen<br />
Wechselkurs einkaufen können.<br />
Doch nun verlangt der neue<br />
Wirtschaftsminister dafür einen<br />
Aufschlag von 35 Prozent.<br />
Alles nur geklaut<br />
Top10der auf illegalen Online-Plattformen angebotenen Musik-Downloads<br />
FLEETWOOD<br />
MAC<br />
72984<br />
60024<br />
BOB<br />
MARLEY<br />
LED<br />
ZEPPELIN<br />
59011<br />
44<strong>09</strong>3<br />
56576 45496<br />
CLIFF<br />
RICHARD<br />
JIMI<br />
HENDRIX<br />
STEVIE<br />
WONDER<br />
KOALITION<br />
Wirtschaftsrat<br />
empört<br />
Der Präsident des CDU-Wirtschaftsrates<br />
Kurt Lauk warnt<br />
seine Partei davor, dem Koalitionsvertrag<br />
zuzustimmen. „Aus<br />
wirtschaftlicher Sicht sind da<br />
viel zu viele Punkte drin, die<br />
die Schaffung von Wohlstand<br />
erschweren, wenn nicht gar verhindern.<br />
Und die Arbeitslosigkeit<br />
erhöhen. Das kann nicht<br />
das Ziel einer Politik der CDU<br />
sein.“ Wenn der Bundesausschuss<br />
an diesem Montag darüber<br />
berät, fürchtet Lauk, auf taube<br />
Ohren zu stoßen. „Man will<br />
nicht mehr hören, dass wesentliche<br />
Elemente und Positionen<br />
der sozialen Marktwirtschaft<br />
von der CDU geräumt worden<br />
sind“, sagt Lauk.<br />
Der Wirtschaftsrat kritisiere<br />
vor allem die Mütterrente, für<br />
die es sicher gute Gründe gebe,<br />
erklärt dessen Präsident.<br />
„Gleichzeitig gibt es aber auch<br />
die moralische Verpflichtung zu<br />
Zukunftsinvestitionen.“ Den<br />
Hinweis der SPD, auch der<br />
soziale Zusammenhalt stärke<br />
Deutschland, lässt Lauk nicht<br />
gelten. „Es kann doch nicht Ziel<br />
einer modernen Industrienation<br />
sein, dass wir gemeinsam in<br />
sozialer Harmonie ins Altersheim<br />
gehen.“<br />
henning.krumrey@wiwo.de | Berlin<br />
ELVIS<br />
40794<br />
35193<br />
ABBA<br />
34444<br />
THE<br />
ROLLING<br />
STONES<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 9<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
FLOSKELCHECK<br />
Populismus<br />
Antidemokratisches<br />
Phänomen, dem auf<br />
medialem Gebiet entschieden<br />
entgegengewirkt<br />
werden muss.<br />
Namentlich öffentlichrechtliche<br />
Rundfunkanstalten<br />
sind demgemäß<br />
gehalten, die politische<br />
Willensbildung des<br />
Volkes vor jedem allzu<br />
weitreichenden Konsens<br />
in der Bevölkerung<br />
zu schützen. Bevorzugtes<br />
Mittel der Wahl sind<br />
hierzu tunlichst höchstmögliche<br />
Einschaltquoten,<br />
die jedoch nicht<br />
mit übermäßigen<br />
Profitinteressen verknüpft<br />
sein dürfen, was<br />
mit einer klugen,<br />
flächendeckenden<br />
Haushaltsabgabe<br />
erreicht wird.<br />
DER FLOSKELCHECKER<br />
Carlos A. Gebauer, 49,<br />
arbeitet als Rechtsanwalt in<br />
Düsseldorf, wurde auch als<br />
Fernsehanwalt von RTL und<br />
SAT.1 bekannt.<br />
INTERVIEW Martin Zielke<br />
»Da ist noch viel Luft<br />
für weiteres Wachstum«<br />
Der Privatkundenvorstand der Commerzbank<br />
will die Trennung zwischen dem Filialgeschäft<br />
und dem Online-Banking aufheben.<br />
Herr Zielke, 270 Steuerfahnder<br />
haben am Dienstag 40 Standorte<br />
der Commerzbank durchsucht.<br />
Wie reagieren Sie?<br />
Die Commerzbank ist nicht Gegenstand<br />
der aktuellen Untersuchung.<br />
Die Ermittlungen<br />
richten sich gegen Mitarbeiter<br />
eines fremden Finanzdienstleisters.<br />
Aber wir sind uns völlig<br />
bewusst, dass uns die Schlagzeilen<br />
nicht geholfen haben.<br />
Die Commerzbank will bis<br />
2016 eine Million neue<br />
Privatkunden gewinnen und<br />
mit ihnen mehr als 500 Millionen<br />
Euro verdienen. Wie weit<br />
sind Sie?<br />
Wir kommen schneller voran<br />
als erwartet. Von Januar bis<br />
September haben wir netto<br />
rund 180 000 neue Kunden gewonnen<br />
und im Privatkundensegment<br />
165 Millionen Euro<br />
Gewinn gemacht. Unser Neugeschäftsvolumen<br />
bei der Baufinanzierung<br />
betrug per Oktober<br />
rund 6,8 Milliarden Euro.<br />
Das ist ein Plus von 27 Prozent<br />
im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.<br />
Die Europäische Zentralbank<br />
(EZB) erwägt eine Strafgebühr<br />
für Banken, die bei ihr Geld<br />
bunkern. Was würde das für<br />
Sparer und Banken bedeuten?<br />
Negative Zinsen halte ich heute<br />
nicht für sehr wahrscheinlich.<br />
Falls es dazu aber kommen sollte,<br />
könnten Banken ganz gut<br />
damit umgehen. Unser Ziel ist<br />
ja nicht, Gelder bei der EZB anzulegen,<br />
sondern diese als Kredite<br />
zu vergeben. Die Kunden<br />
sind auf unterschiedliche Weise<br />
von der Zinsentwicklung betroffen:<br />
Sparer verlieren bei<br />
niedrigen Zinsen, Kreditnehmer<br />
profitieren durch bessere<br />
Konditionen.<br />
Bauherrn, die ihre Kredite noch<br />
zu hohen Zinsen abgeschlossen<br />
haben, fluchen jetzt.<br />
Kommen Sie Ihnen entgegen?<br />
Erst wenn die Altverträge<br />
ausgelaufen sind und die Verzinsung<br />
der Restschuld neu<br />
verhandelt wird, kann zu neuen<br />
DER MODERNISIERER<br />
Zielke, 50, ist seit 2010<br />
Vorstand der Commerzbank,<br />
Deutschlands<br />
zweitgrößtem Kreditinstitut.<br />
Dort ist der Nordhesse<br />
für das Privatkundengeschäft<br />
zuständig.<br />
Konditionen abgeschlossen<br />
werden.<br />
Wie gleichen Sie die Einbußen<br />
durch die niedrigen Zinsen aus?<br />
Tatsächlich kosten die niedrigen<br />
Zinsen uns im Privatkundenkundengeschäft<br />
einen dreistelligen<br />
Millionenbetrag im<br />
Jahr. Ein Grund ist, dass die<br />
Marge zwischen den Kosten für<br />
die von Sparern eingeworbenen<br />
Einlagen und den Zinseinnahmen<br />
aus den vergebenen<br />
Krediten geschrumpft ist. Kompensieren<br />
lässt sich das nur<br />
bedingt. Aber wir steuern ganz<br />
gut gegen. So erfreuen sich<br />
Baufinanzierungen steigender<br />
Beliebtheit. Die Commerzbank<br />
vergibt derzeit jede Woche<br />
private Baukredite im Volumen<br />
von 140 bis 175 Millionen Euro.<br />
Sie wollen das Privatkundengeschäft<br />
der Commerzbank<br />
modernisieren. Wie?<br />
Kern der neuen Strategie ist,<br />
die zunehmend künstliche<br />
Trennung zwischen Filialgeschäft<br />
und digitalem Banking<br />
aufzuheben. In wenigen Jahren<br />
werden Kunden rund die Hälfte<br />
ihrer Bankgeschäfte online<br />
abwickeln. Die meisten wollen<br />
trotzdem nicht auf eine Filiale<br />
verzichten. Deshalb investieren<br />
wir gleichzeitig in das Filialnetz<br />
und in unser Online-Angebot.<br />
In unser Filialnetz fließen bis<br />
2016 rund <strong>12</strong>0 Millionen Euro.<br />
Und wir testen gerade ein völlig<br />
überarbeitetes Online-Portal,<br />
das Ende Januar 2014 an den<br />
Start gehen soll. Ende 2014 bieten<br />
wir ein Online-Angebot,<br />
das dem einer Direktbank entsprechen<br />
wird.<br />
Nehmen Sie mit der Online-<br />
Offensive nicht Ihrer Direktbanktochter<br />
comdirect Kunden<br />
weg?<br />
Es gibt keine Kannibalisierung.<br />
Beide Unternehmen wachsen<br />
unter zwei verschiedenen Marken.<br />
Das funktioniert hervorragend.<br />
Commerzbank und comdirect<br />
haben zusammen einen<br />
Marktanteil von rund acht Prozent.<br />
Da ist also noch viel Luft<br />
für weiteres Wachstum.<br />
mark.fehr@wiwo.de | Frankfurt<br />
FOTO: BILDFOLIO/BERT BOSTELMANN; ILLUSTRATION: TORSTEN WOLBER<br />
10 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
TESLA-GRÜNDER<br />
Finanzmodell<br />
für Solardach<br />
Gerade hat Elon Musk mit seiner<br />
Firma SpaceX als erster privater<br />
Unternehmer einen Satelliten<br />
ins All befördert. Nebenbei<br />
hat der visionäre Gründer des<br />
Elektroautoherstellers Tesla<br />
ein neues Finanzierungsinstrument<br />
für die Solarindustrie<br />
erfunden. SolarCity, die dritte<br />
Firma des Milliardärs, bietet<br />
institutionellen Investoren Anleihen<br />
in einem Umfang von<br />
54 Millionen Dollar an. Das Besondere:<br />
Es handelt sich um<br />
verbriefte Forderungen gegen<br />
SolarCity-Kunden.<br />
Geschäfte mit solchen Papieren<br />
hatten die Finanzkrise ausgelöst.<br />
Damals entpuppten sich<br />
Forderungen gegen Immobilienbesitzer<br />
als überbewertet.<br />
Die mit 4,8 Prozent verzinsten<br />
Solar-ABS-Papiere – ein Novum<br />
am Finanzmarkt – scheinen weniger<br />
toxisch. Sie basieren auf<br />
den Verpflichtungen von Solar-<br />
City-Kunden, denen das kalifornische<br />
Unternehmen kostenfrei<br />
Solaranlagen aufs Dach montiert.<br />
Die Kunden zahlen die<br />
Investition später über den<br />
Strompreis zurück. Analysten<br />
erwarten, dass andere Solarfirmen<br />
mit ähnlichen Anleihen<br />
nachziehen.<br />
martin.seiwert@wiwo.de | New York<br />
ZIGARETTENSCHMUGGEL<br />
Kontrollen<br />
eindämmen<br />
Gegen Ende der Verhandlungen<br />
zur EU-Tabakrichtlinie<br />
versuchen Zigarettenhersteller,<br />
die geplanten Vorschriften zur<br />
verschärften Überwachung aufzuweichen.<br />
EU-Kommission<br />
und Europäisches Parlament<br />
fordern, dass Zigarettenpäckchen<br />
künftig einheitlich gekennzeichnet<br />
werden, um den<br />
<strong>09</strong>.<strong>12</strong>. CDU Der Bundesausschuss der Partei berät am<br />
Montag den Koalitionsvertrag mit der CSU und<br />
der SPD. Die SPD-Mitglieder können bis zum<br />
<strong>12</strong>. Dezember schriftlich entscheiden, ob ihre<br />
Partei eine Koalition eingehen soll.<br />
10.<strong>12</strong>. Leiharbeit Das Bundesarbeitsgericht verkündet<br />
am Dienstag ein Grundsatzurteil über die Einsatzdauer<br />
von Leiharbeitern.<br />
11.<strong>12</strong>. Microsoft Das EU-Gericht entscheidet am<br />
Mittwoch, ob Microsoft das Internet-Unternehmen<br />
Skype übernehmen durfte. Microsoft hatte<br />
den Kauf im Mai 2011 bekannt gegeben, wenig<br />
später genehmigte ihn die EU-Kommission. Dagegen<br />
hat Cisco Systems geklagt.<br />
Bahn Die vier französischen Bahngewerkschaften<br />
bestreiken die staatliche Bahngesellschaft SNCF.<br />
Der Arbeitskampf beginnt am Mittwoch um 19.00<br />
Uhr und soll am Freitag früh um 8.00 Uhr enden.<br />
Der Protest richtet sich gegen die geplante Liberalisierung<br />
des Schienenverkehrs.<br />
14.<strong>12</strong>. SPD Die Parteizentrale zählt am Samstag die<br />
Stimmen des Mitgliederentscheids über den<br />
Koalitionsvertrag aus. Haben sich mindestens<br />
20 Prozent der Mitglieder an der Abstimmung<br />
beteiligt, ist das Ergebnis verbindlich.<br />
Raumfahrt Chinas unbemanntes Fahrzeug Yutu<br />
(Jadehase) soll auf dem Mond landen, drei Monate<br />
lang die Oberfläche erkunden und nach Rohstoffen<br />
suchen. Es ist Chinas erste Mondlandung.<br />
TOP-TERMINE VOM <strong>09</strong>.<strong>12</strong>. BIS 15.<strong>12</strong>.<br />
Schmuggel einzudämmen. EU-<br />
Kommissar Tonio Borg hat<br />
vorgeschlagen, ein unabhängiger<br />
Dienstleister soll den Weg<br />
jeder Schachtel von der Fabrik<br />
bis zum Einzelhändler nachverfolgen.<br />
Doch die Hersteller pochen<br />
darauf, dass nur der Weg<br />
zwischen Fabrik und Großhandel<br />
überwacht wird, wie das die<br />
Weltgesundheitsorganisation<br />
(WHO) in ihrem Anti-Schmuggel-Abkommen<br />
festlegt.<br />
Die Branche beklagt, dass sie<br />
die Kosten für die Überwachung<br />
tragen soll. Bei dem neuen Kontrollsystem<br />
sollen unabhängige<br />
Dienstleister die Handelswege<br />
der Zigarettenschachteln anhand<br />
der Daten überprüfen, die<br />
die Hersteller eingeben. Doch<br />
wer kontrolliert, ob die Daten<br />
korrekt sind? Zumal viele Tabakkonzerne<br />
in Osteuropa, dem<br />
Herkunftsland vieler Schmuggelzigaretten,<br />
und im Westen<br />
aktiv sind. Unterhändler der EU-<br />
Kommission, des Europäischen<br />
Parlaments und der EU-Staaten<br />
beraten am Mittwoch über die<br />
Richtlinie.<br />
silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />
BURGER KING<br />
Vollstrecker<br />
kommt<br />
Im Streit mit der Gewerkschaft<br />
NGG erlitt Burger King erneut<br />
eine Niederlage. In Augsburg<br />
zahlt der Hamburger-Bräter einem<br />
Betriebsrat seit Juli keinen<br />
Lohn und hat ihn bei der Krankenkasse<br />
AOK abgemeldet.<br />
Ein „eklatanter Rechtsverstoß“,<br />
Nur noch Berater Burger-King-<br />
Deutschland-Chef Bork<br />
befand das Gericht und verdonnerte<br />
die Burger King GmbH per<br />
einstweiliger Verfügung zur<br />
Zahlung von 1050 Euro. Da das<br />
Unternehmen trotzdem nicht<br />
zahlte, hat die NGG die Zwangsvollstreckung<br />
eingeleitet. „Wir<br />
schicken Franchisenehmer<br />
Ergün Yildiz jetzt den Gerichtsvollzieher“,<br />
sagt der Augsburger<br />
NGG-Geschäftsführer Tim<br />
Lubecki. Deutschland-Chef<br />
Andreas Bork weist jede Verantwortung<br />
von sich. Man könne<br />
den selbstständigen Franchisenehmern<br />
bei Personalfragen<br />
nur beratend zur Seite stehen.<br />
SPD-Chef Sigmar Gabriel<br />
schimpfte auf einer NGG-Veranstaltung<br />
über Burger King:<br />
„Das sind Radikale, die haben<br />
nichts auf dem Privatsektor<br />
verloren.“ Grund ist das massive<br />
Vorgehen gegen mehrere Betriebsräte,<br />
seit Franchisenehmer<br />
Yildiz 91 Burger-King-<br />
Filialen übernommen hat.<br />
oliver.voss@wiwo.de<br />
FOTOS: DDP IMAGES/NEWSCOM, PR<br />
<strong>12</strong> Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
CHEFSESSEL<br />
STARTUP<br />
ERGO<br />
Silke Lautenschläger, 45,<br />
rückt am 1. Januar in den<br />
Vorstand des Versicherungskonzerns<br />
Ergo auf und verantwortet<br />
dort das neue<br />
Ressort Kunden- und Vertriebsservice.<br />
Bekannt wurde<br />
die Juristin vor allem als<br />
Ministerin. Von August 2001<br />
bis August 2010 gehörte die<br />
Christdemokratin dem Kabinett<br />
des damaligen hessischen<br />
Ministerpräsidenten<br />
Roland Koch an. Seit Januar<br />
2011 sitzt sie im Vorstand der<br />
Deutschen Krankenversicherung<br />
DKV, einer Tochter<br />
von Ergo.<br />
EU-RECHNUNGSHOF<br />
Klaus-Heiner Lehne, 56,<br />
seit 19 Jahren für die CDU im<br />
Europäischen Parlament,<br />
soll nach dem Willen der<br />
Bundesregierung als deutsches<br />
Mitglied an den EU-<br />
Rechnungshof wechseln.<br />
Dort würde er auf den SPD-<br />
Politiker Harald Noack folgen,<br />
der nach sechsjähriger<br />
FUSSBALL<br />
Amtszeit turnusgemäß ausscheidet.<br />
Die Zustimmung der<br />
anderen EU-Staaten gilt als<br />
Formsache. Auch das Europäische<br />
Parlament dürfte Lehnes<br />
Ernennung bestätigen. Seit<br />
20<strong>09</strong> saß der Düsseldorfer Jurist<br />
dem Rechtsausschuss vor. Aus<br />
der Kanzlei Taylor Wessing<br />
scheidet er nun aus, weil das<br />
Amt am EU-Rechnungshof alle<br />
Nebentätigkeiten verbietet.<br />
BAYERNLB<br />
Johannes-Jörg Riegler, 49,<br />
wechselt zum 1. April 2014 auf<br />
den Chefsessel der BayernLB.<br />
Der gebürtige Franke kommt<br />
von der Nord/LB, wo er zuletzt<br />
stellvertretender Vorstandsvorsitzender<br />
war. Bei der BayernLB<br />
tritt Riegler die Nachfolge von<br />
Gerd Häusler, 62, an, der Aufsichtsratschef<br />
des Münchner<br />
Geldhauses werden soll.<br />
COCA-COLA<br />
Torsten Hoppe, 46, steigt am<br />
1. Januar in den Vorstand des<br />
Berliner Abfüll- und Vertriebsunternehmens<br />
Coca-Cola Erfrischungsgetränke<br />
auf und verantwortet<br />
dann die Finanzen.<br />
Er löst Derek Cunningham, 60,<br />
ab, der den Posten seit Januar<br />
2007 innehat. Seit 2000 arbeitet<br />
Hoppe schon für Coca-Cola,<br />
zuletzt führte er in Shanghai ein<br />
neues IT-System ein.<br />
518 Millionen Euro<br />
beträgt der Marktwert der spanischen Fußballnationalmannschaft.<br />
Laut den Infodiensten Statista und Transfermarkt ist sie<br />
die wertvollste der Welt, gefolgt von Brasilien mit 437 Millionen<br />
und Italien mit 429 Millionen. Deutschland liegt weltweit auf Platz<br />
vier. Das Team erreicht einen Marktwert von 417 Millionen Euro.<br />
GUTE-LAUNE-ABO<br />
Briefe statt E-Mails<br />
Für sieben Euro gute Laune? Geht das? „Das geht“, meint Jutta<br />
Vogel. Gute Laune zu verbreiten ist ihr Geschäft. Klar, dass sie<br />
auch ihr neues Unternehmen in Bonn so genannt hat: Gute-Laune-Abo.<br />
Die ersten Kunden hat sie schon beglückt – mit Briefen.<br />
Täglich, mitunter minütlich treffen bei vielen Bürgern E-Mails ein,<br />
Werbung, kurze Botschaften, Grüße, Glückwünsche. Aber wie oft<br />
klingelt der Postbote und bringt einen privaten Brief, mit Marke in<br />
buntem Umschlag? „Alle wünschen sich, Briefe zu bekommen,<br />
aber niemand will schreiben“, sagt Vogel. Wer Briefe verschicken,<br />
aber nicht verfassen will, ist bei der ehemaligen Lehrerin an der<br />
richtigen Adresse. Im Auftrag von Kunden formuliert und versendet<br />
Vogel Briefe, etwa zu Geburtstag oder Hochzeitstag.<br />
Im Schnitt ist ein Brief zwei Seiten lang. „Je nach Anlass und<br />
Einfällen sind es mal mehr oder weniger“, sagt Vogel. „Dafür brauche<br />
ich zehn Minuten bis zu einer Stunde, je nach Recherche.“<br />
Allerdings greift sie nicht zum Füller, sondern setzt sich an ihren<br />
Computer. „Damit jeder den Text entziffern kann.“ Dann steckt sie<br />
die Bögen in einen bunten Umschlag. „Ich nehme gelbe oder rote,<br />
damit man sie von den<br />
Fakten zum Start<br />
Gründerin Ex-Lehrerin und<br />
Biografin Jutta Vogel, 62<br />
Preise je Brief 7 Euro, ab zehn<br />
Briefen je 6,50 Euro, ein<br />
Jahresabonnement mit 52 Briefen<br />
kostet 260 Euro<br />
Strom- oder Telefonrechnungen<br />
unterscheiden<br />
kann.“ Auch die Briefmarke<br />
wählt sie aus –<br />
passend zum Anlass. Ihre<br />
Aufträge erhält Vogel allerdings<br />
ganz zeitgemäß<br />
per E-Mail.<br />
hermann.olbermann@wiwo.de<br />
FOTOS: DDP/THOMAS LOHNES, ROBERT POORTEN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, GETTY IMAGES/AFP/ALAIN GROSCLAUDE<br />
14 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />
Jean-Frédéric Dufour<br />
Chef des Luxusuhrenherstellers Zenith<br />
Der Tisch war da. Der Bürostuhl<br />
war da. Die Schreibtischlampe<br />
war da. Auch das Bücherregal,<br />
die Besucherstühle und die<br />
steinerne Statue im Fenstereck<br />
waren schon da. Nur einen<br />
Gegenstand hat Jean-Frédéric<br />
Dufour, 46, einbauen lassen,<br />
als er das Büro in Le Locle im<br />
Schweizer Juragebirge bezog:<br />
den Tresor. „Dort bewahre ich<br />
Unternehmensunterlagen und<br />
Prototypen auf“, sagt Dufour,<br />
der seit Juni 20<strong>09</strong> den Luxusuhrenhersteller<br />
Zenith leitet. Zuvor<br />
hatte er schon für die Swatch<br />
Group und für Chopard gearbeitet.<br />
„Meine erste Sorge war<br />
sicher nicht, das Büro umzubauen“,<br />
sagt Dufour.<br />
„Die Prototypen sind<br />
nicht im Safe, weil sie<br />
besonders wertvoll<br />
sind, sondern weil es<br />
Unikate zum Prüfen<br />
sind.“ Leicht war der<br />
Start in dem Traditionsunternehmen<br />
360 Grad<br />
In unserer iPad-<br />
<strong>Ausgabe</strong> finden<br />
Sie an dieser<br />
Stelle ein interaktives<br />
360°-Bild<br />
nicht, das 1865 gegründet wurde<br />
und seit 1999 zur französischen<br />
Luxusholding LVMH<br />
gehört. Denn Zenith hatte 1969<br />
zwar das Uhrwerk El Primero<br />
mit besonders präzisen Werten<br />
konstruiert, Dufour hat für die<br />
Erfolge der vergangenen Jahre<br />
jedoch das Modellprogramm<br />
deutlich verändert. Der Schreibtisch,<br />
aus einem Holz,<br />
„das ich sehr altmodisch<br />
finde“, beherbergt<br />
wenige private<br />
Dinge, so Dufour: eine<br />
Puppe des Weltallspringers<br />
Felix Baumgartner<br />
und eine<br />
chinesische Holzfigur<br />
– das Geschenk einer scheidenden<br />
Mitarbeiterin. „Mach’s<br />
wie die Chinesen“ – ruhig und<br />
standfest bleiben, wollte sie<br />
dem Chef mit auf den Weg geben.<br />
Aus dem recht schmucklosen<br />
Unternehmensgebäude<br />
schaut Dufour auf historische<br />
Bauten. „Wir haben sehr starke<br />
Wurzeln in diesem Ort, denn<br />
Zenith ist nie woanders gewesen“,<br />
sagt Dufour. So wird sein<br />
Büro trotz seiner mäßigen Begeisterung<br />
für das vorhandene<br />
Mobiliar sicher noch eine Weile<br />
Bestand haben. Immerhin<br />
schaut er auf zwei Kunstwerke.<br />
„Die habe ich mir ausgesucht.“<br />
thorsten.firlus@wiwo.de<br />
FOTO: ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
16 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Motoren des Aufschwungs<br />
STÄDTERANKING | Wo gibt es die meisten Jobs, die beste Wirtschaftsstruktur, wo brummt<br />
der Immobilienmarkt? Der große Städtetest der WirtschaftsWoche, in Kooperation<br />
mit Immobilienscout24 und IW Consult, untersucht die Stärken und Schwächen aller<br />
kreisfreien Städte ab 100 000 Einwohner. Die Ergebnisse sind vielfach überraschend –<br />
und zeigen die überragende Bedeutung der Automobilindustrie für Deutschland.<br />
Wer zum ersten Mal nach<br />
Wolfsburg kommt, sollte<br />
am Bahnhof den Hinterausgang<br />
nehmen. Dann<br />
steht er am Mittellandkanal<br />
und blickt unvermittelt auf das Wahrzeichen<br />
und Herz der Stadt. Er sieht keine Kirche,<br />
keine Altstadt, kein historisches Gemäuer<br />
– sondern ein riesiges Logo der<br />
Volkswagen AG und die vier unter Denkmalschutz<br />
stehenden Schornsteine des alten<br />
VW-Kraftwerks. Gleich daneben erstreckt<br />
sich auf 6,5 Quadratkilometern, einer<br />
Fläche so groß wie Gibraltar, das Werk<br />
des größten Autobauers Europas.<br />
Wer den Bahnhof vorne verlässt, landet<br />
in der Fußgängerzone. Die heißt zwar Porschestraße,<br />
verströmt aber den Charme einer<br />
ostdeutschen Einkaufszone vor der<br />
Wende. Es ist eine grau-braune Betonwüste,<br />
ein baulicher Albtraum. Überhaupt ist<br />
Wolfsburg eigentlich keine Stadt, sondern<br />
eine Ansammlung von Gebäuden. Gründungsvater<br />
war Adolf Hitler, der 1938 in der<br />
niedersächsischen Pampa bei Fallersleben<br />
ein Werk für den KdF-Wagen, den späteren<br />
Käfer, hochziehen ließ. Die um die Fabrik<br />
entstehenden Häuserzeilen waren eher<br />
Beiwerk, und das merkt man bis heute.<br />
Also schnell weg hier? „Das Vorurteil,<br />
Wolfsburg sei eine graue und langweilige<br />
Industriestadt, hält sich nur so lange, bis<br />
man herkommt“, sagt Oberbürgermeister<br />
Klaus Mohrs, 61. Und in der Tat: Wer zum<br />
ersten Mal nach Wolfsburg kommt, ist sehr<br />
schnell sehr erstaunt. Neben dem Bahnhof<br />
steht wie ein futuristisches Raumschiff das<br />
von Stararchitektin Zaha Hadid entworfene<br />
Technikmuseum Phaeno, für den britischen<br />
„Guardian“ eines „der zwölf bedeutendsten<br />
modernen Bauwerke der Welt“.<br />
Von hier erreichen Besucher über eine<br />
Brücke die von VW mit 435 Millionen Euro<br />
errichtete Autostadt, einen automobilen<br />
Erlebnispark mit dem besucherstärksten<br />
Automuseum der Welt. In Wolfsburg gibt<br />
es das erste in Deutschland errichtete Ritz-<br />
Carlton-Hotel, das mit drei Michelin-Sternen<br />
ausgezeichnete<br />
Restaurant Aqua und das erste<br />
innerstädtische Outletcenter,<br />
das in dieser Woche den dritten<br />
Erweiterungsbau eröffnet.<br />
Auch die Wolfsburger Binnensoziologie<br />
ist anders als gemeinhin<br />
erwartet. Eine Arbeiterstadt?<br />
Rund jeder zehnte Arbeitnehmer<br />
ist mittlerweile Ingenieur.<br />
Die Zahl der Akademiker ist in<br />
den vergangenen zehn Jahre um<br />
150 Prozent gestiegen. Die Arbeitsplatzversorgung<br />
ist nirgendwo<br />
in der Republik besser.<br />
Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt<br />
bundesweit an der Spitze – und ist fast viermal<br />
höher als in der Hauptstadt Berlin.<br />
Unter dem Strich verlief in keiner anderen<br />
deutschen Stadt die ökonomische Entwicklung<br />
in den vergangenen Jahren so dynamisch<br />
wie in der ehemaligen Zonenrandmetropole<br />
Wolfsburg. Zu diesem<br />
Ergebnis kommt der große Städtetest von<br />
WirtschaftsWoche, Immobilienscout24<br />
und IW Consult. Anhand von 89 Einzelindikatoren<br />
wurden in diesem Test alle kreisfreien<br />
Städte ab 100 000 Einwohner untersucht:<br />
Wo wächst die Wirtschaft – und wo<br />
nicht? Wo lässt es sich gut arbeiten und investieren,<br />
wo gibt es die meisten Jobs und<br />
den höchsten Wohlstand?<br />
Städte<br />
Serie<br />
Im nächsten Heft<br />
Interview mit<br />
Benjamin Barber –<br />
der US-Wissenschaftler<br />
fordert<br />
mehr politische<br />
Macht für die Städte<br />
Der Städtetest gliedert sich in zwei Teile.<br />
Erstens das Niveauranking, das den Ist-Zustand<br />
beschreibt (siehe Seite 22). Hier siegt<br />
wie in den Vorjahren München, gefolgt von<br />
Ingolstadt und Erlangen (siehe Tabelle Seite<br />
22). Ganz unten im Ranking: Herne und<br />
Gelsenkirchen. Das Dynamikranking untersucht<br />
hingegen die Veränderung<br />
ausgewählter Indikatoren<br />
seit 2007. Hier liegt Wolfsburg<br />
vorn, gefolgt von Ingolstadt, Erlangen<br />
und Regensburg. Die rote<br />
Laterne geht an Oberhausen<br />
und Remscheid.<br />
AUTOSTÄDTE VORN<br />
Die Ergebnisse zeigen, dass Mittelstädte<br />
im Wettbewerb mit<br />
den Ballungszentren in vieler<br />
Hinsicht mithalten können. Vor<br />
allem aber demonstrieren sie<br />
die überragende Bedeutung der<br />
Automobilindustrie für den<br />
Standort Deutschland. Niveausieger München<br />
ist Heimat von BMW. Unter den Top<br />
Five des Dynamikrankings befinden sich<br />
mit Wolfsburg (VW), Ingolstadt (Audi), Regensburg<br />
(BMW) und Leipzig (Porsche,<br />
BMW) gleich vier Autostädte.<br />
Die Branche beschäftigt in Deutschland<br />
über 1,8 Millionen Menschen und setzt im<br />
Jahr gut 350 Milliarden Euro um, ein Anteil<br />
von mehr als 20 Prozent am Gesamtumsatz<br />
des verarbeitenden Gewerbes. „In keinem<br />
anderen Land der Welt hat die Autoindustrie<br />
einen so großen Anteil an der Wertschöpfung“,<br />
sagt Antje Blöcker von der<br />
Ruhr-Universität Bochum. Die Ökonomin<br />
ist auf die Erforschung von Clustern spezialisiert,<br />
also auf die Vernetzung von<br />
»<br />
FOTO: STEFAN KRÖGER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE; ILLUSTRATION: KRISTINA DÜLLMANN<br />
18 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Golfsburg<br />
OB Klaus Mohrs und<br />
seine Stadt profitieren<br />
<strong>vom</strong> VW-Erfolg<br />
360 Prozent beträgt in<br />
Wolfsburg der Gewerbesteuerhebesatz.<br />
So günstig<br />
ist es für Betriebe sonst<br />
nur noch in Ulm<br />
108 165 Euro<br />
im Jahr erwirtschaftet<br />
im Schnitt jeder<br />
Wolfsburger –<br />
bundesweiter Rekord<br />
57 000 Menschen<br />
beschäftigt VW in<br />
Wolfsburg –<br />
statistisch fast jeden<br />
zweiten Einwohner<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
Branchen. Gerade im Automobilbau<br />
siedeln sich rund um die Hersteller viele<br />
Zulieferer und Dienstleister an. Alles in allem<br />
erwirtschaftet die Branche in Deutschland<br />
7,7 Prozent der Wirtschaftsleistung –<br />
ein im weltweiten Vergleich einsamer Spitzenwert.<br />
Das sind die nackten Zahlen. Was<br />
dies jedoch für den Mikrokosmos Stadt<br />
Stuttgart ist die Stadt mit<br />
den meisten Patentanmeldungen<br />
(1376 je 100 000<br />
Erwerbstätige). Schlusslicht<br />
Herne schafft nur 14<br />
und die Produktionsstandorte bedeutet,<br />
lässt sich wie unter einem Brennglas in<br />
Wolfsburg und Ingolstadt beobachten.<br />
TAUSENDE JOBS<br />
Natürlich ist der Erfolg von Wolfsburg der<br />
Erfolg von VW. In keiner anderen Stadt ist<br />
die Symbiose von Kommune und Konzern<br />
so vollkommen. „Es gibt in Wolfsburg eine<br />
gefühlte Schicksalsgemeinschaft zwischen<br />
Bevölkerung, Politik und VW. Hier hat fast<br />
jede Familie irgendwas mit VW zu tun“,<br />
sagt OB Mohrs. Im Werk arbeiten 57 000<br />
Menschen, das ist statistisch gesehen fast<br />
jeder zweite Einwohner. Hinzu kommen<br />
Tausende Jobs bei Zulieferern.<br />
Wachstum durch Technik<br />
Ingolstadts OB Lehmann<br />
mit Audi-Dienstwagen<br />
Was die Dynamiksieger so stark macht<br />
Steigende Produktivität...<br />
Veränderung des Bruttoinlandsprodukts<br />
je Erwerbstätigen (2007 zu 2011,<br />
in Prozent)<br />
Rang<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
.<br />
69<br />
70<br />
71<br />
Stadt<br />
Ingolstadt<br />
Wolfsburg<br />
Essen<br />
Salzgitter<br />
Rostock<br />
Bochum<br />
Bonn<br />
Krefeld<br />
Dresden<br />
Fürth<br />
Mittelwert<br />
Veränderung in jeweiligen Preisen;<br />
Quelle: VGR der Länder. Alle Daten:<br />
wiwo.de/produktivitaet<strong>2013</strong><br />
Wert<br />
19,2<br />
18,1<br />
13,1<br />
<strong>12</strong>,9<br />
<strong>12</strong>,2<br />
10,8<br />
10,4<br />
–5,5<br />
–5,8<br />
–6,3<br />
3,3<br />
...jede Menge Jobs...<br />
Arbeitsplatzversorgung (in Prozent)<br />
Rang<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
.<br />
69<br />
70<br />
71<br />
Stadt<br />
Wolfsburg<br />
Ingolstadt<br />
Fürth<br />
Erlangen<br />
Remscheid<br />
Augsburg<br />
Leverkusen<br />
Berlin<br />
Trier<br />
Heidelberg<br />
Mittelwert<br />
Wert<br />
68,4<br />
68,3<br />
67,2<br />
67,0<br />
65,4<br />
64,2<br />
63,9<br />
51,2<br />
51,0<br />
48,4<br />
59,4<br />
Anteil der sozialversicherungspfl. Beschäftigten/geringf.<br />
Beschäftigten an den erwerbsfähigen<br />
Einwohnern; Quelle: BA, 20<strong>12</strong>. Alle<br />
Daten: wiwo.de/arbeitsplaetze<strong>2013</strong><br />
...glückliche Kämmerer...<br />
Veränderung der kommunalen Steuerkraft<br />
je Einwohner (2007 zu 2011, in Euro)<br />
Rang<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
.<br />
69<br />
70<br />
71<br />
Stadt<br />
Wolfsburg<br />
Ingolstadt<br />
Bonn<br />
Jena<br />
Braunschweig<br />
Heidelberg<br />
Regensburg<br />
Darmstadt<br />
Salzgitter<br />
Frankfurt/Main<br />
Mittelwert<br />
Wert<br />
1<strong>12</strong>1<br />
425<br />
364<br />
<strong>12</strong>3<br />
<strong>12</strong>2<br />
104<br />
97<br />
–203<br />
–246<br />
–306<br />
35,9<br />
Grundsteuer, Gewerbesteuer, Gemeindeanteil<br />
an Einkommen- und Umsatzsteuer, abzügl.<br />
Gewerbesteuerumlage; Quelle: Destatis.<br />
Alle Daten: wiwo.de/steuerkraft<strong>2013</strong><br />
...und mehr Frauenpower<br />
Veränderung des Anteils der weiblichen<br />
Beschäftigten an den erwerbsfähigen<br />
Einwohnerinnen (in Prozentpunkten)*<br />
Rang<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
.<br />
69<br />
70<br />
71<br />
Stadt<br />
Wolfsburg<br />
Leipzig<br />
Ingolstadt<br />
Dresden<br />
Regensburg<br />
Würzburg<br />
Braunschweig<br />
Heidelberg<br />
Münster<br />
Offenbach<br />
Mittelwert<br />
Wert<br />
8,3<br />
7,2<br />
7,1<br />
6,3<br />
6,1<br />
6,0<br />
6,0<br />
2,6<br />
2,5<br />
2,1<br />
4,4<br />
* Veränderung am Wohnort 2007 zu 20<strong>12</strong>;<br />
Quelle: BA, Destatis, IW Consult.<br />
Alle Daten: wiwo.de/frauen<strong>2013</strong><br />
FOTO: ROBERT BREMBECK FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
20 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Ohne VW könnte Wolfsburg nicht existieren,<br />
und das wissen beide Seiten. Probleme<br />
werden nicht selten auf kurzem<br />
Dienstweg in der Loge des Fußball-Bundesligisten<br />
VfL Wolfsburg gelöst. „Die Stadt<br />
muss dafür sorgen, dass VW optimale<br />
Standortbedingungen vorfindet. Dass der<br />
Konzern hier seine Zentrale hat und behält,<br />
das ist ja nicht gottgegeben“, sagt SPD-<br />
Mann Mohrs. Bis 2016 will Wolfsburg gegen<br />
den Widerstand der Landesregierung<br />
mit dem Landkreis Helmstedt fusionieren<br />
– auch um neue potenzielle Gewerbeflächen<br />
für VW und Zulieferer zu bekommen.<br />
Bis 2018 will der Konzern rund 4,6 Milliarden<br />
Euro am Standort investieren.<br />
Die Kehrseite des Booms: „Immobilienmärkte<br />
sind Abbild der wirtschaftlichen<br />
Stärke und positiv empfundener Lebensqualität<br />
vor Ort“, sagt Marc Stilke, CEO von<br />
Immobilienscout24. Der Nachfrageüberhang<br />
auf dem Wohnungsmarkt ist daher<br />
gewaltig (siehe Seite 26). Die Immobilientochter<br />
von VW baut deswegen für gut 100<br />
Millionen Euro neue Mietwohnungen.<br />
Volkswagen fördert Kunst und Kultur, hat<br />
ein Freibad spendiert und mit dem Autostadt-Gelände<br />
„die Ankerattraktion der<br />
Stadt und einen Katalysator für die Entwicklung<br />
Wolfsburgs“ geschaffen,<br />
schwärmt Autostadt-Geschäftsführer Otto<br />
Wachs. Die Wolfsburg AG, ein Gemeinschaftsunternehmen<br />
von Stadt und VW,<br />
kümmert sich nicht nur um Startups und<br />
die Ansiedlung neuer Zulieferer, sondern<br />
mit einer rollenden Arztpraxis auch um<br />
die medizinische Versorgung im ländlichen<br />
Umland. „Stadt und Konzern sind<br />
darauf angewiesen, dass neue Fachkräfte<br />
in die Region ziehen. Dafür muss man den<br />
Leuten etwas bieten“, sagt Geschäftsführer<br />
Julius von Ingelheim.<br />
Die höchste Aufklärungsquote<br />
bei Straftaten hat<br />
Augsburg (70,9 Prozent).<br />
Letzter: Münster<br />
(42,6 Prozent)<br />
Die industrielle Monokultur birgt indes<br />
Risiken. Wolfsburg bestreitet rund 57 Prozent<br />
seiner <strong>Ausgabe</strong>n aus der volatilen Gewerbesteuer.<br />
Lässt die Autokonjunktur<br />
nach, merkt das der Kämmerer schnell. Auf<br />
die Frage nach Wachstumsbranchen jenseits<br />
des Automobils spricht OB Mohrs nebulös<br />
von „Dienstleistungen“; so richtig<br />
Sorgen macht er sich angesichts der globalen<br />
Präsenz von VW nicht. Für schlechte<br />
Zeiten habe die Stadt „finanzielle Puffer“.<br />
Und das ist noch vorsichtig formuliert.<br />
Derzeit wissen die Stadtoberen nicht, wohin<br />
mit all dem Geld, das auf sie niederregnet.<br />
20<strong>12</strong> kassierte die Stadt über 442 Millionen<br />
Euro an Gewerbesteuer – ein Zuwachs<br />
von 273 Prozent gegenüber 2008.<br />
Wolfsburg ist seit 20<strong>12</strong> schuldenfrei und<br />
kann in den kommenden Jahren mal eben<br />
200 Millionen Euro in die Modernisierung<br />
seiner Schulen investieren, speziell in die<br />
naturwissenschaftliche Ausstattung. Auch<br />
in Kindergärten, Ganztagsbetreuung und<br />
Sportstätten fließen Millionensummen.<br />
„Unser Problem ist nicht das Geld, sondern<br />
die Planung und Umsetzung unserer Projekte.<br />
Wir können ja nicht mehr beschließen,<br />
als sich in vertretbarer Zeit realisieren<br />
lässt“, sagt Mohrs. Solche Probleme hätten<br />
andere Stadtobere gern.<br />
ORT IM GLÜCK<br />
Das Spiegelbild zu Wolfsburg liegt 526 Kilometer<br />
südlich. An der Außenwand des Ingolstädter<br />
Stadttheaters formt eine gebogene<br />
Neonröhre das Wort „Glück“. Es geht<br />
um das Programm des Hauses, aber die<br />
Ansage lässt sich auf die gesamte Stadt anwenden.<br />
Ein Ort im Glück, gesegnet mit<br />
dem zentralen Standort eines der am<br />
stärksten prosperierenden Unternehmen<br />
Deutschlands: Audi.<br />
Die jüngere Stadtgeschichte von Ingolstadt<br />
liest sich wie eine Aneinanderreihung<br />
glücklicher Umstände. Audi kommt eigentlich<br />
aus dem sächsischen Zwickau. Nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg zeichnet sich aber<br />
schnell ab, dass es im sozialistischen Osten<br />
mit der freien Wirtschaft nicht lange weitergeht.<br />
Der Konzern sucht ein neues<br />
»<br />
Niveausieger München punktet mit...<br />
...dem besten Lehrstellenangebot...<br />
Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen<br />
je 100 Nachfrager<br />
...einer regen Gründerszene...<br />
Saldo aus Gewerbean- und -abmeldungen<br />
je 1000 Einwohner<br />
...vielen Besuchern...<br />
Gästeübernachtungen je Einwohner<br />
...und klugen Arbeitnehmern<br />
Anteil der hoch Qualifizierten<br />
(in Prozent)<br />
Rang<br />
Stadt<br />
Wert<br />
Rang<br />
Stadt<br />
Wert<br />
Rang<br />
Stadt<br />
Wert<br />
Rang<br />
Stadt<br />
Wert<br />
1<br />
München<br />
107,0<br />
1<br />
Offenbach<br />
5,1<br />
1<br />
Frankfurt/Main<br />
9,2<br />
1<br />
Erlangen<br />
29,3<br />
2<br />
Frankfurt/Main<br />
105,6<br />
2<br />
München<br />
3,5<br />
2<br />
München<br />
8,5<br />
2<br />
Jena<br />
29,2<br />
3<br />
Heidelberg<br />
105,5<br />
3<br />
Berlin<br />
3,3<br />
3<br />
Rostock<br />
7,4<br />
3<br />
München<br />
25,2<br />
4<br />
Regensburg<br />
105,1<br />
4<br />
Fürth<br />
3,2<br />
4<br />
Heidelberg<br />
7,2<br />
4<br />
Darmstadt<br />
24,5<br />
5<br />
Stuttgart<br />
103,9<br />
5<br />
Koblenz<br />
2,9<br />
5<br />
Trier<br />
7,2<br />
5<br />
Stuttgart<br />
24,5<br />
6<br />
Jena<br />
103,7<br />
6<br />
Hamburg<br />
2,5<br />
6<br />
Dresden<br />
7,2<br />
6<br />
Dresden<br />
24,0<br />
7<br />
.<br />
69<br />
Duisburg<br />
Berlin<br />
103,5<br />
95,0<br />
7<br />
.<br />
69<br />
Leipzig<br />
Rostock<br />
2,4<br />
–1,2<br />
7<br />
.<br />
69<br />
Regensburg<br />
Solingen<br />
6,7<br />
0,7<br />
7<br />
.<br />
69<br />
Heidelberg<br />
Solingen<br />
22,9<br />
8,2<br />
70<br />
Mülheim/Ruhr<br />
93,8<br />
70<br />
Bottrop<br />
–1,5<br />
70<br />
Bottrop<br />
0,7<br />
70<br />
Hamm<br />
8,1<br />
71<br />
Oberhausen<br />
93,8<br />
71<br />
Düsseldorf<br />
–1,6<br />
71<br />
Herne<br />
0,5<br />
71<br />
Bottrop<br />
6,4<br />
Mittelwert<br />
100,9<br />
Mittelwert<br />
0,7<br />
Mittelwert<br />
3,3<br />
Mittelwert<br />
15,4<br />
Quelle: BBSR, 2010.<br />
Alle Daten: wiwo.de/ausbildungsplaetze<strong>2013</strong><br />
Quelle: Destatis, 20<strong>12</strong>.<br />
Alle Daten: wiwo.de/gewerbe<strong>2013</strong><br />
Zahlen gerundet; Quelle: Destatis, 2011.<br />
Alle Daten: wiwo.de/gaeste<strong>2013</strong><br />
Akademikeranteil an den Beschäftigten;<br />
Zahlen gerundet; Quelle: BA, <strong>2013</strong>. Alle<br />
Daten: wiwo.de/hochqualifizierte<strong>2013</strong><br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 21<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
Die höchste Betreuungsquote<br />
für unter Dreijährige<br />
erreichen Jena und<br />
Rostock (57 Prozent)<br />
Verteilzentrum im Süden und wird in Ingolstadt<br />
fündig. Der Stadtkern der alten<br />
bayrische Festungsstadt besteht zum großen<br />
Teil aus Kasernen, die nun leer stehen.<br />
Zugleich ist die Stadt wegen ihrer damals<br />
strategischen Bedeutung hervorragend an<br />
das Verkehrsnetz angebunden. Die Kombination<br />
ist für Audi ideal. 1958 fällt die Entscheidung,<br />
hier das neue Zentralwerk zu<br />
bauen.<br />
50 Jahre später arbeiten 36 000 Menschen<br />
allein im Audi-Werk, das Gelände ist<br />
doppelt so groß wie die historische Altstadt.<br />
Und auch der Stadt geht es prächtig:<br />
20<strong>12</strong> landeten 241 Millionen Euro Gewerbesteuern<br />
in der Stadtkasse. In vergleichbar<br />
großen Städten wie Offenbach oder Paderborn<br />
waren es deutlich unter 100 Millionen<br />
Euro. Die Arbeitslosenquote liegt<br />
bei 2,1 Prozent, das ist die niedrigste Quote<br />
aller deutschen Großstädte.<br />
Das Problem ist hier eher, überhaupt<br />
noch Fachkräfte zu finden. Schon Mitte der<br />
Neunzigerjahre hob der heutige Oberbürgermeister<br />
Alfred Lehmann (CSU) als Referent<br />
für Wirtschaft die städtische Tochter<br />
„In-Arbeit GmbH“ aus der Taufe, die sich<br />
um die Unterstützung von Arbeitslosen<br />
kümmert. Lange bevor der Ein-Euro-Job<br />
erfunden war, gab es in Ingolstadt schon<br />
Drei-Mark-Jobber, die sich gemeinnützig<br />
Die größten kreisfreien Städte im Test<br />
Niveauranking*<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
<strong>12</strong><br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
24<br />
25<br />
26<br />
27<br />
28<br />
29<br />
30<br />
31<br />
32<br />
33<br />
34<br />
35<br />
36<br />
Stadt<br />
München<br />
Ingolstadt<br />
Erlangen<br />
Wolfsburg<br />
Stuttgart<br />
Frankfurt/Main<br />
Regensburg<br />
Darmstadt<br />
Heidelberg<br />
Mainz<br />
Ulm<br />
Münster<br />
Jena<br />
Düsseldorf<br />
Hamburg<br />
Freiburg<br />
Karlsruhe<br />
Bonn<br />
Wiesbaden<br />
Köln<br />
Potsdam<br />
Augsburg<br />
Würzburg<br />
Fürth<br />
Nürnberg<br />
Ludwigshafen<br />
Koblenz<br />
Mannheim<br />
Braunschweig<br />
Dresden<br />
Offenbach<br />
Heilbronn<br />
Oldenburg<br />
Hannover**<br />
Pforzheim<br />
Leverkusen<br />
64,9<br />
61,6<br />
61,4<br />
61,2<br />
60,5<br />
59,3<br />
59,0<br />
57,6<br />
56,6<br />
55,7<br />
55,6<br />
55,4<br />
55,1<br />
54,8<br />
54,7<br />
54,2<br />
54,2<br />
54,1<br />
53,5<br />
53,3<br />
53,3<br />
52,8<br />
52,0<br />
51,8<br />
51,6<br />
51,5<br />
51,3<br />
51,3<br />
51,1<br />
51,0<br />
50,8<br />
50,8<br />
50,4<br />
50,0<br />
49,5<br />
49,3<br />
40 %<br />
2<br />
4<br />
1<br />
3<br />
8<br />
13<br />
6<br />
7<br />
16<br />
11<br />
9<br />
14<br />
5<br />
22<br />
24<br />
20<br />
18<br />
23<br />
29<br />
27<br />
10<br />
15<br />
21<br />
17<br />
25<br />
31<br />
37<br />
26<br />
19<br />
<strong>12</strong><br />
40<br />
30<br />
35<br />
34<br />
33<br />
28<br />
Gewichtung<br />
30 % 20 %<br />
3<br />
5<br />
14<br />
2<br />
1<br />
4<br />
8<br />
21<br />
<strong>12</strong><br />
18<br />
19<br />
17<br />
33<br />
6<br />
7<br />
22<br />
16<br />
10<br />
13<br />
15<br />
45<br />
32<br />
28<br />
34<br />
25<br />
9<br />
11<br />
23<br />
36<br />
49<br />
20<br />
27<br />
35<br />
24<br />
38<br />
44<br />
Rang<br />
1<br />
3<br />
7<br />
13<br />
8<br />
2<br />
6<br />
5<br />
4<br />
9<br />
14<br />
<strong>12</strong><br />
19<br />
23<br />
11<br />
10<br />
18<br />
20<br />
16<br />
15<br />
21<br />
17<br />
24<br />
27<br />
26<br />
39<br />
40<br />
30<br />
34<br />
36<br />
31<br />
28<br />
22<br />
33<br />
37<br />
35<br />
10 %<br />
4<br />
14<br />
3<br />
18<br />
13<br />
8<br />
9<br />
1<br />
2<br />
32<br />
26<br />
7<br />
25<br />
24<br />
46<br />
5<br />
15<br />
10<br />
11<br />
37<br />
17<br />
36<br />
31<br />
33<br />
29<br />
22<br />
6<br />
40<br />
28<br />
23<br />
16<br />
42<br />
35<br />
45<br />
20<br />
50<br />
* Das Niveauranking basiert auf absoluten Werten. Die Zahlen sind gerundet, was zu gleicher Punktzahl bei unterschiedlichen Rängen führen kann. Aufgenommen wurden<br />
alle kreisfreien Städte ab 100 000 Einwohner (Einwohnerzahl vor Zensuskorrektur); ** Region/Stadtregion/Regionalverband<br />
37<br />
38<br />
39<br />
40<br />
41<br />
42<br />
43<br />
44<br />
45<br />
46<br />
47<br />
48<br />
49<br />
50<br />
51<br />
52<br />
53<br />
54<br />
55<br />
56<br />
57<br />
58<br />
59<br />
60<br />
61<br />
62<br />
63<br />
64<br />
65<br />
66<br />
67<br />
68<br />
69<br />
70<br />
71<br />
Stadt<br />
Aachen**<br />
Osnabrück<br />
Trier<br />
Kiel<br />
Bremen<br />
Bielefeld<br />
Kassel<br />
Mülheim/Ruhr<br />
Berlin<br />
Remscheid<br />
Rostock<br />
Erfurt<br />
Essen<br />
Leipzig<br />
Saarbrücken**<br />
Solingen<br />
Salzgitter<br />
Lübeck<br />
Chemnitz<br />
Bochum<br />
Magdeburg<br />
Krefeld<br />
Dortmund<br />
Hagen<br />
Wuppertal<br />
Cottbus<br />
Mönchengladbach<br />
Halle/Saale<br />
Duisburg<br />
Hamm<br />
Bremerhaven<br />
Bottrop<br />
Oberhausen<br />
Herne<br />
Gelsenkirchen<br />
49,0<br />
48,8<br />
48,5<br />
48,3<br />
47,6<br />
47,4<br />
47,3<br />
47,2<br />
47,1<br />
47,0<br />
47,0<br />
46,6<br />
46,4<br />
46,2<br />
46,2<br />
45,9<br />
45,4<br />
45,2<br />
45,2<br />
44,9<br />
44,9<br />
44,9<br />
44,8<br />
44,8<br />
44,7<br />
44,7<br />
44,1<br />
44,0<br />
43,4<br />
42,6<br />
42,6<br />
42,4<br />
41,8<br />
41,0<br />
40,3<br />
40 %<br />
39<br />
32<br />
45<br />
43<br />
47<br />
41<br />
55<br />
50<br />
65<br />
36<br />
44<br />
38<br />
59<br />
46<br />
52<br />
49<br />
48<br />
62<br />
42<br />
57<br />
51<br />
60<br />
66<br />
54<br />
58<br />
53<br />
63<br />
56<br />
61<br />
67<br />
68<br />
64<br />
69<br />
70<br />
71<br />
Gewichtung<br />
30 % 20 %<br />
41<br />
40<br />
51<br />
30<br />
31<br />
46<br />
37<br />
39<br />
29<br />
48<br />
65<br />
68<br />
26<br />
52<br />
42<br />
54<br />
50<br />
59<br />
62<br />
57<br />
63<br />
47<br />
43<br />
60<br />
53<br />
64<br />
56<br />
67<br />
55<br />
66<br />
58<br />
71<br />
70<br />
69<br />
61<br />
Rang<br />
Quelle: IW Consult; n bestes Ergebnis; n schlechtestes Ergebnis<br />
25<br />
42<br />
29<br />
43<br />
46<br />
49<br />
44<br />
47<br />
32<br />
62<br />
41<br />
48<br />
52<br />
64<br />
58<br />
50<br />
70<br />
38<br />
71<br />
51<br />
59<br />
53<br />
45<br />
63<br />
57<br />
61<br />
55<br />
67<br />
65<br />
56<br />
69<br />
54<br />
60<br />
66<br />
68<br />
Gesamtrang<br />
Gesamtpunkte<br />
Arbeitsmarkt<br />
Wirtschaftsstruktur<br />
Immobilienmarkt<br />
Lebensqualität<br />
Gesamtrang<br />
Gesamtpunkte<br />
Arbeitsmarkt<br />
Wirtschaftsstruktur<br />
Immobilienmarkt<br />
Lebensqualität<br />
10 %<br />
58<br />
38<br />
<strong>12</strong><br />
44<br />
59<br />
49<br />
27<br />
56<br />
21<br />
48<br />
19<br />
47<br />
51<br />
34<br />
39<br />
61<br />
60<br />
43<br />
30<br />
64<br />
55<br />
57<br />
66<br />
54<br />
53<br />
52<br />
63<br />
41<br />
69<br />
68<br />
62<br />
70<br />
65<br />
67<br />
71<br />
22 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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im Auftrag der Stadt verdingten. Die gesamte<br />
Arbeitsvermittlung übernimmt die<br />
Stadt als Optionskommune selbst, so können<br />
Stellen vor Ort gezielt mit Arbeitskräften<br />
aus Ingolstadt besetzt werden. Das Rezept<br />
scheint aufzugehen: An dem kleinen<br />
Außenposten, den die Bundesagentur für<br />
Arbeit noch in Ingolstadt unterhält, baumelt<br />
ein Werbeplakat mit der Frage: „Sie<br />
suchen qualifizierte Arbeitskräfte?“ Ob es<br />
Arbeitsplätze gibt, muss hier keiner fragen.<br />
Auch die Zusammenarbeit zwischen<br />
Stadt und Werk klappt ausgezeichnet. Vor<br />
»<br />
Die größten kreisfreien Städte im Test<br />
Dynamikranking*<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
<strong>12</strong><br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
24<br />
25<br />
26<br />
27<br />
28<br />
29<br />
30<br />
31<br />
32<br />
33<br />
34<br />
35<br />
36<br />
Stadt<br />
Wolfsburg<br />
Ingolstadt<br />
Erlangen<br />
Regensburg<br />
Leipzig<br />
Würzburg<br />
Braunschweig<br />
Berlin<br />
Kassel<br />
Oldenburg<br />
Dresden<br />
Potsdam<br />
Münster<br />
Augsburg<br />
München<br />
Hamburg<br />
Fürth<br />
Nürnberg<br />
Rostock<br />
Jena<br />
Freiburg<br />
Bonn<br />
Ludwigshafen<br />
Heilbronn<br />
Magdeburg<br />
Ulm<br />
Darmstadt<br />
Bremerhaven<br />
Heidelberg<br />
Erfurt<br />
Offenbach<br />
Kiel<br />
Hannover**<br />
Aachen**<br />
Köln<br />
Trier<br />
Gesamt<br />
punkte<br />
66,7<br />
63,2<br />
57,3<br />
56,8<br />
56,3<br />
55,4<br />
55,3<br />
54,9<br />
54,8<br />
54,0<br />
54,0<br />
53,7<br />
53,7<br />
53,4<br />
53,4<br />
53,0<br />
52,6<br />
52,5<br />
52,4<br />
52,3<br />
52,2<br />
52,0<br />
51,4<br />
51,4<br />
51,3<br />
51,3<br />
51,0<br />
51,0<br />
50,5<br />
50,5<br />
50,4<br />
50,4<br />
50,0<br />
50,0<br />
49,7<br />
49,6<br />
40 %<br />
3<br />
2<br />
16<br />
7<br />
1<br />
6<br />
8<br />
10<br />
5<br />
23<br />
4<br />
11<br />
14<br />
<strong>12</strong><br />
22<br />
9<br />
26<br />
20<br />
15<br />
18<br />
19<br />
33<br />
34<br />
30<br />
17<br />
39<br />
41<br />
25<br />
46<br />
21<br />
50<br />
32<br />
43<br />
45<br />
13<br />
38<br />
Gewichtung<br />
30 % 20 %<br />
1<br />
2<br />
3<br />
5<br />
11<br />
7<br />
14<br />
24<br />
50<br />
52<br />
58<br />
10<br />
35<br />
57<br />
16<br />
40<br />
59<br />
17<br />
23<br />
25<br />
22<br />
4<br />
13<br />
19<br />
21<br />
31<br />
47<br />
15<br />
18<br />
61<br />
9<br />
26<br />
28<br />
41<br />
66<br />
44<br />
Rang<br />
1<br />
2<br />
8<br />
9<br />
48<br />
<strong>12</strong><br />
13<br />
6<br />
7<br />
3<br />
11<br />
24<br />
18<br />
5<br />
14<br />
19<br />
4<br />
25<br />
30<br />
20<br />
38<br />
49<br />
21<br />
17<br />
46<br />
10<br />
16<br />
51<br />
23<br />
26<br />
27<br />
35<br />
29<br />
15<br />
41<br />
22<br />
10 %<br />
3<br />
4<br />
63<br />
13<br />
<strong>12</strong><br />
56<br />
10<br />
24<br />
45<br />
5<br />
39<br />
8<br />
1<br />
25<br />
9<br />
16<br />
28<br />
26<br />
37<br />
41<br />
7<br />
14<br />
35<br />
46<br />
57<br />
48<br />
2<br />
32<br />
33<br />
29<br />
19<br />
17<br />
31<br />
42<br />
21<br />
53<br />
* Das Dynamikranking basiert auf den Veränderungsraten der ausgewählten Indikatoren. Die Zahlen sind gerundet, was zu gleicher Punktzahl bei unterschiedlichen Rängen<br />
führen kann. Aufgenommen wurden alle kreisfreien Städte ab 100 000 Einwohner (Einwohnerzahl vor Zensuskorrektur); ** Region/Stadtregion/Regionalverband<br />
37<br />
38<br />
39<br />
40<br />
41<br />
42<br />
43<br />
44<br />
45<br />
46<br />
47<br />
48<br />
49<br />
50<br />
51<br />
52<br />
53<br />
54<br />
55<br />
56<br />
57<br />
58<br />
59<br />
60<br />
61<br />
62<br />
63<br />
64<br />
65<br />
66<br />
67<br />
68<br />
69<br />
70<br />
71<br />
Stadt<br />
Mainz<br />
Halle/Saale<br />
Lübeck<br />
Osnabrück<br />
Karlsruhe<br />
Stuttgart<br />
Koblenz<br />
Pforzheim<br />
Bremen<br />
Essen<br />
Wiesbaden<br />
Düsseldorf<br />
Saarbrücken**<br />
Chemnitz<br />
Frankfurt/Main<br />
Bochum<br />
Dortmund<br />
Bielefeld<br />
Cottbus<br />
Leverkusen<br />
Hamm<br />
Mannheim<br />
Mönchengladbach<br />
Bottrop<br />
Duisburg<br />
Hagen<br />
Gelsenkirchen<br />
Solingen<br />
Herne<br />
Mülheim/Ruhr<br />
Salzgitter<br />
Wuppertal<br />
Krefeld<br />
Oberhausen<br />
Remscheid<br />
Gesamt<br />
punkte<br />
49,5<br />
49,4<br />
49,4<br />
49,4<br />
49,4<br />
49,1<br />
48,7<br />
48,5<br />
48,4<br />
48,0<br />
47,9<br />
47,6<br />
47,4<br />
47,4<br />
47,1<br />
47,1<br />
47,0<br />
46,9<br />
46,8<br />
46,7<br />
46,2<br />
45,9<br />
45,3<br />
45,1<br />
45,1<br />
45,0<br />
44,5<br />
44,5<br />
44,4<br />
44,2<br />
44,1<br />
44,0<br />
43,9<br />
43,1<br />
42,4<br />
40 %<br />
31<br />
24<br />
28<br />
37<br />
42<br />
35<br />
51<br />
64<br />
53<br />
55<br />
29<br />
36<br />
58<br />
47<br />
27<br />
57<br />
52<br />
48<br />
61<br />
44<br />
67<br />
40<br />
62<br />
66<br />
60<br />
56<br />
63<br />
59<br />
71<br />
49<br />
54<br />
65<br />
68<br />
70<br />
69<br />
Gewichtung<br />
30 % 20 %<br />
38<br />
34<br />
48<br />
46<br />
37<br />
60<br />
30<br />
8<br />
36<br />
6<br />
68<br />
67<br />
43<br />
33<br />
71<br />
20<br />
53<br />
63<br />
29<br />
49<br />
<strong>12</strong><br />
70<br />
51<br />
32<br />
42<br />
55<br />
45<br />
62<br />
27<br />
69<br />
65<br />
39<br />
64<br />
56<br />
54<br />
Rang<br />
Quelle: IW Consult; n bestes Ergebnis; n schlechtestes Ergebnis<br />
39<br />
56<br />
42<br />
34<br />
31<br />
32<br />
45<br />
37<br />
28<br />
61<br />
36<br />
44<br />
33<br />
68<br />
43<br />
58<br />
50<br />
53<br />
47<br />
66<br />
65<br />
40<br />
55<br />
60<br />
62<br />
63<br />
59<br />
57<br />
54<br />
64<br />
69<br />
70<br />
52<br />
67<br />
71<br />
ber, ein eigener Telefonanbieter kümmert<br />
sich um den Ausbau der Glasfasernetze.<br />
Die großen städtischen Kliniken sichern eine<br />
Versorgung mit Fachärzten, wie sie sich<br />
sonst nur Universitätsstädte leisten können.<br />
Ein Blick in den Haushalt zeigt aber<br />
auch, welche Probleme in dieser glücklichen<br />
Ausgangslage angelegt sind. Die Stadt<br />
ist auf Wachstum angewiesen. Seit Jahren<br />
steigt die Zahl der Mitarbeiter. Während in<br />
der gesamten Republik Schwimmbäder<br />
schließen, eröffnet in Ingolstadt bald ein<br />
neues. Eine Aufzählung aller Bauprojekeinigen<br />
Jahren hat die Verwaltung in eigener<br />
Regie ein Güterverkehrszentrum in direkter<br />
Nachbarschaft zum Audi-Standort<br />
hochgezogen. Heute ist die Fläche komplett<br />
von Zulieferbetrieben besetzt. Für das Weiterbildungszentrum<br />
„Audi Akademie“ gibt<br />
die Stadt einige ihrer letzten Grundstücke<br />
in bester Innenstadtlage an den Konzern<br />
weiter. Über eine Reihe von städtischen<br />
Töchtern kümmert sich die Verwaltung zudem<br />
um so ziemlich alles, was Bürger und<br />
Wirtschaft sich wünschen könnten. Insgesamt<br />
sechs Museen betreibt die Stadt sel-<br />
Gesamtrang<br />
Arbeitsmarkt<br />
Wirtschaftsstruktur<br />
Immobilienmarkt<br />
Lebensqualität<br />
Gesamtrang<br />
Arbeitsmarkt<br />
Wirtschaftsstruktur<br />
Immobilienmarkt<br />
Lebensqualität<br />
10 %<br />
38<br />
62<br />
36<br />
20<br />
47<br />
34<br />
15<br />
30<br />
43<br />
49<br />
18<br />
11<br />
54<br />
27<br />
6<br />
44<br />
55<br />
22<br />
60<br />
50<br />
23<br />
68<br />
52<br />
64<br />
59<br />
65<br />
71<br />
67<br />
61<br />
58<br />
51<br />
66<br />
70<br />
40<br />
69<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 23<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
METHODIK<br />
Wie das Ranking<br />
zustande kommt<br />
Die Macher:<br />
Der Städtetest ist ein gemeinsames<br />
Projekt von WirtschaftsWoche, Immobilienscout24<br />
sowie IW Consult in Köln.<br />
Das Ranking ist der umfassendste kommunale<br />
Leistungs-Check in Deutschland.<br />
Das Konzept:<br />
Die Methodik und Auswahl der Indikatoren<br />
wurden gegenüber den Vorjahren<br />
überarbeitet. Der aktuelle Test untersucht<br />
nun die ökonomische und soziale Entwicklung<br />
aller kreisfreien Städte mit mehr als<br />
100 000 Einwohnern in Deutschland (Einwohnerzahl<br />
vor Zensuskorrektur). Die Untersuchung<br />
besteht aus zwei Teilen: Das<br />
sogenannte Niveauranking vergleicht Ist-<br />
Werte ausgewählter Kennziffern, also<br />
etwa das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je<br />
Erwerbstätigen. Basis sind die jeweils<br />
aktuellsten verfügbaren Daten. Das<br />
Dynamikranking hingegen betrachtet die<br />
Veränderungsraten in fünf zurückliegenden<br />
Jahren, also wie sich zum Beispiel das<br />
BIP in dieser Zeit entwickelt hat. So lässt<br />
sich herausfiltern, welche Stadt ihre Situation<br />
am meisten verbessern konnte –<br />
unabhängig <strong>vom</strong> bislang erreichten Stand.<br />
Das Dynamikranking zeigt umgekehrt,<br />
welche Stadt sich womöglich auf ihren<br />
Lorbeeren ausruht.<br />
Die Indikatoren:<br />
Die insgesamt 71 Städte traten in 89 Disziplinen<br />
gegeneinander an<br />
(Niveau: 50, Dynamik: 39);<br />
Um die Übersichtlichkeit zu<br />
erhöhen, wurden die Einzelindikatoren<br />
in vier unterschiedlich<br />
gewichteten Kategorien<br />
zusammengefasst. Die Rangfolge<br />
ergibt sich aus einem<br />
Punktesystem, das auch relative<br />
Unterschiede berücksichtigt:<br />
Wer etwa in einigen Bereichen<br />
mit geringem Abstand<br />
vorne liegt, in anderen Einzelwertungen<br />
jedoch mit großem<br />
Abstand hinten, der findet<br />
sich insgesamt eher auf hinteren<br />
Rängen wieder – und<br />
umgekehrt.<br />
wiwo.de<br />
Noch mehr Daten,<br />
Infografiken sowie<br />
detaillierte Stärken-<br />
Schwächen-Profile<br />
aller 71 Städte gibt es<br />
unter wiwo.de/<br />
staedteranking. Das<br />
komplette Ranking mit<br />
allen Auswertungen<br />
ist im Internet als<br />
PDF zum Preis von<br />
29,95 Euro unter<br />
wiwo.de/staedte<strong>2013</strong><br />
abrufbar.<br />
Die Gewichtung erklärt sich wie folgt:<br />
Als übergeordnete Zielvariablen definierten<br />
die Wissenschaftler von IW Consult<br />
hohe Beschäftigung und hohen Wohlstand.<br />
Die Gewichtung ergibt sich aus<br />
dem Einfluss der einzelnen Indikatoren<br />
auf diese beiden Zielvariablen.<br />
ARBEITSMARKT<br />
Gewichtung: 40 Prozent.<br />
Indikatoren unter anderem: Beschäftigung,<br />
Jugendarbeitslosigkeit, Ausbildungsplätze,<br />
Anteil der Schulabgänger<br />
ohne Abschluss, Pendlerdichte, Beschäftigungsquote<br />
von Frauen, Beschäftigtenanteil<br />
von Ingenieuren, Anteil der hoch<br />
Qualifizierten, Arbeitslosen- und Beschäftigungsquote<br />
älterer Arbeitnehmer, Zahl<br />
der Hartz-IV-Empfänger.<br />
WIRTSCHAFTSSTRUKTUR<br />
Gewichtung: 30 Prozent.<br />
Indikatoren unter anderem: Produktivität,<br />
Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, Saldo<br />
von Gewerbean- und -abmeldungen, Insolvenzquote,<br />
Arbeitskosten, kommunale<br />
Steuerkraft, Gewerbesteuerhebesätze,<br />
Patentanmeldungen, Beschäftigte in wissensintensiven<br />
Dienstleistungen, Arbeitsplatzversorgung.<br />
IMMOBILIENMARKT<br />
Gewichtung: 20 Prozent.<br />
Indikatoren: Zahl und Entwicklung der<br />
Baugenehmigungen, Mieten, fertiggestellte<br />
Wohnungen, lokale Nachfrage<br />
nach Miet- und Eigentumswohnungen,<br />
Verhältnis von Miet- und Immobilienpreisentwicklung.<br />
LEBENSQUALITÄT<br />
Gewichtung: 10 Prozent.<br />
Hier geht es nicht um subjektive<br />
Aspekte wie die Atmosphäre<br />
und Schönheit einer Stadt<br />
oder das kulturelle Leben,<br />
sondern um messbare Fakten,<br />
die das Leben beeinflussen.<br />
Dies sind unter anderem: Ärztedichte,<br />
Krankenhausbetten,<br />
Betreuungsplätze für unter<br />
Dreijährige und über Dreijährige,<br />
Häufigkeit und Aufklärungsquote<br />
von Straftaten, Lebenserwartung,<br />
Geburtenrate,<br />
Anteil der naturnahen Fläche,<br />
Fahrtzeit zur nächsten BAB.<br />
bert.losse@wiwo.de<br />
»<br />
te der Stadt führt schnell zu Ermüdungserscheinungen:<br />
Kongresszentrum, Museum,<br />
Landesgartenschau, Kulturzentrum,<br />
Regionalbahnhof, Klinikum.<br />
Zweifellos, die Stadt kann sich das im<br />
Moment leisten. „Wir müssen schließlich<br />
schauen, dass wir für qualifizierte Arbeitnehmer<br />
attraktiv sind“, sagt Oberbürgermeister<br />
Lehmann. „Sonst bleiben die in<br />
München oder Nürnberg und pendeln.“<br />
Doch mit den Investitionen ist es nicht getan.<br />
Bei vielen Projekten tritt die Stadt als<br />
Betreiber auf oder verpflichtet sich auf Betriebskostenzuschüsse.<br />
Diese Posten wird<br />
sie zahlen müssen, auch wenn die Zeiten<br />
weniger rosig werden. Schon heute<br />
schreibt das städtische Klinikum hohe Verluste,<br />
das Kongresszentrum wird einen<br />
sechsstelligen jährlichen Zuschuss kosten.<br />
Die Mitarbeiterzahl in der Kernverwaltung<br />
nähert sich der Marke 2000 – im ähnlich<br />
Die höchste Ärztedichte<br />
(je 100 000 Einwohner)<br />
schaffen Heidelberg<br />
(393) und Freiburg (376)<br />
großen, aber überschuldeten Offenbach<br />
sind es nur etwas mehr als 1000.<br />
Zwar sitzt in der Stadt neben Audi auch<br />
der Elektronikhändler Media-Saturn, und<br />
in der Nähe gibt es einen EADS-Standort.<br />
Im Vergleich fallen diese Arbeitgeber aber<br />
kaum ins Gewicht.<br />
So gut die Lage in Deutschlands Autostädten<br />
auch ist: Ihr Geschäftsmodell ist eine<br />
Wette auf konstantes Wachstum. Bleibt<br />
die Autobranche auf Kurs, werden auch die<br />
Standorte weiter florieren. Wenn nicht,<br />
kann sich der Erfolg schnell ins Gegenteil<br />
verkehren. Der Städtetest zeigt zudem, wie<br />
groß auch im allgemeinen Aufschwung die<br />
regionalen Unterschiede ausfallen. Auffällig<br />
gut schneidet etwa die Rhein-Main-Region<br />
ab. Mit Frankfurt, Mainz, Heidelberg, Darmstadt,<br />
Karlsruhe und Wiesbaden landen im<br />
Niveauranking gleich sechs Städte unter<br />
den ersten 20. Gemeinsam ist ihnen der attraktive<br />
Immobilienmarkt, auch die Wirtschaftsstruktur<br />
ist überdurchschnittlich gut.<br />
Den Wachstumskern der Region bildet der<br />
Finanzplatz Frankfurt – die Stadt belegt den<br />
sechsten Platz im Niveauranking. Allerdings<br />
schwächelt hier der Arbeitsmarkt: Mit sieben<br />
Langzeitarbeitslosen je 100 Einwohner<br />
landet die Stadt nur im Mittelfeld. Zu<br />
denken geben sollte den Verantwortlichen<br />
24 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Helfende Hände Münchens OB Christian Ude mit BMW-Mitarbeitern<br />
zudem die nachlassende Dynamik: So ist in<br />
Frankfurt das Bruttoinlandsprodukt pro<br />
Kopf in den vergangenen Jahren um 0,4 Prozent<br />
gesunken, während es im Schnitt aller<br />
Städte um sechs Prozent zunahm.<br />
Auch in anderen Großstädten halten sich<br />
Licht und Schatten die Waage. Berlin erfreut<br />
sich einer regen Gründerszene; beim Saldo<br />
der Gewerbean- und -abmeldungen schafft<br />
die Hauptstadt Rang drei. Sie hat aber, bezogen<br />
auf die Einwohnerzahl, nach Bremerhaven<br />
und Gelsenkirchen die meisten<br />
Hartz-IV-Empfänger. In Köln gibt es mehr<br />
Jobs und mehr Einwohner, aber eine miserable<br />
Aufklärungsquote bei Straftaten (44,3<br />
Prozent, Rang 68). Düsseldorf punktet traditionell<br />
mit hoher Produktivität (Rang<br />
sechs) und Steuerkraft (Rang vier), doch in<br />
beiden Bereichen haben sich die Werte verschlechtert.<br />
Auch leidet die NRW-Landeshauptstadt<br />
unter überproportional steigenden<br />
Arbeitskosten und hoher Kriminalität.<br />
Stuttgart darf sich über Platz fünf im Niveauranking,<br />
die höchsten Patentzahlen<br />
und den fünfthöchsten Anteil hoch Qualifizierter<br />
freuen. Viele Strukturdaten haben<br />
sich aber verschlechtert, sodass es im Dynamikranking<br />
nur zu Platz 42 reicht.<br />
In Ostdeutschland zeichnet sich derweil<br />
eine Art Marktbereinigung unter den Städten<br />
ab. Während die Bevölkerung insgesamt<br />
schrumpft, profitieren einige Städte<br />
von internen Wanderungen. So sind Jena<br />
und Potsdam inzwischen sogar im Niveauranking<br />
im oberen Drittel zu finden, Dresden<br />
folgt wenig später. Die Städte in der Peripherie<br />
hingegen fallen zurück. So leidet<br />
Chemnitz – bei Niveau und Dynamik im<br />
hinteren Bereich – unter der Sogwirkung<br />
von Dresden, Leipzig und Jena. In keiner<br />
anderen Großstadt hat die ältere Bevölkerung<br />
inzwischen so ein Übergewicht; der<br />
Saldo der Zu- und Fortzüge ist unterdurchschnittlich<br />
(Platz 46). Ähnlich prekär ist die<br />
Lage für Halle, die Stadt kann sich gegen<br />
Leipzig nur schwer behaupten.<br />
„Im Osten boomen die Städte, die sich<br />
als eindeutige Zentren ihrer Region und für<br />
bestimmte Branchen positionieren konnten“,<br />
sagt IW-Consult-Experte Michael<br />
Bahrke, wissenschaftlicher Leiter der Studie.<br />
So ist Rostock eine der Wachstumsgeschichten<br />
im Osten und punktet mit einem<br />
dynamischen Arbeitsmarkt (Platz 15). „Die<br />
Stadt hat sich konsequent entlang der maritimen<br />
Wertschöpfungskette aufgestellt“,<br />
so Bahrke. Heute wird im Hafen mehr<br />
Fracht umgeschlagen als zu DDR-Zeiten.<br />
Auch die Lebensqualität ist hoch: Bei den<br />
Angeboten zur Kinderbetreuung etwa liegt<br />
die Stadt bundesweit an der Spitze.<br />
Ähnlich stark: Leipzig und Dresden. Nirgendwo<br />
stieg die Zahl der Beschäftigten<br />
schneller als in Leipzig (plus 20 Prozent seit<br />
2007), nirgends sank die Jugendarbeitslosigkeit<br />
schneller als in Dresden (minus 5,7<br />
Prozentpunkte). Hier sorgt wie in Rostock<br />
zudem der Tourismus für Dynamik, bei<br />
den Gästeübernachtungen liegen die Städte<br />
auf den Plätzen drei und sechs.<br />
Wegen ihrer hübschen Altstädte müssen<br />
sich die Oststädte zudem um eines keine<br />
Sorgen machen: dass Besucher lieber den<br />
Hinterausgang nehmen.<br />
n<br />
bert.losse@wiwo.de, konrad.fischer@wiwo.de<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 26 »<br />
Ganz sicher: Fürth<br />
Straftaten (je 100000 Einwohner)<br />
Münster zieht an<br />
Entwicklung der Einwohnerzahl<br />
(in Prozent, 2007 zu 2011)<br />
Wer lebt am längsten?<br />
Durchschnittliche Lebenserwartung<br />
Neugeborener (in Jahren)<br />
Wo neue Stellen entstehen<br />
Veränderung der Beschäftigtenzahl am<br />
Wohnort (in Prozent, 2007 zu 20<strong>12</strong>)<br />
Rang<br />
Stadt<br />
Wert<br />
Rang<br />
Stadt<br />
Wert<br />
Rang<br />
Stadt<br />
Wert<br />
Rang<br />
Stadt<br />
Wert<br />
1<br />
Fürth<br />
5390<br />
1<br />
Münster<br />
6,9<br />
1<br />
Bonn<br />
82,3<br />
1<br />
Leipzig<br />
20,0<br />
2<br />
Erlangen<br />
6644<br />
2<br />
Potsdam<br />
5,4<br />
2<br />
Stuttgart<br />
82,3<br />
2<br />
Kassel<br />
16,6<br />
3<br />
Salzgitter<br />
6822<br />
3<br />
München<br />
5,1<br />
3<br />
Freiburg<br />
82,2<br />
3<br />
Braunschweig<br />
16,5<br />
4<br />
Jena<br />
6841<br />
4<br />
Frankfurt/Main<br />
4,9<br />
4<br />
München<br />
81,9<br />
4<br />
Regensburg<br />
16,4<br />
5<br />
Ingolstadt<br />
7087<br />
5<br />
Darmstadt<br />
4,8<br />
5<br />
Heidelberg<br />
81,8<br />
5<br />
Ingolstadt<br />
15,7<br />
6<br />
München<br />
7153<br />
6<br />
Freiburg<br />
4,4<br />
6<br />
Dresden<br />
81,7<br />
6<br />
Oldenburg<br />
15,5<br />
FOTO: DDP IMAGES/SEBASTIAN WIDMANN<br />
7<br />
.<br />
69<br />
70<br />
71<br />
Wolfsburg<br />
Köln<br />
Düsseldorf<br />
Frankfurt/Main<br />
Mittelwert<br />
Quelle: Bundeskriminalamt, 20<strong>12</strong>.<br />
Alle Daten: wiwo.de/straftaten<strong>2013</strong><br />
7190<br />
14590<br />
14966<br />
16310<br />
9 894<br />
7<br />
.<br />
69<br />
70<br />
71<br />
Dresden<br />
Hagen<br />
Salzgitter<br />
Remscheid<br />
Mittelwert<br />
4,4<br />
–3,3<br />
–3,4<br />
–3,8<br />
0,9<br />
Zahlen gerundet; Quelle: Destatis.<br />
Alle Daten: wiwo.de/einwohner<strong>2013</strong><br />
7<br />
.<br />
69<br />
70<br />
71<br />
Frankfurt/Main<br />
Oberhausen<br />
Bremerhaven<br />
Gelsenkirchen<br />
Mittelwert<br />
81,7<br />
78,3<br />
77,6<br />
77,4<br />
80,1<br />
Zahlen gerundet; Quelle: Destatis, BBSR<br />
2010. wiwo.de/lebenserwartung<strong>2013</strong><br />
7<br />
.<br />
69<br />
70<br />
71<br />
Münster<br />
Wuppertal<br />
Herne<br />
Remscheid<br />
Mittelwert<br />
Quelle: Bundesagentur für Arbeit.<br />
Alle Daten: wiwo.de/beschaeftigung<strong>2013</strong><br />
15,4<br />
2,8<br />
1,6<br />
1,3<br />
9,8<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 25<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
IMMOBILIEN<br />
Hotspot in der Ödnis<br />
Der Wohnungsmarkt ist ein Spiegelbild der wirtschaftlichen Dynamik.<br />
Wenn’s mit der Wohnung partout nicht<br />
klappen will, dann nimmt man halt das<br />
Auto. Die Entscheidung erleichtert, handelt<br />
es sich um einen nagelneuen Volkswagen<br />
– zum Mitarbeiterrabatt womöglich.<br />
Keine Stadt in Deutschland hat so<br />
viele Pendler wie Wolfsburg: Auf zwei Beschäftigte,<br />
die hier wohnen, kommt ein<br />
Dritter, der täglich zur Arbeit anreist. Und<br />
wohl die meisten machen dies nicht freiwillig,<br />
wie ein Blick in die einschlägigen<br />
Statistiken von Immobilienscout24 verrät,<br />
Deutschlands größtem Internet-Makler.<br />
In keiner anderen deutschen Stadt ist<br />
der Wohnungsmarkt so angespannt wie<br />
ausgerechnet hier – inmitten der großen<br />
Ödnis zwischen Hannover und Berlin.<br />
Nach einer Analyse von Immobilienscout24<br />
kommen auf eine angebotene<br />
Mietwohnung mehr als zehn Wohnungsgesuche<br />
(siehe Tabelle). Und schon nach<br />
durchschnittlich sechs Tagen im Angebot<br />
sind die Wohnungen weg – beides sind<br />
Spitzenwerte unter deutschen Großstädten.<br />
In München, der vermeintlichen<br />
Wohnungsnot-Hauptstadt mit Herz, kommen<br />
auf ein Wohnungsangebot gut acht<br />
Gesuche, angebotene Wohnungen sind<br />
im Schnitt acht Tage auf dem Markt.<br />
Knappheit lässt die Preise steigen – und<br />
diese generalisierende Annahme der Ökonomen<br />
bestätigen die Statistiken recht eindrucksvoll.<br />
Um 37,7 Prozent sind die Mieten<br />
in Wolfsburg zwischen dem 3. Quartal<br />
2008 und dem Vergleichszeitraum in diesem<br />
Jahr gestiegen. Das ist Platz 1 auf der<br />
Hitliste der Mietsteigerungen vor Ingolstadt<br />
(plus 31,5 Prozent) und Berlin (plus 28,9<br />
Prozent). Allerdings fällt dabei eines auf:<br />
Die Preise für Eigentumswohnungen haben<br />
sich in Wolfsburg im gleichen Zeitraum mit<br />
plus 34,5 Prozent zwar fast parallel zu den<br />
Mietpreisen entwickelt. Doch im Süden der<br />
Republik war die Dynamik auf diesem<br />
Marktsegment eine ganz andere: In Regensburg<br />
legten die Preise für Eigentumswohnungen<br />
um 63,5 Prozent zu, in Ingolstadt<br />
um 56,9 Prozent, in Fürth und<br />
München um 54,9 beziehungsweise 48,8<br />
Prozent.<br />
TEUERSTES PFLASTER<br />
Doch die Preissteigerung ist das eine, das<br />
Preisniveau das andere. Mit großem Abstand<br />
registriert das Online-Portal München<br />
als teuerstes Pflaster für Eigentumswohnungen.<br />
Der Quadratmeter kostet dort im<br />
Durchschnitt 4155 Euro – deutlich mehr<br />
als im zweitplatzierten Freiburg, wo<br />
Käufer 2974 Euro für den Quadratmeter<br />
hinlegen müssen. Auf dem dritten Platz<br />
findet sich Regensburg mit 2766 Euro pro<br />
Quadratmeter.<br />
KEINE BESSERUNG<br />
Hat etwa die Deutsche Bundesbank an<br />
diese Städte gedacht, als sie kürzlich vor<br />
Preisblasen auf dem Immobilienmarkt<br />
gewarnt hat? Immobilienscout24 jedenfalls<br />
vermutet in exakt diesen Städten das<br />
größte Blasenrisiko – die prozentuale<br />
Preissteigerung bei Eigentumswohnungen<br />
überstieg die von Mietwohnungen<br />
zwischen 2008 und <strong>2013</strong> in Regensburg<br />
um 49,4 Prozentpunkte, in München lag<br />
der Überhang bei 33,7 Prozentpunkten<br />
und in Freiburg bei 33,1 Prozentpunkten.<br />
In Regensburg zumindest scheint sich<br />
die Lage künftig zu entspannen. Bei den<br />
2011 fertiggestellten Wohnungen liegt<br />
die Stadt an der Donau mit 17,3 fertiggestellten<br />
Wohnungen je 1000 Wohnungen<br />
des Bestands an der Spitze, bei<br />
den Baugenehmigungen mit 15,5 je<br />
1000 Wohnungen des Bestands hinter<br />
Ingolstadt auf Platz zwei. In Wolfsburg<br />
dagegen ist für die vielen Pendler und<br />
Wohnungssuchenden noch keine Besserung<br />
in Sicht: Bei den fertiggestellten<br />
Wohnungen liegt die Autostadt mit 5,3 je<br />
1000 Bestandswohnungen auf Platz 20,<br />
bei den Baugenehmigungen mit sieben<br />
auf Platz 17.<br />
n<br />
konrad.handschuch@wiwo.de<br />
Hier entsteht Wohnraum<br />
Fertiggestellte Wohnungen* je 1000<br />
Wohnungen des Bestandes<br />
Gespaltener Markt<br />
Preisentwicklung von Eigentums–<br />
wohnungen (in Prozent)<br />
Bauboom in Heidelberg<br />
Entwicklung der Baugenehmigungen für<br />
Wohnungen (je 1000 Bestandsobjekte)<br />
Wohin Mieter drängen<br />
Anzahl der Gesuche pro Mietwohnung<br />
(Durchschnitt)<br />
Rang<br />
Stadt<br />
Wert<br />
Rang<br />
Stadt<br />
Wert<br />
Rang<br />
Stadt<br />
Wert<br />
Rang<br />
Stadt<br />
Wert<br />
1<br />
Regensburg<br />
17,3<br />
1<br />
Regensburg<br />
63,5<br />
1<br />
Heidelberg<br />
9,6<br />
1<br />
Wolfsburg<br />
10,2<br />
2<br />
Ingolstadt<br />
15,5<br />
2<br />
Ingolstadt<br />
56,9<br />
2<br />
Oldenburg<br />
8,5<br />
2<br />
München<br />
8,1<br />
3<br />
Erlangen<br />
<strong>12</strong>,2<br />
3<br />
Fürth<br />
54,9<br />
3<br />
Ulm<br />
7,7<br />
3<br />
Hamburg<br />
7,7<br />
4<br />
Darmstadt<br />
11,5<br />
4<br />
München<br />
48,8<br />
4<br />
Darmstadt<br />
7,2<br />
4<br />
Braunschweig<br />
7,2<br />
5<br />
Oldenburg<br />
10,6<br />
5<br />
Nürnberg<br />
48,2<br />
5<br />
Augsburg<br />
6,7<br />
5<br />
Hannover*<br />
6,1<br />
6<br />
Münster<br />
10,1<br />
6<br />
Freiburg<br />
47,7<br />
6<br />
Ingolstadt<br />
5,7<br />
6<br />
Köln<br />
6,0<br />
7<br />
...<br />
Augsburg<br />
9,5<br />
7<br />
...<br />
Hamburg<br />
47,4<br />
7<br />
...<br />
Regensburg<br />
5,1<br />
7<br />
...<br />
Berlin<br />
5,4<br />
69<br />
Bremerhaven<br />
0,9<br />
69<br />
Remscheid<br />
–1,4<br />
69<br />
Remscheid<br />
–1,7<br />
69<br />
Leipzig<br />
0,7<br />
70<br />
Halle/Saale<br />
0,8<br />
70<br />
Bottrop<br />
–2,3<br />
70<br />
Bochum<br />
–1,8<br />
70<br />
Bremerhaven<br />
0,7<br />
71<br />
Herne<br />
0,5<br />
71<br />
Gelsenkirchen<br />
–3,1<br />
71<br />
Hamm<br />
–2,6<br />
71<br />
Chemnitz<br />
0,5<br />
Mittelwert<br />
4,4<br />
* einschließlich Umbauten; Quelle: Destatis,<br />
2011. Alle Daten:<br />
wiwo.de/fertige-wohnungen<strong>2013</strong><br />
Mittelwert<br />
24,3<br />
Preis/m 2 , 3. Quartal 2008 zu 3. Quartal<br />
<strong>2013</strong>; Basis: Bestand Immobilienscout24.<br />
wiwo.de/eigentumswohnungen<strong>2013</strong><br />
Mittelwert<br />
1,4<br />
2007 zu 2011; ohne Maßnahmen an bestehenden<br />
Gebäuden; Quelle: Destatis.<br />
wiwo.de/baugenehmigungen<strong>2013</strong><br />
Mittelwert<br />
3,3<br />
Zahlen gerundet; 1.–3. Quartal <strong>2013</strong>; * Region;<br />
Quelle: Immobilienscout24.<br />
Alle Daten: wiwo.de/miete<strong>2013</strong><br />
26 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Hier stehe ich...<br />
und will nicht anders:<br />
SPD-Chef Gabriel<br />
Basis-Effekte<br />
SPD | Je näher der Mitgliederentscheid über die große Koalition<br />
rückt, desto klarer wird: Parteichef Sigmar Gabriel dürfte daraus als<br />
einzige Führungsfigur hervorgehen.<br />
Der Widerstand ist zartblau und<br />
schnell zu übersehen. „Wer hat uns<br />
erneut verraten? Spezialdemokraten!“,<br />
hat jemand mit blasser Kreide auf das<br />
Pflaster vor dem Hamburger Curio-Haus<br />
gekritzelt. „Mindestlohn für alle Ja-Sager<br />
ab sofort!“ steht ein paar Schritte weiter<br />
und „Verstand statt GroKo“. Fünf Minuten<br />
anständiges Schmuddelwetter hätten<br />
schon gereicht, um diesen Protest einfach<br />
hinwegzuspülen.<br />
Die zwei angesprochenen Spezialdemokraten,<br />
SPD-Chef Sigmar Gabriel und<br />
Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz,<br />
dürften die Malereien ohnehin nicht gesehen<br />
haben, als sie in ihren Limousinen anrauschten.<br />
Im Saal wurden sie vergangenen<br />
Dienstagabend von 900 Genossen mit<br />
wohlwollendem Applaus empfangen. Nur<br />
auf die Idee von Standing Ovations, die Gabriel<br />
zuletzt in der Bundestagsfraktion entgegenbrandeten,<br />
kommt in Hamburg<br />
dann doch keiner.<br />
Berlin, das schwarz-rote Geschacher<br />
und nächtliche Ringen um den letzten<br />
Spiegelstrich, all das ist hier erst einmal<br />
weit weg und erklärungsbedürftig. Genauso<br />
erklärungsbedürftig wie in Bremen, Alfeld,<br />
Kamen, Nürnberg, Greifswald und allen<br />
anderen Städten, in die Spitzengenossen<br />
ausgeschwärmt sind, um möglichst<br />
vielen ihrer 473 000 Mitglieder den tiefroten<br />
Koalitionsvertrag aus der Hauptstadt<br />
nahezubringen. Die Basis hat bis Mitte Dezember<br />
das allerletzte Wort, ob die große<br />
Koalition wirklich kommt.<br />
In Hamburg stimmt der mit absoluter<br />
Mehrheit regierende Scholz die Mitglieder<br />
gewohnt nüchtern auf den Vorsitzenden<br />
ein. „Wir sind nicht gewählt worden, um<br />
nichts zu tun“, das ist schon sein leidenschaftlichster<br />
Satz. Die ganze SPD hätte<br />
gern mehr Stimmen für ihr gutes Programm<br />
bekommen, beendet Scholz wenig<br />
später seine Begrüßung. „Ham wir aber<br />
nich.“ Man kann nicht sagen, dass der Saal<br />
danach glüht vor Begeisterung.<br />
PATHOS UND POLEMIK<br />
Sigmar Gabriel dürfte das nur recht sein.<br />
Sein Redetalent ist bekannt, aber nach diesem<br />
Vorspiel kann er wirklich glänzen.<br />
Mindestlohn, Rente, Tarifverträge, Frauenquote<br />
– Wirtschaftsverbände und Ökonomen<br />
wenden sich mit Grausen ab, die<br />
SPDler in Hamburg hingegen klatschen<br />
sich bei seiner langen Aufzählung der Erfolge<br />
langsam warm. Der Vorsitzende gibt<br />
den verständnisvollen Parteipsychologen,<br />
den Polemiker, die Pathosmaschine oder<br />
den Kämpfer, je nach Bedarf. Herbert Wehner<br />
sei seinerzeit tätlich angegriffen worden,<br />
als er 1966 die erste große Koalition<br />
einging, erzählt Gabriel, aber sie habe<br />
schließlich in der Kanzlerschaft des verehrten<br />
Willy Brandt gemündet. Er erwähnt<br />
das, um mit der beliebten Katastrophen-<br />
Lesart der Jahre 2005 bis 20<strong>09</strong> aufzuräumen,<br />
die besagt, dass eine Liaison mit der<br />
Union nur im Wahldebakel enden könne.<br />
Von wegen: „Es steht eins zu eins“, ruft Gabriel.<br />
Der SPD-Chef hinterlässt keinen<br />
28 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTO: ACTION PRESS/ANDRE MISCHKE<br />
Zweifel, dass er wild entschlossen ist, seine<br />
Mannschaft in Führung zu schießen.<br />
Am liebsten 2017. Gabriel hat eine spürbare<br />
Lust entwickelt, den vielen skeptischen<br />
SPD-Mitgliedern den Gedanken<br />
auszutreiben, in der Opposition könne<br />
man es sich mit hübschen Programmen<br />
wolkenkuckucksheimelig einrichten – und<br />
dann auch noch bessere Wahlergebnisse<br />
erzielen. Der Fortschritt sei vielleicht eine<br />
Schnecke, „aber messen kann man ihn<br />
doch“. Die SPD mache es sich „seit 150 Jahren<br />
schwer, um es anderen leichter zu machen“.<br />
Das gelte jetzt erst recht. Wenn der<br />
Vorsitzende so richtig in Form ist, dann<br />
klingt es, als habe ganz allein die SPD die<br />
soziale Marktwirtschaft erfunden.<br />
Es sind bedeutende Tage für Gabriel. Alles<br />
hat er auf eine Karte gesetzt. Entscheidet<br />
er das Mitgliedervotum am Ende für<br />
sich, wäre das vor allem sein Sieg. Dann ist<br />
der Weg frei für jeden Posten in der neuen<br />
Regierung, auch für den Fraktionsvorsitz<br />
und selbst für seine eigene Kanzlerkandidatur<br />
– und das trotz der Bundestagswahl,<br />
die er mit zu verantworten hat. Mit Olaf<br />
Scholz könnte man nur einen zweiten<br />
Steinbrück-Wahlkampf führen, also besser<br />
keinen. Und Hannelore Kraft, die NRW-<br />
Ministerpräsidentin, die mächtige Frau in<br />
der roten Herzkammer? Die schließt derzeit<br />
lieber die Türen vor der Öffentlichkeit,<br />
wenn sie ihren Genossen im Westen die<br />
große Koalition schmackhaft machen soll.<br />
So wie in Leverkusen, am vergangenen<br />
Montag: Dass es rustikal werden würde,<br />
war klar. Die NRW-Sozialdemokraten gelten<br />
als besonders kritisch. Kurz nach der<br />
Bundestagswahl war Kraft hier mit ihrer<br />
deutlich vorgetragenen Ablehnung einer<br />
großen Koalition zur Hoffnungsträgerin aller<br />
GroKo- und Gabriel-Feinde avanciert.<br />
Hatte sich weit vorgewagt, zu weit. Und<br />
jetzt? Jetzt steht genau diese Hannelore<br />
Kraft auf der Bühne und soll ihren Leuten<br />
einen Vertrag schmackhaft machen, den<br />
fast alle nicht wollten. Kein Wunder, dass<br />
sie die Öffentlichkeit lieber draußen lässt.<br />
Drinnen folgt zunächst eine schonungslose<br />
Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit.<br />
Dass die Wahl 20<strong>09</strong> zum Fiasko für<br />
die SPD wurde, habe nicht an Angela Merkel<br />
gelegen, „sondern daran, dass wir viel<br />
Scheiß gebaut haben“, flucht Kraft.<br />
„Scheiß“ ist ein Kraft-Ausdruck, den sie oft<br />
benutzt an diesem Abend. Der wichtigste<br />
Grund, den Koalitionsvertrag anzunehmen?<br />
„Wir haben jetzt die Chance, einen<br />
Teil von dem Scheiß rückgängig zu machen.“<br />
Der Mikrofonständer vor ihrer Nase,<br />
der den Blick versperrt? „Kann einer den<br />
Scheiß hier mal wegmachen?“ Die Absetzung<br />
des ehemaligen Parteichefs Kurt Beck<br />
am Potsdamer Schwielowsee? „War das<br />
Beschissenste, was ich in meiner gesamten<br />
politischen Laufbahn erlebt habe.“<br />
Kraft will brachialsprachlich deutlich<br />
machen: Jetzt wird Tacheles gesprochen,<br />
von mir hört ihr keine Floskeln. Ein Satz,<br />
der mit „Scheiß“ beginnt, kann nicht mit<br />
„alternativlos“ enden. Als sie die einzelnen<br />
Punkte des Koalitionsvertrags verteidigt,<br />
tut sie das in einer entsprechend einfachen<br />
Logik: Gewonnen oder verloren? Natürlich<br />
zählt sie mehr Siege als Niederlagen.<br />
»Wir machen es<br />
uns seit 150 Jahren<br />
schwer, um es<br />
anderen leichter<br />
zu machen«<br />
Sigmar Gabriel<br />
Im Saal braucht das Konzept ein bisschen,<br />
bis es seine Wirkung entfaltet. Die<br />
Begrüßung ist noch recht verhalten, auch<br />
bei den Wortmeldungen halten sich Zustimmung<br />
und Ablehnung ungefähr die<br />
Waage. Aber irgendwann kippt die Stimmung,<br />
vielleicht auch, weil Kraft neben der<br />
Macht der Argumente nun auf unverhohlenen<br />
Druck setzt. Sie beginnt, über den Wert<br />
von Vertrauen zu dozieren. „So wie ihr mir<br />
vertraut, dass ich eure Ziele umsetze, so<br />
muss ich mir jetzt auch sicher sein, dass ich<br />
euch vertrauen kann“, sagt Kraft. Und fragt<br />
dann ins Publikum: „Wer von euch hier ist<br />
denn ganz ohne Amt in der Partei oder<br />
Mandat? Also egal, auf welcher Ebene, bei<br />
welcher Gruppierung?“ Wenige Dutzend<br />
Mitglieder heben die Hand. „Ihr könnt hier<br />
ganz frei abstimmen, für die anderen aber<br />
gilt das nicht!“<br />
Ist das eine Drohung? Zumindest klingt<br />
es nach einer. Als Eva Lux, Kreisvorsitzende<br />
der SPD und Koalitionsskeptikerin, ans<br />
Rednerpult geht, wird die Ministerpräsidentin<br />
persönlich: „Beim Konvent haben<br />
insgesamt vier Genossen gegen Verhandlungen<br />
gestimmt, ich weiß, dass du eine<br />
davon warst.“ Da klingt die Landesmutter<br />
endgültig mehr nach Patin als nach Parteifreundin.<br />
Ein versprengter Haufen Jusos versäumt<br />
zwar nicht, jeden ablehnenden Wortbeitrag<br />
euphorisch zu beklatschen, doch deren<br />
Mitstreiter werden immer weniger. Das<br />
liegt auch daran, dass Kraft neben der<br />
kaum verhohlenen Drohung auf Versprechungen<br />
setzt, die sich nicht direkt im Koalitionsvertrag<br />
finden. Beim Kompromiss<br />
in der Gesundheitspolitik baut ihre Verteidigung<br />
einzig auf einer Nebenabrede auf.<br />
In der haben die Parteien vereinbart, dass<br />
die Arbeitgeber „langfristig“ durchaus an<br />
Beitragserhöhungen bei der Krankenversicherung<br />
beteiligt werden sollen. Als man<br />
ihr vorhält, dass die Partei keine Steuererhöhungen<br />
umsetzen konnte, verweist sie<br />
auf die Zukunft. Die Konjunktur könnte abschmieren,<br />
dann würde wohl gar nichts<br />
anderes übrig bleiben. „Ich habe schon<br />
Äußerungen von Angela Merkel vernommen,<br />
die einen solchen Richtungswechsel<br />
möglich machen“, sagt Kraft.<br />
Am Ende hinterlässt auch diese Veranstaltung<br />
den Eindruck, dass die meisten<br />
Parteimitglieder sich trotz Bauchschmerzen<br />
eher zu einer Zustimmung durchringen<br />
dürften. Teils wurden sie überzeugt,<br />
teils gefügig gemacht. 60 zu 40, 70 zu 30,<br />
das sind so sie Schätzungen, die unter prominenteren<br />
Genossen zirkulieren. Es läuft<br />
offenbar – vor allem auch für Gabriel.<br />
KRAFT-LOS IN BERLIN<br />
Der ist am selben Montagabend im Kasseler<br />
Vorort Baunatal, aber man wird ihm zugetragen<br />
haben, was Kraft in Leverkusen<br />
sonst noch sagt. Zum Beispiel: „Ich weiß,<br />
wo meine Stärken liegen. Und das ist der<br />
direkte Kontakt zu den Menschen. Das ist<br />
auch der Grund, warum ich nicht nach<br />
Berlin gehen werde, weil ich das da nicht<br />
einsetzen kann.“ Keine Kanzlerkandidatin<br />
Kraft 2017? Dabei wäre es genau das, was<br />
sich manche Linke in der Partei wünschen.<br />
Einflussreiche Sozialdemokraten wie der<br />
Chef der NRW-Landesgruppe in der Bundestagsfraktion,<br />
Axel Schäfer, werben nun<br />
für Gabriel als herausgehobene Führungsfigur<br />
– jetzt und für die Zukunft: „Der Parteichef<br />
kann alles werden, was er will. Er<br />
hat diese Partei zusammengehalten.“ Der<br />
Wind habe sich gedreht. „Die Genossen erkennen,<br />
was wir rausgeholt haben.“ Und<br />
auch Carsten Schneider, Sprecher des konservativen<br />
Seeheimer Kreises, ist voll des<br />
Lobes: „Sigmar Gabriel hat die Verhandlungen<br />
exzellent gemanagt. Damit hat er<br />
sich für jedes Amt qualifiziert.“<br />
Eine gute Basis nennt man das wohl. n<br />
max.haerder@wiwo.de I Berlin, konrad fischer<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 29<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
BERLIN INTERN | Nicht dass die SPD-Mitglieder<br />
abstimmen dürfen, ist das Problem, sondern<br />
worüber. Denn sie können bewerten, was die Wähler<br />
nie zu Gesicht bekamen. Von Henning Krumrey<br />
Verhältnis-Wahl<br />
FOTOS: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, GETTY IMAGES/SEAN GALLUP<br />
Was war das nur für eine Inszenierung,<br />
neulich im „heute<br />
journal“? Die Schöne und das<br />
Biest? Oder: Der Dicke und<br />
das Biest? So ganz ließ sich nicht klären,<br />
wer letztlich angefangen hatte mit dem<br />
pampigen Gestänkere. Hatte Moderatorin<br />
Marietta Slomka zu penetrant den Eindruck<br />
erweckt, dass anstelle eines gleich<br />
die ganze Phalanx deutscher Verfassungsrechtler<br />
die SPD-Mitgliederbefragung zur<br />
Koalitionsvereinbarung für bedenklich<br />
Drittstimme Wer Koalitionsverträge<br />
wählen darf, kauft nicht die Katze im Sack<br />
hielte? Oder hatte der SPD-Vorsitzende<br />
Sigmar Gabriel zu dünnhäutig reagiert,<br />
weil die schwankende Stimmung der eigenen<br />
Parteibasis ihm so auf die Nerven<br />
geht wie den Genossen das Verhandlungsergebnis<br />
mit der Union?<br />
Richtig ist Gabriels Argument, dass es<br />
sicherlich nicht demokratischer ist, wenn<br />
anstelle von 470 000 SPD-Mitgliedern 181<br />
Delegierte des CDU-Parteiausschusses oder<br />
die 55 Mitglieder des CSU-Parteivorstandes<br />
über den Koalitionsvertrag entscheiden.<br />
Beides begründet auch kein imperatives<br />
Mandat; die Bundestagsabgeordneten sind<br />
bei dem einen oder anderen Verfahren so<br />
frei oder fühlen sich gebunden, wie es ihr<br />
Gewissen (und natürlich auch der Fraktionszwang)<br />
eben zulässt.<br />
Zwar wirken die Parteien bei der „Willensbildung<br />
des Volkes mit“, wie es Artikel<br />
21 des Grundgesetzes vorsieht. Aber auch<br />
in einer repräsentativen Demokratie ist<br />
damit nicht vorgeschrieben, dass nur Delegierte<br />
entscheiden dürften, nicht die Basis.<br />
Andersherum: Während die CDU-Parteitagssitzer<br />
in den einzelnen Landesverbänden<br />
bereits vor x Monaten gewählt wurden,<br />
als von einer Elefantenhochzeit wenig und<br />
von diesem Koalitionsvertrag gar keine Rede<br />
war, die Übertragung der Stimmgewalt<br />
auf die Delegierten also höchst abstrakt<br />
erfolgte, entscheiden die Basisgenossen<br />
wenigstens im Lichte der vorliegenden<br />
Macht- und Sachfragen.<br />
Das führt zu einem Gedankenspiel, wie<br />
derlei Legitimationsprobleme vermieden<br />
werden könnten. Nicht dass die SPD-Mitglieder<br />
abstimmen dürfen, ist das Problem,<br />
sondern worüber. Denn sie können bewerten,<br />
was die Wähler nie zu Gesicht bekamen.<br />
Also wäre es doch viel ehrlicher und vor<br />
allem für den weiteren Fortgang der politischen<br />
Geschäfte viel besser, die Wähler<br />
stimmten nicht über mehr oder minder<br />
abstrakte Versprechen aus dem Wahlkampf-Wolkenkuckucksheim<br />
ab, sondern<br />
über die ganz konkreten Verhandlungsergebnisse.<br />
Da man nicht nach jeder Bundestagswahl<br />
einen quasi zweiten Wahlgang mit<br />
den Ergebnissen machen könnte (zumal<br />
dann vielleicht herauskäme, dass die Bürger<br />
diese konkrete Vereinbarung auf Vorhaben<br />
für die nächsten vier Jahre dann gar<br />
nicht mehr möchten), bliebe nur ein verrückt<br />
klingender Vorschlag:<br />
Zur Abstimmung stehen bei der Bundestagswahl<br />
nicht Parteien, sondern Koalitionsverträge.<br />
Dann müsste der Bürger nicht<br />
mehr die Katze im Sack kaufen, sondern<br />
könnte sich für ein ganz konkretes Programm<br />
entscheiden. Beim jüngsten Urnengang<br />
hätte es dann ein schwarz-gelbes, ein<br />
schwarz-rotes und vielleicht gar ein<br />
schwarz-grünes Programm gegeben. Außerdem<br />
natürlich ein rot-grünes Angebot,<br />
eventuell auch ein rot-rot-grünes. Die Variante<br />
mit der höchsten Zustimmung wird<br />
dann Regierungspolitik.<br />
Zugegeben, nur ein Gedankenspiel. Aber<br />
für sich allein werben könnte trotzdem jede<br />
Partei, denn für alle Parteien und alle verhandelten<br />
Konstellationen darf und sollte<br />
das selbstbewusste, machtpolitische Einmaleins<br />
gelten: Jede Regierung mit uns ist<br />
besser als jede Regierung ohne uns.<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 31<br />
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Der Volkswirt<br />
Frontalangriff auf<br />
Ihr Geld<br />
FINANZIELLE REPRESSION | Negativzins, einmalige Vermögensabgabe, neue Steuern und<br />
Steuererhöhungen, Zwangsmaßnahmen – immer neue Enteignungsinstrumente<br />
werden von Politik und Notenbank geprüft. Müssen Anleger jetzt der Staatsschuldenkrise<br />
wegen um ihr Erspartes fürchten?<br />
Routiniert wie ein „Tagesschau“-Sprecher<br />
verliest Mario<br />
Draghi seine Einschätzung,<br />
souverän, kühl und emotionslos<br />
verpasst er Sparern einen<br />
Schlag mitten ins Gesicht. Die wichtigsten<br />
Leitzinssätze, sagt der Präsident der Europäischen<br />
Zentralbank (EZB) am Donnerstag<br />
in Frankfurt, dürften „für einen längeren<br />
Zeitraum auf dem aktuellen oder<br />
einem noch niedrigeren Niveau bleiben“.<br />
Mickrige 0,25 Prozent Zinsen gibt die<br />
EZB derzeit vor – und für den Zentralbankpräsidenten<br />
ist das Ende der Entwicklung<br />
nach unten noch nicht erreicht? Für Sparer<br />
wird der Leitzins so zum Leidzins.<br />
Schlimmer noch: Der Niedrigzins ist nur<br />
ein Teil eines großen, düsteren Bildes. Sparer<br />
sind zum Lieblingsziel der Zentralbanker<br />
und Politiker geworden. Ob Bargeld,<br />
Wertpapiere, Aktien oder Edelmetalle, auf<br />
längere Sicht ist das Geld nirgendwo mehr<br />
sicher. Denn Sparer werden die Zeche zahlen<br />
für eine exzessive Schuldenpolitik. Je<br />
Historisches Vorbild<br />
MitZinsenunterhalbder<br />
Inflationsrate*...<br />
5<br />
0<br />
–5<br />
–10<br />
FinanzielleRepression<br />
Realzins für<br />
Spareinlagen<br />
1945–1980: –1,94%<br />
1981–20<strong>09</strong>: 1,35%<br />
aberwitziger die Verpflichtungen werden,<br />
die Staaten bedienen müssen, desto dreister<br />
werden die Ideen, mit denen die Politik<br />
Zugriff auf unser Geld bekommen will.<br />
Viele Instrumente aus deren Folterkammer<br />
werden noch nicht angerührt. Doch<br />
es gibt Anhaltspunkte dafür, dass sich das<br />
ändern könnte: in der öffentlichen Debatte,<br />
bei politischen Vorstößen, mit Blick auf<br />
historische Beispiele – und zum Teil sogar<br />
im Koalitionsvertrag, wenn man ihn genau<br />
liest. Die WirtschaftsWoche skizziert die<br />
markantesten Bedrohungen, denen Sparer<br />
ausgesetzt sind.<br />
Bedrohung 1:<br />
Vom Niedrig- zum Negativzins<br />
Auf dem Tisch der Frankfurter Notenbanker<br />
liegen weitere Vorschläge, die die Wirtschaft<br />
mit Geld fluten und die Zinsen drücken<br />
sollen, von Geldleihgeschäften für<br />
die Banken bis hin zur Absenkung des<br />
Einlagenzinses der EZB unter null. Der<br />
...schmolzendie Industrieländer ihre<br />
Schuldennachdem Zweiten Weltkriegab**<br />
FinanzielleRepression<br />
–15<br />
20<br />
1945 1960 1970 1980 1990 2000 11 1945 1960 1970 1980 1990 2000 11<br />
*Realzins fürSpareinlagen, gleitender Dreijahresdurchschnitt in Prozent; **Schulden der Zentralregierungen in<br />
Prozentzum Bruttoinlandsprodukt; Quelle:CarmenReinhart, Belen Sbrancia: TheLiquidation of GovernmentDebt<br />
100<br />
80<br />
60<br />
40<br />
Staatsschulden<br />
Einlagenzins ist der Zins, zu dem Banken<br />
nicht benötigtes Zentralbankgeld bei der<br />
EZB parken können. Früher erhielten sie<br />
dafür Zinsen, jetzt nicht mehr. Dennoch<br />
haben die Banken dort derzeit rund 50<br />
Milliarden Euro deponiert. Senkte die EZB<br />
den Zins auf –0,1 Prozent, wie manche Beobachter<br />
erwarten, müssten die Banken<br />
56 Millionen Euro Strafzinsen pro Jahr<br />
zahlen.<br />
Negativzinsen, so die offizielle Begründung,<br />
sollen die Banken dazu bewegen,<br />
Kredite an Unternehmen in den Krisenländern<br />
zu vergeben. Ob das Kalkül aufgeht,<br />
ist fraglich. Zu hoch sind die Schulden,<br />
unter denen Unternehmer und Bürger<br />
dort ächzen. Daher liegt der Verdacht<br />
nahe, dass Negativzinsen für EZB-Einlagen<br />
einem anderen Ziel dienen: „Die Banken<br />
sollen mit dem Geld verstärkt in<br />
marktfähige Assets der Krisenländer, vor<br />
allem in Staatsanleihen, investieren“, sagt<br />
Johannes Mayr, Volkswirt der BayernLB.<br />
MINUSZINS: STRAFE FÜR SPARER?<br />
Dass die EZB die Zinsen tatsächlich bald<br />
auf unter null senkt, wird unter Frankfurter<br />
Bankern ernsthaft diskutiert. „Negative<br />
Zinsen halte ich heute nicht für sehr wahrscheinlich.<br />
Falls es aber dazu kommen<br />
sollte, könnten Banken ganz gut damit<br />
umgehen“, sagt Commerzbank-Vorstand<br />
Martin Zielke (siehe Interview Seite 10).<br />
Technisch wäre die Umstellung problemlos.<br />
Das haben die Banker bereits intern<br />
geprüft. Allerdings halten sie es für<br />
unwahrscheinlich, dass die Institute den<br />
Negativzins weitergeben, indem sie von<br />
ihren Kunden tatsächlich Gebühren für<br />
die Geldverwahrung verlangen. „Das ist<br />
»<br />
FOTOS: F1ONLINE (2), MASTERFILE, GETTY IMAGE; MONTAGE: DMITRI BROIDO<br />
32 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Löcher ins Vermögen<br />
Geld Niedrigzinsen fressen am Ersparten,<br />
Notenbanker denken über Minuszinsen nach,<br />
und die Merkel-Garantie gilt auch nicht mehr<br />
Immobilien Forderung nach härterer Mietpreisbremse,<br />
Grund- und Grunderwerbsteuern<br />
steigen, historisch oft Zwangsabgaben<br />
Gold In Krisenphasen oft verboten,<br />
Mehrwertsteuerpflicht und Abschaffung der<br />
Spekulationsfrist drohen<br />
Aktien Finanztransaktionsteuer drückt, Forderung<br />
nach Abgeltungsteuer von 25 auf 32<br />
Prozent, Vermögensabgabe wird diskutiert<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 33<br />
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Der Volkswirt<br />
Darf’s ein bisschen<br />
weniger sein?<br />
EZB-Präsident Draghi<br />
will die Zinsen niedrig<br />
und Sparer auf<br />
Nulldiät halten<br />
schmilzt das Vermögen. Die Nachkriegszeit<br />
dient den Regierungen nun als Modell<br />
für die finanzielle Repression, die aktuell<br />
auf die Sparer zurollt.<br />
Bedrohung 2:<br />
Einmalige Vermögensabgabe<br />
»<br />
nicht machbar“, sagt ein Bankvorstand.<br />
Sparer würden in Massen zu ausländischen<br />
Banken flüchten. Das Geld würde<br />
im Zweifel sogar in Banknotenbündeln in<br />
der eigenen Wohnung landen. Der Sparkassenverband<br />
DSGV spricht bereits von<br />
einem Lockprogramm für Wohnungseinbrecher.<br />
EINE WELT VOLLER SCHULDEN<br />
Staaten allerdings brauchen niedrige Zinsen,<br />
denn die Welt lebt auf Pump: 2007 waren<br />
die USA, Europa und Japan im Schnitt<br />
mit 73 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung<br />
(BIP) verschuldet, heute sind es 110 Prozent.<br />
Spätestens die Finanzkrise mit ihren<br />
Konjunktur- und Bankenrettungsprogrammen<br />
hat die Schulden der Industrieländer<br />
anschwellen lassen, wie es sonst<br />
nur Kriege vermögen.<br />
Ein Ende ist nicht in Sicht. Der Schuldenberg<br />
wächst immer weiter, allein in<br />
Europa um 100 Millionen Euro – pro Stunde.<br />
Das Wirtschaftswachstum ist nicht<br />
stark genug für höhere Einnahmen, mit<br />
denen sich die Schulden abzahlen ließen.<br />
Für niedrigere <strong>Ausgabe</strong>n wiederum, einen<br />
harten Sparkurs, fürchtet die Politik, von<br />
den Wählern abgestraft zu werden. So<br />
bleiben nur zwei Wege, um die Schulden<br />
abzutragen: niedrige Zinsen und mehr Inflation.<br />
Das Rezept funktionierte bereits nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg. Damals waren die<br />
Industrieländer, etwa die USA und Großbritannien,<br />
durch den Krieg überschuldet.<br />
Regierungen und Zentralbanken gelang es<br />
aber, die Zinsen über Jahre hinweg unter<br />
die Inflationsrate zu drücken. Schon in der<br />
ersten Nachkriegsdekade schrumpfte etwa<br />
der Schuldenberg Amerikas von 116<br />
auf 66 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung.<br />
„Negative Realzinsen haben die<br />
Staatsschulden abgeschmolzen“, heißt es<br />
in einer viel beachteten Untersuchung der<br />
US-Ökonominnen Carmen Reinhart und<br />
Belen Sbrancia.<br />
Inflation und negative Realzinsen (Zinsen<br />
unterhalb der Inflationsrate) entfernen<br />
die Schulden zwar nicht nominell,<br />
aber real. Grob: Wenn in zehn Jahren alles<br />
fünf Mal so teuer ist, aber auch alle fünf<br />
Mal so viel verdienen, tun die heutigen<br />
Schulden nicht mehr weh. Für Sparer bedeutet<br />
dies finanzielle Repression: Die<br />
Zinsen reichen nicht, um die Inflation auszugleichen,<br />
gemessen an der Kaufkraft,<br />
Mit der Höhe<br />
der Schulden<br />
werden die<br />
Ideen der Politik<br />
dreister<br />
Eine Lösung mit der Brechstange wäre, von<br />
Vermögenden eine einmalige Abgabe zu<br />
erheben und damit Schulden zu tilgen. Das<br />
hat es schon gegeben: den Lastenausgleich,<br />
der Flüchtlinge und Vertriebene<br />
entschädigen sollte. Dazu wurde zum 21.<br />
Juni 1948 (einen Tag nach der Währungsreform)<br />
das Vermögen festgestellt. Betroffen<br />
waren Konten, Wertpapiere und Immobilien<br />
über 5000 Mark Freibetrag.<br />
Insgesamt musste die Hälfte abgegeben<br />
werden. Die Belastung wurde auf 30 Jahre<br />
gestreckt, pro Jahr ergab das 1,67 Prozent<br />
Abgabe. In der Regel konnten diese Raten<br />
aus laufenden Erträgen bezahlt werden,<br />
deren reale Belastung durch die Geldentwertung<br />
der folgenden Jahre noch verringert<br />
wurde. Insgesamt kamen 135 Milliarden<br />
Mark zusammen. 1960 entsprach das<br />
etwa der Hälfte der Wirtschaftsleistung der<br />
Bundesrepublik. Verfassungsrechtlich wäre<br />
eine solche Abgabe heute nur in einer<br />
schweren Krise drin – in der befindet sich<br />
Deutschland nicht.<br />
BLAUPAUSE ZYPERN<br />
Viele haben die Stimme der Kanzlerin<br />
noch im Ohr: „Wir sagen den Sparerinnen<br />
und Sparern, dass ihre Einlagen sicher<br />
sind“, sagte Angela Merkel im Oktober 2008<br />
und verhinderte einen Bank-Run. Damals<br />
ging es um die gesamten Spareinlagen. Der<br />
Koalitionsvertrag kippt, weitgehend unbemerkt,<br />
die Merkel-Garantie. Jetzt gilt bloß:<br />
„Sparer mit einer Einlage bis zu 100 000 Euro<br />
werden geschützt.“ Die Summe ist kein<br />
Zufall, sondern EU-weit geregelt.<br />
Modell stand dabei ausgerechnet ein<br />
Land, das partout keines sein sollte: Zypern.<br />
Als die größten Banken im Sommer<br />
20<strong>12</strong> kurz vor der Pleite standen, bat Zypern<br />
die EU um Hilfe. Doch die zierte sich.<br />
Insgesamt 17 Milliarden Euro benötigte<br />
die Insel. Zypern war jedoch als Schwarzgeldparadies<br />
für reiche Russen verpönt,<br />
Oligarchen mit Steuergeldern rauszuboxen:<br />
undenkbar. Die Europäer setzten als<br />
Bedingung für Hilfskredite durch, dass die<br />
Sparer beteiligt wurden. Nach zähem<br />
Kampf um die Höhe des Freibetrags stand<br />
fest, dass alle Guthaben ab 100 000 Euro<br />
dran waren – rund die Hälfte wurde in<br />
»<br />
FOTO: LAIF/TIM WEGNER; ILLUSTRATION: DMITRI BROIDO<br />
34 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Der Volkswirt<br />
FOTO: GETTY IMAGES/AFP<br />
»<br />
Aktien der Bank umgewandelt, ein weiterer<br />
Teil eingefroren.<br />
Der niederländische Finanzminister<br />
und Euro-Gruppen-Chef Jeroen Dijsselblom<br />
bezeichnete die Lösung in Interviews<br />
als „Blaupause“ und warnte andere Länder,<br />
„seid euch im Klaren darüber, wenn<br />
Banken in Probleme geraten, kommen wir<br />
nicht automatisch, um sie zu lösen.“ Empört<br />
wiesen Politiker quer durch Europa<br />
diese Einschätzung zurück. In jedem Fall<br />
zeigt Zypern modellhaft, wie Politiker agieren:<br />
vorpreschen, austesten, den verbalen<br />
Rückzug antreten, als Einzelfall darstellen.<br />
Der US-Ökonom Barry Eichengreen<br />
hatte bereits in einer Studie von 1989<br />
(„Vermögensabgabe in Theorie und Praxis“)<br />
anhand historischer Beispiele von<br />
der Tschechoslowakei 1920 bis Japan 1946<br />
herausgearbeitet, wie eine erfolgreiche<br />
Zwangsmaßnahme ablaufen muss: Überraschend,<br />
schnell, ohne politische Debatten<br />
und lange Gesetzesinitiativen – sonst<br />
flieht das Kapital über die Grenzen oder in<br />
andere Anlageformen, und der Schnitt<br />
wird von Lobbygruppen verwässert: „Die<br />
wenigen erfolgreichen Vermögensabgaben<br />
ereigneten sich unter Umständen wie<br />
im Nachkriegs-Japan, wo wichtige Elemente<br />
des demokratischen Prozesses unterbunden<br />
wurden“, so Eichengreen. Die<br />
US-Besatzungsmacht hatte damals, anders<br />
als gewählte Regierungen, keinen<br />
Vertrauensverlust zu befürchten.<br />
Auf dem falschen Fuß erwischt Der Zypern-<br />
Schuldenschnitt hat Garantien aufgeweicht<br />
ZEHN PROZENT AUF ALLES?<br />
Trotz derartiger Einsichten hat die Debatte<br />
um eine Vermögensabgabe an Fahrt gewonnen.<br />
Der Internationale Währungsfonds<br />
(IWF) widmete im Oktober nur eine<br />
halbe Seite einer knapp 100 Seiten umfassenden<br />
Steuerstudie der Idee einer einmaligen<br />
Abgabe auf sämtliche Vermögen.<br />
Doch der Abschnitt hat es in sich.<br />
Die Vorteile der Abgabe beschreiben die<br />
Autoren knapp: Wenn sie so schnell durchgezogen<br />
wird, dass sich niemand entziehen<br />
kann, und wenn klar ist, dass es sich<br />
um eine einmalige Abgabe handelt, dann<br />
würde sie das Konsumverhalten der Menschen<br />
und damit das Wachstum kaum<br />
bremsen. Und: Die Abgabe dürfte von vielen<br />
als gerecht empfunden werden.<br />
Doch so neutral die kurze Beschreibung<br />
auch gehalten ist: Am Ende lassen sich die<br />
Autoren auf ein Gedankenspiel ein. Sie berechnen,<br />
wie hoch die Abgabe in den 15 Euro-Ländern<br />
ausfallen müsste, um<br />
die Staatsschuldenquoten auf das<br />
Vorkrisenniveau von 2007 zu drücken.<br />
Ergebnis: Jeder Euro-Land-<br />
Einwohner wäre mit zehn Prozent<br />
seines Vermögens dabei.<br />
Eine ganz ähnliche Größenordnung<br />
hatte das Deutsche Institut<br />
für Wirtschaftsforschung<br />
(DIW) schon vor gut einem Jahr angepeilt.<br />
Das Institut spielte durch, wie die Kosten<br />
der Krise verteilt werden könnten. Bei<br />
250 000 Euro Freibetrag pro Bürger könnten<br />
mit einer zehnprozentigen Vermögensabgabe<br />
230 Milliarden Euro eingetrieben<br />
werden. Ein Sprecher von Finanzminister<br />
Wolfgang Schäuble bezeichnete den Vorschlag<br />
als „interessant“ für manche südeuropäische<br />
Staaten. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident<br />
Reiner Haseloff (CDU) sah darin<br />
jedoch auch für Deutschland „eine Option,<br />
um zum Abbau der Verschuldung beizutragen“.<br />
Obwohl das DIW selbst sich mittlerweile<br />
von der Idee verabschiedet hat, findet sie<br />
immer mehr Beifall. Verdi-Chef Frank<br />
Bsirske etwa, der eine gestaffelte Abgabe<br />
vorschlug. Und Grünen-Fraktionschefin<br />
Katrin Göring-Eckhardt sagte, sie wolle<br />
„vermögende Privatpersonen beteiligen,<br />
mit 1,5 Prozent ihres Vermögens über zehn<br />
Jahre“.<br />
TEURER SCHULDENFONDS<br />
Wie kommen Zahlen wie diese zustande?<br />
Daniel Stelter, Ex-Berater der Boston Consulting<br />
Group, der den Thinktank Beyond<br />
Video<br />
Chefvolkswirt<br />
Malte Fischer<br />
erklärt, welche<br />
Folgen das<br />
„Geld aus dem<br />
Nichts“ hat<br />
the Obvious gegründet hat, hat<br />
nachgerechnet: Als gerade noch<br />
vertretbar haben Stelter und Kollegen<br />
eine Gesamtschuldenlast<br />
(Staaten, Kommunen, Firmen<br />
und Privatleute zusammen) von<br />
180 Prozent des BIPs ermittelt.<br />
Derzeit liegt sie in den Industrieländern<br />
im Schnitt bei mehr als<br />
340 Prozent des BIPs. Absolut liegt der<br />
Schuldenüberhang in den USA, Europa, Japan<br />
bei über 25 000 Milliarden Dollar. „Das<br />
einmalige Streichen des Schuldenüberhangs<br />
wäre die beste und sauberste Lösung“,<br />
meint Stelter, „sie ist aber politisch<br />
schwer durchsetzbar.“<br />
Machbar wäre es durchaus. Schulden<br />
sind zugleich Geldguthaben der Gläubiger.<br />
In Europa und den USA stehen dem Schuldenberg,<br />
immerhin, zwischen 75 000 und<br />
80 000 Milliarden Dollar an Finanzguthaben<br />
gegenüber. Etwa ein Drittel dieser<br />
Geldguthaben und damit der Schulden<br />
müsste man streichen, um auf einen tragbaren<br />
Schuldenstand zu kommen.<br />
Stelter plädiert aber nicht für einen einmaligen<br />
Schnitt, sondern für einen Fonds:<br />
Alle Schulden jenseits der langfristig tragbaren<br />
Gesamtschuldenlast von 180 Prozent<br />
des BIPs würden darin gebündelt.<br />
„Die Bank müsste allen Schuldnern, auch<br />
dem spanischen Häuslebauer, sofort 30<br />
Prozent seiner Schulden streichen und<br />
diese in der eigenen Bilanz abschreiben;<br />
gegenfinanziert würde dies der Bank aus<br />
dem Fonds“, erklärt Stelter. Refinanzieren<br />
würde sich der Fonds über von Staaten<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 35<br />
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Der Volkswirt<br />
»<br />
gemeinschaftlich begebene Bonds.<br />
„Deren Zins läge unter dem, den Staaten<br />
und Private im Schnitt bezahlen müssten,<br />
wenn sich jeder für sich weiter am Kapitalmarkt<br />
verschuldete.“ Über 20 Jahre würde<br />
der Fonds getilgt, etwa über eine Vermögensteuer.<br />
Stelter hat errechnet, dass<br />
diese Steuer weniger als ein Prozent des<br />
Gesamtvermögens jedes EU-Bürgers pro<br />
Jahr ausmachen würde.<br />
Bedrohung 3:<br />
Mehr Steuern zahlen<br />
„Mit uns wird es keine Steuererhöhungen<br />
geben“, hatten die Spitzen von CDU und<br />
CSU im Chor während des Wahlkampfs intoniert.<br />
Und in der Tat finden sich in der<br />
Koalitionsvereinbarung keine solchen Pläne.<br />
Unterhändler Christian von Stetten hatte<br />
die Sozialdemokraten gleich zu Beginn<br />
gewarnt, der Gruppe mit derlei Vorschlägen<br />
die Zeit zu stehlen – das komme für die<br />
Union nicht infrage.<br />
TRÜGERISCHE RUHE<br />
Allerdings steht das laut vorgetragene Versprechen<br />
„keine Steuererhöhung“ nicht<br />
im Vertragstext. Dafür etliche milliardenschwere<br />
<strong>Ausgabe</strong>n, die sich – wenn überhaupt<br />
– nur finanzieren lassen, solange<br />
die Konjunktur stabil und die Steuereinnahmen<br />
hoch bleiben. Sonst steht die Koalition<br />
sofort wieder vor der Frage: Abgaben<br />
erhöhen oder Wohltaten streichen?<br />
Die Union beharrt erst mal auf ihrer Zusage,<br />
dass dann die <strong>Ausgabe</strong>n angepasst<br />
werden müssten. Für die Mütterrente gilt<br />
das freilich nicht, so der Fraktionsvorsitzende<br />
Volker Kauder. Ebenso wird auch die<br />
SPD zwingende Lieblingsprojekte haben.<br />
Dann stehen wieder Steuererhöhungen<br />
auf der Tagesordnung. So liegt eine rotgrüne<br />
Bundesratsinitiative zur Wiedereinführung<br />
der Vermögensteuer einstweilen<br />
auf Eis. Rund zehn Milliarden Euro Einnahmen<br />
hatte die SPD dafür kalkuliert.<br />
Die Abgeltungsteuer, mit der die Erträge<br />
von Geldanlagen aller Art erfasst werden,<br />
würde sie gern von 25 auf 32 Prozent erhöhen.<br />
Sollte das Geld nicht reichen, würde<br />
sie Zinsen und Dividenden wieder dem<br />
individuellen Steuersatz unterwerfen – für<br />
einkommenstarke Anleger noch teurer.<br />
Noch eine Ausnahme ist den Genossen<br />
ein Dorn im Auge: Bei vermieteten Immobilien<br />
sind Wertsteigerungen – anders als<br />
beispielsweise bei Aktien – steuerfrei, sofern<br />
Wohnung oder Haus länger als zehn<br />
Jahre dem Eigentümer gehörten.<br />
Böses Erwachen Währungsschnitte wie ’48<br />
in Deutschland treffen Sparer über Nacht<br />
Für alle Regelungen gilt: Wiedervorlage<br />
in der nächsten Krise.<br />
NUR GEGEN BÖSE SPEKULANTEN?<br />
Schon geeinigt haben sich die Großkoalitionäre<br />
auf eine Finanztransaktionsteuer.<br />
„Weit weg <strong>vom</strong> Bürger, trifft nur die bösen<br />
Spekulanten“, so die Denke. Im Koalitionsvertrag<br />
ist von einer „breiten Bemessungsgrundlage“<br />
die Rede. Klingt harmlos, bedeutet<br />
aber: Auch Altersvorsorgeanbieter<br />
wie Fonds und Lebensversicherungen<br />
müssen beim Wertpapierhandel zahlen.<br />
Laut EU-Kommission soll von jedem<br />
Kauf und Verkauf von Aktien und Anleihen<br />
jeweils 0,1 Prozent des gehandelten Wertes<br />
an den Fiskus gehen. Bei Aktien für 5000<br />
Euro sind das bei An- und Verkauf immerhin<br />
zehn Euro. Die Steuer zu umgehen<br />
Europas<br />
Schulden steigen<br />
um 100<br />
Millionen Euro<br />
pro Stunde<br />
wird schwierig. Wer seinen Wohnsitz in einem<br />
EU-Land hat, das die Steuer verlangt,<br />
muss sie auch zahlen. Der superschnelle<br />
Hochfrequenzhändler, dem sie das Geschäft<br />
vermiest, sitzt ohnehin in London<br />
oder der Schweiz, notfalls wird er umziehen.<br />
Ein Riester-Sparer wird das nicht tun.<br />
Und er zahlt nicht nur bei eigenen Aktiengeschäften.<br />
Altersvorsorgesparer werden sich später<br />
nur wundern, dass ihr Guthaben noch<br />
mickriger ausfällt. Die Fondsgesellschaft<br />
Union Investment berechnete für einen<br />
herkömmlichen Riester-Vertrag mit<br />
monatlich 100 Euro Beitrag nach 30<br />
Jahren ein Minus von 4100 Euro für den<br />
Anleger, allein wegen der Finanztransaktionsteuer.<br />
Bedrohung 4:<br />
Eingriff in die Vertragsfreiheit<br />
Ein Goldbesitzverbot wie in den USA zwischen<br />
1933 und 1974 hält Stefan Homburg<br />
auch in Europa für möglich. „So was hat es<br />
gegeben, und so etwas könnte auch wieder<br />
gemacht werden“, so der Professor am Institut<br />
für Öffentliche Finanzen an der Leibniz<br />
Universität Hannover. Die Bilanzen der<br />
Notenbanken sind geschwächt. Der Anteil<br />
der im Vergleich zu ausfallsicheren Goldbeständen<br />
nur mit schwachen oder fragwürdigen<br />
Sicherheiten unterlegten Vermögenspositionen<br />
in ihren Bilanzen hat in<br />
den Krisenjahren stark zugenommen.<br />
Theoretisch ließen sich die Bilanzen verbessern,<br />
wenn privater Goldbesitz in<br />
Staatsbesitz gelangte. Die Frage wäre dann<br />
nur: Würde für privates Gold ein fairer<br />
Marktpreis bezahlt – und passierte der<br />
Übergang freiwillig?<br />
GOLD VERBOTEN<br />
Das Beispiel USA zeigt, dass ein Besitzverbot<br />
für Gold eine knifflige Sache ist. Um<br />
den Dollar zu stützen und faktisch Spekulation<br />
mit Gold gegen ihn zu unterbinden,<br />
erließ US-Präsident Franklin D. Roosevelt<br />
1933 eine Verordnung, die das Horten von<br />
Gold unter Strafe stellte. Ausgenommen<br />
waren Goldmünzen und -zertifikate, deren<br />
Wert pro Person 100 Dollar nicht überstieg,<br />
sowie Sammlerstücke. US-Bürger<br />
hatten ihr Gold zum Festpreis von 20,67<br />
Dollar pro Unze bei der Notenbank abzugeben,<br />
anschließend wurde die Parität auf<br />
35 Dollar pro Unze fixiert. Für Anleger war<br />
der erzwungene Umtausch ein gewaltiges<br />
Verlustgeschäft. Das Verbot wurde erst am<br />
31. Dezember 1974, nach dem Zusam-<br />
»<br />
FOTO: AKG IMAGES/HILBICH; ILLUSTRATION: DMITRI BROIDO<br />
36 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Der Volkswirt<br />
»<br />
menbruch des Gold-Dollar-Standards<br />
von Bretton Woods, aufgehoben.<br />
Die Freigrenze von 100 Dollar, was etwa<br />
fünf Unzen Feingold (heute: 6000 Dollar)<br />
entsprach, war ein geschickter Schachzug,<br />
weil die Mehrheit der Bevölkerung nicht<br />
betroffen war. Entsprechend regte sich<br />
kaum Widerstand. Wer unter der Freigrenze<br />
lag, konnte an der späteren Aufwertung<br />
von Gold gar verdienen.<br />
Durchzusetzen ist das Verbot nur<br />
schwer. In den USA lag die Abgabequote<br />
während des dortigen Verbots geschätzt<br />
bei nur 30 Prozent. Im Moment gibt es<br />
hierzulande auch keine Debatte über ein<br />
Verbot. Mit ein paar Fallstricken sollten<br />
Goldbesitzer aber schon rechnen. Denkbar<br />
wäre eine von Brüssel aus betriebene<br />
Wiedereinführung einer europaweiten<br />
Mehrwertsteuer. Auch könnten Zugewinne<br />
mit Barren und Münzen, die nach<br />
über einem Jahr Haltefrist steuerfrei bleiben,<br />
künftig mit Abgeltungsteuer belegt<br />
werden.<br />
Die Koalition<br />
kippt die<br />
Merkel-<br />
Garantie<br />
weitgehend<br />
Lage, Lage und<br />
Nachfrage<br />
Anleger flüchten<br />
in Immobilien,<br />
Mieten ziehen an.<br />
Dumm nur: Hier<br />
kann der Staat<br />
leicht zugreifen<br />
IN STAATSANLEIHEN GETRIEBEN<br />
Auch eine Art von Zwangsmaßnahme: Versicherer<br />
und Banken und damit deren<br />
Kunden werden in Staatsanleihen getrieben.<br />
Europäische Versicherer sind eine fette<br />
Beute für die Politik – sie legen gigantische<br />
8,4 Billionen Euro an. Kapital, was Politiker<br />
gerne auf ihre Seite holen. Das geht<br />
einfach: Politiker drängen die größten Investoren<br />
– Banken und Versicherer – über<br />
Vorschriften zur Regulierung indirekt in<br />
Staatsanleihen. So wird es unter der geplanten<br />
Regulierung Solvency II für europäische<br />
Versicherer ab 2016 nötig, einen<br />
Risikopuffer (Eigenmittel) für neue Investments<br />
vorzuhalten.<br />
Die Idee dahinter ist auf den ersten Blick<br />
edel: Im Interesse der Kunden sollen Versicherer<br />
Mittel für mögliche Ausfälle vorhalten.<br />
Allerdings wird das für alle Investments<br />
außer Staatsanleihen so teuer, dass<br />
kaum ein Versicherer sie sich noch leisten<br />
wird. Aktien zu kaufen kostet etwa 39 Prozent<br />
extra. Wer eine Immobilie erwirbt,<br />
muss 25 Prozent extra für Wertverluste einplanen.<br />
Paradox: Bis heute ist kein Puffer<br />
für griechische Staatsanleihen vorgesehen<br />
– obwohl Investoren hier bereits einen Teil<br />
ihres Einsatzes abschreiben mussten.<br />
„Dass Staatsanleihen nicht besichert werden<br />
müssen, spiegelt nicht das Risiko wider,<br />
was Investoren angesichts hoch verschuldeter<br />
Staaten eingehen“, sagt der<br />
selbstständige Versicherungsanalyst Carsten<br />
Zielke. Der Zwang zu Staatsanleihen<br />
durch die Hintertür ist für Versicherte<br />
misslich. Kauft ihr Versicherer heute eine<br />
deutsche Staatsanleihe, die in zehn Jahren<br />
fällig wird, bekommt er nur 1,7 Prozent<br />
Rendite. Hohe Überschüsse können Sparer<br />
sich so abschminken.<br />
KEIN ENTKOMMEN<br />
Legale Wege, der finanziellen Repression<br />
und Zwangsmaßnahmen des Staates auszuweichen,<br />
gibt es für Normalbürger, die<br />
ihren Sitz nicht auf die Caymans verlegen<br />
können, nicht: Am Ende fangen Politik und<br />
Notenbanken alle Anleger ein. Besonders<br />
leicht zu greifen, weil – siehe Zypern –<br />
schnell und einfach erreichbar, sind Giro-,<br />
Tagesgeld- und Festgeldkonten. Staatsanleihen,<br />
auf deren permanenten Verkauf die<br />
verschuldeten Staaten angewiesen sind,<br />
könnten einen gewissen Schutz bieten. Die<br />
hochverzinslichen aber sind pleitegefährdet,<br />
und die sicheren bieten keinen Realzins.<br />
Das Gleiche gilt für Unternehmensanleihen.<br />
Bleiben neben Gold, das von den<br />
genannten Verboten bedroht sein könnte,<br />
noch Immobilien – und die von den Deutschen<br />
ungeliebten Aktien.<br />
WEICHES BETONGOLD<br />
Wer sein Erspartes wegen Angst vor Inflation<br />
und Repression in Immobilien anlegt,<br />
sollte sich nicht zu sicher fühlen. Denn<br />
der Staat ist erfinderisch, wenn es darum<br />
geht, Hausbesitzer zur Kasse zu bitten.<br />
Nach dem Ersten Weltkrieg und der anschließenden<br />
Hyperinflation führte<br />
Deutschland 1924 eine Hauszinssteuer<br />
ein, mit der Immobilienbesitzer an der<br />
Geldentwertung beteiligt werden sollten.<br />
Der Gedanke: Hypothekenschulden hatten<br />
teilweise komplett an Wert verloren,<br />
die damit finanzierten Grundstücke und<br />
Wohnungen jedoch nicht. Deren Besitzer<br />
wurden zum Ausgleich zur Kasse gebeten.<br />
Betongold schützt also nicht immer vor<br />
Inflation.<br />
Heute flüchten vor allem wohlhabende<br />
deutsche Anleger aus Angst vor kalter Enteignung<br />
in Immobilien. „Wir sehen mit<br />
zunehmendem Volumen tendenziell<br />
auch sehr hohe Immobilienanteile an den<br />
Gesamtvermögen“, sagt Tom Weber von<br />
der Capitell Vermögensverwaltung. In guten<br />
Lagen werden 25, in Ausnahmen bis<br />
zu 35 Nettojahreskaltmieten für Zinshäuser<br />
bezahlt. „So lässt sich nach Abzug aller<br />
Kosten und Steuern kaum noch eine Nettorendite<br />
von mehr als einem kümmerlichen<br />
Prozent erwirtschaften“, so Weber.<br />
»<br />
FOTO: VISUM/JÖRG AXEL FISCHER; ILLUSTRATION: DMITRI BROIDO<br />
38 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Der Volkswirt<br />
Die Einschläge kommen näher<br />
Mit welchen Maßnahmen Regier<br />
ihre Einführung ist, wie schmerz<br />
Niedrigzins<br />
Ben Bernanke, noch Chef der<br />
Fed, kauft US-Staatsanleihen<br />
und drückt die Zinsen weltweit<br />
Inflation zulassen<br />
Die USA enteigneten Gläubiger nach 1945<br />
schleichend; die Inflation lief, anders als in<br />
Deutschland 1923, nicht aus dem Ruder<br />
Negativzins<br />
Die EZB lässt den Leitzins<br />
vorerst bei 0,25 Prozent und<br />
diskutiert über –0,1 Prozent<br />
Vermögensabgabe<br />
Eine gab’s schon, den<br />
Lastenausgleich 1952<br />
unter Ludwig Erhard<br />
Instrument<br />
Niedrigzins<br />
Inflation<br />
zulassen<br />
Negativzins<br />
Vermögensabgabe<br />
(einmalig)<br />
Zwangsanleihe<br />
Neue Steuern<br />
Ausgestaltung<br />
Notenbank kauft<br />
direkt oder indirekt<br />
(über Banken,<br />
die günstig Geld<br />
bekommen)<br />
Staatsanleihen;<br />
Notenbank hält<br />
Leitzinsen unten<br />
Notenbanken<br />
schöpfen weiter<br />
Geld; Bürger<br />
verlieren Vertrauen;<br />
Umlaufgeschwindigkeit<br />
des Geldes steigt<br />
Notenbank setzt<br />
negativen Leitzins<br />
fest; Banken legen<br />
negative Zinsen<br />
auf die Guthaben<br />
von Sparern um<br />
oder verteuern<br />
Gebühren/Kredite<br />
Staat schneidet<br />
sich von allen<br />
Vermögenswerten<br />
einmalig<br />
ein Stück ab<br />
Staat zwingt<br />
Bürger, einen Teil<br />
ihres Vermögens<br />
in Staatsanleihen<br />
zu packen; wird<br />
(teilweise) zurückgezahlt<br />
Vermögensteuer,<br />
zum Beispiel<br />
ein Prozent auf<br />
steuerpflichtiges<br />
Vermögen<br />
(nach Abzug von<br />
Freibeträgen)<br />
Transaktionsteuer<br />
von 0,1 Prozent<br />
auf Aktien und<br />
Anleihen und 0,01<br />
Prozent auf<br />
Derivate; fällig für<br />
jedes Geschäft<br />
negativ<br />
betroffen<br />
wären/sind<br />
Konten, Anleihen,<br />
Lebensversicherung,<br />
Betriebsrenten,<br />
Versorgungswerke<br />
Bargeld, Konten,<br />
Anleihen, Lebensversicherung<br />
Konten<br />
Konten, Aktien, Anleihen, Immobilien<br />
Vermögen generell<br />
Aktien, Anleihen,<br />
Derivate; indirekt<br />
auch Fonds und<br />
Lebensversicherungen<br />
Eintrittswahrscheinlichkeit<br />
läuft bereits<br />
aktuell gering;<br />
langfristig wahrscheinlich<br />
ist bereits in der<br />
Diskussion<br />
wird diskutiert, aber starker<br />
Widerstand zu erwarten<br />
politische<br />
Forderung<br />
politisch herrscht<br />
Konsens<br />
wie<br />
gefährlich<br />
für das<br />
Vermögen?<br />
Inflation frisst<br />
Zinsen; Sparen<br />
lohnt sich kaum<br />
Hohe Inflation<br />
kann sämtliche<br />
Geldvermögen<br />
entwerten<br />
Erspartes leidet<br />
nominal durch<br />
Negativzinsen<br />
und real durch<br />
Inflation<br />
je reicher, desto<br />
härter<br />
hängt von<br />
Rückzahlung ab<br />
für Vermögende<br />
drückt auch<br />
Rendite von<br />
Fonds und<br />
Versicherungen<br />
Vorteil für<br />
Staaten<br />
niedrige Zinslast<br />
auf eigene<br />
Schulden<br />
Schulden werden<br />
nicht auf dem<br />
Papier, aber real<br />
drastisch<br />
verringert<br />
höheres<br />
Wachstum durch<br />
ausgeweitete<br />
Kreditvergabe<br />
erhofft<br />
kann Schulden<br />
sofort drastisch<br />
senken<br />
verschafft<br />
Spielraum bis<br />
zum Rückzahlungsdatum<br />
weitere<br />
Einnahmen<br />
weitere<br />
Einnahmen<br />
historische<br />
Vorbilder<br />
USA nach 1945<br />
Deutschland<br />
1923; Frankreich<br />
18. Jahrhundert;<br />
Zimbabwe 20<strong>09</strong><br />
Schweiz 1964,<br />
1970er;<br />
Schweden;<br />
Dänemark<br />
Deutschland<br />
1918/19, 1952<br />
Deutschland<br />
1914, 1922/23<br />
Deutschland,<br />
wurde 1997<br />
abgeschafft<br />
Deutschland<br />
1881–1991;<br />
Schweden<br />
1985–1992<br />
= unwahrscheinlich, = so gut wie sicher; = sehr niedrige Einbußen; = sehr hohe Einbußen<br />
40 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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ungen und Notenbanken Sparer attackieren könnten, wie wahrscheinlich<br />
haft sie wären und wie die hoch verschuldeten Staaten davon profitieren.<br />
Neue Steuern<br />
Transaktionsteuer<br />
trifft Sparer, nicht nur<br />
Spekulanten<br />
Abgeltungsteuer<br />
wird angehoben<br />
oder Spekulationsgewinne<br />
werden<br />
künftig nach individuellem<br />
Steuersatz<br />
versteuert<br />
Aktien, Anleihen,<br />
Derivate, Fonds<br />
SPD-Forderung;<br />
nicht im<br />
Koalitionsvertrag<br />
je nach Steuersatz;<br />
gerade Aktionäre<br />
wären getroffen<br />
Einnahmesteigerung;<br />
nur Minderheit<br />
der Wähler ist<br />
betroffen<br />
Steuererhöhung<br />
Grund- und Grunderwerbsteuer<br />
werden sukzessive<br />
angehoben<br />
Immobilien<br />
läuft<br />
Steuererhöhung<br />
SPD hat Forderung nach mehr Abgeltungsteuer<br />
nicht kassiert, auch wenn<br />
nichts dazu im Koalitionsvertrag steht<br />
Eigenheimnutzer schmerzt nur die<br />
Grundsteuer<br />
Einnahmesteigerung<br />
Spekulationsfrist<br />
wird gekippt<br />
Ausweitung Spekulationsfrist 1999<br />
Gold-Besitzverbot<br />
oberhalb einer<br />
festgelegten<br />
Höchstmenge<br />
Gold<br />
noch nicht<br />
diskutiert; Steuerverschlechterung<br />
ist möglich<br />
Enteignung gegen<br />
bescheidene<br />
Entschädigung<br />
Einnahmesteigerung;<br />
Basis für<br />
neues Währungssystem<br />
USA 1933–1974;<br />
China 1949–1983<br />
Verbote<br />
1933 stellte US-Präsident<br />
Franklin D. Roosevelt den<br />
Goldbesitz unter Strafe<br />
Verbote<br />
Verschärfung des<br />
Verbots von Mieterhöhungen;<br />
zum<br />
Beispiel in gefragten<br />
Gegenden<br />
bei bereits hoher<br />
Miete<br />
Immobilien<br />
(nur vermietete)<br />
im Koalitionsvertrag<br />
überraschend<br />
entschärft<br />
für Vermieter<br />
Zustimmung<br />
von der Mehrheit<br />
der Wähler<br />
in Deutschland<br />
seit 1974<br />
»<br />
Auffällig: Die beim Haus- oder Wohnungskauf<br />
anfallende Grunderwerbsteuer<br />
von 3,5 Prozent auf den Kaufpreis wird aktuell<br />
deutlich hochgeschraubt. So will die<br />
Schuldenmetropole Berlin ab Januar 2014<br />
sechs Prozent kassieren, in Bremen sollen<br />
fünf und in Schleswig-Holstein sogar 6,5<br />
Prozent fällig werden.<br />
Immobilienbesitzer sind leichte Beute,<br />
sie können nicht mit ihrem Vermögen ins<br />
Ausland flüchten. An die selbst genutzte<br />
Immobilie wird sich die Politik nicht so<br />
schnell heranwagen, meint Weber.<br />
Zwangsmaßnahmen gegen Vermieter aber<br />
treffen nur wenige. Der Widerstand dagegen<br />
dürfte eher schwach sein.<br />
AKTIEN IM VISIER<br />
Dass nur wenige getroffen werden, gilt<br />
auch für Maßnahmen gegen Aktionäre.<br />
Eine Besitzsteuer oder Abgabe eigens für<br />
Aktien gab es zwar noch nie, sagt Carsten<br />
Burhop. Doch der Professor für Wirtschafts-<br />
und Sozialgeschichte an der Universität<br />
Wien rät trotzdem davon ab, die<br />
Aktie als Bastion gegen den Staatszugriff<br />
zu sehen: „Aktienbesitz wurde bereits bei<br />
der Preußischen Vermögensteuer von<br />
1893 herangezogen“, sagt Burhop. Für den<br />
Staat ist es leicht, bei Aktien zuzuschlagen:<br />
Wo bei Immobilien oder Unternehmensbeteiligungen<br />
aufwendige Berechnungen<br />
nötig sind, um das Vermögen zu ermitteln,<br />
kann bei gehandelten Wertpapieren<br />
einfach der Kurs als Grundlage genommen<br />
werden.<br />
Bei der Währungsreform 1948 allerdings<br />
behielten Aktionäre ihre Papiere,<br />
verzeichneten zwar massive Kurseinbußen,<br />
im Wirtschaftswunder aber massive<br />
Gewinne. Dafür war vor allem Otto Ohlendorf<br />
verantwortlich, Vize-Staatssekretär<br />
im Reichswirtschaftsministerium. Eine<br />
„tief greifende Veränderung der Besitzund<br />
Eigentumsverhältnisse“ wollte er verhindern,<br />
schreibt das „Handelsblatt“. Mit<br />
Deutsche-Bank-Vorstand Herrmann Josef<br />
Abs, dem späteren Bundesbank-Präsidenten<br />
Karl Blessing und dem späteren Wirtschaftsminister<br />
Ludwig Erhard erarbeitete<br />
er ein Schuldenabbauprogramm, das Aktionäre<br />
schonte und im Zuge der Währungsreform<br />
1948 realisiert wurde.<br />
Auf eine Wiederholung der Geschichte<br />
sollten Anleger hier aber nicht setzen –<br />
ausnahmsweise.<br />
n<br />
frank doll, mark fehr, malte fischer, stefan hajek,<br />
henning krumrey, niklas hoyer, annina reimann,<br />
hauke reimer, anton riedl, heike schwerdtfeger,<br />
cornelius welp, florian zerfaß | geld @wiwo.de<br />
FOTOS: BLOOMBERG NEWS, GETTY IMAGES (2), INTERFOTO, KEYSTONE, DDP IMAGES, ACTION PRESS<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 41<br />
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Der Volkswirt<br />
Todeswünsche<br />
zum Geburtstag<br />
USA | Vor 100 Jahren gründeten die USA eine Notenbank und<br />
monopolisierten die Geldversorgung. Kritiker sagen, heute<br />
gefährde sie das globale Finanzsystem, und fordern ihre Abschaffung.<br />
Welchen Kurs schlägt die neue Präsidentin Janet Yellen ein?<br />
Die Federal Reserve (Fed) in New<br />
York gleicht einer Festung. Schwer<br />
bewaffnete Polizisten des eigenen<br />
Sicherheitsapparates der amerikanischen<br />
Notenbank postieren vor 33 Liberty Street<br />
in Manhattan, gleich um die Ecke von Wall<br />
Street. Die Fenster des Gebäudes sind bis<br />
zum dritten Stock mit schwarzen Eisengittern<br />
verbarrikadiert. An den Ecken sind<br />
Überwachungskameras installiert. Besucher<br />
müssen ihre Taschen durchleuchten<br />
lassen, Ausweise zeigen, die Hosenbeine<br />
hochkrempeln.<br />
Wer glaubt, die Sicherheitsvorkehrungen<br />
sind deshalb so hoch, weil hier das viele<br />
Geld gedruckt wird, mit dem die Fed die<br />
US-Wirtschaft in Schwung bringen will, der<br />
liegt falsch. Die Druckerpressen stehen außerhalb<br />
von New York. Im Keller der Bank<br />
lagert viel Wertvolleres – die weltweit größten<br />
Goldreserven. Derzeit sind es 530 000<br />
Barren, die 60 Nationen gehören. Auch ein<br />
Teil des deutschen Goldschatzes befindet<br />
sich hier. Sicher verwahrt als eiserne Reserve,<br />
sollte irgendwann wieder eine globale<br />
Wirtschafts- und Finanzkatastrophe die<br />
Welt heimsuchen. „Wir haben hier eine<br />
ganz besondere Verantwortung“, sagt New<br />
York-Fed-Präsident William Dudley. Die<br />
New York Fed ist die mächtigste von allen<br />
zwölf regionalen Notenbanken im Federal-<br />
Reserve-System der USA. Sie wickelt das<br />
Wertpapiergeschäft der US-Notenbank ab<br />
und wacht auch über die Wall Street. Und<br />
sie gilt als Keimzelle des zentralisierten Notenbanksystems.<br />
Ihr erster Gouverneur<br />
Benjamin Strong nutzte erstmals die Instrumente<br />
der Geldpolitik, um die Konjunktur<br />
zu steuern.<br />
TAKTGEBER DER BÖRSE<br />
Ausgerechnet die Institution, der die Welt<br />
ihr Gold anvertraut, befeuert nach Ansicht<br />
ihrer Kritiker die nächste Krise. Noch nie<br />
seit der Gründung des Notenbanksystems<br />
am 23. Dezember vor 100 Jahren hat die<br />
Fed mit einer derart expansiven Geldpolitik<br />
in den Finanz- und Wirtschaftskreislauf<br />
eingegriffen wie seit der jüngsten Krise vor<br />
gut fünf Jahren. Den kurzfristigen Leitzins<br />
hält sie praktisch bei null. Um auch die<br />
langfristigen Zinsen niedrig zu halten, damit<br />
die Konjunktur endlich anspringt,<br />
pumpt sie monatlich 85 Milliarden Dollar<br />
für Staatsanleihen und Hypothekenpapiere<br />
in den Markt. Quantitative Lockerung<br />
nennt die Fed den Eingriff. Ihre Bilanz ist<br />
Gut bewacht Im Keller der New York Fed<br />
lagern die weltweit größten Goldschätze<br />
FOTOS: GETTY IMAGES/ANDREW BURTON, BLOOMBERG NEWS/ANDREW HARRER<br />
42 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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von 890 Milliarden Dollar Ende 2007 auf<br />
3,9 Billionen Dollar gestiegen.<br />
„Die Fed ist zur mächtigsten politischen<br />
Institution in den USA aufgestiegen. Sie<br />
diktiert die globalen Finanzmärkte – das ist<br />
beängstigend und gefährlich“, warnt der<br />
US-Ökonom John Allison (siehe Seite 46).<br />
Er stand 19 Jahre an der Spitze des US-Finanzinstituts<br />
BB&T und leitet seit 20<strong>12</strong> den<br />
liberalen Thinktank Cato Institute in Washington.<br />
Tatsächlich hat die Geldschwemme<br />
die Konjunktur bislang nicht beleben<br />
können. Unternehmen zögern zu investieren.<br />
Zu unsicher ist ihnen die geldpolitische<br />
und fiskalische Lage. Was passiert,<br />
wenn die Fed die Luft rauslässt?<br />
Seit 20<strong>09</strong> liegt das Wachstum in den USA<br />
im Durchschnitt bei mageren 1,2 Prozent.<br />
Zu wenig, um von einer nachhaltigen Erholung<br />
zu sprechen, zu wenig, als dass die<br />
USA als größte Volkswirtschaft der Welt Lokomotive<br />
für die globale Wirtschaft spielen<br />
könnte. Stattdessen bläst ihre expansive<br />
Geldpolitik eine Börsenblase auf. Seit Oktober<br />
2008 legte der Dow-Jones-Index von<br />
9955 Punkten um fast 50 Prozent zu. Dorthin<br />
strömt das Kapital, weil andere profitable<br />
Anlagemöglichkeiten fehlen.<br />
Die niedrigen Zinsen helfen dagegen der<br />
Regierung, ihr Defizit zu finanzieren. Für<br />
das Geld, das sich Amerika leiht, um seine<br />
Schulden von derzeit 16 Billionen Dollar<br />
bedienen zu können, zahlt es kaum Zinsen.<br />
Dank der Fed kann sich der Staat so<br />
viel leihen, wie er will, bis die Schuldengrenze<br />
erreicht ist, die der Kongress, wenn<br />
auch wie im Oktober erst in letzter Minute,<br />
immer wieder erhöht.<br />
Würde die Fed den Geldhahn zudrehen,<br />
käme dies nicht nur den Staat teuer zu stehen.<br />
Auch die Märkte könnten panisch reagieren.<br />
Allein die Andeutung des noch amtierenden<br />
Fed-Präsidenten Ben Bernanke,<br />
die Zentralbank könne ihre quantitative Lockerung<br />
zurückfahren, falls die Wirtschaft<br />
sich genügend erhole und die Arbeitslosenquote<br />
von derzeit mehr als sieben Prozent<br />
auf 6,5 Prozent falle, führte im Juni zu massiven<br />
Verlusten an den globalen Börsen. Der<br />
drohende Liquiditätsstopp löste Schockwellen<br />
bis hin in aufstrebende Schwellenländer<br />
wie Brasilien oder Indien aus. Investoren<br />
zogen nach der Ankündigung der Fed,<br />
weniger Geld auf den Markt werfen zu wollen,<br />
eilig ihr Kapital aus diesen Ländern ab.<br />
Was also tun? Bernanke muss sich darüber<br />
nicht mehr den Kopf zerbrechen. Seine<br />
derzeitige Vize-Chefin Janet Yellen übernimmt<br />
am 1. Februar 2014 die Führung der<br />
Notenbank. Die Top-Ökonomin ist dann<br />
die mächtigste Frau der Welt. Wird sie weitermachen<br />
wie bisher? Oder bringt sie die<br />
Einsicht auf, dass sich Sinn und Zweck des<br />
Federal Reserve Systems überholt haben,<br />
dass für die Zukunft etwas anderes an die<br />
Stelle der schier ungebremsten Geldschwemme<br />
rücken muss?<br />
Betrachtet man die Geschichte der Fed,<br />
ist die Hoffnung auf einen Wandel nicht<br />
groß. Seit ihrer Gründung war sie Reparaturbetrieb<br />
einer immer wieder aus den Fugen<br />
geratenden Finanzindustrie. Schon<br />
Anfang des vorigen Jahrhunderts hatten<br />
sich Banken zu hoch verschuldet, ein Institut<br />
nach dem anderen ging pleite.<br />
Um die Krise zu bändigen, hob damals<br />
der US-Kongress das Fed-System aus der<br />
Taufe. Im Krisenfall sollte die Fed die Banken<br />
mit genügend Geld versorgen. Aber<br />
Die Konjunktur<br />
hat die Geldschwemme<br />
der<br />
Fed nicht belebt<br />
schon bald missbrauchte die Fed ihre<br />
Macht. Um den Ersten Weltkrieg zu finanzieren,<br />
benötigte die US-Regierung dringend<br />
Geld. Benjamin Strong, erster Gouverneur<br />
der New York Fed, hob zeitweise die<br />
Koppelung des Dollar an den Goldstandard<br />
auf und brachte Kriegsanleihen unters Volk,<br />
mit denen er die Inflation gefährlich anheizte.<br />
In den Zwanzigerjahren dann alimentierte<br />
die Fed einen hauptsächlich durch Kredite<br />
finanzierten Konsumboom. An den Börsen<br />
stieg die Spekulation, bis die Blase am<br />
Schwarzen Freitag, dem 25. Oktober 1929,<br />
platzte. Was folgte, war eine weltweite Rezession<br />
ungeahnten Ausmaßes.<br />
Nur einmal hatte die Fed tatsächlich Erfolg:<br />
Anfang der Achtzigerjahre gelang es<br />
Notenbanker Paul Volcker, die Inflationsrate,<br />
die in den USA auf bis zu 13 Prozent im<br />
Jahresdurchschnitt 1980 emporgeschnellt<br />
war, zu stoppen. Ohne Rücksicht auf<br />
Wachstum und Arbeitsmarkt trieb er die<br />
Zinsen auf bis zu 17,5 Prozent in die Höhe.<br />
Die Rosskur wirkte. Innerhalb von drei Jahren<br />
fiel die Inflationsrate auf 3,5 Prozent,<br />
die Konjunktur erholte sich.<br />
TIEF EINGEFRESSEN<br />
Die folgenden Jahrzehnte waren geldpolitisch<br />
ein Desaster. Alan Greenspan, Volckers<br />
Nachfolger an der Fed-Spitze, wurde<br />
<strong>vom</strong> Platzen der Internet-Blase Anfang<br />
2000 überrascht und reagierte zu spät mit<br />
zu niedrigen Zinsen. An diesem Rezept<br />
hielt er auch nach den Terroranschlägen<br />
am 11. September 2001 und während des<br />
Irakkriegs fest. Damit aber bereitete Greenspan<br />
die nächste Krise vor – diesmal auf<br />
dem Immobilienmarkt. Die niedrigen Zinsen<br />
und eine politisch massiv erleichterte<br />
Kreditvergabe auch an Hauskäufer mit<br />
niedrigen Einkommen setzten einen Häuserboom<br />
in Gang. Die Immobilienpreise in<br />
den USA stiegen bis 2005 mit hohen zweistelligen<br />
Raten. Auch hier hatte die Fed die<br />
Gefahr zu spät erkannt. Noch 2006 rechnete<br />
Greenspans Nachfolger Bernanke nur<br />
mit einer moderaten Abschwächung des<br />
Häusermarktes. Dabei hatte sich die Krise<br />
zu dieser Zeit längst tief in das weltweite Finanzsystem<br />
gefressen.<br />
„Die Fed ist ein schwerfälliger, schlecht<br />
strukturierter Apparat, der Krisen nicht nur<br />
nicht rechtzeitig erkennt, sondern auch zu<br />
spät auf sie reagiert“, bilanziert der Ökonom<br />
George Selgin von der University of<br />
Georgia. Und weiter: „Die Fed ist nicht nur<br />
zu mächtig. Ihre Geldpolitik ist vor allem<br />
nicht berechenbar, und sie agiert nicht unabhängig<br />
von der Regierung, so wie sie es<br />
eigentlich sollte.“<br />
Nicht nur liberale Ökonomen, auch Politiker<br />
wie der einflussreiche Republikaner<br />
Ron Paul fordern die Abschaffung der monopolisierten<br />
Geldversorgung durch die<br />
Fed. Selbst Ökonomen, die davon überzeugt<br />
sind, ohne eine Zentralbank funktioniere<br />
keine moderne Wirtschaft, lassen<br />
kein gutes Haar an der US-Notenbank.<br />
„Das Problem der Fed ist, dass ihre Geldpolitik<br />
nicht konsequent ist“, sagt Eugene<br />
White, Ökonom und Wirtschaftshistoriker<br />
der Rutgers University in New Jersey. Zum<br />
einen habe die Fed Finanzinstitute wie<br />
Bear Stearns in der Finanzkrise vor dem<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 43<br />
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Der Volkswirt<br />
»<br />
Untergang bewahrt. Die Investmentbank<br />
Lehman Brothers habe sie dagegen<br />
pleitegehen lassen, während sie den Versicherungskonzern<br />
AIG vor der Pleite gerettet<br />
habe, obwohl dieser nicht einmal ein<br />
Bankhaus sei. „Diese Aktionen verunsichern<br />
alle Marktteilnehmer. Was der Fed<br />
fehlt, sind klare Regeln und Grenzen der<br />
Geldpolitik“, sagt White.<br />
Einer der schärfsten Kritiker der US-Notenbank,<br />
der amerikanische Geldtheoretiker<br />
Allan Meltzer, sieht das Versagen aber<br />
auch in der Politik: „Washington ist nicht<br />
handlungsfähig, der Kongress streitet sich<br />
um alles. Da bleibt ja nur noch die Notenbank,<br />
die im Auftrag der US-Regierung<br />
Wirtschaftspolitik betreibt.“ Abschaffen ließe<br />
sich die Fed nicht, aber reformieren.<br />
Darüber ist sich Meltzer mit Ex-Zentralbanker<br />
Volcker einig: Die Fed müsse ihr<br />
duales Mandat aufgeben, um erfolgreicher<br />
die Finanzmärkte steuern zu können, und<br />
sich einzig und allein auf Preisstabilität<br />
konzentrieren. Seit Mitte der Siebzigerjahre<br />
verfolgt die Fed zwei Ziele mehr oder<br />
weniger gleichberechtigt: ein stabiles<br />
Preisniveau und einen hohen Beschäftigungsstand.<br />
Dahinter steht die Erwartung,<br />
die Fed müsse mit niedrigen Zinsen einspringen,<br />
wo die Politik versagt, und mit<br />
geldpolitischen Mitteln für steigende Beschäftigung<br />
sorgen. „Wir haben unrealistische<br />
und gefährliche Erwartungen an die<br />
Notenbank“, sagt Volcker.<br />
TAUBE OHREN<br />
Wird die neue Notenbank-Chefin auf den<br />
alten Zentralbankhasen Volcker hören? Es<br />
sieht nicht danach aus. Yellen gilt als Taube,<br />
was im Fed-Jargon bedeutet: Sie steht<br />
für eine lockere Geldpolitik, die vor allem<br />
auf die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt<br />
Rücksicht nimmt. Bei ihrem ersten öffentlichen<br />
Auftritt vor dem Senat im November<br />
betonte sie, die Wirtschaft müsse sich<br />
erst noch nachhaltig verbessern, bevor die<br />
expansive Geldpolitik verringert werden<br />
könne. Dazu müsse die Arbeitslosigkeit<br />
von derzeit 7,3 Prozent auf 6,5 Prozent<br />
sinken.<br />
Immerhin scheint Yellen nicht nur auf<br />
abstrakte ökonomische Modelle zu schauen.<br />
Sie war eine der wenigen Zentralbanker,<br />
die schon früh vor der jüngsten Immobilienblase<br />
gewarnt haben. „Dass Yellen<br />
nicht blind dem folgte, was die ökonomischen<br />
Modelle nicht rechtzeitig anzeigten,<br />
gibt zumindest Hoffnung für eine künftig<br />
bessere Geldpolitik“, sagt Kathy Bostjancic,<br />
Ökonomin beim Thinktank Conference<br />
Board in New York. Yellens zentrale Aufgabe<br />
sei, vor allem die Kommunikation mit<br />
den Märkten zu verbessern.<br />
Für New Yorks Fed-Präsident Dudley ist<br />
jetzt schon klar: „Geldpolitik wird auch zukünftig<br />
immer komplexer.“ Unkonventionelle<br />
geldpolitische Maßnahmen seien<br />
nun einmal notwendig, weil die bisherigen<br />
Mittel zur Stimulierung der Wirtschaft<br />
nicht ausreichten.<br />
Längst ist die Fed auf der Suche nach<br />
neuen Möglichkeiten, die Konjunktur anzukurbeln.<br />
So überlegt sie, den Zinssatz für<br />
Zentralbankgeld zu senken, das Banken<br />
kurzfristig bei der Notenbank parken. Derzeit<br />
erhalten die Institute dafür 0,25 Prozent.<br />
Wenn sie diese Zinsen senkt, so hofft<br />
die Fed, veranlasst dies die Banken dazu,<br />
mehr Kredite an Unternehmen und Konsumenten<br />
zu vergeben.<br />
Die Finanzinstitute reagierten prompt:<br />
Einlagen ihrer Kunden könnten sie dann<br />
kaum mehr kostenlos verwalten. Sie müssten<br />
ihrerseits Gebühren dafür erheben –<br />
will sagen, den Sparer für Guthaben auf<br />
dem Konto bestrafen. Neues Vertrauen in<br />
die Wirtschaft bringt das nicht.<br />
n<br />
angela.hennersdorf@wiwo.de | New York<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 46 »<br />
Generäle des Geldes<br />
Was frühere Fed-Chefs ausgezeichnet hat – und der künftigen -Chefin bevorsteht.<br />
1914 bis 1928<br />
Benjamin Strong<br />
Chef der New York Fed, kontrollierte<br />
erstmals die Inflation mittels<br />
Zinsen, steuerte die Geldmenge<br />
durch Kauf und Verkauf<br />
von Wertpapieren und sicherte<br />
die Geldversorgung. Mit Kriegsanleihen,<br />
„Liberty Bonds“, finanzierte<br />
er den Ersten Weltkrieg.<br />
1979 bis 1987<br />
Paul Volcker<br />
Gegen großen Protest trieb der<br />
Zuchtmeister der Märkte 1980<br />
die Zinsen auf bis zu 17,5 Prozent<br />
hoch. So bekämpfte er die<br />
auf bis zu 13 Prozent gestiegene<br />
Inflationsrate. Drei Jahre später<br />
stiegen die Preise nur noch um<br />
3,5 Prozent.<br />
1987 bis 2006<br />
Alan Greenspan<br />
Profilierte sich mit niedrigen<br />
Zinsen als Schutzheiliger der<br />
Märkte. Kurz nach seinem<br />
Amtsantritt kam es zum Börsencrash<br />
am 19. Oktober 1987 –<br />
die superexpansive Geldpolitik<br />
blieb und führte direkt in die Immobilien-<br />
und Finanzkrise.<br />
Ab Februar 2014<br />
Janet Yellen<br />
Die neue Fed-Chefin steht vor<br />
der heiklen Aufgabe, die lockere<br />
Geldpolitik ihres Vorgängers Ben<br />
Bernanke zu beenden, ohne<br />
Schocks an den Börsen auszulösen<br />
und die Konjunktur abzuwürgen.<br />
Eine harte Kehrtwende<br />
ist von ihr nicht zu erwarten.<br />
FOTOS: CORBIS/BETTMANN, LAIF/REDUX (3)<br />
44 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Der Volkswirt<br />
INTERVIEW John Allison<br />
»Die Fed muss weg«<br />
Der Chef des amerikanischen Cato Institute fordert die Abschaffung der<br />
US-Notenbank zugunsten eines freien Bankensystems.<br />
Mr. Allison, die Finanzmärkte fürchten<br />
einen baldigen Ausstieg der Fed aus<br />
dem Anleihekaufprogramm. Zu Recht?<br />
Nein, die designierte neue Fed-Chefin<br />
Janet Yellen wird noch einige Zeit genauso<br />
weitermachen wie ihr Vorgänger, Ben<br />
Bernanke.<br />
Yellen sagt, sie wolle das Entstehen<br />
neuer Preisblasen verhindern...<br />
Indem sie weiter künstliches Geld<br />
schafft? Die Fed kauft jeden Monat für 40<br />
Milliarden Dollar Hypothekenanleihen<br />
und schafft damit auf dem Immobilienmarkt<br />
erneut eine Blase. Die Technologiebörse<br />
Nasdaq hat vor knapp zwei Wochen<br />
zum ersten Mal seit 13 Jahren mehr<br />
als 4000 Punkte erreicht. Damals platzte<br />
die Dotcom-Blase. Jetzt schafft die Fed<br />
mit ihrer Geldpolitik neue Blasen, und<br />
sie behindert Unternehmen, statt sie zu<br />
unterstützen.<br />
Wie zum Beispiel?<br />
Sie hat für kleine und mittelständische<br />
Unternehmen, die wie in Deutschland<br />
auch in den USA die meisten neuen Jobs<br />
schaffen, die Bedingungen für die Kreditvergabe<br />
enorm verschärft. Damit verhindert<br />
die Fed die Entstehung vieler<br />
neuer kleiner Unternehmen und die<br />
Schaffung neuer Jobs.<br />
Hat die Fed ihren Zweck überlebt?<br />
Die Fed ist zur mächtigsten politischen<br />
Institution in den USA aufgestiegen. Sie<br />
diktiert die globalen Finanzmärkte – das<br />
ist beängstigend und gefährlich. Der<br />
Dollar ist doch nur deshalb relativ stabil,<br />
weil er eine internationale Reservewährung<br />
ist. Nur aus diesem Grund kann die<br />
Notenbank ungehindert Geld drucken<br />
und einen Schuldenberg anhäufen, der<br />
von keinem anderen Land akzeptiert<br />
werden würde. Die US-Geldpolitik hilft<br />
also vor allem dem amerikanischen<br />
Staat. Dank der niedrigen Zinsen kann<br />
sich Amerika, der größte weltweite<br />
Schuldner, günstig Geld leihen. Wären<br />
die Zinsen auf einem normalen Niveau<br />
von drei bis vier Prozent, sähe die fiskalische<br />
Lage der USA viel schlimmer aus.<br />
DER KRITIKER<br />
Allison, 65, ist seit 20<strong>12</strong> Präsident und CEO<br />
des renommierten amerikanischen Thinktanks<br />
Cato Institute in Washington. Davor<br />
war er 19 Jahre lang Chef eines der größten<br />
US-Finanzinstitute, der BB&T Corporation.<br />
Was wäre denn Ihre Alternative zum<br />
Zentralbanksystem?<br />
Vor 100 Jahren gab es kein Federal Reserve<br />
System in den USA. Die Bundesstaaten haben<br />
ihre Banken selbst reguliert. Das hat<br />
gut funktioniert.<br />
Bis zum großen Crash Anfang des<br />
19. Jahrhunderts. Um ähnliche Krisen<br />
zu verhindern, ist die Fed geschaffen<br />
worden.<br />
Sicherlich gab es damals Krisen, aber der<br />
Markt hat sie kurz und kräftig korrigiert.<br />
Diese Volatilität, die wir heute haben, gab<br />
es damals nicht. Die Fed ist 1913 gegründet<br />
worden, weil einige Wall-Street-Banken<br />
nach der Rettung durch den Staat<br />
riefen. Das war ein Fehler, weil die Banken<br />
mit der Fed im Rücken in aller Seelenruhe<br />
ihre hoch spekulativen Geschäfte betreiben<br />
können. Ein freies Bankensystem<br />
kann aber auch heute noch funktionieren.<br />
Wie denn?<br />
Finanzinstitute würden weniger risikoreiche<br />
Geschäfte betreiben, wenn sie<br />
nicht den Staat als Retter in der Hinterhand<br />
hätten, es keine Einlagensicherung<br />
gäbe und auch keine Bail-outs. Um das<br />
Risiko zu minimieren, müssten die Eigenkapitalforderungen<br />
erheblich höher<br />
liegen als heute, zwischen 15 und 20 Prozent.<br />
Dafür könnte man umfangreiche<br />
Regulierungen wieder abschaffen.<br />
Halten Sie das für realistisch?<br />
Es wäre das Beste, wenn wir die Fed abschaffen<br />
würden. Doch diese Institution<br />
ist zu tief in unserem politischen System<br />
verwurzelt. Bevor Alan Greenspan<br />
Chairman der Fed wurde, war er dafür,<br />
sie aufzulösen. Dann bekam er selbst<br />
den obersten Posten in Washington.<br />
Wie sollte die neue Fed-Chefin Yellen<br />
das System verbessern?<br />
Yellen muss der Fed eine neue Regel auferlegen,<br />
die Taylor-Regel zum Beispiel.<br />
Dies hätte den Vorteil, dass die Festlegung<br />
des Leitzinses für die Märkte nachvollziehbar<br />
wäre. Ich halte das duale<br />
Mandat der Notenbank, also für stabile<br />
Preise und für einen hohen Beschäftigungsgrad<br />
zu sorgen, für falsch. Die Fed<br />
sollte sich darauf konzentrieren, den Leitzins<br />
festzulegen. Sie sollte nicht so tun,<br />
als könne sie Finanz- oder Wirtschaftspolitik<br />
betreiben und den Arbeitsmarkt positiv<br />
beeinflussen. Die Notenbank muss<br />
ihre gefährliche Geldpolitik etappenweise<br />
beenden – so schnell wie möglich.<br />
Ein Börsen-Crash wäre die Folge.<br />
Die US-Zentralbank kann so viel Geld<br />
drucken, wie sie will – die Unternehmen<br />
haben kein Vertrauen, dass der Wert des<br />
Dollar verlässlich ist. Deshalb investieren<br />
sie nicht. Gelddrucken löst unsere<br />
wirtschaftlichen Probleme nicht.<br />
Inflation ist derzeit doch kein Problem.<br />
Das ist nicht die größte Sorge. Eine Inflation<br />
von zwei, drei Prozent würde Unternehmen<br />
nicht davon abhalten, Investitionen<br />
zu tätigen. Es sind die Folgen<br />
dieser fehlgeleiteten Geldpolitik, vor der<br />
sich Unternehmen fürchten. Zusätzlich<br />
schaffen immer mehr Regulierung für<br />
die Finanzindustrie und die Gesundheitsreform<br />
ein unternehmensfeindliches<br />
Klima in den USA. Viele Unternehmen<br />
profitieren doch derzeit von<br />
ihren steigenden Aktienkursen – warum<br />
sollten sie das Risiko eingehen und investieren?<br />
angela.hennersdorf@wiwo.de | New York<br />
FOTO: KELLY CULPEPPER<br />
46 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Der Volkswirt<br />
DENKFABRIK | Die Kritik an den deutschen Exportüberschüssen wächst, aber sie ist<br />
nicht gerechtfertigt. Diese Überschüsse sind das Spiegelbild der milliardenschweren<br />
Rettungsmaßnahmen für Krisenländer, zu denen Deutschland gedrängt wurde.<br />
Deutschland tilgt die Schulden Südeuropas mit seinen Autos. Von Hans-Werner Sinn<br />
Die Gesetze der Logik<br />
FOTOS: ROBERT BREMBECK FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, LAIF/MICHAEL LANGE<br />
Deutschland gerät wegen<br />
seiner Exportüberschüsse<br />
immer<br />
stärker unter Beschuss.<br />
Die EU-Kommission,<br />
die amerikanische Regierung<br />
und sogar mein geschätzter<br />
Kollege Paul Krugman kritisieren,<br />
dass Deutschland seine<br />
Konjunktur zu wenig ankurbelt<br />
und deshalb zu wenig Güter aus<br />
dem Ausland importiert. Auf die<br />
Kritik reagiert man in Deutschland<br />
verschnupft mit dem Argument,<br />
die Überschüsse seien<br />
das Ergebnis der Leistungsfähigkeit<br />
der deutschen Industrie<br />
und deswegen nicht verwerflich.<br />
Andere Länder sollten lieber<br />
von uns lernen, anstatt<br />
ständig herumzunörgeln.<br />
WINKELAKROBATIK<br />
Beide Positionen sind oberflächlich.<br />
Sie übersehen, dass die<br />
Überschüsse der vergangenen<br />
Jahre im Wesentlichen nur das<br />
Spiegelbild der Rettungskredite<br />
sind, zu denen Deutschland in<br />
der Krise gedrängt wurde. Ein<br />
Land kann dem Ausland per saldo<br />
nur dann Kredit geben, wenn<br />
es auch Güter liefert. Es ist finsterste<br />
Winkelakrobatik, wenn<br />
man Deutschland einerseits vorwirft,<br />
es sei bei den Rettungsaktionen<br />
zu knausrig, und ihm andererseits<br />
seine großen<br />
Exportüberschüsse anlastet.<br />
Auch die zitierte deutsche Gegenposition<br />
zeugt von einem tiefen<br />
Unverständnis der Zusammenhänge.<br />
Der Sachverhalt ist doch der:<br />
Als der Euro den Anlegern neue<br />
Sicherheit bei den Investitionen<br />
in Südeuropa vorgaukelte, verließen<br />
sie unser Land in Scharen.<br />
Deutschland erlahmte, weil<br />
es an inländischen Investitionen<br />
mangelte. Die boomenden Länder<br />
importierten mehr und exportierten<br />
weniger, weil sie immer teurer<br />
wurden. In Deutschland war es<br />
umgekehrt. Die Leistungsbilanzüberschüsse,<br />
die sich in Deutschlands<br />
Flaute aufbauten, waren das<br />
Ergebnis der Kapitalflucht.<br />
Als 2007/08 die Krise kam, wollte<br />
das Kapital reumütig zurück<br />
nach Deutschland. Doch wurde es<br />
großenteils durch die Rettungsaktionen<br />
der Europäischen Zentralbank<br />
und später der Staatengemeinschaft<br />
wieder als öffentliches<br />
oder öffentlich besichertes Kapital<br />
aus Deutschland in die Krisenlän-<br />
»Ein Land kann<br />
dem Ausland per<br />
saldo nur dann<br />
Kredit geben,<br />
wenn es auch<br />
Güter liefert«<br />
der verfrachtet. Das verzögerte die<br />
Reduktion der Leistungsbilanzsalden<br />
dieser Länder, verhinderte sie<br />
aber nicht, denn die neuen Kredite<br />
wurden nicht mehr nur dazu verwendet,<br />
Importe zu finanzieren,<br />
sondern auch dazu, ausländische<br />
Kapitalanleger auszuzahlen und<br />
ihnen die Flucht aus toxisch gewordenen<br />
Anlagen zu ermöglichen.<br />
Die Gläubiger Irlands, Italiens und<br />
Spaniens wurden auf diese Weise<br />
gerettet. Kein Wunder, dass die City<br />
of London wieder boomt und die<br />
US-Pensionsfonds ebenso wie die<br />
französischen Banken aufatmen.<br />
Dank deutscher Hilfe ist man noch<br />
mal davongekommen.<br />
men, der die Bodenhaftung verloren<br />
hat, der möge sich die Zahlen<br />
vor Augen führen. In den fünf ersten<br />
Krisenjahren von 2008 bis<br />
20<strong>12</strong> betrug der deutsche Leistungsbilanzüberschuss<br />
mit dem<br />
Rest der Welt 798 Milliarden Euro.<br />
Doch allein der Zuwachs an Krediten<br />
der Deutschen Bundesbank an<br />
andere Länder des Euro-Systems<br />
(Target) betrug 585 Milliarden Euro,<br />
also drei Viertel dieser Summe.<br />
Ferner hat Deutschland in der Periode<br />
anteilig für die fiskalischen<br />
Rettungskredite der verschiedenen<br />
Rettungsfonds (EFSF, ESM,<br />
EFSM, IWF) in Höhe von 284 Milliarden<br />
Euro gebürgt (was einem<br />
Die Gelder, die den Krisenländern<br />
als deutscher Kredit zuflossen,<br />
kamen für den Kauf deutscher<br />
Waren wieder zurück nach<br />
Deutschland. Letztlich wurden die<br />
Kredite, die Ausländer den Krisenländern<br />
gegeben hatten, mit deutschen<br />
Waren getilgt, wofür<br />
Deutschland entsprechende Forderungstitel<br />
öffentlicher Instanzen<br />
erhielt. Das zeigt die ganze Absurdität<br />
der Kritik an Deutschland. Wir<br />
hauen die Krisenländer und ihre<br />
Gläubiger mit unseren Waren heraus<br />
und werden dann auch noch<br />
dafür kritisiert.<br />
Wer glaubt, dies seien theoretische<br />
Hirngespinste eines Ökonodeutschen<br />
Haftungsrisiko von 60<br />
Milliarden Euro entspricht) sowie<br />
für 15 Milliarden Euro selbst Kredite<br />
nach Griechenland überwiesen.<br />
In der Summe kommt man<br />
ohne die Bundesbank auf etwa<br />
75 Milliarden Euro, mit ihr auf<br />
660 Milliarden Euro an deutschen<br />
Rettungskrediten.<br />
MEHR INVESTIEREN<br />
Zu normalen Zeiten hätte<br />
Deutschland dem Ausland den<br />
vollen Leistungsbilanzüberschuss<br />
von 798 Milliarden Euro<br />
privat kreditiert und entsprechende<br />
Vermögenstitel im Ausland<br />
erworben. Tatsächlich aber<br />
kreditierte es seinen Leistungsbilanzüberschuss<br />
in den fünf Krisenjahren<br />
zu 83 Prozent durch<br />
öffentliche Institutionen – während<br />
die privaten deutschen<br />
Kapitalanleger und ihre Banken<br />
entsprechende Wertpapiere öffentlicher<br />
Stellen erwarben, ihre<br />
von der Bundesbank bezogenen<br />
Kredite tilgten oder der Bundesbank<br />
selbst Geld liehen.<br />
Wem die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse<br />
als zu<br />
hoch vorkommen, der möge den<br />
Vorschlag unterbreiten, dass<br />
Deutschland die öffentlichen<br />
und öffentlich garantierten<br />
Kreditflüsse in die Krisenländer<br />
zugunsten verstärkter Investitionen<br />
in unsere Infrastruktur<br />
verringert. Über diesen Weg zur<br />
Verringerung der Leistungsbilanzüberschüsse<br />
kann man<br />
diskutieren. Nicht aber über den<br />
Versuch, die Gesetze der Logik<br />
zu durchbrechen.<br />
Hans-Werner Sinn ist Präsident<br />
des ifo Instituts und Ordinarius<br />
an der Ludwig-Maximilians-<br />
Universität in München.<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 47<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Jeder gegen jeden<br />
MANAGERHAFTUNG | Der insolvente Immobilienriese IVG<br />
will vier frühere Vorstände in Regress nehmen. Die Höhe<br />
der Forderungen könnte alle bisherigen Fälle von<br />
Managerhaftung übertreffen. Immer mehr Konzernlenker<br />
lassen ihre Vorgänger für Fehler zahlen – auch um sich<br />
selbst vor Schadensersatzansprüchen zu schützen.<br />
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/EMPICS, ACTION PRESS/HANS-GÜNTHER OED<br />
Wolfhard Leichnitz wollte aus<br />
dem etwas verpennten ehemaligen<br />
Staatskonzern IVG<br />
eine ganz große Nummer<br />
im Immobiliengeschäft<br />
machen. Mitte 2006 kam der Manager nach<br />
erfolgreichen Stationen beim Baukonzern<br />
Hochtief und beim Großvermieter Viterra<br />
zu dem privatisierten Bundesunternehmen<br />
nach Bonn. Der Neue investierte mit viel<br />
Fremdkapital in Immobilienikonen wie<br />
den Londoner Büroturm Gherkin, kaufte<br />
der Allianz Gewerbeimmobilien für 1,3<br />
Milliarden Euro ab und steckte immer<br />
mehr Geld in das von seinem Vorgänger<br />
initiierte Airrail-Center am Frankfurter<br />
Flughafen, das heute Squaire heißt und<br />
größter Klotz am Bein der IVG ist. Statt geplanter<br />
650 Millionen Euro kostete Squaire<br />
fast das Doppelte und ist trotz intensiver<br />
Bemühungen noch nicht verkauft.<br />
TEURES NACHSPIEL<br />
Im Herbst 2008 erzwangen die damaligen<br />
Großaktionäre, das Kölner Bankhaus Sal.<br />
Oppenheim und die Schweizer Santo Holding,<br />
Leichnitz’ Abschied. In gut zwei Jahren<br />
hatte er die IVG-Schulden auf über 5<br />
Milliarden Euro verdoppelt und den Aktienkurs<br />
halbiert. In seine Amtszeit fällt der<br />
vermutlich entscheidende Niedergang der<br />
IVG, der im August dieses Jahres in den Insolvenzantrag<br />
mündete. Sie hat nun für<br />
Leichnitz und andere Ex-IVGler womöglich<br />
ein extrem teures Nachspiel.<br />
Denn nach Informationen der WirtschaftsWoche<br />
will der IVG-Vorstand – auf<br />
Anregung der Deutschen Schutzvereinigung<br />
für Wertpapierbesitz – eine Sonderprüfung<br />
aller IVG-Geschäfte von 2006 bis<br />
2008 initiieren. Die Zustimmung von IVG-<br />
Sachwalter Horst Piepenburg – er überwacht<br />
die Insolvenz in Eigenverwaltung –<br />
steht zwar noch aus. Angebote für die<br />
Durchführung der Prüfung hat die IVG<br />
nach WirtschaftsWoche-Informationen<br />
aber schon eingeholt, unter anderem beim<br />
Münchner Wirtschaftsprüfer Deloitte.<br />
Die Kleinen hängt man, die Großen lässt<br />
man laufen – das war einmal. Ein Tsunami<br />
von Schadensersatzforderungen wogt<br />
durch Deutschlands Chefetagen „Viele Manager<br />
sehen sich zunehmend in der Haftungsfalle<br />
und sind besorgt, was ihre eigene<br />
Haftungssituation und den Zugriff auf<br />
ihr Privatvermögen betrifft, den es früher<br />
so nicht gab“, beobachtet Headhunterin Sabine<br />
Hansen von der Personalberatung<br />
Amrop Delta in Düsseldorf.<br />
Vor den Gerichten sind derzeit rund<br />
6000 Managerhaftungsverfahren anhängig,<br />
schätzt Michael Hendricks, Geschäftsführer<br />
der auf Organ- und Managerhaftpflichtversicherungen<br />
(englisches Kürzel: D&O)<br />
spezialisierten Beratung Hendricks & Co in<br />
Düsseldorf. Hinzu kommen Fälle, die nicht<br />
vor Gericht landen, aber als Schadensfälle<br />
gemeldet sind. Bei durchschnittlich zwei<br />
bis drei Beklagten pro Fall bedeutet das:<br />
Rund 20000 Manager und Ex-Manager sind<br />
derzeit mit Schadensersatzforderungen<br />
konfrontiert, so Hendricks. Vier Fünftel der<br />
Ansprüche kommen <strong>vom</strong> Ex-Arbeitgeber,<br />
der Rest von außen, etwa von Gläubigern.<br />
Bei der IVG hat der Vorstand im Herbst<br />
zunächst durch die Kanzlei Hengeler<br />
Mueller nur den Kauf des Gherkin Towers<br />
prüfen lassen, den die IVG zusammen mit<br />
der britischen Investmentbank Evans Randall<br />
2007 für 950 Millionen Euro erwarb.<br />
»<br />
50 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Der Fall:<br />
IVG<br />
Von Ex-Vorstandschef Wolfhard Leichnitz<br />
und drei weiteren Vorständen aus dessen<br />
Ära fordert der insolvente Bonner Immobilienriese<br />
jetzt je 8,5 Millionen Euro plus<br />
Zinsen zurück. Die Manager sollen ohne<br />
ausreichende Rückendeckung des Aufsichtsrats<br />
beim Kauf des Londoner Büroturms<br />
Gherkin 2007 ein Darlehen in<br />
Höhe von 52 Millionen britische Pfund<br />
vergeben haben. Eine Sonderprüfung<br />
aller Geschäfte der Jahre 2006 bis 2008<br />
unter Leichnitz wird erwogen. Die Manager<br />
haben dazu gegenüber der WirtschaftsWoche<br />
nicht Stellung genommen.<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 51<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
Aufgrund von Fehlern, die Hengeler<br />
Mueller dabei feststellte, wurden Leichnitz<br />
und seine damaligen Vorstandskollegen<br />
Bernd Kottmann (Finanzen), Andreas<br />
Barth (Projektentwicklungen) und Georg<br />
Reul (Investment und Fonds) in diesen<br />
Tagen von Piepenburg mit Schadensersatzforderungen<br />
jeweils in Höhe von 8,5<br />
Millionen Euro plus Zinsen konfrontiert.<br />
Die Vorstände hätten dem Evans-Randall-Fonds<br />
ein Darlehen von 52 Millionen<br />
Pfund gewährt, das in dieser Höhe nicht<br />
<strong>vom</strong> Aufsichtsrat genehmigt war, haben die<br />
Hengeler-Mueller-Juristen herausgefunden.<br />
Sie halten wegen dieser „Pflichtverletzung<br />
der handelnden Vorstandsmitglieder“<br />
eine Klage durch den IVG-Aufsichtsrat<br />
„für aussichtsreich“ und „empfehlen<br />
Klageerhebung“. Die Manager haben gegenüber<br />
der WirtschaftsWoche zu den Vorwürfen<br />
nicht Stellung genommen.<br />
Es dürfte für die vier Herren aber noch<br />
dicker kommen. Derzeit wird bei der IVG<br />
diskutiert, ob das Gesamtverhalten des<br />
IVG-Managements unter Leichnitz „so<br />
schadensgeneigt“ war, dass man daraus eine<br />
allgemeine Schadensersatzpflicht ableiten<br />
könne. Bestätigt sich das, könnte die erwogene<br />
Sonderprüfung zu einem der<br />
größten Fälle von Managerhaftung in der<br />
deutschen Wirtschaft eskalieren.<br />
Korruptionsvorwürfe, Kartelldelikte,<br />
Fehlspekulationen – immer massiver werden<br />
Unternehmen für Compliance-Verstöße<br />
zur Kasse gebeten. Und immer mehr<br />
von den Bußen und Wiedergutmachungszahlungen<br />
holen sie sich von verantwortlichen<br />
Managern zurück.<br />
VERFOLGTE WÜRDENTRÄGER<br />
Versicherungsnehmer bei D&O-Policen ist<br />
das Unternehmen. Es schließt sie zum<br />
Schutz des Privatvermögens der Manager<br />
ab – als Vertrag zugunsten Dritter. Dass die<br />
Manager die Rechte aus der Police geltend<br />
machen, wenn ihr Arbeitgeber von ihnen<br />
Schadensersatz fordert, hilft aber auch der<br />
Firma: Sie bekommt Geld nicht nur im<br />
Rahmen des Privatvermögens ihrer Führungskräfte<br />
zurück, sondern bis zur Deckungssumme<br />
in oft zwei- oder dreistelliger<br />
Millionenhöhe.<br />
Genaue Zahlen gibt es nicht, denn<br />
D&O-Fälle werden dem Versicherungsverband<br />
nicht gemeldet. Unstrittig ist aber:<br />
Das Geschäft boomt. Zahlten deutsche Unternehmen<br />
laut Berater Hendricks von<br />
2001 bis 2005 insgesamt eine Milliarde Euro<br />
an D&O-Versicherungsprämien, erwartet<br />
er für 2011 bis 2015 schon 3,5 Milliarden<br />
Steigende Prämien<br />
Geschätzte Entwicklungvon Organ- und<br />
Managerhaftpflichtversicherungen<br />
(D&O-Versicherungen) in Deutschland<br />
1Mrd.€<br />
5Mio.€ 200 Mio.€<br />
1990–95 96–00 01–05 06–10 11–15<br />
Quelle: Hendricks &Co<br />
2Mrd.€<br />
3,5 Mrd. €<br />
Euro. Auszahlungen und Rückstellungen<br />
der Versicherer haben sich im selben Zeitraum<br />
auf vier Milliarden Euro verdoppelt.<br />
Die Forderungen machen vor keinem<br />
wirtschaftlichen Würdenträger mehr halt,<br />
seit Siemens infolge seines Mega-Korruptionsskandals<br />
Ex-Vorstandschef Heinrich<br />
von Pierer in Haftung nahm. Der Doyen<br />
der deutschen Wirtschaft einigte sich mit<br />
dem Siemens-Aufsichtsrat vor vier Jahren<br />
auf Zahlung von fünf Millionen Euro Schadensersatz<br />
an Siemens, Nachfolger Klaus<br />
Kleinfeld opferte zwei Millionen Euro.<br />
Der Fall:<br />
ARCANDOR<br />
Der Insolvenzverwalter der früheren<br />
Karstadt-Mutter Arcandor fordert von<br />
Ex-Chef Thomas Middelhoff 175 Millionen<br />
Euro, weil er mögliche Schäden<br />
aus Immobiliengeschäften nicht<br />
verhindert habe. Middelhoff wehrt<br />
sich und klagt gegen den Verwalter.<br />
Die geforderten Summen werden immer<br />
höher. So verlangt der Stahlriese Thyssen-<br />
Krupp von einem früheren Spartenvorstand<br />
wegen illegaler Preisabsprachen im<br />
Eisenbahngeschäft 103 Millionen Euro<br />
Schadensersatz. Beim früheren MAN-Chef<br />
Hakan Samuelsson geht es um 237 Millionen<br />
Euro und beim Ex-Chef der früheren<br />
Karstadt-Mutter Arcandor, Thomas Middelhoff,<br />
um 175 Millionen. Die fordert der<br />
Insolvenzverwalter von Middelhoff, weil<br />
dessen Vorvorgänger Wolfgang Urban<br />
einst beim Verkauf von Karstadt-Immobilien<br />
ungünstige Verträge abgeschlossen<br />
haben soll und Middelhoff nicht dagegen<br />
vorging. Dafür wiederum sei er selbst haftbar,<br />
was Middelhoff bestreitet.<br />
Dass Manager grundsätzlich schadensersatzpflichtig<br />
sein können, auch mit hohen<br />
Summen, stellte der Bundesgerichtshof<br />
schon 1997 im Arag-Fall klar. Bei dem<br />
Rechtsschutzversicherer hatte der Finanzvorstand<br />
mit unerlaubten Transaktionen<br />
Millionenverluste eingefahren. Zwei zerstrittene<br />
Familienstämme hinter der Arag<br />
fochten die Frage, ob der Mann verklagt<br />
werden sollte, bis in die letzte Instanz aus.<br />
Ergebnis: Aufsichtsräte müssen Schaden<br />
<strong>vom</strong> Unternehmen abwenden – auch<br />
durch Schadensersatzprozesse gegen eigene<br />
Manager. Der Arag-CFO wurde zu 55<br />
Millionen Mark Schadensersatz und viereinhalb<br />
Jahren Gefängnis verurteilt.<br />
Das Arag-Urteil war nur der Auftakt.<br />
Rechtsverschärfungen verbreiterten die<br />
Basis für Compliance-Streitsachen. 1999<br />
verbot das Strafrecht Bestechung, die bis<br />
dahin steuerlich abzugsfähig war. Es folgte<br />
der Corporate Governance Kodex, später<br />
verschärfte der Gesetzgeber das Aktienrecht.<br />
„Die erste größere Welle von Schadensfällen<br />
folgte auf den Zusammenbruch<br />
52 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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des Neuen Markts und seiner Stars“, erinnert<br />
sich D&O-Anwalt Oliver Sieg von der<br />
Kanzlei Noerr in Düsseldorf.<br />
Es folgte eine lange Reihe von aufgedeckten<br />
Kartellen. „Immer mehr heimliche<br />
Preisabsprachen kommen heraus, seit Unternehmen,<br />
die als Whistleblower voranpreschen,<br />
Rabatte bei den Millionenbußen<br />
oder sogar Straffreiheit bekommen können“,<br />
sagt Anwalt Oliver Maaß von der<br />
Kanzlei Heisse Kursawe in München. Die<br />
verhängten Bußgelder und die Schadensersatzzahlungen<br />
an die Kartellopfer holen<br />
sich die Unternehmen von den einst verantwortlichen<br />
Führungskräften zurück.<br />
Den nächsten großen Schwung von Managerhaftungsfällen<br />
bescherte die Finanzkrise.<br />
Der Gesetzgeber hat die Verjährungsfristen<br />
zur Verfolgung der Finanzbosse<br />
2011 auf zehn Jahre verdoppelt – dauern<br />
diese Fälle im Schnitt doch acht bis zehn<br />
Jahre. Die D&O-Anbieter HDI, VOV und<br />
Axa versichern wegen des hohen Risikos<br />
keine Finanzdienstleister mehr.<br />
FOTOS: ACTION PRESS/HENNING SCHACHT (2)<br />
JÄGER UND GEJAGTE<br />
Auch Insolvenzverwalter haben D&O-Policen<br />
für sich entdeckt: als Vermögenswert,<br />
den sie realisieren können. Eine Sonderprüfung<br />
bei der IVG wäre die erste im Rahmen<br />
eines Insolvenzverfahrens. „Viele Manager,<br />
die versuchen, Firmen zu sanieren,<br />
werden hinterher <strong>vom</strong> Insolvenzverwalter<br />
verfolgt“, klagte jüngst Ex-Arcandor-Grande<br />
Middelhoff.<br />
Gerne halten sich Insolvenzverwalter<br />
auch an den Aufsichtsrat – „insbesondere,<br />
wenn dort solvente Leute sitzen“, sagt der<br />
Düsseldorfer Insolvenzverwalter Dirk<br />
Andres. Er habe schon erlebt, „wie ein Aufsichtsrat<br />
100000 Euro aus der Privatschatulle<br />
zahlen musste“, weil er Zahlen des<br />
Wirtschaftsprüfers nicht hinterfragt hatte.<br />
Aufsichtsräte sind in Sachen Schadensersatz<br />
Jäger und Gejagte. Die juristische<br />
Schlachtordnung in vielen Unternehmen<br />
heißt heute jeder gegen jeden: Aufsichtsräte<br />
gegen Vorstand, Vorstand gegen Aufsichtsrat,<br />
Aufsichtsräte gegeneinander.<br />
So wie im Fall der Apobank in Düsseldorf.<br />
Die fordert 66 Millionen Euro von Ex-<br />
Vorständen: Mehrere Top-Manager hatten<br />
Finanzgeschäfte zugelassen, die zu<br />
Millionenschäden während der Subprime-<br />
Krise geführt hatten. Die verklagten Manager<br />
verweisen für den Fall, dass ihnen Fehler<br />
nachgewiesen werden, auf den Aufsichtsrat:<br />
Der habe alles gewusst. Kein<br />
Wunder, dass es inzwischen auch<br />
D&O-Policen für Aufsichtsräte gibt.<br />
Der Fall:<br />
HYPO REAL ESTATE<br />
Der mit Steuergeldern gerettete Immobilienfinanzierer<br />
HRE hat Ex-Chef<br />
Georg Funke und zwei weitere frühere<br />
Vorstände auf 220 Millionen Euro<br />
Schadensersatz wegen umstrittener<br />
Kreditvergaben verklagt. Die<br />
Manager bestreiten die Vorwürfe.<br />
„Auch immer mehr mittelständische<br />
Unternehmen verklagen ihre Führungskräfte“,<br />
beobachtet Versicherungsmakler<br />
Hendricks. So sollten die ehemaligen Geschäftsführer<br />
der deutschen Tochtergesellschaften<br />
eines italienischen Möbelherstellers<br />
jeweils 2,5 bis 15 Millionen Euro Schadensersatz<br />
zahlen – bei früheren Jahresgehältern<br />
von 100000 bis 200000 Euro.<br />
Der Grund: Von ihrer Konzernmutter<br />
hatten die Manager die Anweisung bekommen,<br />
eilig hohe Beträge nach Italien zu<br />
schicken, und das auch gemacht. Die<br />
Überweisungen hätten aber angesichts der<br />
Insolvenzgefahr zu dem Zeitpunkt wohl<br />
nicht mehr erfolgen dürfen. Nach vier Jahren<br />
Rechtsstreit einigte sich der Anwalt der<br />
Ex-Geschäftsführer mit Insolvenzverwalter,<br />
Banken und D&O-Versicherern. Die<br />
Manager kamen bei dem Millionenvergleich<br />
mit Selbstbeteiligungen zwischen<br />
5000 und 20000 Euro davon.<br />
Von den 300 bis 400 Millionen Euro, die<br />
D&O-Versicherer in Deutschland pro Jahr<br />
derzeit auszahlen, fließt ein großer Teil an<br />
die am Verfahren beteiligten Dienstleister.<br />
Experte Hendricks schätzt, „dass 50 bis 70<br />
Prozent der Auszahlungen der D&O-Versicherer<br />
in den vergangenen 15 Jahren nicht<br />
auf die Regulierung der Schäden selbst entfallen,<br />
sondern Abwehrkosten der Verteidigung<br />
der Manager für Anwälte, Wirtschaftsprüfer,<br />
Gutachter und Gerichte<br />
sind“. Die Stundenhonorare bei Compliance-Anwälten<br />
liegen für Partner zwischen<br />
320 und 400 Euro – je nach Disziplin. Kartellrechtler<br />
sind teurer als Arbeitsrechtler.<br />
Renommierte Compliance-Experten kassieren<br />
sogar 600 Euro pro Stunde.<br />
Am Fall Siemens etwa verdiente die Wirtschaftsprüfung<br />
Deloitte rund 235 Millionen<br />
Euro und der US-Anwaltsriese Debevoise<br />
& Plimpton mindestens 95 Millionen<br />
Euro. Insgesamt soll die Aufklärung der<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 53<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Der Fall:<br />
MAN<br />
237 Millionen Euro wollte der Lkw-<br />
Bauer infolge des Schmiergeldskandals<br />
von Ex-Chef Hakan Samuelsson.<br />
Ein Kompromiss sieht nun vor, dass<br />
der Schwede 1,25 Millionen Euro<br />
zahlen soll und die D&O-Versicherungen<br />
50 Millionen Euro übernehmen.<br />
Der Fall:<br />
BAYERNLB<br />
Ex-Chef Werner Schmidt<br />
und sieben weitere Manager<br />
sollen der BayernLB<br />
200 Millionen Euro wegen<br />
des Desasters beim Kauf der Hypo<br />
Group Alpe Adria zahlen. Sie weisen<br />
Vorwürfe und Forderungen zurück.<br />
Der Fall:<br />
SACHSEN LB<br />
Sachsen will für die irischen<br />
Verlustgeschäfte der<br />
Pleite-Bank von sechs Ex-<br />
Managern Schadensersatz.<br />
Der frühere Chef Herbert Süß soll<br />
190 Millionen Euro zahlen. Die Manager<br />
weisen die Forderungen zurück.<br />
Der Fall:<br />
ENBW<br />
Wegen dubioser Russland-<br />
Geschäfte fordert der<br />
Versorger von Technikvorstand<br />
Hans-Josef Zimmer<br />
80 Millionen Euro plus Zinsen. Der ist<br />
noch im Amt und will den Schadensersatzanspruch<br />
vor Gericht abwenden.<br />
Der Fall:<br />
APOBANK<br />
Ex-Chef Günter Preuß und<br />
vier weitere Manager sollen<br />
der Deutschen Apothekerund<br />
Ärztebank 66 Millionen<br />
Euro Verlust aus 2007 erfolgten<br />
Wertpapierkäufen ersetzen. Die<br />
Manager bestreiten Verfehlungen.<br />
»<br />
Korruptionsaffäre Siemens 474 Millionen<br />
Euro gekostet haben plus 239 Millionen<br />
Euro Strafen in Deutschland und 520<br />
Millionen Euro Steuernachzahlungen. 100<br />
Millionen erhielt Siemens von einem<br />
D&O-Konsortium unter Allianz-Führung<br />
als Schadensersatz zurück. Gefordert hatte<br />
der Konzern 250 Millionen Euro. Prozessual<br />
abgeschlossen ist die Affäre sieben Jahre<br />
nach ihrem Beginn aber noch nicht. Der<br />
frühere Finanzvorstand Heinz-Joachim<br />
Neubürger bestreitet die gegen ihn erhobenen<br />
Vorwürfe und prozessiert weiter mit<br />
Siemens. Neubürger ist eine Ausnahme.<br />
„90 Prozent der Managerhaftungsfälle enden<br />
mit einem Vergleich“, schätzt Heisse-<br />
Kursawe-Anwalt Maaß.<br />
Denn Gegenwehr ist schwierig. Einer der<br />
vier ehemaligen IVG-Manager, gegen den<br />
das Unternehmen nun vier Jahre nach seinem<br />
Abschied vorgeht, ist ratlos: „Ich habe<br />
keine Akten und bin komplett von den alten<br />
Informationen abgeschnitten.“ Auch<br />
ein Ex-Siemensianer klagt, er habe „nicht<br />
die Möglichkeit gehabt, sich zu verteidigen,<br />
weil man nicht an die Beweise herankommt,<br />
die einen entlasten“.<br />
Ein D&O-Fall „ist wie ein Berufsverbot“,<br />
sagt der Frankfurter Managerhaftungsanwalt<br />
Rolf Cyrus. Nur selten geht die Karriere<br />
auf hohem Niveau weiter: Ex-MAN-Lenker<br />
Samuelsson führt jetzt die Geschäfte<br />
von Volvo. Der frühere Siemens-Chef<br />
Kleinfeld ist Chef des US-Aluminiumriesen<br />
Alcoa. Den EnBW-Technikvorstand Hans-<br />
Josef Zimmer hat der Aufsichtsrat sogar<br />
trotz laufender 70-Millionen-Euro-Schadensersatzklage<br />
des Energieversorgers gegen<br />
ihn wieder ins Führungsgremium geholt.<br />
Und der streitbare Ex-Siemens-Vorstand<br />
Neubürger wurde im Mai 20<strong>12</strong> in den<br />
Aufsichtsrat der Deutschen Börse gewählt.<br />
Manche Manager schließen neuerdings<br />
zusätzlich eigene, persönliche D&O-Policen<br />
ab. Kostenpunkt: 5000 bis 30 000 Euro<br />
im Jahr. Die können gut investiert sein, etwa<br />
wenn die Deckungssumme nicht ausreicht.<br />
Schließlich steht die nur einmal im<br />
FOTOS: FOCUS/DIETER MAYR, CORBIS, PICTURE-ALLIANCE/DPA (3)<br />
54 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Jahr für sämtliche Manager eines Konzerns<br />
zur Verfügung und nicht für jeden Fall neu.<br />
Der Spielraum für die aktuell Verantwortlichen,<br />
Forderungen gegen Ex-Kollegen<br />
unter den Tisch fallen zu lassen, ist seit dem<br />
Arag-Urteil klein. Die Folge beschreibt einer<br />
der Beklagten in den Siemens-Verfahren:<br />
„Wenn immer mehr Manager vor dem<br />
Strafrichter landen, kann die Zusammenarbeit<br />
zwischen Vorstand und Aufsichtsrat<br />
nicht mehr vertrauensvoll sein.“<br />
Da Beklagte mit anderen Mitgliedern des<br />
Vorstands oder Aufsichtsrats gesamtschuldnerisch<br />
haften, fordern die Unternehmen<br />
meist von jedem Maximalsummen.<br />
Beim Vergleich zahlen die D&O-Versicherungen<br />
den Großteil des Schadensersatzes,<br />
fordern aber von den Sündern Selbstbehalte<br />
– umso mehr, je höher das Jahresgehalt<br />
ist. So schreiben es die Versicherer den<br />
Aktiengesellschaften in die Policen.<br />
Um Deckungssummen von 500 Millionen<br />
Euro und mehr zu garantieren, tun<br />
sich oft 20 bis 30 D&O-Versicherer zwecks<br />
Risikoteilung zusammen. Ausschlussklauseln<br />
in den Policen etwa für Kartell- oder<br />
Korruptionsvergehen sind nicht selten.<br />
Dann haftet der Vorstand mit seinem Privatvermögen,<br />
wenn im Unternehmen<br />
Schmiergeldzahlungen auffliegen.<br />
Für viele Top-Manager ist das Thema<br />
D&O eine Blackbox. Allenfalls „jeder zehnte<br />
kennt wenigstens den Namen des<br />
D&O-Versicherers“, wundert sich Eckhard<br />
Schmid, Chef-Arbeitsrechtler bei CMS Hasche<br />
Sigle in München. „Nur wirklich Aufgeweckte<br />
kennen den Inhalt der Policen<br />
oder haben Kopien von der aktuellen Vertragsversion.“<br />
Die Policen laufen nur ein<br />
Jahr, dann ändern sich die Bedingungen,<br />
oft kommen neue Ausschlüsse hinzu. Muss<br />
ein Manager von einer Minute auf die andere<br />
den Schreibtisch räumen, ist ihm der<br />
Zugang zu den Policen versperrt. Manche<br />
Unternehmen beginnen gar einen Rosenkrieg<br />
mit ihrem Ex-Manager und lassen<br />
sich auf Herausgabe des Versicherungsscheins<br />
verklagen.<br />
UNVERSICHERT BEI VORSATZ<br />
Schutzlos steht im Regen, wer den Schaden<br />
mit Absicht verursacht hat. Das wirft<br />
das Oberlandesgericht München der Deutschen<br />
Bank und ihrem Ex-Chef Rolf Breuer<br />
vor. Mit seiner Äußerung zur Kreditfähigkeit<br />
des Medienunternehmers Leo Kirch<br />
vor elf Jahren habe er Kirch vorsätzlich geschädigt.<br />
Die Höhe des Schadens – je nach<br />
Interessenlage <strong>12</strong>0 Millionen bis 1,5 Milliarden<br />
Euro – sollen nun Gutachter klären.<br />
„Bei dieser Konstellation braucht kein<br />
D&O-Versicherer einzuspringen“, sagt Experte<br />
Hendricks. Müsse die Deutsche Bank<br />
Regress an die Kirch-Erben leisten, könne<br />
Breuer „persönlich im schlimmsten Fall bis<br />
zur Pfändungsfreigrenze von 1030 Euro pro<br />
Monat“ zur Rechenschaft gezogen werden.<br />
Bei vielen der aktuellen Verfahren werden<br />
die Versicherer aber zahlen müssen.<br />
Sie bilden deshalb zurzeit Rückstellungen,<br />
die zusammen mit den Auszahlungen die<br />
jährlichen Prämieneinnahmen von rund<br />
700 Millionen Euro um „das Doppelte<br />
übersteigen“, schätzt Hendricks. Trotz<br />
Wachstum sei deshalb das D&O-Geschäft<br />
„in Deutschland für die Versicherer schon<br />
seit Jahren nicht profitabel“ – immer neue<br />
Wettbewerber drängten in den Markt und<br />
verdürben die Preise. Angesichts der weiter<br />
steigenden Schadenssummen erwartet<br />
Hendricks dennoch: „Die Zeit der günstigen<br />
D&O-Prämien ist bald vorbei.“ n<br />
harald.schumacher@wiwo.de, claudia.tödtmann@wiwo.de,<br />
henryk hielscher<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Katze statt Tiger<br />
DEUTSCHE BANK | Trotz der Rekordstrafe für die Manipulation<br />
von Referenzzinsen sitzt Co-Chef Anshu Jain fest im Sattel. Noch.<br />
Millionenteure Forderungen<br />
Bei der Deutschen Bank<br />
steht vor allem der Beritt<br />
von Co-Chef Jain unter<br />
verschärfter Beobachtung<br />
Esist ein Heimspiel. Trotzdem kommt<br />
Anshu Jain, seines Zeichens Co-Chef<br />
der Deutschen Bank, kaum aus der<br />
Deckung. Bei der Tagung des Weltbankenverbandes<br />
im Oktober in Washington sitzen<br />
im Publikum vor allem Banker. Die haben<br />
zu der Frage, wozu man noch Großbanken<br />
brauche, eine klare, wenn auch<br />
nicht ganz objektive Meinung. Jains Diskussionspartner<br />
Jamie Dimon, Chef der<br />
US-Bank JP Morgan, nutzt den Auftritt für<br />
Werbung in eigener Sache: „Wir sind stolz<br />
auf das, was wir für unsere Kunden und unser<br />
Land tun.“ Von Jain dagegen sind besinnliche<br />
Töne zu vernehmen: Es gebe keinen<br />
Zweifel, dass das Vertrauen zwischen<br />
Banken und Gesellschaft angeschlagen,<br />
wenn nicht gar zerbrochen sei, sagt er. Und<br />
dass es Jahre dauern werde, den verspielten<br />
Kredit wieder zurückzugewinnen.<br />
Da hat er zweifellos recht. Denn am vergangenen<br />
Mittwoch hat das Vertrauen mal<br />
wieder einen Rückschlag erlitten. Die<br />
Deutsche Bank muss mit 725 Millionen Euro<br />
die mit Abstand höchste Vergleichssumme<br />
im Kartellverfahren der EU wegen Manipulationen<br />
der Referenzzinsen Libor<br />
und Euribor zahlen.<br />
Damit gerät auch Jain wieder unter<br />
Druck. Die Frage, ob er als früherer Chef<br />
des Investmentbankings der Richtige ist,<br />
um gemeinsam mit Jürgen Fitschen das<br />
Großprojekt Kulturwandel voranzutreiben,<br />
ist auch eineinhalb Jahre nach seinem<br />
Amtsantritt nicht geklärt. Mit jeder Strafzahlung,<br />
jeder Verurteilung, jedem Verdacht,<br />
jeder Prüfung taucht sie wieder auf.<br />
Denn fast alle anrüchigen Deals haben<br />
ihren Ursprung in den Handelssälen der<br />
Investmentbank, an deren Spitze Jain über<br />
Jahre stand. Noch ist sein Rückhalt in der<br />
Bank groß. Doch weitere Rückschläge<br />
könnten ihn in ernste Bedrängnis bringen.<br />
Auch deshalb hält sich Jain vor allem in der<br />
deutschen Öffentlichkeit sehr zurück. Der<br />
indische Tiger tritt als Kätzchen auf.<br />
TEURE MELANGE<br />
Gut vier Milliarden Euro hat die Bank für<br />
Rechtsstreitigkeiten zurückgestellt – das<br />
13-Fache des Jahresüberschusses 20<strong>12</strong>.<br />
Dahinter verbirgt sich eine Melange aus<br />
Schadensersatz- und Bußgeldforderungen<br />
wegen möglicher Manipulationen von Referenzwerten,<br />
Geschäften mit US-Ramschhypotheken<br />
und der Mitschuld an der Pleite<br />
des verstorbenen Medienunternehmers<br />
Leo Kirch. Die Risiken belasten den Aktienkurs<br />
ebenso wie die Bemühungen um einen<br />
Neustart. Nach Bekanntwerden des<br />
FOTO: LAIF/REA/ERIC TSCHAEN<br />
56 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Vergleichs droschen Politiker aller Lager<br />
einmal mehr auf das Institut ein. Finanzminister<br />
Wolfgang Schäuble drohte, bei der<br />
Regulierung eine Schippe nachzulegen.<br />
Aufsichtsratschef Paul Achleitner überraschen<br />
weder der Aufschrei noch die Zahlung:<br />
„Das Problematische ist, dass es im<br />
Prozess zur Vergangenheitsbewältigung<br />
ständig Anlässe gibt, über ein und denselben<br />
Vorgang erneut zu berichten. Dadurch<br />
wird der Eindruck erweckt, Banker hätten<br />
immer noch nichts gelernt – haben sie<br />
aber“, sagte er der WirtschaftsWoche.<br />
Achleitner sieht die Bank unter der Führung<br />
des Duos Jain und Fitschen auf dem<br />
richtigen Weg, weiß aber, dass der dornig<br />
Teures Kartell<br />
Strafzahlungender Banken im EU-<br />
Verfahren (inMillionen Euro)<br />
Deutsche Bank<br />
Société Générale<br />
RoyalBank of Scotland<br />
JP Morgan<br />
Citi<br />
RP Martin<br />
Quelle:EU-Kommission<br />
0,2<br />
80<br />
70<br />
446<br />
391<br />
725<br />
walt Klaus Nieding. In den USA ist die<br />
Rechtslage anders, hier gibt es bereits größere<br />
Klagen. „Mein Telefon hat nach der<br />
EU-Entscheidung den ganzen Nachmittag<br />
geklingelt“, sagt auch Lianne Craig, Partnerin<br />
bei der Kanzlei Hausfeld in London.<br />
Klar ist seit Mittwoch, dass die Deutsche<br />
Bank nicht am Rande, sondern neben UBS,<br />
Barclays und Royal Bank of Scotland im<br />
Zentrum des Skandals steht. Bei den Instituten<br />
hatte es personelle Konsequenzen<br />
auch im Vorstand gegeben. Die Führung in<br />
Frankfurt ist stets bemüht, zu erklären, warum<br />
die Sache bei ihr anders liegt.<br />
Nachfolgediskussionen werden intern<br />
bisher kaum geführt. Gerade Co-Chef Fit-<br />
Lastenberg<br />
Rückstellungender DeutschenBank für<br />
Rechtsrisiken(in Milliarden Euro)*<br />
0,8<br />
2,4<br />
III IV<br />
20<strong>12</strong><br />
2,4<br />
*GesamtbestandimQuartal;<br />
Quelle:Unternehmensangaben<br />
I<br />
3,0<br />
II<br />
<strong>2013</strong><br />
4,1<br />
und von Rückschlägen begleitet ist: „Wir<br />
können die Vergangenheit nicht wegwünschen,<br />
sondern müssen die Konsequenzen<br />
tragen. Der Abbau von Altlasten kann genauso<br />
wie der Aufbau einer neuen Kultur<br />
nur Schritt für Schritt erfolgen.“<br />
In der Tat ist schon das Thema Libor bei<br />
Weitem nicht abgeschlossen. Aufsichtsbehörden<br />
in den USA, Großbritannien und<br />
Asien ermitteln weiter. Die britische Finanzaufsicht<br />
FCA dürfte Anfang 2014 Ergebnisse<br />
bekannt geben. Die dortigen Finanzwächter<br />
können ebenso wie ihre US-<br />
Kollegen hohe Strafzahlungen verhängen.<br />
Die deutsche BaFin kann das nicht, durchforstet<br />
die Deutsche Bank aber weiter nach<br />
Fehlern. In einem Zwischenbericht hatte<br />
sie organisatorische Mängel festgestellt.<br />
Unkalkulierbar sind Forderungen aus Zivilklagen<br />
wegen der möglichen Manipulation<br />
von Referenzzinsen. In Deutschland<br />
droht wohl keine Prozesswelle. „Für Klagen<br />
gibt es viele Hindernisse, es wird schon<br />
schwer, einen konkreten Schaden nachzuweisen“,<br />
sagt der Frankfurter Aktionärsanschen,<br />
gegen den wegen Falschaussage im<br />
Kirch-Prozess und Beihilfe zur Steuerhinterziehung<br />
ermittelt wird, gilt intern mehr<br />
als unglückliches Opfer staatsanwaltschaftlichen<br />
Geltungsdrangs denn als Täter.<br />
„Einen weiteren Rückschlag würde Jain<br />
nicht überstehen“, heißt es jedoch in der<br />
Bank. So überprüfen Aufseher weltweit<br />
jetzt die Ermittlung wichtiger Referenzwerte<br />
auf mögliche Manipulationen, darunter<br />
die Festlegung des Goldpreises (siehe Seite<br />
1<strong>12</strong>) und von Devisenkursen.<br />
„Bei allen Verfahren hat ein kleiner Personenkreis<br />
einen großen Einfluss auf einen<br />
riesigen Markt“, sagt ein Investmentbanker.<br />
„Und bei allen sind die Verfahren seit Jahrzehnten<br />
unverändert und haben mit der<br />
technischen Entwicklung nicht Schritt gehalten.“<br />
Zudem seien die für die Kursfestlegung<br />
verantwortlichen Händler oft über<br />
Jahre auf ihrer Position, was Absprachen<br />
erleichterte. „Es ist kaum vorstellbar, dass<br />
niemand die sich bietende Gelegenheit<br />
ausgenutzt hat“, sagt der frühere Kapitalmarktvorstand<br />
einer Großbank.<br />
III<br />
Die BaFin und internationale Behörden<br />
stellen jedenfalls alles auf den Prüfstand.<br />
Einen konkreten Verdacht gibt es laut Ba-<br />
Fin bisher nicht. So hat sie bisher keine<br />
Sonderprüfung bei Banken eingeleitet,<br />
sondern lediglich Auskünfte angefordert.<br />
Die Deutsche Bank ermittelt auch intern,<br />
befragt Mitarbeiter und überprüft E-Mails.<br />
ZU LAXE KONTROLLEN<br />
Um Tricksereien zu vermeiden, hat die Ba-<br />
Fin Ende Oktober ein Rundschreiben verschickt.<br />
Das listet Selbstverständlichkeiten<br />
auf, die offenbar nicht gegeben waren. So<br />
mahnt die Behörde zum Vier-Augen-Prinzip,<br />
zur Definition klarer Zuständigkeiten<br />
und zu geeigneten unabhängigen Kontrollprozessen.<br />
Dass es daran bei der Deutschen<br />
Bank fehlte, hat auch das Frankfurter<br />
Arbeitsgericht festgestellt: Vor dem hatten<br />
vier wegen der Libor-Affäre entlassene<br />
Händler deshalb mit Erfolg geklagt. Die<br />
Bank hat dagegen Berufung eingelegt.<br />
Intern hat Jain die Milliardenfehler vor<br />
allem als Folge zu laxer Kontrollen identifiziert.<br />
Eine Milliarde Euro will die Bank nun<br />
für die Verbesserung ihrer Systeme ausgeben.<br />
Sie hat ihren Händlern die Nutzung<br />
von Chats verboten. Mitarbeiter, die gegen<br />
Richtlinien verstoßen, werden in einer Datenbank<br />
gespeichert. Die Kontrollfunktionen<br />
werden aufgewertet. Die interne Revision<br />
etwa befand sich nach Angaben eines<br />
Insiders in einem beklagenswerten Zustand.<br />
Verstöße wurden oft nach einem<br />
Jahr noch nicht korrigiert, heute müssen<br />
sie nach drei Monaten abgestellt sein. „Da<br />
ist viel mehr Zug dahinter“, so der Insider.<br />
Mit aller Macht wollen Jain und Fitschen<br />
ihr Projekt durchdrücken: Bis 2017 soll die<br />
Bank sauber sein, sollen die Altlasten abgearbeitet<br />
und Mitarbeiter sowie Mechanik<br />
so weit adjustiert sein, dass es keine neuen<br />
Missetaten mehr gibt. Die Bank zieht sich<br />
zudem aus dem umstrittenen Handel mit<br />
Agrarprodukten und Energie zurück.<br />
Als Treiber des Prozesses gilt vor allem<br />
Fitschen. Die verstärkte Hinwendung zu<br />
Unternehmenskunden erscheint bei ihm<br />
glaubwürdig. Jain dagegen gilt als Stratege,<br />
der blitzschnell analysiert, wie sich veränderte<br />
Marktbedingungen auf die Bank auswirken.<br />
Und der darauf auch mit Totalumbauten<br />
reagiert, etwa im Investmentbanking<br />
und in der Vermögensverwaltung. Damit<br />
hat er einige Skeptiker in Frankfurt von<br />
sich überzeugt. Diese Aufgabenverteilung<br />
ist eine Folge von Neigung und Talent –<br />
und von Glaubwürdigkeit.<br />
n<br />
cornelius.welp@wiwo.de | Frankfurt<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 57<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Kollateralschäden inbegriffen<br />
AUTOINDUSTRIE | Der neue Herr über die französischen Traditionsmarken Peugeot und Citroën,<br />
Carlos Tavares, muss im Konzern mehr umbauen, als es die Eigentümerfamilie bisher wollte.<br />
Über Auszeichnungen reden Unternehmen<br />
sonst gern und öffentlich.<br />
Doch als ein verdienter Ex-Unternehmer<br />
der Region vor wenigen Tagen im<br />
Peugeot-Museum der ostfranzösischen<br />
Stadt Sochaux für seine Verdienste um die<br />
Autoindustrie zum Ritter der Ehrenlegion<br />
ernannt wurde, war das anders. Zuerst wurden<br />
die Medien ein- und dann wieder ausgeladen.<br />
So entschied es der Hausherr und<br />
Aufsichtsratsvorsitzende des französischen<br />
Autokonzerns PSA Peugeot Citroën, Thierry<br />
Peugeot. Dies sei eine private Feier, für<br />
Außenstehende uninteressant.<br />
Dabei hätte es für Außenstehende jede<br />
Menge zu erzählen gegeben. Immerhin<br />
hatte der höchste Vertreter der altehrwürdigen<br />
Autodynastie gerade bekannt gegeben,<br />
dass Carlos Tavares 2014 den bisherigen<br />
PSA-Chef Philippe Varin ablösen wird<br />
– obwohl dessen Vertrag erst im Frühjahr<br />
um vier Jahre verlängert worden war.<br />
Die Personalie und die Angst vor der<br />
Öffentlichkeit lassen tief in den Abgrund<br />
beim zweitgrößten europäischen Autobauer<br />
blicken. Tavares, bis August 20<strong>12</strong><br />
zweiter Mann nach Carlos Ghosn beim<br />
heimischen Konkurrenten Renault, soll<br />
PSA aus seiner tiefsten Krise ziehen.<br />
Kein Hersteller hat im zu Ende gehenden<br />
Jahr <strong>2013</strong> so viel an Absatz verloren wie die<br />
Arm abschneiden, um zu überleben<br />
Verschärft SAP-Chef Tavares den Sparkurs?<br />
älteste noch existierende Automarke der<br />
Welt. Nach einem Verlust von fünf Milliarden<br />
Euro 20<strong>12</strong> wird der Konzern auch <strong>2013</strong><br />
mit einem Minus beenden. Trotz drastischer<br />
Sparmaßnahmen und dem Abbau<br />
von mehr als 11 000 Arbeitsplätzen bis Mitte<br />
2014 verbrennt PSA pro Monat noch immer<br />
rund 100 Millionen Euro.<br />
Während Wettbewerber auf die anziehende<br />
Autokonjunktur in Europa hoffen,<br />
scheinen sich die dunklen Wolken über<br />
PSA festzusetzen. Die Allianz mit der amerikanischen<br />
Opel-Mutter General Motors<br />
(GM) <strong>vom</strong> Februar 20<strong>12</strong> bleibt hinter den<br />
Erwartungen zurück. Die geplante gemeinsame<br />
Plattform für einen Kleinwagen<br />
steht infrage. Dass der chinesische Autobauer<br />
Dongfeng und womöglich der französische<br />
Staat als Geldgeber einspringen,<br />
ist eine der Ungewissheiten, die zusätzlich<br />
Unruhe in den Konzern bringen.<br />
Kann Tavares bei dieser Ausgangslage<br />
PSA überhaupt noch retten? „Er wird die<br />
strukturellen Kosten mit denen von Renault<br />
vergleichen. Die sind niedriger“, sagt<br />
Johnny Favre, Vorsitzender der Auto-Sektion<br />
bei der gemäßigten Gewerkschaft<br />
CFDT. „Wir fürchten um Arbeitsplätze.“<br />
Die Sorgen scheinen begründet. „Tavares<br />
müsste einen weiteren Restrukturierungsplan<br />
präsentieren“, sagt Bertrand Rakoto,<br />
Analyst beim US-Marktforschungsunternehmen<br />
R.L. Polk. „Varin ging nicht weit genug,<br />
um die Kosten zu senken und die Effizienz<br />
zu stärken. Manchmal muss man sich<br />
den Arm abschneiden, um zu überleben.<br />
PSA ist genau in dieser Situation.“<br />
»<br />
PSA leidet am meisten<br />
16,3<br />
Pkw-Absatz<strong>2013</strong>inEuropa<br />
Veränderung (zum Vorjahr in Prozent)<br />
0,3 0,5<br />
1,5<br />
5,0<br />
10,6<br />
–10,3<br />
PSA 1<br />
–9,2<br />
–8,1<br />
Andere Fiat Volvo<br />
–6,6 –6,1 –5,7 –5,5 –5,2 –2,8 –2,6 –1,9 –1,6 –0,9<br />
Mitsubishi<br />
Suzuki GM 2 Ford VW 3 Nissan Toyota Hyundai Honda<br />
BMW,<br />
Mini<br />
Kia<br />
Jaguar,<br />
Renault 4 Daimler 5 Land<br />
Rover<br />
Mazda<br />
Verkäufe (gerundet, in Tausend)<br />
2588<br />
1138<br />
823 770<br />
633<br />
364<br />
73<br />
185<br />
63 <strong>12</strong>7<br />
1<br />
Peugeot, Citroën; 2 Opel, Vauxhall; 3 Audi, Seat, Skoda; 4 Renault, Dacia; 5 Mercedes,Smart;Quelle:ACEA<br />
457<br />
361<br />
<strong>12</strong>1<br />
668<br />
287<br />
907<br />
580<br />
116 <strong>12</strong>5<br />
FOTO: CORBIS/REUTERS<br />
58 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
Entscheidend wird sein, welche Rolle<br />
der chinesische Partner Dongfeng spielt –<br />
und ob sich der gebürtige Portugiese Tavares<br />
bei PSA durchsetzen kann. Denn ihm<br />
gegenüber steht auf der einen Seite der<br />
französische Staat, der auf einem sanfteren<br />
Kurs bestehen könnte. Seit die sozialistische<br />
Regierung vor einem Jahr eine Bürgschaft<br />
in Höhe von sieben Milliarden Euro<br />
für die PSA Bank übernommen hat, sitzen<br />
ein Vertreter des Staates und ein Repräsentant<br />
der Gewerkschaften im Aufsichtsrat.<br />
AUF PARTNERSUCHE<br />
Auf der anderen Seite wird Tavares den Widerstand<br />
der Eigentümerfamilie Peugeot<br />
überwinden müssen. Die hält derzeit 24,5<br />
Prozent der Aktien und 38,1 Prozent der<br />
Stimmrechte. Die Peugeots gelten als verbohrt<br />
und mitverantwortlich für die Misere<br />
des Unternehmens. Ihre Fehlentscheidungen<br />
reichen zurück in die Siebzigerjahre,<br />
als sie den Wettbewerber Citroën aus dem<br />
Besitz des französischen Reifenherstellers<br />
Michelin erwarben. Die Traditionsmarke<br />
mit dem Doppelwinkel hätte nach Ansicht<br />
von Experten das Potenzial gehabt, sich zu<br />
einer Art Audi des Konzerns zu entwickeln.<br />
Der Citroën DS aus den 60er Jahren gilt bis<br />
heute als Kultauto. Aber die Peugeots wollten<br />
nicht, dass der eigene Name hinter<br />
dem des einstigen Rivalen Citroën zurücksteht.<br />
Damit verabschiedeten sie sich praktisch<br />
aus dem Premiumsegment, das heute<br />
die deutschen Hersteller beherrschen.<br />
Als ebenso großer Fehler erweist sich,<br />
dass die Familie trotz der seit 20 Jahren bestehenden<br />
Partnerschaft mit dem chinesischen<br />
Autobauer Dongfeng nicht rechtzeitig<br />
eine Strategie für das boomende Reich<br />
der Mitte entwickelt hat. Nun hat PSA zu viel<br />
Mittelklasse und ist auf Europa fokussiert.<br />
Schön war die Zeit An die Erfolge der<br />
„Deesse“ in den 60er Jahren will Citroën mit<br />
der styligen DS-Linie anknüpfen<br />
Auch der andere französische Autobauer,<br />
Renault, steht nicht glänzend da,<br />
aber dank der Allianz mit dem japanischen<br />
Hersteller Nissan, der Billigmarke Dacia<br />
und nun auch noch einem Joint Venture<br />
mit Dongfeng deutlich besser. „Tavares<br />
wird vermutlich versuchen, den Erfolg von<br />
Dacia aufzuholen“, sagt Denis Gancel, Chef<br />
der Agentur W&Cie. „PSA hat sich bisher<br />
gescheut, von ‚low cost‘ zu sprechen. Das<br />
war falsch.“ Außerdem müssten Autos mit<br />
wenig Wertschöpfung an den günstigsten<br />
Produktionsstandorten <strong>vom</strong> Band laufen,<br />
auch außerhalb Frankreichs. Im Inland<br />
sollten nach deutschem Vorbild nur margenstarke<br />
Modelle produziert werden.<br />
Auch das ein Novum für die Peugeots, die<br />
made in France gern wörtlich nehmen.<br />
»Die enge Partnerschaft<br />
mit Dongfeng<br />
wäre die vielversprechendste«<br />
Mit seiner Modellpolitik war Varin bei<br />
PSA durchaus auf gutem Weg. Die DS-Linie<br />
soll Citroën zurück ins Premium bringen<br />
und kommt beim Publikum gut an.<br />
Der vor wenigen Wochen eingeführte neue<br />
Kompaktwagen Peugeot 308 und der neue<br />
2008, eine Mischung aus Klein- und Geländewagen,<br />
verkaufen sich ebenfalls gut. Der<br />
neue Citroën C4 Picasso hat gerade das<br />
Goldene Lenkrad <strong>2013</strong> gewonnen.<br />
Die Frage ist nun aber, wem sich PSA<br />
künftig wie weit öffnet. Laut Christian Peugeot,<br />
im Konzern Direktor für Außenbeziehungen,<br />
wird die Suche nach neuen Partnern<br />
nicht von Forderungen der Eignerfamilie<br />
belastet. „Es geht nicht um die Kontrolle,<br />
sondern um die Zukunft von PSA“,<br />
sagte er der WirtschaftsWoche.<br />
Da ist zum einen die Kooperation mit<br />
Dongfeng, die nun durch das Joint Venture<br />
zwischen den Chinesen und Renault in<br />
Frage gestellt ist. Das Staatsunternehmen<br />
hat zwar auch Joint Ventures mit Nissan,<br />
Honda und KIA. Zudem wurde im Juli die<br />
dritte gemeinsame Fabrik mit PSA eröffnet.<br />
Die Produktion soll hier bis 2015 auf<br />
750 000 Fahrzeuge hochfahren. Doch die<br />
Allianz birgt jede Menge Zündstoff. „Immer<br />
wieder gab es Streit, da PSA veraltete<br />
Modelle in China herstellen ließ“, sagt Jochen<br />
Siebert von der Unternehmensberatung<br />
JSC in Shanghai.<br />
BEDROHTE ARBEITSPLÄTZE<br />
Gleichwohl wissen die Chinesen, dass sie<br />
die Einzigen sind, die bei PSA Gewinn machen:<br />
umgerechnet rund 200 Millionen<br />
Euro in diesem Jahr. Autoexperte Siebert<br />
hält es deshalb für plausibel, dass Dongfeng<br />
mit zehn Prozent bei PSA einsteigt.<br />
„Dank des wachsenden asiatischen Marktes<br />
ist eine enge Partnerschaft mit Dongfeng<br />
die vielversprechendste“, sagt auch<br />
W&Cie-Chef Gancel.<br />
Andererseits ist GM mit sieben Prozent<br />
an PSA beteiligt. R.L.-Polk-Analyst Rakoto<br />
glaubt, dass der geschasste PSA-Chef Varin<br />
Gespräche mit Dongfeng nur führte, um<br />
GM zu bewegen, seinen Anteil an PSA aufrecht<br />
zu halten. Dank der Stärke von Opel<br />
bei Benzinmotoren und der PSA-Vorherrschaft<br />
bei Dieselmotoren würde eine engere<br />
Partnerschaft Synergien ermöglichen.<br />
Allerdings hätte ein stärkeres Engagement<br />
von GM auch „Kollateralschäden“ zur<br />
Folge, glaubt Rakoto, sowohl bei PSA als<br />
auch bei der GM-Tochter Opel. „Mit Sicherheit<br />
würden Arbeitsplätze abgebaut.“ n<br />
karin.finkenzeller@wiwo.de | Paris,<br />
philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />
FOTOS: JOKER/MARKUS GLOGLER, CORBIS/REUTERS<br />
60 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Trojanischer Trick<br />
TOBIT SOFTWARE | Ein IT-Haus im Münsterland verwandelt Facebook-Fanseiten<br />
kostenlos in Apps für Smartphones. Eine neue Ära<br />
für Kleinunternehmen und Selbstständige im mobilen Internet?<br />
Tobias Groten ist der Typ Gründer,<br />
dem es schnell langweilig wird. Eigentlich<br />
verdient er sein Geld mit<br />
Kommunikationssoftware für Unternehmen.<br />
Das Geschäft läuft seit 27 Jahren, und<br />
es läuft offenbar gut, bedeutet der Chef von<br />
Tobit, einem IT-Haus mit 250 Beschäftigten<br />
in Ahaus an der niederländischen Grenze.<br />
Doch offenkundig reicht das dem<br />
47-jährigen Münsterländer nicht. Erst baute<br />
er auf dem Firmengelände am Ortseingang<br />
von Ahaus den Prototypen eines vernetzten<br />
Hauses, um dort die neuesten<br />
High-Tech-Ideen auszuprobieren. Dann<br />
ließ er einen Miniflughafentower samt<br />
Hangar errichten, um darin einen Flugsimulator<br />
zu installieren. Noch heute erinnert<br />
daran der Hubschrauber auf dem<br />
Dach des Gebäudes, in dem Groten inzwischen<br />
eine Bar mit Beach Club für die<br />
Landjugend betreibt.<br />
Waren solche Projekte bisher eher Spielereien,<br />
hat Groten nun viel Größeres vor,<br />
das die Welt auch außerhalb der<br />
40000-Einwohner-Gemeinde im Westmünsterland<br />
verändern soll. Der Mittelständler<br />
plant den Einstieg ins Geschäft<br />
mit Apps und will nicht weniger als jedem<br />
Otto-Normal-Smartphone-Besitzer zu einer<br />
eigenen App verhelfen.<br />
„Bisher kostet eine App den Auftraggeber<br />
einen fünfstelligen Betrag“, sagt Groten.<br />
Denn jede App ist eine eigens konzipierte<br />
Software, die aufwendig von IT-Spezialisten<br />
programmiert werden muss. Das können<br />
sich viele kleine Unternehmen oder<br />
Gewerbetreibende nicht leisten, weswegen<br />
sich viele mit einer Seite auf Facebook zufriedengeben,<br />
um Kontakt zu Kunden und<br />
Geschäftspartnern zu halten.<br />
Der Appetitmacher<br />
Tobit-Chef Groten will<br />
100 000 Apps in zwei<br />
Jahren schaffen<br />
SO WICHTIG WIE EINE HOMEPAGE<br />
Um dies zu ändern, hat Groten eine Software<br />
namens Chayns entwickelt, die allen<br />
Finanzschwachen in der Social-Media-<br />
Welt zunächst kostenlos zur eigenen App<br />
verhelfen soll. „Im aufziehenden mobilen<br />
Zeitalter ist eine App irgendwann genauso<br />
wichtig wie heute eine Unternehmens-<br />
Homepage“, wirbt Groten für seine Idee.<br />
Die neue Software des Münsterländers<br />
macht die individuelle App-Programmierung<br />
überflüssig. Stattdessen verwandelt<br />
Chayns mit wenigen Mausklicks eine Facebook-Fanseite<br />
in eine Smartphone-App –<br />
und zwar für alle vier großen Mobilplattformen<br />
Apple, Android, Windows Phone sowie<br />
Blackberry gleichzeitig. Dadurch erscheint<br />
jedes Posting auf der Facebook-<br />
Fanseite eines Unternehmens oder eines<br />
Selbstständigen automatisch auch auf der<br />
App – ob Fotos, Videos oder Web-Links.<br />
Dank Chayns kann fortan jedermann<br />
mit einer Fanseite – ob Friseur, Restaurantbesitzer,<br />
Arzt oder Sportverein – seine eigene<br />
App bauen. Er muss dazu nur Chayns<br />
über die Tobit-Homepage aufrufen, ein Logo<br />
sowie einen möglichst kurzen Namen<br />
für die App auswählen – alles Weitere inklusive<br />
der Anmeldung der Apps in den<br />
vier Stores übernimmt die Software.<br />
Der Vorteil für die neuen App-Besitzer<br />
liegt im ersten Schritt darin, dass sie auf<br />
diese Weise einen direkten Draht zu ihren<br />
Kunden, Patienten, Mandanten oder Mitgliedern<br />
aufbauen können, ohne dass<br />
»<br />
FOTO: DOMINIK ASBACH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
62 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
Cooles Design Cafeteria für 250 Tobit-Mitarbeiter im münsterländischen Ahaus<br />
diese dazu über Facebook gehen müssen.<br />
Die App direkt auf dem Display erspart<br />
den Nutzern unnötiges Suchen, Antippen<br />
und Scrollen – gemäß dem Motto: Wisch<br />
und schon da. „Der Ansatz von Tobit, mittels<br />
Facebook eine App zu bauen, klingt<br />
vielversprechend“, sagt Nicole Dufft, Senior-<br />
Analystin mit Fokus auf das Mobilgeschäft<br />
beim Marktbeobachter PAC in Berlin.<br />
Geld verdienen will Groten weniger mit<br />
Chayns, sondern vielmehr mit Zusatzfunktionen<br />
in der App, die Tobit in einem eigenen<br />
Online-Store anbietet. So kann beispielsweise<br />
ein Restaurantbetreiber seine<br />
App mit wenigen Klicks um ein mobiles<br />
Tisch-Reservierungs-Modul erweitern<br />
oder ein Kino den Ticketverkauf per App<br />
anbieten. Für solche Erweiterungen verlangt<br />
Tobit bis zu 8,50 Euro im Monat.<br />
Groten gibt sich kämpferisch. „Unser<br />
Ziel ist, dass innerhalb von 24 Monaten<br />
100 000 Firmen und Vereine mithilfe von<br />
Chayns eine eigene App auf den Markt<br />
bringen“, sagt Groten. Geht seine Rechnung<br />
auf, würde Tobit so zum größten<br />
App-Hersteller der Welt aufsteigen.<br />
Groten schweigt zu seinen Geschäftszahlen.<br />
Den Hauptumsatz macht Tobit mit<br />
David, einem Softwarepaket für die integrierte<br />
Telefon-, E-Mail-, Fax- und SMS-<br />
Kommunikation in Unternehmen. Laut<br />
Bundesanzeiger setzte Tobit 2011 knapp 16<br />
Millionen Euro um und erzielte einen Nettogewinn<br />
von fast zwei Millionen Euro.<br />
Der Endvierziger scheint zu spüren, dass<br />
Chayns sein größter Coup werden könnte.<br />
Sein Büro im Tobit-Hauptgebäude direkt<br />
gegenüber dem firmeneigenen Club ist<br />
seine Steuerzentrale. Die äußere Glas- und<br />
Aluminiumverkleidung gibt dem Unterfangen<br />
die passende futuristische Fassade.<br />
An der Wand in Grotens Büro hängt ein riesiger<br />
Flachmonitor mit 2,5 Meter Diagonale.<br />
Dort laufen auf einer Deutschland-Karte<br />
die neuesten Zahlen für seine Apps auf.<br />
Und es sind Superlativen. Ende November,<br />
nur gut acht Wochen nach dem Start<br />
Millionenmarkt Smartphone-Apps<br />
Anzahl der verfügbaren Apps in den<br />
vier größtenStores*<br />
1000000 1000000<br />
190000<br />
<strong>12</strong>0000<br />
AppStore Google Play Windows<br />
Phone Store Blackberry<br />
World<br />
*Stand:Oktober <strong>2013</strong>,jeweilsletzteverfügbare<br />
Zahl;Quelle:Statista, Unternehmensangaben<br />
gantische Größenordnungen vorstoßen zu<br />
können. Allein in Deutschland gibt es aktuell<br />
rund 750000 Facebook-Fanseiten, rechnet<br />
er vor. Die großen Marken wie VW oder<br />
Adidas, die bereits eine eigene App haben,<br />
seien jedoch in der Minderheit. Der ganz<br />
große Rest stehe weiterhin ohne da.<br />
Den großen Run auf Chayns verspricht<br />
sich Groten von einer besonderen Fähigkeit<br />
seiner Umwandlungssoftware. Bisherige,<br />
individuell programmierte Smartphone-Anwendungen<br />
leiden darunter,<br />
dass sie bei jeder Änderung des mobilen<br />
Betriebssystems angepasst werden müssen.<br />
Für die Betreiber der Apps ist das ein<br />
der Software Anfang Oktober, hat Tobit die<br />
Marke von 10000 Apps überschritten, die<br />
mit Chayns erzeugt und in den App Stores<br />
von Apple, Google (Android), Microsoft<br />
(Windows Phone) sowie Blackberry angemeldet<br />
wurden. In der Spitze kommen inzwischen<br />
250 Apps am Tag hinzu.<br />
Zwar spüren Apple und Google mit jeweils<br />
rund einer Million Apps in ihren<br />
Stores Tobit noch nicht. Doch für Microsoft<br />
und Blackberry, die jeder weniger als<br />
200000 Apps im Angebot haben, ist die<br />
Vermehrung der Miniprogramme durch<br />
Groten durchaus bemerkenswert. Und der<br />
ist zuversichtlich, mit seinen Apps in gienormer<br />
Aufwand. Diese Anpassungen<br />
würden bei Tobit entfallen, verspricht Groten.<br />
Chayns sei eine Art Standardsoftware:<br />
„Da wir die notwendigen Änderungen programmieren,<br />
sind alle Apps automatisch<br />
auf dem neuesten Stand.“<br />
Einzige Voraussetzung, die der Betreiber<br />
einer Facebook-Fanseite zu erfüllen hat,<br />
um mithilfe von Chayns eine eigene App<br />
generieren zu können: Er muss mindestens<br />
100 „gefällt mir“-Klicks auf seiner Facebook-Seite<br />
sowie jeweils drei veröffentlichte<br />
Bilder und Statusmeldungen vorweisen.<br />
Mit solchen Vorgaben will Groten eine Inflationierung<br />
der Apps verhindern, „damit<br />
nicht jeder eine Spaß-App baut“.<br />
WERBEMITTEL FÜR HEINEKEN<br />
Groten ist nicht darauf angewiesen, schnell<br />
viel Geld mit seiner App-Maschine zu verdienen.<br />
Als Hauptanteilseigner von Tobit –<br />
er hält laut Handelsregisterauszug knapp<br />
83 Prozent der Firmenanteile – hat er keine<br />
Aktionäre im Nacken, die ständig nach<br />
neuen Erlösen und mehr Einnahmen verlangen.<br />
„Es begeistert mich, Dinge zu machen,<br />
die noch nicht da waren“, sagt Groten<br />
entspannt. So kann sich der Tobit-Chef<br />
leisten, statt auf Einnahmen zunächst massiv<br />
auf Reichweite zu setzen, also auf eine<br />
möglichst hohe Zahl verschiedener Apps.<br />
Um zum Erfolg zu kommen und Chayns<br />
unter die Leute zu bringen, schaltet Groten<br />
gezielt namhafte Unternehmen ein. So verkaufte<br />
der Münsterländer unlängst für einen<br />
fünfstelligen Betrag Chayns-Lizenzen<br />
an den niederländischen Bierbrauer Heineken.<br />
Diese Lizenzen gelten für eine spezielle<br />
Version von Chayns, in die eine Art<br />
trojanisches Pferd einprogrammiert ist.<br />
Heineken verschenkt diese Chayns-Version,<br />
verpackt in schicken Umschlägen, an<br />
Clubs und DJs. Basteln die damit eine eigene<br />
App, erscheint in dieser das Heineken-<br />
Logo. Ebenso kann Heineken auf diesen<br />
Apps zum Beispiel Werbebotschaften oder<br />
Gewinnspiele schalten. Wenn in kurzer<br />
Zeit 1500 Clubs und DJs eine eigene App<br />
bauen und jede dieser Apps 50 Nutzer findet,<br />
erreicht Heineken auf einen Schlag<br />
75000 Leute. „Diese Apps sind für Heinken<br />
eine Art digitales Werbemittel“, sagt Groten.<br />
Ähnliche Partnerschaften ist er mit<br />
L’Oréal und Schalke 04 eingegangen.<br />
Auch die Internationalisierung hat der<br />
Tobit-Chef bereits im Blick. Demnächst erscheinen<br />
englische und niederländische<br />
Versionen von Chayns. „Damit“, sagt Groten,<br />
„ fahren wir das Tempo weiter hoch.“ n<br />
michael.kroker@wiwo.de<br />
FOTO: DOMINIK ASBACH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
64 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»Kleben statt nähen«<br />
INTERVIEW | Jan-Dirk Auris Der Henkel-Vorstand verantwortet die<br />
wichtigste Sparte Klebstoff und will die Weltmarktführerschaft<br />
durch Übernahmen und neue Technologien weiter ausbauen.<br />
Herr Auris, die Klebstoffsparte hat im<br />
dritten Quartal eine Umsatzrendite von<br />
17,8 Prozent erzielt – die höchste, die je<br />
bei Henkel abgeliefert wurde. Können Sie<br />
das noch toppen?<br />
Das ist unser Ziel. Der Weltmarkt für Klebstoffe<br />
hat ein Umsatzvolumen von etwa 60<br />
Milliarden Euro. Auf Henkel entfallen davon<br />
rund 14 Prozent. Diese Größenordnung,<br />
kombiniert mit unserer Strategie, auf<br />
Märkte und Branchen mit überproportionalem<br />
Wachstum zu setzen, lässt genügend<br />
Luft nach oben, um weiter profitabel<br />
zu wachsen.<br />
Was verstehen Sie unter profitablem<br />
Wachstum?<br />
Die Wachstumsraten und Perspektiven<br />
verschiedener Marktsegmente sind sehr<br />
unterschiedlich. Es gibt zum Beispiel Klebstoffe<br />
für Briefumschläge mit einem weltweiten<br />
Marktvolumen von mehreren Hundert<br />
Millionen Euro. Das sind relativ einfache<br />
Produkte, die auf Kartoffel- oder Maisstärke<br />
basieren: Das ist für uns heute ein<br />
gutes und etabliertes Geschäft. Dieser<br />
Markt wird aber nicht mehr wesentlich<br />
wachsen. Dagegen wächst der etwa gleich<br />
große Markt mit Klebstoffen für die Herstellung<br />
von Smartphones und Tablets im<br />
Durchschnitt um 25 bis 40 Prozent pro Jahr.<br />
Hier entwickeln und vermarkten wir High-<br />
Tech-Produkte, die die unterschiedlichsten<br />
Materialien in fünf bis sieben Klebeschritten<br />
verbinden. In jedem Smartphone<br />
steckt je nach Modell Klebstoff im Wert von<br />
bis zu 80 Cent. Gerade in diesem zukunftsorientierten<br />
Technologiebereich investieren<br />
wir deutlich mehr in Entwicklung, Mitarbeiter<br />
und Kundenpflege.<br />
Damit der Klebstoff-Weltmarktführer<br />
Henkel auch in diesem Markt die<br />
Nummer eins wird?<br />
Ja, daran arbeiten wir intensiv. Die Poleposition<br />
in diesem Segment haben historisch<br />
bedingt die Japaner. Aber wir tun einiges<br />
dafür, dass sich das langfristig ändert.<br />
Zum Beispiel?<br />
Anfang des Jahres haben wir das Henkel<br />
Display Center in Shanghai eröffnet. Das ist<br />
ein Forschungslabor, in dem wir gemeinsam<br />
mit allen wichtigen Smartphone- und<br />
DAS EIGENGEWÄCHS<br />
Auris, 45, führt seit Januar 2011 den Bereich<br />
Klebstoffe, die mit 8,2 Milliarden Euro<br />
Jahresumsatz mit Abstand größte Sparte<br />
des Henkel-Konzerns. Schon mit 16 Jahren<br />
fing er als Auszubildender zum Industriekaufmann<br />
in der Klebstoffsparte an – und<br />
blieb dort kleben. Mehrere Jahre arbeitete<br />
Auris für Henkel in den USA und in China,<br />
bevor der Vater einer Tochter im Januar<br />
2011 in den Vorstand nach Düsseldorf<br />
berufen wurde.<br />
Kleber liefern Kohle<br />
OperativeRendite 1 (Ebit, in Prozent)<br />
15,1<br />
17,8<br />
14,5 15,9 14,5 14,9<br />
20<strong>12</strong> <strong>2013</strong> 2 20<strong>12</strong> <strong>2013</strong> 2 20<strong>12</strong> <strong>2013</strong> 2<br />
Klebstoffe Wasch- und Kosmetik/<br />
Reinigungsmittel Körperpflege<br />
1<br />
bereinigtumeinmalige Aufwendungen und<br />
Erträgesowie Restrukturierungsaufwendungen;<br />
2<br />
3. Quartal; Quelle:Henkel<br />
Tablet-Herstellern an der Entwicklung von<br />
Bildschirmen und Displays arbeiten. In<br />
Kürze werden wir ein ähnliches Labor im<br />
koreanischen Seoul eröffnen.<br />
Die Gewinne der Klebstoffsparte sind<br />
auf Rekordniveau, der Umsatz aber<br />
sank im dritten Quartal um 2,7 Prozent.<br />
Warum?<br />
Wir haben unseren Umsatz, in lokalen<br />
Währungen betrachtet, im dritten Quartel<br />
um mehr als vier Prozent gesteigert – und<br />
konnten uns im Jahresverlauf stetig verbessern.<br />
In Euro betrachtet, ging der Umsatz<br />
aber zurück. Neben kleineren Verkäufen<br />
von Randaktivitäten geht der Rückgang fast<br />
ausschließlich auf Währungseffekte zurück,<br />
insbesondere durch die Schwäche<br />
des US-Dollar. Aber auch einige Währungen<br />
in den Wachstumsmärkten, in denen<br />
wir etwa 50 Prozent der Klebstoffumsätze<br />
erzielen, trugen dazu bei. In Indien zum<br />
Beispiel ist die Rupie vor rund zwei Monaten<br />
auf den tiefsten Stand seit Jahren gefallen.<br />
Solche Turbulenzen erleben wir in dieser<br />
Form zum ersten Mal.<br />
Wenn dies die Umsätze so beeinträchtigt,<br />
warum nicht auch die Gewinne aus diesen<br />
Ländern?<br />
Wir konnten unsere Kosten weiter senken<br />
und sind in vielen Bereichen von Produktion<br />
und Lieferkette effizienter geworden.<br />
Zudem kamen uns leicht rückläufige Rohstoffpreise<br />
zugute. Daher sind die Wechselkurseffekte<br />
nicht auf das operative Ergebnis<br />
durchgeschlagen.<br />
Übernahmen sind ein wesentlicher Bestandteil<br />
der Henkel-Strategie. Nun gab<br />
es die letzten großen Zukäufe mit den US-<br />
Unternehmen National Starch und Cytec<br />
in Ihrem Beritt. Ist die Klebstoffsparte<br />
überhaupt schon wieder an der Reihe?<br />
(lacht) Man könnte aus der Historie den<br />
Eindruck gewinnen, dass es bei Henkel immer<br />
schön reihum geht. Das ist aber natürlich<br />
nicht so. Übernahmen sind wesentlicher<br />
Teil unserer Strategie. Wir haben eine<br />
umfangreiche Liste mit potenziellen Kaufkandidaten.<br />
Kann der Weltmarktdominator Henkel<br />
denn so einfach zukaufen, ohne das Veto<br />
einer Kartellbehörde zu fürchten?<br />
Der weltweite Klebstoffmarkt unterteilt<br />
sich in etwa 70 Segmente, und es gibt insgesamt<br />
rund 1000 Wettbewerber. Da gibt es<br />
nur relativ wenig nennenswerte Überschneidungen.<br />
Kartellrechtlich dürfte es<br />
daher nur in seltenen Fällen Einschränkungen<br />
geben.<br />
Einschränkungen haben Sie aber selbst<br />
vorgenommen, um den Wust von bisher<br />
FOTO: PR<br />
66 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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600 Marken in Ihrem Klebstoffgeschäft<br />
einzudämmen. Wie weit sind Sie damit?<br />
Das ist ein komplexes Thema. Da müssen<br />
von Produktentwicklung über Produktion<br />
und Marketing bis zur Logistik fast alle Bereiche<br />
einbezogen werden. Aber wir kommen<br />
gut voran und liegen derzeit nur noch<br />
bei rund 170 Marken. Bis 2016 wollen wir<br />
80 Prozent unseres Klebstoffumsatzes mit<br />
neun Markenplattformen im Industrieund<br />
Konsumentenbereich abdecken.<br />
Bei den Industrieklebern spielte die<br />
Marke aber doch ohnehin bisher keine<br />
große Rolle?<br />
Das stimmt – bis auf wenige international<br />
bekannte, starke Produktmarken wie zum<br />
Beispiel Loctite. Das liegt vor allem daran,<br />
dass wir weltweit 130 000 Direktkunden<br />
haben, die wir persönlich beraten und die<br />
häufig ein auf sie zugeschnittenes, individuell<br />
für sie hergestelltes Produkt bekommen.<br />
Künftig wird im Industriegeschäft unserer<br />
Herstellermarke Henkel eine viel stärkere<br />
Bedeutung bekommen.<br />
In welchen Branchen und Märkten steckt<br />
denn außer bei Smartphones und Tablets<br />
noch Wachstumsfantasie?<br />
Zum Beispiel überall dort, wo Leichtbaukonstruktionen<br />
an Bedeutung gewinnen.<br />
So soll im Automobilbau das Gewicht der<br />
Fahrzeuge sinken und damit der Kraftstoffverbrauch<br />
und CO 2 -Ausstoß. Es wird<br />
also immer mehr geklebt statt gelötet, genietet<br />
oder geschweißt. Und bei den sogenannten<br />
Composites, also bei Verbundwerkstoffen,<br />
werden Carbon- oder Glasfasern<br />
mit unseren Harzen kombiniert. So<br />
entsteht etwa eine neue Blattfeder, die im<br />
Vergleich zu üblichen Stahl-Blattfedern bis<br />
zu 65 Prozent weniger wiegt – und das bei<br />
gleicher Festigkeit und Widerstandsfähigkeit.<br />
Die Blattfeder wird seit ein paar Monaten<br />
bei Daimler im Fahrwerk an der Vorderachse<br />
des Sprinter-Modells serienmäßig<br />
eingesetzt.<br />
Auf welche Trends setzen Sie in anderen<br />
Geschäftsfeldern?<br />
Kleben statt nähen zum Beispiel. Regina<br />
Miracle, der größte chinesische Hersteller<br />
von Büstenhaltern, der auch für viele in Europa<br />
bekannte Anbieter produziert, nutzt<br />
immer mehr Henkel-Klebstoffe und ist dadurch<br />
ein großer Kunde für uns geworden.<br />
Kleben verbessert den Tragekomfort, weil<br />
es keine störenden Nähte mehr gibt. So ergeben<br />
sich für uns immer neue Anwendungsfelder.<br />
Und wenn das beim BH funktioniert,<br />
dann sicherlich auch bei anderen<br />
Textilien.<br />
n<br />
mario.brueck@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 67<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Schlacht der Bildschirme<br />
COMPUTERSPIELE | Wie sich die Branche durch Smartphones und Tablets rasant wandelt<br />
und der Filmindustrie immer ähnlicher wird.<br />
Seit 14 Jahren macht Lars Gustavsson<br />
im Prinzip das Gleiche. 1999 begann<br />
der Schwede, als Designer an einem<br />
Ballerspiel mitzuarbeiten. Inzwischen ist<br />
„Battlefield“ einer der erfolgreichsten Titel<br />
des kalifornischen Spieleriesen Electronic<br />
Arts (EA). Soeben erschien die elfte Version<br />
für die neuen Konsolen Playstation 4 und<br />
Xbox One, <strong>vom</strong> Vorgänger wurden insgesamt<br />
20 Millionen Exemplare verkauft.<br />
Gustavsson ist als Kreativchef des zu EA<br />
gehörenden Spielestudios Dice dafür verantwortlich,<br />
sich immer wieder etwas Neues<br />
für das simple Spielprinzip „Erschieße<br />
so viele Feinde wie möglich“ auszudenken.<br />
So können auf den neuen Konsolen 64 statt<br />
bisher 24 Spieler gleichzeitig kämpfen.<br />
Trotzdem wünscht sich der Schwede neue<br />
Herausforderungen: „Ich würde mich<br />
schneller weiterentwickeln, wenn ich öfter<br />
mit anderen Spieletypen arbeiten könnte.“<br />
Doch von den 14 Dice-Spielen seit 2004<br />
tragen 11 den Titel „Battlefield“.<br />
Das aus Hollywood bekannte Blockbuster-Prinzip<br />
hat auch in der Spielebranche<br />
Einzug gehalten. Die Anbieter setzen auf<br />
immer neue Folgen populärer Titel, die –<br />
wie Kinofilme – zwei- bis dreistellige Millionensummen<br />
kosten. Das Konzept funktioniert:Das<br />
Actionspiel „Grand Theft Auto V“<br />
(GTA V) spielte binnen 24 Stunden weltweit<br />
815 Millionen Dollar ein. Die Milliarde erreichte<br />
das erfolgreichste Spiel aller Zeiten<br />
nach drei Tagen. Der bisher finanziell beste<br />
Film „Avatar“ benötigte dazu noch 17 Tage.<br />
Doch das klassische Geschäftsmodell ist<br />
bedroht, Online-Spiele und Apps auf<br />
Smartphones und Tablets konkurrieren mit<br />
den Computerspielen um die Daddelzeit.<br />
2014 dürften sie mit 35 Milliarden Dollar<br />
erstmals mehr einbringen als klassische PCund<br />
Konsolenspiele, so die Beratung PricewaterhouseCoopers<br />
(siehe Grafik Seite 70).<br />
Allein die Spieler der „Candy Crush Saga“<br />
geben pro Tag fast eine Million Dollar aus.<br />
ZYNISCHE GESELLSCHAFTSKRITIK<br />
Dabei sind die Smartphone-Spiele oft erst<br />
einmal kostenlos. Die Hersteller agieren<br />
wie Fernsehsender, die den Markt mit Castingshows<br />
und anderen billig produzierten<br />
Inhalten überschwemmen. Dort rufen die<br />
Zuschauer an, voten und zahlen, damit die<br />
Show weitergeht. Bei den anfangs kostenlosen<br />
Spielen müssen sie zahlen, um weiterzukommen.<br />
Eine weitere Parallele zur Filmbranche:<br />
Hersteller wie Rovio verdienen mit Merchandising<br />
so viel wie mit dem Verkauf der<br />
„Angry Birds“-Spiele.<br />
Millionen mit<br />
Merchandising<br />
Angry-Birds-Freizeitpark<br />
in China<br />
68 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: IMAGINE CHINA/WENG LEI<br />
815 Millionen Dollar<br />
in 24 Stunden<br />
Rekordspiel Grand<br />
Theft Auto V<br />
Autoknacker weit vorn<br />
DiemeistverkauftenSpiele* fürPlaystation undXbox(Stückzahl in Millionen, gerundet)<br />
GrandTheft Call of Duty:<br />
Auto V Ghosts<br />
25,55<br />
9<br />
Wochen<br />
am<br />
Markt<br />
7,49<br />
2<br />
FIFA<br />
Soccer 14<br />
6,19<br />
8<br />
*<strong>2013</strong>erschienen; Quelle:VGChartz<br />
TheLast<br />
of Us<br />
3,43<br />
23<br />
Ein Wechselspiel zwischen Film- und Spielebranche<br />
gibt es seit Jahren: Das Spiel zum<br />
Film ist so normal wie die Verfilmung von<br />
Videospielen. 1996 erschien erstmals das<br />
Spiel „Tomb Raider“, im Kino verkörperte<br />
Angelina Jolie die Archäologin 2001. Die<br />
Spielvorlage wurde <strong>2013</strong> neu aufgelegt und<br />
schaffte es unter die zehn Top-Seller.<br />
Die bislang stärkste Verschmelzung zwischen<br />
Film und Games bot in diesem Jahr<br />
das Spiel „Beyond: Two Souls“. Die Schauspieler<br />
Willem Dafoe und Ellen Page verleihen<br />
den Spielfiguren eine bislang kaum gekannte<br />
Persönlichkeit.<br />
Auch wenn sie mancher als Ballerorgien<br />
abtut, sind Videospiele auf dem Weg, zum<br />
kulturellen Leitmedium des 21. Jahrhunderts<br />
aufzusteigen. So ist das brutale<br />
„Grand Theft Auto“ um den Bankräuber<br />
und Autoknacker Trevor Philips immer<br />
auch eine zynische Gesellschaftskritik.<br />
Neue Spiele werden von Fans heute so<br />
sehnsüchtig erwartet wie sonst nur das<br />
neueste iPhone. Wenige Produkte werden<br />
häufiger unter dem Weihnachtsbaum<br />
liegen als Playstation 4, Xbox One und die<br />
dazugehörigen Spiele.<br />
Doch viele Branchenkenner sind sich einig,<br />
dass die Konsolen wohl die letzten ihrer<br />
Art sein dürften. Spiele im Netz und auf<br />
mobilen Geräten laufen ihnen den Rang<br />
ab. „Es wird aber weiter das Bedürfnis nach<br />
Spielen geben, mit denen man nicht nur einige<br />
Minuten Wartezeit auf den Bus totschlägt,<br />
sondern für mehrere Stunden eintaucht“,<br />
sagt Spieledesigner Gustavsson.<br />
Doch was tun, wenn der Bushaltestellen-<br />
Spieler später auf der Couch doch ein oder<br />
zwei Stunden weiter mit seinem Tablet<br />
daddelt, statt die Konsole anzuwerfen?<br />
Schon jetzt spüren die etablierten Hersteller<br />
die Konkurrenz. Lange verkündeten<br />
sie das Mantra, Handyspieler seien nur zusätzliche<br />
Kunden. Eine Studie des US-<br />
Marktforschers Eedar zeigt jedoch, dass<br />
ausgerechnet diejenigen, die am meisten<br />
für Mobile Games ausgeben, klassische<br />
Konsolenspieler sind.<br />
Und so versuchen deren Anbieter, ihre<br />
Hardcore-Fans auch unterwegs zu fesseln.<br />
„Die größte Herausforderung bei ,Battlefield<br />
4‘ war die Frage, wie man das Spielerlebnis<br />
auf mehrere Bildschirme erweitert“,<br />
sagt Gustavsson. Die Mobilzusätze dürfen<br />
nicht wie ein überflüssiges Gimmick wirken,<br />
aber auch nicht so notwendig sein,<br />
dass Spieler ohne Lust aufs Smartphone<br />
ausgeschlossen werden. Gustavsson entwickelte<br />
daher eine App, um die mit- und<br />
gegeneinander kämpfenden Spielergruppen<br />
zu koordinieren. „Es ist dabei nicht<br />
sichtbar, ob der Commander auf dem Sofa<br />
an der Konsole oder mit dem Tablet im<br />
Café sitzt“, sagt Gustavsson stolz.<br />
Wie erfolgreich die Mobilspiele inzwischen<br />
sind, zeigt die „Candy Crush Saga“:<br />
Jeden Tag versuchen 6,5 Millionen Menschen<br />
bei dem optisch an „Tetris“ erinnernden<br />
Puzzle-Spiel Reihen aus Süßigkeiten<br />
zu bilden. Das Spiel startete mit 30 Levels,<br />
doch der britische Anbieter King.com<br />
gibt den Bonbonsüchtigen immer neue<br />
Nahrung und hat die Zahl auf 544 hochgeschraubt.<br />
ERINNERUNG AN FRÜHEREN HYPE<br />
Um ein Level weiterzukommen, hat jeder<br />
Spieler fünf Versuche. Schafft er es dabei<br />
nicht, muss er für einen neuen Anlauf eine<br />
halbe Stunde warten oder 89 Cent bezahlen.<br />
Auch Zusatz-Züge und Zeit können<br />
sich die Spieler erkaufen. Viele sind dazu<br />
bereit: 875000 Dollar verdient King.com<br />
nach Schätzungen des New Yorker Spieledienstleisters<br />
Think Gaming so jeden Tag<br />
mit dem eigentlich kostenlosen Spiel.<br />
Dieses im Branchenjargon Free-to-Play<br />
genannte Geschäftsmodell ist bei den<br />
meisten Spiele-Apps und Online-Spielen<br />
inzwischen Standard. Zwar haben mehr als<br />
60 Prozent aller Spieler, die das letzte Level<br />
Tomb<br />
Raider<br />
2,79<br />
37<br />
BioShock<br />
Infinite<br />
2,42<br />
34<br />
Battlefield<br />
4<br />
2,41<br />
3<br />
Minecraft<br />
1,80<br />
24<br />
GodofWar:<br />
Ascension<br />
1,43<br />
36<br />
Wochen<br />
erreicht haben, laut King.com keinen Cent<br />
ausgegeben. Aber fast 40 Prozent haben<br />
gezahlt. Normal war bisher ein einstelliger<br />
Prozentsatz zahlender Nutzer.<br />
Auch der Anbieter Supercell hat die Verführung<br />
perfektioniert. Die Finnen haben<br />
nur zwei Online-Spiele im Angebot, doch<br />
mit dem Fantasy-Strategiespiel „Clash of<br />
Clans“ und der Bauernhof-Simulation<br />
„Hay Day“ nimmt das Unternehmen pro<br />
Tag 2,5 Millionen Dollar ein.<br />
Im Oktober bezahlte der japanische Telekomriese<br />
Softbank 1,5 Milliarden Dollar<br />
für einen 51-Prozent-Anteil an Supercell.<br />
Das Unternehmen wird also mit etwa drei<br />
Milliarden Dollar bewertet – fast so viel wie<br />
die von Facebook, Yahoo und Google geschluckten<br />
Super-Startups Instagram,<br />
Tumblr und Waze zusammen.<br />
Bei solchen Bewertungen fühlt sich manch<br />
einer an den Hype um Facebook-Spiele erinnert,<br />
der im Börsengang und schnellen<br />
Abstieg von Zynga gipfelte. „Mobile Gaming<br />
geht durch die gleiche Blase“, prophezeit<br />
Khaled Helioui, Chef des Hamburger<br />
Online-Spieleentwicklers Bigpoint.<br />
„Die Supercell-Story klingt eher nach<br />
Google als nach Zynga“, widerspricht Klaas<br />
Kersting. Der Karlsruher hatte 2003 mit<br />
Gameforge einen Gratisspiel-Pionier gegründet<br />
und ist heute Chef von Flare-<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 69<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
games. Kersting hat sich schon 2011<br />
an einer Zwölf-Millionen-Dollar-Finanzierung<br />
für Supercell beteiligt, als die Handyspiele<br />
der Finnen noch in der Entwicklung<br />
waren. Als Investor hat er also ein Eigeninteresse,<br />
wenn er Supercell als „Kronjuwel<br />
der Spielebranche“ bezeichnet. Doch der<br />
Unternehmenskenner bietet eine gute Begründung:<br />
Bei einem Jahresumsatz von<br />
schätzungsweise 650 Millionen Dollar bleibe<br />
gut die Hälfte als Gewinn hängen. Eine<br />
Bewertung von drei Milliarden Dollar entspreche<br />
also dem Zehnfachen des Gewinns<br />
– das sei ein absolut vertretbarer Aufschlag.<br />
Seit einiger Zeit wird „Candy Crush“-Macher<br />
King.com schon als Kandidat für die<br />
Börse gehandelt, im Sommer sollen bereits<br />
Banken damit betraut worden sein. Doch<br />
noch zögert das Unternehmen.<br />
Ein Grund dürfte das Desaster um Zynga<br />
sein. Vor zwei Jahren galt der Erfinder von<br />
Facebook-Spielchen als Vorbild für die<br />
Branche. Doch nach dem Börsengang brachen<br />
Zyngas Umsatz und Aktienkurs ein.<br />
Es folgten Massenentlassungen, am Ende<br />
musste Chef und Gründer Marc Pincus<br />
selbst gehen. Entscheidender Grund: Zynga<br />
hat den Boom mobiler Spiele verpasst.<br />
Überholmanöver<br />
WeltweiteUmsätze mitKinofilmenund<br />
Computerspielen* (inMilliarden Dollar)<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
Online- &Mobile Games<br />
10 11 <strong>12</strong> 13 14 15 16 17<br />
*ab<strong>2013</strong>Prognose; Quelle:PwC<br />
Kino<br />
Konsolen &PC-Spiele<br />
King.com hat mit „Candy Crush“ ebenfalls<br />
auf Facebook begonnen, doch die Briten<br />
haben schneller auf den Smartphone-<br />
Boom umgeschaltet. Auch Jens Begemann,<br />
Chef des Berliner Zynga-Konkurrenten<br />
Wooga, hatte Anfang 20<strong>12</strong> eine<br />
neue Strategie ausgegeben: „Wir entwickeln<br />
alle Spiele zuerst für Smartphones<br />
und Tablets.“ Erst dann wird entschieden,<br />
ob sie auch auf Facebook kommen.<br />
Auch wenn die PC- und Handyspiele<br />
optisch gleich wirken, gibt es große Unterschiede.<br />
„Es gibt starke Eingriffe in das<br />
Spielkonzept“, sagt Begemann. Mit der<br />
Maus kann man viel genauer zielen, dafür<br />
machen andere Aktionen keinen Spaß:<br />
Verstreut herumliegende Objekte einzusammeln<br />
ist am Rechner mühsam. Auf<br />
mobilen Geräten ist es per Fingerwisch<br />
eine der häufigsten Spielfunktionen.<br />
Inzwischen werden aber so viele Spiele<br />
für die mobilen Geräte entwickelt, dass<br />
selbst für gut gemachte Titel der Erfolg<br />
schwieriger ist denn je. „Der Markt und die<br />
Spielerakquise werden härter“, sagt Flaregames-Gründer<br />
Kersting. 4000 neue Spiele<br />
drängen jeden Monat auf den Markt. Um<br />
genug Nutzer anzulocken, müssen die Anbieter<br />
mit teurer Werbung nachhelfen.<br />
„Wenn man zum Start nicht sechs- oder<br />
siebenstellige Beträge investiert, wird es<br />
schwierig“, sagt Wooga-Chef Begemann.<br />
ZAHLEN, UM ZU GEWINNEN<br />
Auch für die Spieler hat das Folgen. Bei den<br />
vermeintlichen Gratisspielen, deren Nutzer<br />
freiwillig die Bezahl-Buttons drücken,<br />
ist die Balance entscheidend: Der Zusatznutzen<br />
muss groß genug sein, damit Spieler<br />
dafür löhnen wollen. Sie dürfen aber<br />
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nicht so große Vorteile haben, dass die<br />
Masse der Gratisspieler vergrault wird.<br />
Doch immer öfter kippt die Balance. Die<br />
Free-to-Play-Spiele verwandeln sich in<br />
Pay-to-Win-Spiele, bei denen man zahlen<br />
muss, um gewinnen zu können. Anfangs<br />
leichte Spiele werden mit der Zeit so<br />
schwierig, dass viele Spieler ohne kostenpflichtige<br />
Zusatzgegenstände im Spiel<br />
kaum weiterkommen. Nachdem die französische<br />
Softwareschmiede Ubisoft umfangreiche<br />
Bezahlfunktionen im Spiel<br />
„Mighty Quest“ eingeführt hatte, gingen<br />
die Fans auf die Barrikaden. „Uns ist klar<br />
geworden, dass wir zu weit gegangen sind<br />
und sich das Geschäftsmodell nicht mehr<br />
fair anfühlt“, räumte Ubisoft kleinlaut ein.<br />
Auch Electronic Arts zog sich mit dem<br />
zweiten Teil des beliebten Spiels „Pflanzen<br />
gegen Zombies“ Kritik zu. Hier muss man<br />
sich mit Erbsenkanonen oder fleischfressenden<br />
Pflanzen gegen Zombies zur Wehr<br />
setzen. Doch neue Sorten des Kampfkrautes<br />
gibt es oft nur noch gegen Geld. Auch in<br />
weitere Level kommt man nur gegen Gebühr<br />
– es sei denn, bestimmte Aufträge werden<br />
immer wieder erledigt. „Das gesamte<br />
Spiel ist darauf ausgelegt, an allen Ecken<br />
und Enden zu bezahlen“, klagt ein Nutzer im<br />
App Store. „Ich hoffe, dass euch eure Geldgier<br />
im Hals stecken bleibt.“ Auch andere<br />
Spieler schimpfen. Nicht wenige wünschen<br />
sich die Zeiten zurück, als sie noch einen<br />
Festpreis für das Spiel bezahlen mussten.<br />
SPIELZEUG UND VOGELPARKS<br />
Der bekannteste Anbieter von Handyspielen<br />
hat einen anderen Weg gefunden,<br />
um seine Einnahmen zu steigern. Mehr als<br />
zwei Milliarden Mal wurden die verschiedenen<br />
Titel der „Angry Birds“-Reihe heruntergeladen.<br />
Doch der finnische Entwickler<br />
Rovio hat eine noch viel bessere<br />
Geldquelle aufgetan und sich dabei auch<br />
von der Filmindustrie inspirieren lassen.<br />
Merchandising lautet die Zauberformel.<br />
Rovio hat den Umsatz im Vorjahr auf 152<br />
Millionen Euro mehr als verdoppelt. Wichtiger<br />
Treiber waren dabei Plüschtiere,<br />
T-Shirts oder Tassen. 45 Prozent steuerte<br />
die Sparte bereits bei, in diesem Jahr dürfte<br />
sie der größte Umsatzbringer werden.<br />
Rovio kooperiert mit 500 Unternehmen:<br />
So stellen die Süßwarenkonzerne Pez und<br />
Mondelez oder die Puma-Tochter Brandon<br />
Produkte mit den wütenden Vögeln her. Im<br />
Sommer haben die Finnen einen Deal mit<br />
Hasbro geschlossen. Der US-Konzern entwickelt<br />
eine Reihe neuer Spielzeuge und<br />
liefert einen wichtigen Baustein zu dem in<br />
dieser Woche erscheinenden Go-Kart-<br />
Rennspiel „Angry Birds Go!“: die Telepods.<br />
Die kleinen Plastikautos sind zum Spielen<br />
und Sammeln. Wenn die Kamera von<br />
Smartphone oder Tablet sie erkennt, werden<br />
sie zudem in das Spiel „teleportiert“.<br />
Sechs Angry-Bird-Freizeitparks gibt es<br />
inzwischen, in denen die Besucher an Katapulten<br />
mit Plüschvögeln auf Spielzeugschweine<br />
schießen können. Der jüngste<br />
wurde kürzlich auf Gran Canaria eröffnet,<br />
weitere sollen folgen: „Wir sind interessiert<br />
daran, den Bereich auszubauen“, sagt Rovio-Vizepräsidentin<br />
Saara Bergström. „Wir<br />
sehen uns nicht als mobile Spielefirma,<br />
sondern als Unterhaltungskonzern.“<br />
Rovio hat eine eigene Zeichentrickserie<br />
im Programm, auch der Schritt auf die ganz<br />
große Leinwand ist geplant: Am Angry-<br />
Birds-Kinofilm wird intensiv gearbeitet.<br />
Nur die Zeitspannen sind im Filmgeschäft<br />
andere als in der schnelllebigen Spielebranche<br />
– Starttermin ist der 1. Juli 2016. n<br />
oliver.voss@wiwo.de<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
Viel Sitzfleisch<br />
Um einen Entwicklungsingenieur<br />
zu<br />
finden, braucht<br />
Sedus-Stoll-Chef<br />
Kallup mehr als<br />
ein Jahr. Der Büromöbelhersteller<br />
aus dem Schwarzwald<br />
setzt auf<br />
interne Fortbildung<br />
Vier Megatrends für Mittelständler<br />
PERSONALENGPASS<br />
Der Nachwuchsmangel<br />
erschwert es, Fachkräfte<br />
für Forschung und Entwicklung<br />
im Wettbewerb mit<br />
Konzernen an attraktiven<br />
Standorten zu finden.<br />
FINANZIERUNG<br />
Öffentliche Programme<br />
sind vielfach mit komplizierten<br />
Antragsverfahren<br />
verbunden, die kleine und<br />
mittelgroße Unternehmen<br />
häufig überfordern.<br />
FERNOST-KONKURRENZ<br />
Noch haben Deutschlands<br />
Mittelständler einen Vorsprung<br />
bei Innovationen.<br />
Doch die Finanzkraft Chinas<br />
wird in den nächsten<br />
Jahren zur Bedrohung.<br />
INNOVATIONSDRUCK<br />
Auch traditionelle Industrien<br />
müssen ihre<br />
Forschungsaktivitäten<br />
ausweiten, weil sie nur<br />
durch innovative Produkte<br />
überleben können.<br />
72 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Welkende Lorbeeren<br />
FORSCHUNG UND ENTWICKLUNG | Nachwuchsmangel, wachsender Konkurrenzdruck aus<br />
Fernost und Engpässe bei der Finanzierung gefährden den Vorsprung, den sich<br />
viele Mittelständler in den vergangenen Jahren gegenüber Wettbewerbern im Ausland<br />
verschafft haben. Was Politik und Unternehmen dagegen tun können.<br />
FOTO: TANJA DEMARMELS FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Wenn Bernhard Kallup sich<br />
von seinem Schreibtisch<br />
erhebt und zum Bürofenster<br />
geht, genießt er reinste<br />
Idylle. Der Vorstandschef<br />
des Büromöbelherstellers Sedus Stoll<br />
blickt auf Wälder und sattes Grün, bei guter<br />
Fernsicht auf die Berge. Die Schweiz ist nur<br />
wenige Hundert Meter entfernt; es gibt weniger<br />
malerische Orte in Deutschland.<br />
Der Firmensitz mit Kallups Büro liegt in<br />
Waldshut-Tiengen, einem Städtchen mit<br />
knapp 23 000 Einwohnern am südlichen<br />
Rand des Schwarzwalds. Im Sommer laden<br />
Berge, im Winter Langlaufloipen zu ausgiebigen<br />
Bergtouren ein. Nach Zürich mit seinem<br />
reichhaltigen Kulturangebot ist es<br />
nicht weit.<br />
Doch Kallup hat ein Problem, er braucht<br />
qualifiziertes Personal. Und um das anzulocken,<br />
reichen die hübschen Täler und<br />
Höhen nicht aus. Das merkt er immer<br />
mehr. „Einen Entwicklungsingenieur zu<br />
finden kann leicht ein Jahr dauern“, klagt<br />
Kallup.<br />
Sedus Stoll fertigt im Schwarzwald sowie<br />
am Bodensee und in Geseke in Ostwestfalen<br />
und beschäftigt insgesamt 45 Entwickler<br />
und Designer. Das Unternehmen mit<br />
insgesamt 880 Mitarbeitern und einem<br />
Umsatz von zuletzt rund 160 Millionen<br />
Euro versteht sich als Premiumanbieter.<br />
Derzeit arbeiten die Entwicklungsteams an<br />
einer Mechanik für Bürostühle, die mindestens<br />
600 000 „Lastenwechsel“ aushält,<br />
wie die Experten sagen. Das heißt, eine Rückenlehne<br />
könnte durch Anlehnen und<br />
Vorbeugen dann 600 000 Mal vor und zurück<br />
bewegt werden, ohne dass das Sitzmöbel<br />
Schaden nimmt.<br />
„Damit könnten wir einen Stuhl mit einer<br />
lebenslangen Garantie anbieten“, sagt<br />
Kallup. Womöglich ginge es noch schneller,<br />
gäbe es die Engpässe bei den Fachkräften<br />
nicht.<br />
Fehlendes Personal ist nur eines der Probleme<br />
mittelständischer Unternehmen bei<br />
Forschung und Entwicklung (F&E). Bürokratische<br />
Hürden, immer weiter steigende<br />
Energiekosten, unübersichtliche Förderprogramme,<br />
aber auch wachsender Druck<br />
von Konkurrenten aus Fernost, vor allem<br />
aus China, bremsten zuletzt die Dynamik<br />
bei Innovationen. „Es besteht die Gefahr,<br />
dass Deutschland sich jetzt auf den Lorbeeren<br />
der Vergangenheit ausruht“, warnt<br />
Klaus-Heiner Röhl <strong>vom</strong> Institut der Deutschen<br />
Wirtschaft (IW) in Köln.<br />
LEER GEFEGTE REGION STUTTGART<br />
Bisher galt der Mittelstand hierzulande als<br />
Motor für Innovationen. Insgesamt 60 000<br />
kleine und mittlere Unternehmen in<br />
Deutschland betreiben Forschung und<br />
Entwicklung. Nach der<br />
Krise Anfang des vergangenen<br />
Jahrzehnts<br />
haben die Mittelständler<br />
ihre Aktivitäten kräftig<br />
ausgeweitet, nicht<br />
zuletzt mithilfe öffentlicher<br />
Förderprogramme.<br />
Gut 8,7 Milliarden Euro<br />
haben mittelständische<br />
Firmen im Jahr 2010 in<br />
Forschung und Entwicklung<br />
investiert (siehe<br />
Grafik Seite 78). Gegenüber<br />
2004 war das ein<br />
Plus von 71 Prozent. Ihr<br />
Spezial | Mittelstand<br />
72 Innovation Fehlende Fachkräfte<br />
und Konkurrenz aus<br />
Asien sorgen für Druck<br />
80 Maschinenbau Mit Tüftlergeist<br />
zum Weltmarktführer<br />
82 Outsourcing Immer mehr<br />
Mittelständler lagern<br />
Forschungsprojekte aus<br />
86 Dekra-Award Auszeichnungen<br />
für Konzepte zu<br />
Umwelt und Personal<br />
Forschungspersonal haben die Mittelständler<br />
im selben Zeitraum um 52 Prozent<br />
aufgestockt.<br />
Die Aufwendungen haben sich gelohnt.<br />
Zwischen 2007 und 2010 hat mehr als die<br />
Hälfte aller kleinen und mittleren Unternehmen<br />
mindestens eine Produkt- oder<br />
Prozessinnovation auf den Markt gebracht.<br />
Neuere Zahlen liegen nicht vor.<br />
Doch zunehmende Klagen aus den Unternehmen<br />
deuten darauf hin, dass die Dynamik<br />
in jüngster Zeit nachgelassen hat.<br />
Firmen in Bayern rechnen vor, dass sie<br />
durch eine Verlagerung der Produktion ins<br />
Ausland bei den Stromkosten bis zu 75<br />
Prozent sparen könnten. Manche Unternehmen<br />
wollen Teile der Entwicklung<br />
gleich mit verlegen. Der im Koalitionsvertrag<br />
festgeschriebene Mindestlohn werde<br />
zudem dazu führen, dass an anderer Stelle<br />
gespart werde, auch bei den Forschungsausgaben,<br />
heißt es in manchen Firmen.<br />
Zu schaffen macht den Unternehmen<br />
aber vor allem der Mangel an Fachkräften.<br />
Besonders in den Berufen<br />
mit mathematischnatur-wissenschaftlich-<br />
technischem Hintergrund<br />
fehlen schon<br />
heute Zigtausend Nachwuchskräfte.<br />
Zwar sei<br />
der Mangel bisher noch<br />
auf bestimmte Regionen<br />
und Branchen beschränkt,<br />
konstatiert<br />
IW-Experte Röhl. Wer<br />
zum Beispiel in der Region<br />
Stuttgart einen<br />
Elektroingenieur sucht,<br />
braucht viel Geduld.<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 73<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
Kann ja mal<br />
vorkommen.<br />
Doch kein Zufall?<br />
»<br />
Doch die Gefahr wächst, dass der Mangel<br />
bald alle erfasst – und am schlimmsten<br />
die Mittelständler, die mit Konzernen in attraktiven<br />
Metropolen um Kräfte buhlen.<br />
„In den nächsten Jahren kommt das Problem<br />
mit Macht auf uns zu“, prognostiziert<br />
IW-Experte Röhl.<br />
Ursache dafür ist nicht nur der Nachwuchsmangel<br />
durch zu wenig Junge und<br />
zu viele Alte in der Gesellschaft. Verschärft<br />
werden die Folgen des demografischen<br />
Wandels auch dadurch, dass die Unternehmen<br />
an immer ausgefeilteren und raffinierteren<br />
Produkten arbeiten. Anders als<br />
noch vor 20 Jahren haben etwa Lebensmittelhersteller<br />
heute längst Kekssortimente<br />
im Angebot, bei denen beispielsweise nur<br />
ein Gebäckstück in der Packung nach<br />
Orange schmeckt und der Rest nach anderen<br />
Obstsorten. Damit das Zitrusaroma<br />
nicht auf alle Kekse übergreift, benötigt der<br />
Hersteller Biochemiker, die Orangenaroma-Moleküle<br />
mikroverkapseln können.<br />
FEHLENDE AUFSTIEGSCHANCEN<br />
Vor allem für Mittelständler ist es ein Problem,<br />
solche Fachkräfte zu finden und an<br />
sich zu binden. „Bei Angebotsknappheit<br />
am Fachkräftemarkt sind kleine und mittlere<br />
Unternehmen meist nicht in der Lage,<br />
ähnlich hohe finanzielle und nichtmaterielle<br />
Arbeitsangebote zu machen wie<br />
Großunternehmen“, resümiert eine aktuelle<br />
Studie des Zentrums für Europäische<br />
Wirtschaftsforschung (ZEW) und des Prognos-Instituts.<br />
Dazu komme, dass karriereorientierte<br />
Nachwuchskräfte kleine Unternehmen<br />
oft mieden, weil die Aufstiegschancen<br />
begrenzt seien.<br />
Sedus-Stoll-Chef Kallup kennt das Problem.<br />
Wenige Kilometer weiter, auf der anderen<br />
Seite der Grenze, verdienen Ingenieure<br />
und Wissenschaftler in großen<br />
Schweizer Unternehmen wie Novartis bis<br />
zu 30 Prozent mehr als in Waldshut-Tiengen.<br />
Etwa 15 000 der 80 000 Erwerbstätigen<br />
im Landkreis Waldshut pendeln darum jeden<br />
Tag zur Arbeit in die Schweiz. In<br />
Waldshut herrscht dadurch Vollbeschäftigung,<br />
sprich: Der Arbeits- und Fachkräftemarkt<br />
ist leer gefegt.<br />
MANGEL AN FINANZIERUNGEN<br />
Dabei sind die Arbeitsbedingungen in einem<br />
kleinen Unternehmen nicht selten<br />
viel attraktiver als in einem Großbetrieb.<br />
„Ich war überrascht über die Möglichkeiten,<br />
die ich hier habe“, sagt Judith Daur. Die<br />
28-jährige Marburgerin hat in Darmstadt<br />
Industriedesign studiert. Zunächst der Liebe<br />
wegen wollte die junge Frau nach ihrem<br />
Abschluss in den Süden der Republik und<br />
hat unter anderem mit München geliebäugelt.<br />
Jetzt arbeitet sie in einem kleinen Entwicklungsteam<br />
bei Sedus Stoll. Das Unternehmen,<br />
das jedes Jahr zwischen vier und<br />
fünf Prozent des Umsatzes in die Forschung<br />
und Entwicklung steckt, hat in den<br />
vergangenen Jahren zahlreiche Design-<br />
Auszeichnungen gewonnen.<br />
In Waldshut-Tiengen arbeitet die Designerin<br />
eng mit den Entwicklungsingenieuren<br />
und Technikern des Unternehmens zusammen.<br />
„Das Schöne hier ist, dass ich verfolgen<br />
kann, wie aus meinem Entwurf ein<br />
fertiges Produkt wird“, sagt Daur, „das ist<br />
völlig anders, wenn man in einer Agentur<br />
oder einem Konzern arbeitet.“ Bei Sedus<br />
Stoll kann sie von dem kleinen Entwicklungszentrum<br />
auch mal schnell in die Fabrik<br />
rübergehen und sich die Fertigung ihres<br />
Produktes ansehen und, wenn nötig,<br />
auch noch Änderungen vornehmen.<br />
Schwierig ist neben der Suche nach<br />
Fachkräften für viele kleinere Unternehmen<br />
auch die Finanzierung von Forschungs-<br />
und Entwicklungsvorhaben.<br />
Noch immer bedienen sich viele Mittel-»<br />
Irgendetwas<br />
scheinen wir richtig<br />
zu machen.<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
»<br />
ständler dazu der laufenden Einnahmen<br />
oder des Eigenkapitals. Zugang zu Bankfinanzierungen<br />
für Forschungsvorhaben habe<br />
nur ein „kleinerer Teil meist etablierter<br />
mittelständischer Unternehmen“, so die<br />
ZEW-Studie.<br />
Auch der Zugang zu Beteiligungskapital,<br />
um Innovationen zu finanzieren, ist in<br />
Deutschland vielen Unternehmen versperrt.<br />
Beim Anteil der Beteiligungs- und<br />
Wagniskapitalinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt<br />
liegt Deutschland im europäischen<br />
Vergleich nur im Mittelfeld. „Um<br />
zur Spitzengruppe aufschließen zu können,<br />
müssten die Beteiligungskapitalinvestitionen<br />
mindestens verdoppelt werden“,<br />
resümiert die gemeinsame Studie von ZEW<br />
und Prognos.<br />
HOFFEN AUF ELEKTROAUTOS<br />
Zwar hat die Bundesregierung die öffentliche<br />
Forschungsförderung kräftig ausgeweitet.<br />
Vor allem das 2008 <strong>vom</strong> Bundeswirtschaftsministerium<br />
aufgelegte Zentrale<br />
Innovationsprogramm Mittelstand<br />
(ZIM) erfreute sich großer Nachfrage.<br />
Rund 10 000 kleine und mittlere Unternehmen<br />
kamen bisher in den Genuss der Förderung,<br />
auch weil die Behörden die Antragstellung<br />
vereinfacht haben.<br />
Unter Strom Andreas Lapp, Vorstandsvorsitzender<br />
bei Lapp Kabel, hofft, von der<br />
zunehmenden Verbreitung von Elektroautos<br />
zu profitieren. Erste Erfolge sind da<br />
Denn noch immer wirken auf viele Mittelständler<br />
mit möglicherweise vielversprechenden<br />
Forschungsprojekten die<br />
zum Teil sehr detaillierten Vorschriften abschreckend,<br />
nach denen sie ihre Vorhaben<br />
in Förderungsanträgen präsentieren müssen.<br />
Zudem gibt es ein enges Regelkorsett,<br />
das den Unternehmen bisweilen eine Kofinanzierung<br />
durch Wissenschaftseinrichtungen<br />
vorschreibt.<br />
Gegenwind kommt aber auch von den<br />
aufstrebenden Volkswirtschaften in Fernost.<br />
Vor allem aufgrund der westlichen<br />
Bildungssysteme, die im Unterschied zu<br />
Der Markt für<br />
Wagniskapital<br />
wächst nur unterdurchschnittlich<br />
Asien stark auf Kreativität setzen, werden<br />
deutsche Mittelständler ihren Vorsprung<br />
zunächst noch halten können. Doch der<br />
Druck wird zwangsläufig zunehmen.<br />
Karl Knezar steht in einer Fabrikhalle am<br />
Stadtrand von Stuttgart. Neben ihm hängen<br />
an hohen Eisenständern frisch produzierte<br />
graue, blaue und orangefarbene Kabel.<br />
Zusammen mit zwei weiteren Ingenieuren<br />
tüftelt der Maschinenbautechniker<br />
zurzeit an neuartigen Ladekabeln für<br />
Elektroautos. Knezar arbeitet für das Unternehmen<br />
Lapp, einen Hersteller anspruchsvoller<br />
Kabel, die bisher unter anderem<br />
im Maschinen- und Anlagenbau verwendet<br />
werden. Ende der Fünfzigerjahre<br />
hatte Oskar Lapp mit einer Handvoll Mitarbeitern<br />
das Unternehmen gegründet. Heute<br />
lenkt Sohn Andreas die Geschicke der<br />
Firma mit etwa 3100 Mitarbeitern und<br />
einem Umsatz von fast 900 Millionen Euro.<br />
Die Elektromobilität soll das große Thema<br />
des Unternehmens aus Stuttgart-Vaihingen<br />
werden, und Knezar und seine zwei<br />
Kollegen spielen die Schlüsselrollen. Siebenstellige<br />
Beträge investiert Lapp in die<br />
Entwicklung hochmoderner Ladekabel.<br />
Erste Erfolge können die Stuttgarter inzwischen<br />
vorweisen. Knezar entwickelte einen<br />
Mechanismus, der den Ladevorgang bei<br />
»<br />
FOTO: CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
76 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
Noch fließt das Geld...<br />
Aufwendungen fürForschung und<br />
Entwicklunginmittelständischen<br />
Unternehmen (inMillionen Euro)<br />
»<br />
2007<br />
2008 20<strong>09</strong> 2010 2011<br />
Quelle:Stifterverband fürdie Deutsche Wissenschaft<br />
einem E-Auto automatisch unterbricht,<br />
wenn der Stecker zu heiß wird.<br />
Wichtig ist dies vor allem, wenn der Fahrer<br />
sein E-Auto an herkömmlichen –<br />
schlimmer noch: veralteten – Steckdosen<br />
auflädt. Die lassen Kabel und Stecker oft zu<br />
stark erhitzen oder fangen sogar Feuer.<br />
Knezars Neuentwicklung kann unterscheiden<br />
zwischen Hitze, die von außen wirkt<br />
wie zum Beispiel Sonnenlicht, und gefährlicher<br />
Wärme, die im Stecker entsteht. Die<br />
Wunderkabel verkauft Lapp bereits an einen<br />
großen deutschen Autohersteller, der<br />
vor Kurzem mit viel Tamtam ein neues<br />
Elektroauto auf den Markt gebracht hat.<br />
Mit solchen Neuentwicklungen werde<br />
Deutschland noch eine Zeit lang seinen<br />
Vorsprung gegenüber Asien halten können,<br />
glaubt Michael Collet, Geschäftsführer<br />
bei Lapp und zuständig für Innovationen.<br />
Die Stuttgarter beschäftigen am<br />
Stammsitz rund 80 Entwickler. Dazu<br />
kommt eine ausgegliederte Abteilung in<br />
Zug in der Schweiz, wo Lapp Grundlagenforschung<br />
betreibt. Zwischen drei und fünf<br />
Prozent seines Umsatzes steckt das Unternehmen<br />
in Forschung und Entwicklung.<br />
Mittelfristig allerdings werde der Druck aus<br />
Fernost massiv zunehmen, glaubt Collet<br />
und verweist auf die rasch steigende Zahl<br />
chinesischer Patente und die geballte Finanzkraft<br />
Pekings.<br />
SUCHE NACH ALTEN TUGENDEN<br />
„Die Entwicklung verläuft dort ähnlich wie<br />
vor drei Jahrzehnten in Südkorea“, sagt Collet.<br />
Die Koreaner hätten auch zunächst<br />
Technologien aus dem Ausland eingesetzt<br />
und diese dann weiterentwickelt, oftmals<br />
so, dass sie sie preisgünstiger anbieten<br />
konnten. Mit Blick auf die Konkurrenz aus<br />
...und die Zahl der Tüftler steigt<br />
Personal fürForschung undEntwicklung<br />
in mittelständischen Unternehmen<br />
(Vollzeitstellen,inTausend)<br />
73,5<br />
2007<br />
76,0<br />
77,7<br />
2008 20<strong>09</strong> 2010 2011<br />
Quelle:Stifterverband fürdie Deutsche<br />
Wissenschaft<br />
79,9<br />
88,4<br />
Asien wünscht man sich bei Lapp eine<br />
Rückbesinnung auf alte Tugenden bei der<br />
Schulbildung. „Früher war das alles straffer<br />
und disziplinierter“, sagt Collet.<br />
Um die Engpässe beim Nachwuchs zu<br />
überbrücken, helfen sich viele Mittelständler<br />
inzwischen selbst und investieren mehr<br />
in Aus- und Fortbildung. Der Kabelhersteller<br />
Lapp etwa ködert Talente mit Traineeprogrammen,<br />
die die jungen Leute zum<br />
Teil in ausländischen Niederlassungen absolvieren.<br />
Vielversprechenden Auszubildenden<br />
finanzieren die Stuttgarter nach<br />
Abschluss der Lehre ein Studium an einer<br />
dualen Hochschule, die früher Berufsaka-<br />
Deutschlands Vorsprung<br />
gegenüber<br />
Asien wird schnell<br />
kleiner werden<br />
demie hieß und die den Unternehmen die<br />
Weiterbeschäftigung des Kandidaten während<br />
der Uni-Zeit ermöglicht.<br />
Für Mittelständler sind dies willkommene<br />
Einrichtungen, um talentierte junge<br />
Leute zu halten. Zwischen 65 und 70 Azubis<br />
beschäftigt der Büromöbelhersteller<br />
Sedus Stoll. Wer mit der Abschlussnote<br />
über dem Durchschnitt liegt, dem macht<br />
der Mittelständler aus dem Schwarzwald<br />
ein Übernahmeangebot. Wer deutlich darüber<br />
liegt, kann auf Kosten des Unternehmens<br />
an der dualen Hochschule in Lörrach<br />
studieren.<br />
Doch genauso wichtig wie Hochschulabsolventen<br />
seien gut ausgebildete Facharbeiter,<br />
sagt Andreas Lapp, Vorstandsvorsitzender<br />
des Unternehmens. „Ein deutscher<br />
Meisterbrief ist oft genauso viel wert wie<br />
ein Master in anderen Ländern.“<br />
Experten fordern zur Überwindung des<br />
Fachkräftemangels allerdings viel breiter<br />
angelegte Maßnahmen. Der Essener Stifterverband<br />
für die Deutsche Wissenschaft,<br />
der eng mit der Wirtschaft zusammenarbeitet,<br />
setzt etwa auf Zuwanderer aus dem<br />
Ausland. Allerdings beklagt der Verband,<br />
dass die Politik immer noch nicht klar definiert<br />
hat, wie sie durch gezielte Zuwanderung<br />
Engpässe überwinden will.<br />
ABSCHRECKENDE FÖRDERUNG<br />
Die Expertenkommission Forschung und<br />
Innovation (Efi), die die Bundesregierung<br />
berät, fordert, die Politik müsse Frauen den<br />
Weg in mathematische, naturwissenschaftliche<br />
und technische Berufe erleichtern.<br />
In ihrem jüngsten Gutachten schlägt<br />
die Kommission eine Frauenquote für<br />
Führungspositionen in Wissenschaft und<br />
Wirtschaft vor. Gleichzeitig müssten sich<br />
die Schulen stärker darum bemühen, bei<br />
den Schülerinnen das Interesse an technischen<br />
und naturwissenschaftlichen Fächern<br />
zu wecken.<br />
Bei der Finanzierung fordern sowohl das<br />
IW als auch der Stifterverband seit Langem<br />
eine steuerliche Abzugsfähigkeit von Forschungsausgaben,<br />
wie es sie in vielen europäischen<br />
Ländern bereits gibt. Damit werde<br />
vor allem den kleinen Unternehmen geholfen,<br />
die vor der Antragsbürokratie bei<br />
öffentlichen Fördertöpfen zurückschrecken.<br />
Im schwarz-gelben Koalitionsvertrag<br />
war die steuerliche Förderung festgeschrieben,<br />
kam aber nie. Die Hoffnung der<br />
Unternehmen richtet sich nun auf die<br />
künftige Bundesregierung.<br />
Darüber hinaus verlangen Fachleute, es<br />
müssten endlich vernünftige rechtliche<br />
und steuerliche Rahmenbedingungen geschaffen<br />
werden, um Finanzierungen<br />
durch Beteiligungskapital zu erleichtern.<br />
Allerdings muss sich der Mittelstand<br />
auch an die eigene Nase fassen, wenn er<br />
mangelnde Finanzierungsmöglichkeiten<br />
beklagt. Die Autoren des jüngsten ZEW-<br />
Papiers zu Innovationshemmnissen bei<br />
kleinen und mittleren Unternehmen etwa<br />
sparen nicht mit Kritik. Die Unternehmen<br />
müssten bestehende Informationsangebote<br />
besser nutzen und auch „den Auftritt am<br />
Kapitalmarkt professionalisieren“. n<br />
matthias.kamp@wiwo.de | München<br />
78 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
Kleine Pillen, dicke Bretter<br />
MASCHINENBAU | Wie der westfälische Tüftler Lorenz Bohle sein Unternehmen zu einem<br />
Weltmarktführer in der Pharmatechnik gemacht hat.<br />
Dröhnende Stimme, kräftiger Händedruck,<br />
breite Schultern: Bei einem<br />
Casting für die Rolle eines westfälischen<br />
Firmenpatriarchen würde Lorenz<br />
Bohle wahrscheinlich alle Mitbewerber<br />
ausstechen. Der Hüne entspricht ganz<br />
dem Bild eines konservativen Familienunternehmers<br />
aus dem Münsterland. Doch<br />
Bohle spielt keine Filmrolle, er ist mit<br />
seinem Unternehmen L.B. Bohle einer der<br />
erfolgreichsten Mittelständler Deutschlands.<br />
Bohle hat es geschafft, seinen Ein-Mann-<br />
Betrieb zu einem der weltweit führenden<br />
Hersteller von Maschinen für die Tablettenproduktion<br />
zu machen, der heute mit<br />
230 Mitarbeitern jährlich 46 Millionen<br />
Euro umsetzt. Das Erfolgsgeheimnis des<br />
Unternehmers liegt in der Mischung aus<br />
Tüftlergeist, Qualitätsbesessenheit und<br />
Marktgespür.<br />
ZU TEURE PATENTE<br />
Dabei denkt der Bauernsohn während des<br />
Studiums und zu Anfang seiner Laufbahn<br />
als Ingenieur noch nicht ans Unternehmertum.<br />
Doch früh schon kommt es zu<br />
Spannungen mit seinen Arbeitgebern wegen<br />
der Verwertung von Patenten für von<br />
Bohle entwickelte Verfahren. Sein erster<br />
Arbeitgeber, ein Akku-Hersteller, verweigert<br />
nach sechsjähriger Entwicklung die<br />
Anmeldung eines Patentes, weil er nach<br />
Innovativer<br />
Ingenieur<br />
Unternehmer<br />
Bohle startete<br />
mit einem<br />
eigenen Patent<br />
»Wir sind ein<br />
Familienunternehmen<br />
und denken<br />
nicht in Vierteljahreszyklen«<br />
Lorenz Bohle<br />
dem Arbeitnehmererfindergesetz viel Geld<br />
hätte zahlen müssen.<br />
Beim zweiten, einem mittelständischen<br />
Lohnfertiger für die Pharmaindustrie, meldet<br />
Bohle nach und nach mehrere Patente<br />
an. Als er Ende Dezember 1981 mit einer<br />
weiteren Neuentwicklung zu seinem Chef<br />
kommt, stellt der ihm frei, das Patent – ein<br />
Verfahren zur Kontrolle der Dicke von Tabletten<br />
– selbst zu nutzen. Man sei ja Pharmazeut<br />
und kein Maschinenbauer. Nach<br />
dem Gespräch geht Bohle nach Hause und<br />
sagt zu seiner Frau: „Mädchen, jetzt müssen<br />
wir entweder den Kopf einziehen oder<br />
etwas riskieren.“<br />
Die beiden entscheiden sich für das Risiko.<br />
Sein Chef kann nicht glauben, dass er<br />
kündigen will. Über neun Jahre hatten die<br />
beiden gemeinsam die anfangs völlig veraltete<br />
Produktion auf Vordermann gebracht.<br />
Jetzt sei es doch an der Zeit, die Früchte der<br />
durchgearbeiteten Nächte zu genießen.<br />
„Sie verwechseln da etwas“, antwortet Bohle,<br />
„ich bin 41, nicht 61 Jahre alt.“<br />
Damit ist die Entscheidung unumkehrbar.<br />
Bohle mietet ein Konstruktionsbüro<br />
und eine Versuchswerkstatt. Zunächst lässt<br />
der frischgebackene Gründer seine Maschinen<br />
für die Tablettenherstellung<br />
fremdproduzieren. Die Hälfte der Zeit arbeitet<br />
er am Zeichentisch und in der Testwerkstatt;<br />
den Rest der Zeit ist er unterwegs,<br />
um seine Anlagen zu verkaufen. Das<br />
Geschäft läuft von Anfang an besser als erwartet.<br />
Einer seiner frühen Kunden ist trotz<br />
der Trennung sein ehemaliger Arbeitgeber.<br />
Der Durchbruch kommt nach vier Jahren,<br />
als es Bohle gelingt, als Zulieferer eine<br />
Anlage zur Penicillinherstellung beim<br />
Pharmariesen Bayer so zu modernisieren,<br />
dass sie staubfrei wird. „Damit hatten wir<br />
eine erstklassige Referenz“, sagt Bohle.<br />
Er entschließt sich, die Fertigung selbst<br />
in die Hand zu nehmen und eine Fabrik zu<br />
bauen. Zwischen 1987 und 1994 steigt die<br />
Zahl der Mitarbeiter von 20 auf 100. Jahre<br />
mit einem Wachstum von 50 Prozent sind<br />
nicht ungewöhnlich.<br />
Einer der wichtigsten Umsatztreiber ist<br />
der Bohle Film Coater. Diese Maschinen<br />
beschichten Tabletten von außen mit einem<br />
Wirkstoff, statt diesen wie sonst im Inneren<br />
der Pille zu platzieren.<br />
Ein amerikanischer Interessent kam vor<br />
neun Jahren zu Bohle mit der Vorgabe der<br />
dortigen Arzneimittel-Zulassungsbehörde<br />
FDA, wonach die Streuung beim Gewicht<br />
des Wirkstoffes von Pille zu Pille nur drei<br />
Prozent betragen dürfe. Bohle blieb unter<br />
dem Grenzwert und bekam den Auftrag.<br />
Selbst der beste Wettbewerber konnte nur<br />
Abweichungen von sechs Prozent garantieren.<br />
Heute macht Bohle ein Drittel des Umsatzes<br />
in den USA. „Ich wusste von anderen<br />
Unternehmern, wie schwer der Markteintritt<br />
dort ist“, sagt Bohle, „aber ich bohre<br />
gern dicke Bretter.“ Nach der Gründung<br />
1990 braucht seine amerikanische Niederlassung<br />
drei Jahre, bis sie ihr erstes Geld<br />
verdient. Für Bohle kein Problem: „Wir<br />
FOTOS: PR (2)<br />
80 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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sind ein Familienunternehmen und denken<br />
nicht in Vierteljahreszyklen.“<br />
In den vergangenen drei Jahren hat Bohle<br />
seinen Betrieb gleich mehrfach erweitert.<br />
Während andere Maschinenbauer<br />
nach dem Katastrophenjahr 20<strong>09</strong> zwei<br />
oder drei Jahre brauchen, bis die Umsätze<br />
wieder auf Vorkrisenniveau sind, fährt<br />
Bohle schon im Jahr nach der Krise wieder<br />
am Limit. Im April 2011 beginnt Bohle mit<br />
der drei Millionen Euro teuren Erweiterung<br />
des Zweitstandortes in Sassenberg,<br />
wenige Kilometer <strong>vom</strong> Stammwerk in Ennigerloh<br />
entfernt. Sechs Monate später<br />
sind Konstruktionsbüros und Fertigungsstätten<br />
in Betrieb.<br />
KAPAZITÄTEN VERDOPPELT<br />
Wenige Wochen nach der Einweihung<br />
kauft Bohle 20 000 Quadratmeter Bauland<br />
in der Nähe des Stammsitzes, um die dortigen<br />
Kapazitäten zu verdoppeln. Die Produktion<br />
soll in Kürze anlaufen. Im Frühjahr<br />
hat der Unternehmer zudem mit dem Bau<br />
eines neuen Test- und Technologiezentrums<br />
in Ennigerloh begonnen. Insgesamt<br />
investiert Bohle in die drei Objekte mehr<br />
als elf Millionen Euro.<br />
High Tech von 1981 Bohle (links) und der von<br />
ihm entwickelte Kontrollautomat für Tabletten<br />
Ist der Patron größenwahnsinnig geworden?<br />
Endet der Höhenflug mit einer<br />
Bruchlandung? „Wir brauchen diese Erweiterungen<br />
dringend“, antwortet Bohle<br />
auf kritische Fragen zu seinem Investitionstempo.<br />
„Wir platzten zuvor aus allen<br />
Nähten.“ Bohle verweist auf das Auftragspolster,<br />
das für zehn Monate reicht, und auf<br />
die Eigenkapitalquote von über 50 Prozent.<br />
In den kommenden vier Jahren erwartet<br />
der gelernte Maschinenschlosser und<br />
studierte Maschinenbau-Ingenieur ein<br />
durchschnittliches jährliches Wachstum<br />
von 20 Prozent. Rund 80 Prozent des Bohle-Geschäfts<br />
kommen heute aus dem Ausland.<br />
„Begriffe wie Zuverlässigkeit, Qualität<br />
und Effizienz stehen nicht nur für die Maschinen,<br />
sondern auch für die Dienstleistungen“,<br />
fasst Hans-Georg Feldmeier, Geschäftsführer<br />
des Pharmaherstellers Mibe<br />
aus Brehna in Sachsen-Anhalt, seine Erfahrungen<br />
mit Unternehmen und Gründer<br />
Bohle zusammen.<br />
Der inzwischen 74-Jährige bereitet seinen<br />
Wechsel in den Beirat vor. Sohn Armin<br />
ist 40 Jahre alt und seit zehn Jahren im Unternehmen,<br />
derzeit als technischer Leiter.<br />
2014 soll eine Lösung für die Nachfolge<br />
und die künftige Geschäftsführung gefunden<br />
werden. Den Beirat hat Bohle schon<br />
2011 gegründet, damit die Mitglieder beim<br />
Übergang eingearbeitet sind. Bohle, der als<br />
Mittsechziger durchgehen würde, will sich<br />
nicht mit einem Leben im Ohrensessel begnügen,<br />
sondern seine Rolle im Beirat aktiv<br />
gestalten: „Ich werde mit vollem Herzen<br />
dabei sein, aber ich will nicht mehr die alleinige<br />
Verantwortung tragen.“<br />
n<br />
lothar schnitzler | unternehmen@wiwo.de<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
Flott unterwegs<br />
Designer Boehm<br />
sucht ständig nach<br />
neuen Formen für<br />
Zweiräder<br />
Impulse von außen<br />
OUTSOURCING | Um effizienter und flexibler arbeiten zu können,<br />
lagern immer mehr Mittelständler Entwicklungsprojekte aus.<br />
Jesko Boehm schaut auf seinen Bildschirm:<br />
Dreidimensionale, sich drehende<br />
Fahrradrahmen sind zu sehen.<br />
„Wir müssen einen Rahmen entwickeln für<br />
ein neues E-Bike“, sagt Boehm. „Es soll<br />
nicht wuchtig wirken, eher sportlich.“<br />
Der Produktdesigner des Hamburger<br />
Fahrradherstellers Bergamont sucht nach<br />
neuen Formen. Das Unternehmen, das vor<br />
20 Jahren nur mit Fahrrädern handelte, ist<br />
inzwischen auch ein florierender Produzent<br />
mit 60 Mitarbeitern und 28 Millionen Euro<br />
Umsatz. Zweiräder sind in urbanen Zentren<br />
wie der Hansestadt beliebt. Städter greifen<br />
dafür tief ins Portemonnaie. Seit ein paar<br />
Jahren hat Bergamont auch Pedelecs im Angebot,<br />
das sind Fahrräder mit Elektromotor.<br />
„Die Nachfrage wächst seit etwa fünf Jahren<br />
kontinuierlich“, sagt Boehm. Doch die Fans<br />
elektrischer wie konventioneller Räder erwarten<br />
Jahr für Jahr Innovationen. Bei Bergamont<br />
kümmern sich zehn Mitarbeiter um<br />
neue Entwicklungen. Zusätzlich holen sich<br />
die Hanseaten Ideen <strong>vom</strong> Industriedesign-<br />
Unternehmen Teams Design mit Hauptsitz<br />
in Esslingen: „Wir brauchen Impulse von<br />
außen“, konstatiert Boehm, „die technische<br />
Umsetzung danach können wir selbst.“<br />
HILFE VOM DIENSTLEISTER<br />
Damit ist Bergamont in guter Gesellschaft.<br />
Immer mehr Konzerne, aber auch Mittelständler<br />
übertragen große Teile ihrer Entwicklungsbudgets<br />
teilweise oder sogar<br />
komplett an externe Dienstleister. Der<br />
Markt für Technologieberatung und Ingenieurdienstleistungen<br />
in Deutschland hat<br />
heute ein Volumen von 8,5 Milliarden Euro,<br />
so eine Studie des in Kaufbeuren ansässigen<br />
Marktforschers Lünendonk (siehe Grafik<br />
Seite 84). Lünendonk listet jedes Jahr die 25<br />
größten Anbieter auf, darunter Bertrandt,<br />
IAV, Ferchau, Altran und MBtech.<br />
„Der hohe Innovationsdruck, komplexe<br />
Technologien, verbunden mit kurzen Innovationszyklen,<br />
sowie eine limitierte Zahl<br />
an internen Ingenieuren verstärken die<br />
Nachfrage nach externen Entwicklungsdienstleistungen“,<br />
sagt Studienautor Hartmut<br />
Lüerßen. Größter Auftraggeber ist die<br />
Automobilindustrie, gefolgt von der Luftund<br />
Raumfahrtbranche.<br />
Der Hamburger Teams-Design-Geschäftsführer<br />
Ulrich Schweig übernimmt<br />
nicht nur Entwicklungsaufgaben für Bergamont.<br />
Das international tätige Unternehmen,<br />
das mit 30 Mitarbeitern 3,2 Millionen<br />
Euro umsetzt, liefert Kreativ- und Strategieberatung<br />
in unterschiedlichen Planungs-<br />
und Umsetzungsstadien.<br />
So werden die Industriedesigner auch<br />
zu Rate gezogen, wenn die Technik be-<br />
»<br />
FOTO: PR<br />
82 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
»<br />
reits da ist, ein ausgereiftes Produkt aber<br />
noch fehlt. Bosch kam mit einem Fahrrad-<br />
Elektromotor zu Teams Design, um ihn<br />
marktreif zu entwickeln. Die Hanseaten erarbeiteten<br />
mit Bosch ein Konzept, um das<br />
Unternehmen zum Komponentenlieferanten<br />
für E-Bike-Hersteller zu machen.<br />
Heute ist Bosch mit 30 Prozent Marktanteil<br />
ein führender Teilelieferant im E-Bike-<br />
Geschäft.<br />
Auch Bode Chemie holt sich Hilfe von<br />
außen. Seit 90 Jahren stellen die Hamburger<br />
Mittel zur Desinfektion, Hygiene und<br />
zum Hautschutz her. Die rund 400 Produkte<br />
des Mittelständlers mit einem Umsatz<br />
von zuletzt rund 100 Millionen Euro sollen<br />
Keime und Bakterien töten und Infektionen<br />
verhindern. Das Unternehmen arbeitet<br />
bei der Forschung mit dem ortsansässigen<br />
öffentlichen Centrum für Angewandte<br />
Nanotechnologie (CAN) zusammen.<br />
Gemeinsam erforschen die Partner neue<br />
Methoden, um unterschiedliche Oberflächen<br />
wie Tischplatten oder PC-Bildschirme<br />
einfacher zu desinfizieren. „Wir sehen<br />
uns als verlängerte Forschungs- und Entwicklungsbank<br />
der Wirtschaft“, sagt Frank<br />
Schröder-Oeynhausen, Geschäftsführer<br />
des Gemeinschaftsprojektes, das als öffentlich-private<br />
Partnerschaft geführt wird.<br />
Die Betriebe kämen meistens schon mit<br />
relativ konkreten Produktideen auf das<br />
CAN zu, sagt er. Gemeinsam definiere man<br />
dann die notwendigen Forschungs- und<br />
Entwicklungsschritte. Entsteht am Ende<br />
ein marktfähiges Produkt, erhält das CAN<br />
häufig eine Gewinnbeteiligung.<br />
SCHNELLER AUF DEN MARKT<br />
Bode-Chemie-Forschungsleiterin Barbara<br />
Krug lobt das professionelle Projektmanagement<br />
und den ausgeprägten Forschergeist<br />
der externen Wissenschaftler: „Durch<br />
die Ausgliederung einiger F&E-Aktivitäten<br />
werden viele Prozesse beschleunigt, und<br />
wir können schneller mit neuen Produkten<br />
auf den Markt kommen.“<br />
Neben der Geschwindigkeit gibt es noch<br />
andere Gründe für den zunehmenden<br />
Trend zum Outsourcing. Bei vielen Mittelständlern,<br />
insbesondere technisch orientierten,<br />
sind Fachkräfte knapp.<br />
So braucht etwa Klaus Onderka, Prokurist<br />
bei Salzbrenner Stagetec Mediagroup,<br />
einem Unternehmen mit 260 Mitarbeitern<br />
aus dem fränkischen Buttenheim, dringend<br />
Ingenieure für neue Entwicklungsprojekte.<br />
Doch der Arbeitsmarkt ist leer gefegt.<br />
Salzbrenner Stagetec hat gerade das<br />
Opernhaus in Sydney und das Bolschoi<br />
Konstruieren, programmieren, projektieren<br />
Ingenieurdienstleister Ferchau und seine<br />
Mitarbeiter unterstützen Mittelständler<br />
Hilfe für den Mittelstand<br />
Umsatzentwicklungbei den 25 führenden<br />
deutschenTechnologieberaternund<br />
Ingenieurdienstleistern (inProzent, im<br />
Vergleichzum Vorjahr)<br />
10,8 10,1<br />
–4,6<br />
15,9<br />
14,8<br />
2008 20<strong>09</strong> 2010 2011 20<strong>12</strong><br />
Quelle:Lünendonk Marktforschung<br />
Theater in Moskau mit professioneller<br />
Ton- und Videotechnik sowie speziellen<br />
Signalanlagen für Theater ausgestattet.<br />
„Solche Großaufträge sind für uns ohne externe<br />
Dienstleister nicht zu schaffen“, sagt<br />
Onderka.<br />
20<strong>12</strong> hat sein Unternehmen 60 Millionen<br />
Euro umgesetzt. Die Franken entwerfen für<br />
Kunden rund um den Globus maßgeschneiderte<br />
hochwertige Audio- und Video-Lösungen,<br />
die hauptsächlich in<br />
Opernhäusern, Sportstadien und Fernsehstationen<br />
zum Einsatz kommen.<br />
Seit zehn Jahren arbeitet Onderka regelmäßig<br />
mit Ingenieuren des Gummersbacher<br />
Dienstleisters Ferchau Engineering<br />
zusammen. Für die Arbeiten in Australien<br />
benötigte Onderka 16 externe Fachkräfte:<br />
„Federführend bei den Projekten bleiben<br />
aber immer unsere eigenen Mitarbeiter.“<br />
Die Angst in mittelständischen Chefetagen,<br />
Kernkompetenzen nach draußen zu<br />
geben, kennt Frank Ferchau. Er führt mit<br />
mehr als 5700 Mitarbeitern in über 60 Niederlassungen<br />
einen der größten deutschen<br />
Dienstleister für Engineering und Outsourcing.<br />
20<strong>12</strong> lag der Umsatz bei 430 Millionen<br />
Euro. Seine Spezialisten arbeiten vor allem<br />
für Mittelständler aus Autoindustrie, Maschinenbau<br />
und Luftfahrt: „Wir entwickeln,<br />
konstruieren, projektieren – kurz:<br />
unterstützen den Kunden in allen Bereichen<br />
des Engineerings“, sagt Ferchau.<br />
Neben den Dienstleistungen wie bei<br />
Salzbrenner Stagetec, bei dem die Fachkräfte<br />
des Dienstleisters zum Kunden kommen<br />
und ihn bei Projekten unterstützen,<br />
bearbeitet das Unternehmen auch ganze<br />
Auftragspakete in den eigenen Büros.<br />
KOSTEN DRÜCKEN<br />
Solche Kooperationen funktionieren aber<br />
auch in umgekehrte Richtung. Das Karlsruher<br />
Institut für Technologie (KIT) beispielsweise,<br />
das zur Helmholtz-Gemeinschaft<br />
gehört, holt sich Rat in der Wirtschaft.<br />
Olaf Wollersheim, Projektleiter am<br />
KIT, und seine Forscherkollegen wollen<br />
mit ihrem Projekt Competence E die Kosten<br />
für die Produktion von Lithium-Ionen-<br />
Batterien drücken. Darum beauftragten sie<br />
den Anlagenbauer M+W Group aus Stuttgart,<br />
der zuletzt auf einen Jahresumsatz<br />
von 2,5 Milliarden Euro kam, mit dem Bau<br />
eines Trockenraums, in dem Lithium-<br />
Ionen-Akkus gebaut werden können.<br />
Seit ein paar Wochen ist der Raum fertig.<br />
„Durch die Kooperation haben wir eine<br />
enorme Qualität erreicht“, sagt Wollersheim.<br />
„Unsere Messgeräte sind an der unteren<br />
Grenze ihres Messbereichs angelangt,<br />
es ist fast keine Luftfeuchtigkeit<br />
mehr feststellbar.“ Das seien optimale Voraussetzungen<br />
für die Herstellung von<br />
Stromspeichern.<br />
„Die Kooperation gibt uns die Möglichkeit,<br />
unsere Entwicklungsergebnisse direkt<br />
in neue Fabrikkonzepte für die Batterieherstellung<br />
einfließen zu lassen und damit<br />
weltweit zu vermarkten“, sagt Andreas<br />
Gutsch, Koordinator des Projekts am KIT.<br />
Und auch der Dienstleister profitiert: „Gemeinsam<br />
werden wir schneller zu neuen<br />
Möglichkeiten der Kostensenkung in der<br />
Batterieproduktion unserer Kunden kommen“,<br />
sagt Jürgen Wild, Vorsitzender der<br />
Geschäftsführung bei M+W.<br />
Es gibt aber auch Grenzen für Outsourcing.<br />
So würde Bergamont-Fahrraddesigner<br />
Boehm auf keinen Fall die Projektleitung<br />
aus der Hand geben. „Das Briefing<br />
muss immer unsere Aufgabe bleiben.<br />
Wir müssen den Überblick behalten.“ n<br />
anja steinbuch | unternehmen@wiwo.de<br />
FOTO: PR<br />
84 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
Von Menschen und<br />
Prozessen<br />
DEKRA-AWARD | Die Auszeichnungen für wegweisende Konzepte<br />
im Bereich Umwelt und nachhaltige Personalpolitik gehen an zwei<br />
mittelständische Unternehmen.<br />
„Es gibt bei uns nicht nur Friede, Freude,<br />
Eierkuchen. Aber bei allem Zeit- und Leistungsdruck<br />
versuchen wir ein Umfeld zu<br />
schaffen, das es den Mitarbeitern erlaubt,<br />
ihre maximale Leistung zu bringen, ohne<br />
sich dabei zu verausgaben“, erklärt Orthaus<br />
die Arbeitsphilosophie des Hauses.<br />
Das Konzept trägt Früchte. Vanderlande<br />
Industries, die deutsche Softwaretochter<br />
des gleichnamigen niederländischen Maschinenbaukonzerns<br />
mit einem Umsatz<br />
von rund 750 Millionen Euro, ist nicht nur<br />
wiederholt als beliebtester Ausbildungsbetrieb<br />
im Ruhrgebiet ausgezeichnet worden.<br />
Für seine nachhaltige Personalpolitik wurde<br />
der Mittelständler aus Dortmund jetzt<br />
auch mit dem Dekra-Award in der Kategorie<br />
Gesundheit geehrt:„Die Firma“, heißt es<br />
in der Laudatio der Jury, „hat ein ganzheitliches<br />
Konzept eingeführt, welches die aktive<br />
Suche nach Nachwuchskräften beinhaltet.<br />
Zudem misst das Unternehmen mit<br />
innovativen Methoden regelmäßig die<br />
Auslastung der Mitarbeiter, fördert sportliche<br />
Aktivitäten und sorgt mit einem Gesundheitskonzept<br />
dafür, dass die Mitarbeiter<br />
eine gute Work-Life-Balance finden.“<br />
Gesundes Arbeitsklima<br />
Das Softwareunternehmen<br />
Vanderlande sorgt<br />
für stressfreie Meetings<br />
Sechs Wochen ist noch Zeit, dann<br />
muss das Programm für den Kunden<br />
geschrieben und getestet sein. Eine<br />
große Supermarktkette am anderen Ende<br />
der Welt – der Kunde legt Wert auf Diskretion<br />
– hat am Rande einer Millionenstadt ein<br />
Kühlhaus gebaut, in dem Fleisch reifen<br />
soll. Stücke von Rind, Schwein und Lamm<br />
werden hier in koffergroße Transportbehälter<br />
gepackt und von automatisch arbeitenden<br />
Fördersystemen im Hochregallager<br />
verstaut – um Stunden oder Tage später in<br />
der benötigten Menge hervorgeholt und in<br />
einer Fleischfabrik für den Verkauf portioniert,<br />
filetiert oder verwurstet zu werden.<br />
Vor Inbetriebnahme der Anlage sind im<br />
fernen Dortmund noch etliche Fragen für<br />
die Steuerungssoftware zu klären: Wie viel<br />
Material kommt im Kühlhaus täglich an?<br />
Und wie stapelt man die Ware so, dass sie<br />
nicht nur wenig Platz beansprucht, sondern<br />
auch nach Frischegrad sortiert ist?<br />
Außerdem sollte die Software auch Lieferdaten<br />
aus dem Schlachtbetrieb verarbeiten<br />
können – Wunsch des Kunden ist eine<br />
durchgängige Informationskette.<br />
Stress ist bei der Teambesprechung der<br />
Softwareentwickler von Vanderlande Industries<br />
dennoch nicht zu spüren. Es wird<br />
geflachst, es wird gelacht, Mandarinen<br />
werden gepellt – um dann wieder konzentriert<br />
am nächsten Detail des Kommissionierungssystems<br />
zu feilen.<br />
STÖRFAKTOREN GESUCHT<br />
Zwischendurch findet einer der jungen<br />
Mitarbeiter sogar noch Zeit für eine wöchentliche<br />
Routine – das Feedback-Gespräch<br />
mit seinem Vorgesetzten Frank Orthaus.<br />
Dieser möchte von ihm hören, ob aktuell<br />
möglicherweise irgendwelche Faktoren<br />
eine effektive Arbeit stören oder verhindern.<br />
Lange braucht das Gespräch<br />
nicht: Schon nach einer Viertelstunde brütet<br />
der Entwickler wieder über dem Kühlhaus-Projekt.<br />
FRÜCHTEKÖRBE FÜR ALLE<br />
Der Kopf hinter der preisgekrönten Initiative<br />
ist Bodo Schlenker. Der Elektrotechnik-<br />
Ingenieur leitet seit 2008 das operative Geschäft.<br />
Software aus Dortmund steuert die<br />
Abläufe in automatisierten Lagerhäusern<br />
in aller Welt, aber auch Gepäckfördersysteme<br />
an Großflughäfen wie Berlin.<br />
Das Geschäft brummt: Der Internet-<br />
Handel lässt überall neue Warenverteilzentren<br />
emporwachsen – und sorgt dafür,<br />
dass bei Vanderlande Industries die Arbeit<br />
nicht ausgeht und wohl auch 2014 neue<br />
Kräfte eingestellt werden müssen. Nur ist<br />
das Unternehmen außerhalb der Branche<br />
und des Dortmunder Technologieparks<br />
kaum bekannt. Um neue Mitarbeiter zu gewinnen<br />
und wertvolle Kräfte zu halten, hat<br />
Schlenker ein Bündel von Maßnahmen<br />
entwickelt, die für ein gutes Arbeitsklima<br />
und einen außergewöhnlich niedrigen<br />
Krankenstand von unter zwei Prozent sorgen.<br />
Auf allen Fluren und in allen Konferenzräumen<br />
stehen Obstkörbe für die 200 Mitarbeiter.<br />
Es gibt Sportaktivitäten, Healthand-Safety-Schulungen<br />
sowie eine regelmäßige<br />
Überprüfung der Arbeitsplätze<br />
durch die Berufsgenossenschaft. Wöchentliche<br />
Feedback-Gespräche mit den Führungskräften<br />
und Resilienzprogramme sollen<br />
verhindern, dass im Projektgeschäft<br />
FOTO: DOMINIK ASBACH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PR<br />
86 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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der Stress überhandnimmt. E-Mails an Urlauber<br />
sind genauso verpönt wie Anrufe<br />
bei Beschäftigten außerhalb der Arbeitszeiten<br />
– Notfälle ausgenommen. Schlenker:„Wir<br />
verstehen uns hier als Kollektiv, in<br />
dem sich jeder um den anderen kümmert.“<br />
Probleme erkennen, noch ehe sie entstehen,<br />
und Lösungen unbürokratisch und in<br />
Eigeninitiative entwickeln: Diese Geschäftsphilosophie<br />
eint Vanderlande Industries<br />
mit dem zweiten Preisträger des<br />
Dekra-Awards, die Fritz-Gruppe aus Heilbronn.<br />
Das familiengeführte mittelständische<br />
Speditionsunternehmen – Jahresumsatz<br />
20<strong>12</strong>: 69,3 Millionen Euro – überzeugte<br />
die Jury in der Kategorie Umwelt mit einem<br />
umfassenden Klimaschutz-Programm.<br />
„Als zukunftsorientiertes Logistikunternehmen<br />
und im Interesse künftiger Generationen<br />
stehen wir vor der Herausforderung,<br />
ökologische und ökonomische Notwendigkeiten<br />
intelligent miteinander zu<br />
verknüpfen“, erklärt Geschäftsführer Wolfram<br />
Fritz seine Motivation, das 1938 gegründete<br />
Transportunternehmen auf<br />
„Green Logistics“ zu trimmen.<br />
So senkte eine neue Lkw-Waschanlage<br />
den jährlichen Wasserverbrauch um mehr<br />
Mit Eco-Fahrtraining in die Zukunft<br />
Spediteur Fritz setzt auf Umweltschutz<br />
als 27 Prozent, ein aufwendiges Abfallmanagement<br />
die im Betrieb anfallende Restmüllmenge<br />
um fast 30 Prozent. Fotovoltaikmodule<br />
über der Laderampe sollen in<br />
diesem Jahr rund <strong>12</strong>0 000 Kilowattstunden<br />
Strom erzeugen und damit den Energieverbrauch<br />
bei Lagerhaltung und in der Verwaltung<br />
deutlich senken. Der Sonnenstrom<br />
wird unter anderem dazu genutzt,<br />
um die elektrisch betriebenen Gabelstapler<br />
auf dem Werksgelände zu laden.<br />
Die größten Fortschritte, berichtet der<br />
Umweltbeauftragte Andreas Nohe, seien<br />
im Fuhrpark erzielt worden. Die Fritz-<br />
Gruppe, die unter anderem Autoteile, Lebensmittel,<br />
Chemikalien und Flüssigmetalle<br />
transportiert, setzt im internationalen<br />
Verkehr über 100 Lastzüge ein. Das<br />
Gros der Trucks erfüllt die Schadstoffnorm<br />
Euro 5, zwei nagelneue Zugmaschinen<br />
von Scania sogar die nochmals strengere<br />
Euro-6-Norm. Um die Flotte effektiv<br />
nutzen zu können, hat Geschäftsführer<br />
Fritz ein Telematiksystem installieren lassen.<br />
Damit werden sämtliche Fahrten<br />
haarklein dokumentiert.<br />
Und Nohe hat alle Kraftfahrer zum Eco-<br />
Intensiv-Training geschickt. Wie er andeutet,<br />
hatten einige der altgedienten Trucker<br />
anfangs Mühe, sich mit den „neumodischen“<br />
Fahrtechniken anzufreunden. Inzwischen<br />
lässt sich der Erfolg der Schulung<br />
mit Tankquittungen belegen: Der<br />
Spritverbrauch sank in drei Jahren um fast<br />
ein Drittel auf unter 30 Liter pro 100 Kilometer.<br />
Unter dem Strich stand eine<br />
Ersparnis von fast 700 000 Liter Diesel.<br />
Nohe: „Fragen nach dem Sinn der Schulungen<br />
werden inzwischen nicht mehr<br />
gestellt.“<br />
n<br />
franz.rother@wiwo.de<br />
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Technik&Wissen<br />
Erste Wahl<br />
MOBILFUNK | Bester Klang, Datenturbo beim mobilen Online-Zugriff oder ein ausgewogener<br />
Mix aus Sprache und Daten – Geschäftskunden haben ganz unterschiedliche<br />
Anforderungen an ihr Handynetz. Der exklusive Business-Check der WirtschaftsWoche und<br />
des Fachmagazins „Connect“ zeigt, welches Mobilfunknetz für wen am besten passt.<br />
Top oder Flop? Wenn die Experten<br />
<strong>vom</strong> Stuttgarter Mobilfunkmagazin<br />
„Connect“ alljährlich<br />
im Dezember ihren Netztest publizieren,<br />
ist das für die Technikchefs<br />
von Deutscher Telekom, Vodafone,<br />
Telefónica O2 oder E-Plus immer ein wenig<br />
wie der Besuch <strong>vom</strong> Nikolaus: Wo die Netze<br />
schwächeln, setzt es verbale Haue – erst<br />
von „Connect“, dann <strong>vom</strong> Vorstand.<br />
Für die Sieger aber gibt es Süßes, Lob für<br />
die Qualität, die sich erfolgreich bewerben<br />
lässt: „Deutschlands bestes Netz“ – der renommeeträchtige<br />
Titel, den die Deutsche<br />
Telekom in diesem Jahr zum dritten Mal in<br />
Folge erringt, zählt am Markt. Und doch ist<br />
das Urteil über alle Technikdisziplinen,<br />
von der Dauer beim Gesprächsaufbau von<br />
Telefonaten bis zur Zahl der Ruckler beim<br />
mobilen YouTube-Konsum, für viele Kunden<br />
weniger wichtig, als es scheint. Das gilt<br />
speziell für Geschäftsleute.<br />
Deren Jobs sind heute ohne Handy zwar<br />
kaum mehr denkbar. Doch ob Managerin<br />
oder Monteur, Sozialarbeiterin oder Servicetechniker,<br />
alle haben ganz unterschiedliche<br />
Anforderungen ans Funknetz:<br />
Bester Klang, höchstes Tempo bei Daten,<br />
ein ausgewogener Mix oder ein optimales<br />
Preis-Leistungs-Verhältnis – was für den einen<br />
zählt, ist für den anderen Nebensache.<br />
FOKUS AUF GESCHÄFTSKUNDEN<br />
Auch in diesem Jahr hat die Wirtschafts-<br />
Woche daher auf Basis der von „Connect“<br />
zur Verfügung gestellten Daten eine exklusive<br />
zweite Analyse erstellt und so die optimalen<br />
Business-Netze ermittelt – jeweils<br />
ausgerichtet an den Bedürfnissen von vier<br />
typischen Geschäftskunden: Denn das im<br />
Wähler-Votum<br />
Stärken-und-Schwächen-Profil der<br />
deutschen Netzbetreiber, gemessen in<br />
Prozent der optimalen Versorgungsqualität<br />
Telefonie<br />
Ballungsraum<br />
Telefonie Land/<br />
Autobahn<br />
Daten<br />
Ballungsraum<br />
Daten Land/<br />
Autobahn<br />
Gesamturteil<br />
(gewichtet)<br />
Telekom Vodafone<br />
89<br />
81<br />
96<br />
90<br />
91<br />
Quelle: Connect, P3 Communications,<br />
eigene Berechnungen<br />
Durchschnitt beste Netz ist nicht für jeden<br />
Nutzertyp die beste Wahl. Für manchen<br />
passt das Angebot der Konkurrenz besser.<br />
Basis der Bewertung sind 16 000 Testanrufe,<br />
100000 Web-Seiten-Abrufe und 40000<br />
Dateiübertragungen via Handy oder Tablet.<br />
Die Experten des „Connect“-Messpartners<br />
P3 Communications haben die Daten auf<br />
Tausenden Kilometern Testfahrten durch<br />
die Republik erfasst – von Aachen bis Dresden<br />
und von München bis Kiel.<br />
Viele Gigabyte an Messwerten zur Stabilität<br />
und Leistungsfähigkeit der Sprachund<br />
Datenverbindungen fließen so in die<br />
Stärke-und-Schwäche-Profile der vier<br />
deutschen Mobilfunknetze ein. Sie bestimmen<br />
die Empfehlungen auf den folgenden<br />
Seiten. Und sie fallen für einzelne Business-Bedürfnisse<br />
zum Teil ganz anders aus<br />
als das in dieser Woche parallel veröffentlichte<br />
Universalurteil aus Stuttgart.<br />
60<br />
56<br />
88<br />
81<br />
77<br />
O2<br />
73<br />
59<br />
81<br />
41<br />
70<br />
E-Plus<br />
86<br />
65<br />
66<br />
49<br />
68<br />
Dabei steckt die Branche mitten im radikalen<br />
Wandel. Denn der anhaltende<br />
Smartphone-Boom zwingt die Mobilfunker,<br />
ihre Netze komplett umzustellen. Die<br />
etablierte GSM- und UMTS-Technik stößt<br />
angesichts der explosionsartig wachsenden<br />
Datenmengen an ihre Grenzen. Telekom,<br />
Vodafone und O2 rüsten ihre Sendestationen<br />
daher schon mit der neuen ultraschnellen<br />
LTE-Technik auf. E-Plus will im<br />
kommenden Jahr nachziehen.<br />
TÜCKEN BEIM TURBO<br />
Doch der Umbau hat Tücken: LTE ist zwar<br />
in der Lage, immense Datenmengen zu<br />
übertragen; teils schneller als viele DSL-<br />
Festnetzanschlüsse. Zugleich aber ist der<br />
Übertragungsstandard Voice over LTE<br />
(VoLTE) für Telefonate über die neue Netztechnik<br />
weder etabliert, noch beherrschen<br />
die aktuellen Smartphones die Technik.<br />
Und so müssen die Telefone bei Anrufen<br />
immer erst den Datenturbo kappen, um<br />
dann Sprachverbindungen über die ältere<br />
GSM- oder UMTS-Technik aufzubauen.<br />
Unerwünschter Nebeneffekt: „Speziell bei<br />
Vodafone und O2 geht der LTE-Tempogewinn<br />
bei Daten zulasten von Geschwindigkeit<br />
und Erfolgsquote beim Aufbau von<br />
Sprachverbindungen“, erklärt „Connect“-<br />
Cheftester Bernd Theiss die, verglichen mit<br />
dem Vorjahr, teils merklich schlechteren<br />
Ergebnisse einiger Anbieter.<br />
Wie sich das in den vier Nutzerszenarien<br />
bemerkbar macht, welches Netz sich für<br />
welchen Mobilfunkbedarf am besten eignet<br />
und auch, wie Handyasketen glücklich<br />
werden, das lesen Sie auf den folgenden<br />
Seiten.<br />
thomas.kuhn@wiwo.de, thiemo bräutigam<br />
FOTO: ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
88 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Jede Silbe zählt<br />
Investmentbanker Riedlbauer<br />
managt Telefonkonferenzen via<br />
Handy – auch aus dem Taxi<br />
Manager<br />
Wenn Julian Riedlbauer mal<br />
den Anschluss verliert, könnte<br />
das richtig teuer werden. Denn der<br />
39-Jährige, Partner bei der Investmentbank<br />
GP Bullhound, steckt als Experte für Unternehmenszukäufe<br />
und -zusammenschlüsse<br />
von Technologieunternehmen regelmäßig<br />
Stunden in Telefonkonferenzen, um die<br />
Gespräche potenzieller Geschäftspartner<br />
zu moderieren.<br />
t<br />
Priorität Qualität<br />
Viel reisend<br />
Stets erreichbar<br />
Höchste Sprachqualität<br />
Vielfach <strong>vom</strong> Handy aus, weil Riedlbauer<br />
pro Woche oft mehr Zeit unterwegs als<br />
an seinem Berliner Schreibtisch verbringt.<br />
„Erstklassige Sprachqualität und ein<br />
schneller Verbindungsaufbau“ sind für den<br />
M&A-Berater daher Top-Kriterien bei der<br />
Wahl des Handynetzes. Für Mobilfunkkunden<br />
wie ihn, bei denen das Smartphone<br />
zum mobilen Büro mutiert, sind Wartezeiten<br />
bei der Anwahl, Abbrüche, Störgeräusche<br />
oder Silben, die im Funknetz<br />
verloren gehen, schlicht inakzeptabel. „Bei<br />
den Gesprächen kommt es auf jedes Wort<br />
an“, sagt Riedlbauer, „da ist die zuverlässige<br />
Handyverbindung ein absolutes Muss.“<br />
Ein paar Euro mehr oder weniger für den<br />
Mobilfunktarif zählen nicht, wenn es um<br />
Millionendeals geht. Kunden wie er setzen<br />
stattdessen auf modernste Übertragungstechnik<br />
und beste Netzabdeckung, auch<br />
abseits der Ballungsräume.<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 89<br />
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Technik&Wissen<br />
»<br />
Die Stabilität der Internet-Verbindungen<br />
ist eher nachrangig. Klar, E-Mails und<br />
Anhänge müssen zügig ankommen,<br />
aber höchstes Tempo<br />
bei Versand oder Download<br />
der Nachrichten fällt – im Vergleich<br />
mit Verlässlichkeit und<br />
Verständlichkeit der Sprachverbindungen<br />
– weniger ins<br />
Gewicht.<br />
Klarer Sieger dieses Business-Szenarios<br />
ist die Deutsche<br />
Telekom. Ihr Netz liefert<br />
nicht nur in den besser ausgebauten<br />
Ballungsräumen Bestwerte,<br />
sondern auch auf den<br />
Strecken dazwischen, die durch<br />
ländliche Regionen führen. Mit<br />
98 Prozent Erfolgsrate beim<br />
Verbindungsaufbau, 99,6 Prozent<br />
durchgehend akzeptablen<br />
Verbindungen und nur 6,3 Sekunden<br />
Wartezeit beim Rufaufbau<br />
setzen die Bonner Standards. Umso<br />
mehr, als die Telekom bereits in Teilen des<br />
Netzes die hochwertige HD-Voice-Technik<br />
einsetzt, was eine deutlich hörbar bessere<br />
Klangqualität ermöglicht.<br />
Auf HD-Voice müssen Kunden von<br />
E-Plus zwar verzichten. Doch bei dem in<br />
diesem Szenario Zweitplatzierten, der lange<br />
unter Qualitätsproblemen litt, zahlen<br />
sich nun die massiven Investitionen ins<br />
Netz aus. Zwar hat E-Plus als einziger Anbieter<br />
noch nicht mit dem LTE-Ausbau begonnen.<br />
Doch wer primär telefoniert, und<br />
das auch noch bevorzugt in städtischen<br />
Gebieten, bekommt sehr gute Sprachverbindungen<br />
auch in diesem Netz – und das<br />
für weniger Geld.<br />
Netz-Tipp: Deutsche Telekom<br />
Bedarf: Zehn Stunden Sprachtelefonie<br />
im Monat, Gesprächsverteilung Festnetz/<br />
Mobil: 2/3 zu 1/3; zwei Gigabyte Datenvolumen,<br />
mittlere Datengeschwindigkeit<br />
Top-Anbieter: Kein Netz baut Telefonate<br />
in Städten und Umland so schnell und so<br />
verlässlich auf wie das der Telekom – und<br />
das trotz des potenziell zeitaufwendigen<br />
Wechsels von LTE zu GSM/UMTS. Auch<br />
fern der Städte auf den Autobahnen ist die<br />
Telekom nicht zu schlagen<br />
Alternativen: Schnelle und verlässliche<br />
Anwahl, stabile Verbindungen, das bietet<br />
E-Plus in Stadt und Umland für weniger<br />
Geld als die Telekom. Auf dem Land wird<br />
der Abstand zum Gesamtsieger größer –<br />
aber nicht markant<br />
Priorität Preis<br />
Selbstständige<br />
Gute<br />
Erreichbarkeit in<br />
Ballungsräumen<br />
Niedrige Kosten<br />
t<br />
Im Grunde genommen<br />
könnte Emine Ortac ihr Bürotelefon<br />
auch abmelden.<br />
Schließlich sei sie „ohnehin<br />
fast den ganzen Tag unterwegs“,<br />
sagt die <strong>vom</strong> Gericht<br />
bestellte gesetzliche Berufsbetreuerin,<br />
die im<br />
Düsseldorfer Umland für<br />
seelisch Kranke tätig ist.<br />
Nicht nur für ihre Klienten<br />
ist die 50-Jährige fast<br />
ausschließlich über ihr Mobiltelefon<br />
erreichbar. Auch<br />
die täglich hohe zweistellige<br />
Zahl von Telefonaten<br />
mit Behörden, Gerichten,<br />
Krankenhäusern, Banken<br />
oder Sozialarbeitern erledigt<br />
die examinierte Krankenschwester<br />
per Handy. „Wenn ich abends ins<br />
Büro komme, ist es für Rückrufe eh zu spät“,<br />
sagt sie, die am Schreibtisch stattdessen Papierkram<br />
und E-Mail-Verkehr erledigt.<br />
Gute Erreichbarkeit, aber zu vertretbaren<br />
Preisen, das ist für kostenbewusste<br />
Selbstständige wie<br />
Emine Ortac das entscheidende<br />
Kriterium. Wenn es dafür bei der<br />
Anwahl des Gesprächspartners mal<br />
etwas länger dauert, dann nehmen<br />
sie das im Tausch gegen ein merklich<br />
niedrigeres Mobilfunkbudget<br />
gern in Kauf. Und auch beim mobilen<br />
Zugriff aufs Internet oder dem Austausch<br />
von E-Mails spielt Schnelligkeit zumeist<br />
eine geringere Rolle. Erst recht, wenn<br />
die Masse der Schreibarbeiten ohnehin am<br />
Büro-PC anfällt.<br />
Dass der „Connect“-Gesamtsieger Deutsche<br />
Telekom beispielsweise Daten mehr<br />
als fünf-, der Zweitplatzierte Vodafone immerhin<br />
noch knapp dreimal schneller<br />
durch den Äther schiebt als der – mangels<br />
LTE-Infrastruktur – langsamste Netzbetreiber<br />
E-Plus, fällt in diesem Nutzerszenario<br />
folglich nicht ins Gewicht. Hier bieten die<br />
Düsseldorfer Mobilfunker für Kunden wie<br />
Betreuerin Ortac das passende Angebot.<br />
Umso mehr, als E-Plus-Kunden umgekehrt<br />
durch sehr kurze Rufaufbauzeiten<br />
sogar davon profitieren, dass der potenziell<br />
zeitraubende Wechsel der Funktechnik –<br />
noch – wegfällt. Das könnte sich durch den<br />
LTE-Ausbau ab nächstem Jahr ändern,<br />
muss aber nicht. Denn die Netztechniker<br />
der Telekom beweisen mit extrem schnellen<br />
Verbindungen, dass sich die Umschalt-<br />
Gedenksekunden dem Netz auch abtrainieren<br />
lassen.<br />
Netz-Tipp: E-Plus<br />
Bedarf: Vier Stunden Sprachtelefonie,<br />
Gesprächsverteilung Festnetz/Mobil:<br />
1/3 zu 2/3; 500 Megabyte Datenvolumen,<br />
niedrige Datengeschwindigkeit<br />
Top-Anbieter: Lange der abgeschlagene<br />
letzte unter den vier Netzbetreibern, hat<br />
E-Plus deutlich aufgeholt und sich zum<br />
attraktivsten Angebot für preissensible<br />
Telefonkunden ohne große Ansprüche bei<br />
mobilen Internet-Zugriffen gemausert<br />
Alternativen: Ebenfalls preiswerter als die<br />
beiden D-Netze und – dank der teils<br />
schon installierten LTE-Infrastruktur – bei<br />
Datenübertragungen leistungsstärker,<br />
empfiehlt sich O2 für Preisbewusste mit<br />
etwas höheren Ansprüchen an mobile<br />
Datenübertragungen<br />
Netzwerker<br />
Prorität Leistung<br />
Schnelle Datenübertragung<br />
Gute Sprachqualität<br />
Manchmal sagt ein Bild eben mehr als<br />
alle Worte, um Kunden eine Idee zu vermitteln.<br />
Dann ist Michael Herling gefragt,<br />
die Vorstellungen zu visualisieren. „Da hilft<br />
es, schnell ein Foto oder Video einer Location<br />
zu machen und per Handy zu verschicken“,<br />
sagt der Grafikdesigner und Videokünstler,<br />
der in Brühl bei Köln mit seiner<br />
Frau die Agentur für Design und Gestaltung<br />
Digitale Frische betreibt.<br />
Längst dient das Smartphone dabei für<br />
den 45-Jährigen als kommunikatives<br />
Allzweckwerkzeug. „Ich bin oft unterwegs,<br />
bearbeite Mails und lade oder verschicke<br />
Präsentationsvideos.“ VimeoPlus-Account<br />
und Dropbox-App zum Austausch großer<br />
Dateien fordern das Funknetz zusätzlich.<br />
Kein Wunder, dass Herling kürzlich einen<br />
Nachschlag aufs Telefon- und Datenvolumen<br />
dazugebucht hat. Denn zuletzt<br />
hielt das Inklusivvolumen mit dem wachsenden<br />
Kommunikationsbedarf nicht<br />
mehr mit.<br />
t<br />
FOTO: DOMINIK PIETSCH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
90 Nr. 50 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Priorität Daten<br />
Ob Web-Zugriff oder Telefonkonferenz,<br />
das erfordere eine gute Netzleistung – sowohl<br />
bei der Gesprächsqualität als auch<br />
beim Datenverkehr, sagt der Designer, der<br />
auch beim Versand von E-Mails und Dateien<br />
Wert auf möglichst hohe Geschwindigkeiten<br />
legt. Für Kunden mit einem solchen<br />
Nutzerprofil gibt es aktuell keine ernsthafte<br />
Alternative zu den beiden großen Netzbetreibern.<br />
Wer auf besonders schnelle<br />
Uploads angewiesen ist, kommt bei Vodafone<br />
etwas besser weg.<br />
Netz-Tipp: Vodafone<br />
Bedarf: Sechs Stunden Sprachtelefonie;<br />
Gesprächsverteilung Festnetz/Mobil: 3/4<br />
zu 1/4; drei Gigabyte Datenvolumen mit<br />
hoher Geschwindigkeit auch beim Upload<br />
Top-Anbieter: Wer Wert auf hohe Sprachqualität<br />
legt und bereit ist, für schnellere<br />
Uploads etwas weniger Tempo beim<br />
Download (gemessen an den herausragend<br />
hohen Geschwindigkeiten der Telekom) in<br />
Kauf zu nehmen, der ist bei Vodafone gut<br />
aufgehoben, das O2 und E-Plus beim<br />
mobilen Internet klar hinter sich lässt<br />
Alternativen: Deutlich mehr Tempo beim<br />
Gesprächsaufbau und speziell beim Laden<br />
großer Daten aus dem Netz bietet die Telekom.<br />
Einen etwas verlässlicheren Verbindungsaufbau<br />
als Vodafone bietet O2, das<br />
preisgünstiger, aber bei Daten auch merklich<br />
langsamer ist<br />
Onliner<br />
Wenn’s beim Mobilfunk<br />
klemmt, bekommt Heinz Sattler<br />
Probleme. Denn ohne leistungsstarken<br />
Mobilzugang zum Internet kann der 55-<br />
Jährige bei seinen Kunden oft wenig ausrichten.<br />
Sattler verantwortet beim Druckund<br />
Dokumentenmanagement-Spezialisten<br />
Kyocera die technische Händler- und<br />
Projektbetreuung.<br />
„Updates mit neuen Funktionen oder<br />
zur Anpassung von Druckern und Multifunktionsgeräten<br />
an die IT der Kunden<br />
sind unser Tagesgeschäft“, sagt der Büromaschinenexperte<br />
aus Meerbusch. „Oft<br />
genug sind die Updates viele Megabyte<br />
groß.“ Der einfachste Weg aber, die Daten<br />
über den Netzzugang der Kunden einzuspielen,<br />
ist oft verbaut. „Vielfach kollidiert<br />
das mit IT-Sicherheitsvorgaben“, erklärt<br />
Sattler, zu dessen Kunden Banken, Sparkassen,<br />
Versicherungen und Krankenhäuser<br />
gehören. „Die erlauben es Externen<br />
nicht, sich ans interne Netz anzudocken.“<br />
Für Geschäftsleute wie Sattler und sein<br />
elf Köpfe starkes Team ist der mobile Internet-Zugang<br />
daher Pflicht. Und hohe Datengeschwindigkeit<br />
ist ebenso wichtig wie Verfügbarkeit<br />
in abgelegenen Regionen, wo<br />
mancher Kunde seinen Sitz hat. Und während<br />
der Techniker zum Telefonieren notfalls<br />
noch vor die Tür treten kann, geht beim<br />
t<br />
Maximales Tempo und Verlässlichkeit<br />
der Datenverbindung<br />
Auch abseits von Städten<br />
Update der großen Drucksysteme ohne<br />
In-Haus-Funkversorgung gar nichts.<br />
Für solche Nutzerszenarien bietet erneut<br />
die Telekom dank des gut ausgebauten<br />
LTE-Netzes das beste Angebot. Sie ist je<br />
nach Übertragstyp bis zu zwei Mal schneller<br />
als Konkurrent Vodafone – und bietet<br />
bis zu fünf Mal mehr Tempo als E-Plus.<br />
Netz-Tipp: Telekom<br />
Bedarf: Sprachtelefonie ist hier irrelevant;<br />
sechs Gigabyte Datenvolumen bei höchster<br />
Übertragungsgeschwindigkeit<br />
Top-Anbieter: So schnell wie die Telekom<br />
funkt im Test kein Anbieter die Daten <strong>vom</strong><br />
Netz zum Endgerät. Und auch die Erfolgsrate<br />
beim Datenabruf ist fast durchweg<br />
besser als bei der Konkurrenz<br />
Alternativen: Außerhalb der Ballungsräume<br />
reicht Vodafone bei Download und<br />
Verbindungsqualität fast an die Telekom<br />
heran. Wer dort unterwegs ist, wird auch in<br />
diesem Netz gut versorgt – umso mehr,<br />
als Vodafone beim Upload fast durchweg<br />
etwas bessere Werte liefert als die Telekom<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 92 »<br />
Bilder sprechen lassen<br />
Designer Herling schickt<br />
seinen Kunden per<br />
Smartphone Fotos und<br />
Videos von Event-Locations<br />
WirtschaftsWoche 9.<strong>12</strong>.<strong>2013</strong> Nr. 50 91<br />
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Technik&Wissen<br />
KOMMUNIKATION<br />
Urlaub im Funkloch<br />
Wo gestresste Vieltelefonierer abschalten können.<br />
Kennen Sie die Diagnose<br />
„Servus Manicus Smartfonicum“,<br />
auch bekannt<br />
als „Sklaven-Phonitis“? So<br />
beschreibt die Bestsellerautorin<br />
Anitra Eggler in ihrem Buch<br />
„Facebook macht blöd, blind und erfolglos“<br />
augenzwinkernd ein verbreitetes<br />
Phänomen der Handygesellschaft: „Vom<br />
Smartphone versklavt. Ständig erreichbar,<br />
niemals wirklich da.“ Als Therapie<br />
verschreibt Eggler ihren Lesern eine<br />
simple Radikalkur: einfach mal abschalten.<br />
Wortwörtlich.<br />
Urlaub im Funkloch, der Gedanke trifft<br />
bei deutschen Urlaubern auf wachsendes<br />
Interesse. So ermittelte etwa das Reisebuchungsportal<br />
Lastminute.de in seiner<br />
jährlichen Umfrage eine sinkende Bereitschaft<br />
der Deutschen, sich auch im<br />
Urlaub oder während der Freizeit zum Sklaven<br />
von iPhone und Co. zu machen.<br />
Nur vier von zehn Befragten fanden es<br />
bei der jüngsten Erhebung noch akzeptabel,<br />
außerhalb der Bürozeiten am Smartphone<br />
zu arbeiten. „Das sind immer noch<br />
viele, aber es werden weniger“, sagt Lastminute.de-Geschäftsführer<br />
Jörg Burtscheidt.<br />
Zwei Jahre zuvor bezeichneten<br />
sich noch 53 Prozent als „Urlaubsarbeiter“.<br />
Noch sind die radikalen Handyabstinenzler<br />
eine Minderheit, doch die Nachfrage<br />
steigt: Immer mehr Menschen wollen den<br />
Urlaub auch kommunikativ abgenabelt genießen<br />
und verzichten ganz bewusst auf die<br />
Option der ständigen Erreichbarkeit durch<br />
Smartphone oder mobiles Internet.<br />
Darauf stellt sich die Tourismusbranche<br />
nun ein. Lastminute.de etwa hat eine<br />
eigene Rubrik an Urlaubszielen „Klingelfreier<br />
Urlaub“ in sein Internet-Buchungsprogramm<br />
integriert. Die Onliner folgen einem<br />
Trend, wie er auch in den USA oder Großbritannien<br />
schon von Reiseveranstaltern<br />
aufgegriffen wurde. „Black Hole Hotels“,<br />
also Hotels im Schwarzen Loch, oder „Digital<br />
Detox“, die digitale Entgiftung, sollen all<br />
jenen Erholung bieten, die das Handygebimmel<br />
in der Freizeit nervt.<br />
Denn Stress macht krank. Das sagt jedenfalls<br />
Michael Kastner, Arzt und Betriebspsychologe.<br />
„Wer im Urlaub ständig<br />
seine Mails abruft, gefährdet langfristig<br />
seine Gesundheit.“ Gäste im Inselstaat St.<br />
Vincent und Grenadinen, die eine Detox-<br />
Pauschale buchen, bekommen daher <strong>vom</strong><br />
Gastgeber gleich zu Beginn ein ausführliches<br />
Handbuch mit der Aufforderung unter<br />
Punkt 1: „Schalten Sie jetzt Ihr Handy aus.“<br />
Das ist vermutlich sogar angebracht. Immerhin<br />
ermittelte der High-Tech-Verband<br />
Bitkom bereits vor zwei Jahren, dass gerade<br />
einmal 18 Prozent der Bundesbürger ihr<br />
Handy überhaupt noch deaktivieren. Vermutlich<br />
ahnt ein Großteil der Deutschen inzwischen<br />
nicht einmal mehr, wo sich der<br />
Aus-Knopf überhaupt befindet.<br />
FOTO: PR<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Zumindest wird, wer sich im Netz auf<br />
eigene Faust auf die Suche nach „handyfreiem<br />
Urlaub“ begibt, immer öfter fündig: Unter<br />
den Zielen für Telefon-Averse findet sich<br />
– natürlich – gedanklich Naheliegendes:<br />
etwa Reisen durchs australische Outback,<br />
wo Urlauber, selbst wenn sie wollten, nicht<br />
erreichbar sind, oder Spaziergänge in den<br />
Dünen der namibischen Wüsten. Und wer<br />
wollte ernsthaft beim Trip durch die kanadische<br />
<