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und Sozialgeschichte der ungarischen Juden vom 18 ... - EPA

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LÁSZLÓ MARJANUCZ, SZEGED<br />

Beiträge zur Siedlungs- <strong>und</strong> <strong>Sozialgeschichte</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>ungarischen</strong> <strong>Juden</strong> <strong>vom</strong> <strong>18</strong>. Jahrh<strong>und</strong>ert bis 1920<br />

Die Neubesiedlung Ungarns seit dem späten 17. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Die Geschichte <strong>der</strong> <strong>ungarischen</strong> <strong>Juden</strong> stellt im Hinblick auf die Integrationsmöglichkeiten<br />

<strong>und</strong> die Mo<strong>der</strong>nisierung des Landes einen Son<strong>der</strong>fall in<br />

<strong>der</strong> europäischen Geschichte dar. Von den beson<strong>der</strong>en Faktoren, die auf<br />

einen Unterschied zur Lage <strong>der</strong> west-, mittel- <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en osteuropäischen<br />

<strong>Juden</strong> verweisen, ist die Tatsache hervorzuheben, daß die jüdische Bevölkerungsgruppe<br />

im neuzeitlichen Ungarn überwiegend erst im Verlauf des<br />

<strong>18</strong>. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts durch Neueinwan<strong>der</strong>ung entstanden ist. Die vor<br />

<strong>der</strong> h<strong>und</strong>ertfünfzigjährigen osmanischen Herrschaft in Teilen Ungarns angesiedelten<br />

<strong>Juden</strong> hatten diese Regionen im Zuge <strong>der</strong> Rückeroberung durch<br />

die habsburgischen Heere verlassen. Das österreichische Einrichtungswerk<br />

schuf für die später Einwan<strong>der</strong>nden gänzlich an<strong>der</strong>e Verhältnisse. 1<br />

Ungarn hatte infolge <strong>der</strong> Türkenkriege wesentliche Verluste an Menschen<br />

erlitten. Das verwüstete <strong>und</strong> partiell stark entvölkerte Land übte<br />

bald danach große Anziehungskraft auf landhungrige Gruppen verschiedener<br />

Nationalität, Kultur, Konfession <strong>und</strong> Sprache aus. Durch die Initiativen<br />

des Wiener Hofes <strong>und</strong> <strong>der</strong> aufgeklärten absolutistischen Bürokratie<br />

fanden beson<strong>der</strong>s viele Deutsche den Weg nach Ungarn. Während dieser<br />

Migrationen wan<strong>der</strong>ten auch einige <strong>Juden</strong> von Westen nach Osten. Genaue<br />

Zahlen kennen wir nicht, es ist aber feststellbar, daß <strong>der</strong> Einzug <strong>der</strong><br />

<strong>Juden</strong> <strong>und</strong> die bevölkerungspolitischen Maßnahmen nicht miteinan<strong>der</strong> in<br />

Verbindung standen. Gemäß <strong>der</strong> kameralistischen Parole ibi populus – ubi<br />

obulus trieb man die Impopulation in <strong>der</strong> Hoffnung voran, das Land durch<br />

die Ansiedlung von Angehörigen nützlicher Berufsgruppen ökonomisch<br />

zu entwickeln. Wien erhoffte sich aber von <strong>der</strong> massiven Ansiedlungspolitik<br />

auch eine Mehrung <strong>der</strong> Staatseinnahmen. Diesen Zielen wurden in erster<br />

Linie die Deutschen, Slowaken, Tschechen <strong>und</strong> Ruthenen gerecht, die<br />

größtenteils im südlichen <strong>und</strong> zentralen Ungarn planmäßig angesiedelt<br />

wurden. 2<br />

Im Gegensatz zu den Deutschen kamen die <strong>Juden</strong> nicht in größeren<br />

Gruppen, son<strong>der</strong>n zunächst meist als mobile <strong>und</strong> aktive Einzelpersonen<br />

sowie im Verband einer Kleinfamilie. Auch ihre nicht durch staatliche Organe<br />

betriebene Migration war gegen den ausdrücklichen Willen des Wie-<br />

1<br />

Walter Pietsch: A zsidók bevándorlása Galíciából és a magyarországi zsidóság. In: Valóság<br />

31 (1988) 11, 46-59, hier 47.<br />

2<br />

István Rácz: A török világ hagyatéka Magyarországon. Debrecen 1995, 98.


70 Ungarn-Jahrbuch 28 (2005-2007)<br />

ner Hofes. Die Einwan<strong>der</strong>ung verlief in drei Wellen. In <strong>der</strong> ersten Phase<br />

zwischen etwa 1688 <strong>und</strong> 1736 aus Österreich, dann ab etwa 1736 bis etwa<br />

1770 aus Böhmen <strong>und</strong> Mähren, schließlich von 1772 bis zur Mitte des folgenden<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts aus Galizien. 3 Als Gründe für die Einwan<strong>der</strong>ung aus<br />

den österreichischen Erblanden nach Ungarn sind die verschlechterte ökonomische<br />

Lage <strong>der</strong> dortigen <strong>Juden</strong>, neue Verfolgungswellen sowie – damit<br />

zusammenhängend – die vorübergehende Schwäche staatlicher Administration<br />

in Ungarn anzugeben. 4 Die genaue Zahl <strong>der</strong> eingewan<strong>der</strong>ten <strong>Juden</strong><br />

ist nicht zu ermitteln. Anhaltspunkte liefern die Konskriptionen in Ungarn<br />

in den Jahren 1715-1720.<br />

Conscriptio Regnicolaris <strong>und</strong> jüdische Register 1715-1750<br />

Der Wiener Hof wollte nach <strong>der</strong> Rückeroberung Ungarns ein klares Bild<br />

über das Land gewinnen. Deshalb ließ er in den Jahren 1715 bis 1720 die<br />

Bevölkerung erfassen. Die Registrierung <strong>der</strong> <strong>Juden</strong> wurde aus den gleichen<br />

Gründen verordnet wie jene <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en nichtprivilegierten Schichten.<br />

Der Staat beabsichtigte, auch die <strong>Juden</strong> zu besteuern. Die königliche<br />

Finanzbehörde, vor allem die Kammer war eifrig bemüht, sich über ihre<br />

Zahl, Berufe <strong>und</strong> Vermögensverhältnisse zu unterrichten. Die erste große<br />

Bevölkerungsaufnahme im <strong>18</strong>. Jahrh<strong>und</strong>ert wurde in den Jahren 1715 bis<br />

1720 durchgeführt. Ihre Ergebnisse liegen mit Komitats- <strong>und</strong> Gemeindenachweisen<br />

publiziert vor. 5<br />

Nach <strong>der</strong> allgemeinen Zusammenschreibung <strong>der</strong> Bevölkerung des Königreiches<br />

führte die Obrigkeit die Konskriptionen <strong>der</strong> jüdischen Pächter<br />

<strong>der</strong> damals <strong>der</strong> Kammerverwaltung unterstehenden Domäne Munkatsch<br />

(Munkács, heute ukrainisch Mukačeve) in dem Komitat Bereg 1721, dann<br />

1721/1722 die <strong>der</strong> einzelnen Dörfer <strong>der</strong> Komitate Szatmár, Szabolcs, Közép-<br />

Szolnok <strong>und</strong> 1728 <strong>der</strong> von Máramaros, Ugocsa, Bács, Arad <strong>und</strong> Zaránd<br />

durch. Diese Quellen enthalten wichtige Einzelheiten über die jüdische<br />

Bevölkerung. 6 Allerdings wurden sie regional nach unterschiedlichen Erhebungsmethoden<br />

angefertigt: In einem Dorf erk<strong>und</strong>igte man sich nach<br />

<strong>der</strong> Seelenzahl, in einem an<strong>der</strong>en nach <strong>der</strong> Größe einer Familie. Insgesamt<br />

scheint nicht die Gesamtzahl <strong>der</strong> <strong>Juden</strong> erfaßt worden zu sein.<br />

3<br />

Walter Pietsch: Zwischen Reform <strong>und</strong> Orthodoxie. Der Eintritt des <strong>ungarischen</strong> <strong>Juden</strong>tums<br />

in die mo<strong>der</strong>ne Welt. Berlin 1999, 11.<br />

4<br />

Nathaniel Katzburg: Fejezetek az újkori zsidó történelemből Magyarországon. Budapest<br />

1999, 40.<br />

5<br />

Ignác Acsády: Magyarország népessége a Pragmatica Sanctio korában 1720/21. Budapest<br />

<strong>18</strong>96, 486. Zur verwaltungshistorischen <strong>und</strong> geographischen Zuordnung <strong>der</strong> mit ihren Originalbezeichnungen<br />

angeführten Komitaten Ungarns vgl. Dénes Wildner: Ortslexikon <strong>der</strong> ehemaligen<br />

Gebiete des historischen Ungarns. I: Das Namenmaterial <strong>der</strong> Komitate im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

II: Register. Bearb. Ralf Thomas Göllner. München 1996, 1998.<br />

6<br />

Acsády 25.


L. Marjanucz: Zur Siedlungs- <strong>und</strong> <strong>Sozialgeschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>ungarischen</strong> <strong>Juden</strong> 71<br />

Der Staat verfügte damals noch über keine wirksamen Mechanismen<br />

zur Durchführung <strong>der</strong>art komplexer Aufgaben. Zudem handelte es sich<br />

um die Registrierung zur Steuer, <strong>der</strong> sich naturgemäß viele zu entziehen<br />

versuchten <strong>und</strong> dabei häufig die Hilfe des jeweiligen Gutsherren in Anspruch<br />

nehmen konnten. Deren privates fiskalisches Interesse war nämlich,<br />

die Zahl <strong>der</strong> Steuerzahler vor den Behörden möglichst klein zu halten.<br />

7 Deshalb dürfen diese statistischen Angaben nur mit großer Vorsicht<br />

verwendet werden. In unserem Fall müssen wir vor allem davon ausgehen,<br />

daß ein erheblicher Teil <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung von den Konskriptionen<br />

nicht ermittelt wurde. Dies gilt beson<strong>der</strong>s für die von <strong>Juden</strong><br />

kaum o<strong>der</strong> – scheinbar – überhaupt nicht besiedelten Territorien, das heißt,<br />

für zerstreut gelegene Dörfer, in denen höchstens zwei Familien wohnten.<br />

Von <strong>der</strong>en Existenz hatten die Behörden gar keine Kenntnis. Die <strong>Juden</strong><br />

wurden außerdem nicht im Rahmen des allgemeinen Steuersystems, son<strong>der</strong>n<br />

geson<strong>der</strong>t besteuert. Deshalb stand es nicht im Interesse <strong>der</strong> Dorfbewohner,<br />

die Aufmerksamkeit <strong>der</strong> Finanzorgane auf sie zu lenken. Wenn<br />

bestimmte Städte nicht auf die Volkszählungsliste gelangten, bedeutete<br />

dies nicht, daß dort keine <strong>Juden</strong> wohnten. 8<br />

Gemäß <strong>der</strong> Landesregistrierung 1715-1720 sollen bis zum Beginn des <strong>18</strong>.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts 2.531 jüdische Familien in Ungarn angesiedelt worden sein.<br />

Der Zensus umfaßte jüdische Familien, <strong>der</strong>en Herkunftsorte fast ausschließlich<br />

im Westen zu finden waren. Sie hatten sich nach ihrer Einwan<strong>der</strong>ung<br />

entlang <strong>der</strong> Grenzzonen verstreut nie<strong>der</strong>gelassen, allerdings in einem<br />

geographisch erheblich vergrößerten Rahmen, wie eine spätere Registrierung<br />

belegt. 9 Diese hatte zum Beispiel das Komitat Sathmar gar nicht<br />

berücksichtigt, obwohl es in <strong>der</strong> Konskription von 1720 auch als von <strong>Juden</strong><br />

bewohntes Gebiet angeführt worden war. Innerhalb dieses Komitates<br />

wohnten laut Register von 1715-1720 in vier Dörfern – Großkarol (Nagykároly,<br />

Carei), Csalános, Vasvári <strong>und</strong> Derzs – <strong>Juden</strong>. 10 Ihr Gutsherr war <strong>der</strong><br />

einflußreiche Politiker <strong>und</strong> General Sándor Graf Károlyi (1669-1743), <strong>der</strong><br />

sie zwecks Belebung von Handel- <strong>und</strong> Geschäftsleben angesiedelt hatte. 11<br />

Es ist kaum anzunehmen, daß diese <strong>Juden</strong> schon im nächsten Jahrzehnt<br />

diese Gemeinden verließen. Der Graf schickte zum Beispiel 1724 aus Preßburg<br />

(Pozsony, heute slowakisch Bratislava), wo er sich wegen eines Reichstags<br />

aufhielt, selbst einen Rabbi nach Großkarol, um die örtliche jüdische<br />

Gemeinde zu betreuen. Die Anwesenheit <strong>der</strong> <strong>Juden</strong> kann aber nur teilweise<br />

mit <strong>der</strong> Peuplierungspolitik <strong>der</strong> Magnaten begründet werden. Wahrscheinlich<br />

hatten einige in westlichen <strong>und</strong> nördlichen Regionen Ungarns beleg-<br />

7<br />

Zoltán Dávid: Az 1715-20. évi összeírás. In: A történeti statisztika forrásai. Hg. József Kovacsics.<br />

Budapest 1957, 145-199, hier 175.<br />

8<br />

Henrik Marczali: Magyarország története II. József korában. Budapest <strong>18</strong>85, 268.<br />

9<br />

Acsády 26.<br />

10<br />

Ebenda, 488.<br />

11<br />

Zoltán Riczu: Zsidó épületek és emlékek Nyíregyházán. Nyíregyháza 1992, 12.


72 Ungarn-Jahrbuch 28 (2005-2007)<br />

bare Gemeinden die Türkenkriege doch überlebt, somit zu einer demographischen<br />

Kontinuität einzelner kleiner jüdischer Gemeinden beigetragen. 12<br />

Im Komitat Szabolcs lebten gemäß <strong>der</strong> Konskription von 1720 <strong>Juden</strong> in<br />

den Dörfern Nyírbéltelek, Mada <strong>und</strong> Ibrány, die aber in dem erwähnten,<br />

kurze Zeit später erstellten Register keine Spur hinterließen. Zusammenfassend<br />

ist aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> zwischen 1720 <strong>und</strong> 1728 durchgeführten Registrierungen<br />

von <strong>Juden</strong> davon auszugehen, daß ihre Zahl größer war als in den<br />

Statistiken angegeben. Zur Lückenhaftigkeit dieser Quellen trugen verschiedene<br />

Faktoren bei, so etwa die sich über einen längeren Zeitraum hinziehende<br />

<strong>und</strong> nicht gleichzeitige Zusammenschreibung <strong>der</strong> Komitate. Mit<br />

den <strong>Juden</strong> geschah das Gleiche wie mit Leibeigenen: Um ihre drückende<br />

Steuerlast zu min<strong>der</strong>n, versuchten viele Bauern <strong>und</strong> <strong>Juden</strong>, sich zu verstecken.<br />

Die Zensoren vermochten aber auch wegen ihrer häufig mangelhaften<br />

Ortskenntnisse viele nicht zu erfassen. Dennoch gab es zwischen<br />

den beiden Gruppen einen Unterschied. Während die Urbarien es ermöglichten,<br />

durch den Vergleich von Besitzurk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> <strong>der</strong> Konskription<br />

die ausgelassenen zinspflichtigen Personen zu berechnen, bestand diese<br />

Möglichkeit bei den <strong>Juden</strong> nicht.<br />

Die von den Wiener Zentralbehörden landesweit durchgeführte <strong>und</strong><br />

datenreiche „Conscriptio Judeorum“ <strong>der</strong> Jahre 1735-1737 ist von einzigartigem<br />

historischen Wert, weil sie jedes einzelne namentlich erfaßte Familienoberhaupt<br />

<strong>und</strong> jeden Geburts- beziehungsweise Herkunfts- sowie Ansiedlungsort<br />

in Ungarn, außerdem den Erwerbszweig zum Zeitpunkt <strong>der</strong><br />

Befragung festhielt. 13 Diese statistische Erfassung sollte die Datengr<strong>und</strong>lage<br />

für die nach Wien fließenden Son<strong>der</strong>steuerleistungen <strong>der</strong> <strong>Juden</strong> verbessern.<br />

Die Taxa Tolerantia, eine staatliche Steuerform für die Duldung ihres<br />

Aufenthaltes in Ungarn, wurde unter Maria Teresia eingeführt. Die <strong>ungarischen</strong><br />

Stände protestierten dagegen, aber nicht, weil sie sie für ungebührlich<br />

<strong>und</strong> demütigend für die Betroffenen hielten, son<strong>der</strong>n weil die Verordnung<br />

ohne die Berücksichtigung ihres Steuerbewilligungsrechtes erlassen<br />

worden war. 14 Die Registrierung erstreckte sich auf 30 Komitate. Die Bevölkerungsaufnahme<br />

wurde im gesamten Land Ort für Ort nach gleichen<br />

Prinzipien durchgeführt. Als Registrationseinheit galt das Familienoberhaupt<br />

beziehungsweise <strong>der</strong> Haushaltsvorstand. Außer ihm wurden die Familienmitglie<strong>der</strong><br />

nach Lebensalter sowie alle sonstigen Hausbewohner wie<br />

Knechte <strong>und</strong> Mägde aufgeführt. Das Dokument enthält ausführliche Beschreibungen<br />

über Berufe, Fronabgaben sowie den Viehbestand <strong>der</strong> Registrierten.<br />

15<br />

12<br />

Károly Vörös: A magyarországi zsidóság helyzete a mohácsi vésztől 19<strong>18</strong>-ig. In: Magyarországi<br />

zsinagógák. Hg. László Gerő. Budapest 1989, 28-35, hier 28.<br />

13<br />

Pietsch: Zwischen Reform <strong>und</strong> Orthodoxie, 11.<br />

14<br />

Henrik Marczali: Mária Terézia. Budapest <strong>18</strong>88, 74.<br />

15<br />

Pietsch: Zwischen Reform <strong>und</strong> Orthodoxie, 13.


L. Marjanucz: Zur Siedlungs- <strong>und</strong> <strong>Sozialgeschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>ungarischen</strong> <strong>Juden</strong> 73<br />

Ähnliche Gesichtspunkte galten für die „Conscriptio Regnicolaris“ <strong>der</strong><br />

<strong>Juden</strong> von 1750, die 19 Komitate <strong>und</strong> königliche Freistädte erfaßte. Der<br />

Vergleich <strong>der</strong> En<strong>der</strong>gebnisse <strong>der</strong> Landeszusammenschreibungen <strong>der</strong> <strong>Juden</strong><br />

in den Jahren 1735-1737 <strong>und</strong> 1750 bilden die Datengr<strong>und</strong>lage nachfolgen<strong>der</strong><br />

Tabellen. 16<br />

Komitat<br />

Conscriptio Judeorum<br />

1735-1737 1750<br />

Arad 97 96<br />

Árva 29 34<br />

Bács 95 109<br />

Esztergom 47 57<br />

Fejér 170 195<br />

Győr 55 64<br />

Komárom <strong>18</strong>0 <strong>18</strong>1<br />

Liptó 68 83<br />

Moson 855 936<br />

Nyitra 1 2.350<br />

Pest 560 660<br />

Pozsony 1.996 2.236<br />

Somogy 8 8<br />

Sopron 1.949 1.971<br />

Tolna <strong>18</strong>1 2<strong>18</strong><br />

Trencsén 807 977<br />

Vas 513 519<br />

Veszprém 230 269<br />

Zala 106 117<br />

Obige Daten verweisen auf einen allgemeinen Trend: Die Zahl <strong>der</strong> <strong>Juden</strong><br />

verän<strong>der</strong>te sich während dieser an<strong>der</strong>thalb Jahrzehnte kaum. Sie vermehrte<br />

sich am ehesten in den Komitaten Pozsony, Sopron, Nyitra <strong>und</strong><br />

Trencsén, wo <strong>Juden</strong> schon seit Jahrh<strong>und</strong>erten in größerer Zahl wohnten.<br />

Dieser Umstand war für einen natürlichen Zuwachs nicht unerheblich. Ein<br />

Bevölkerungsanstieg durch Zuwan<strong>der</strong>ung läßt sich für diese Zeit nicht belegen.<br />

In manchen Orten finden wir auch nach fünfzehn Jahren nahezu<br />

die unverän<strong>der</strong>te Einwohnerzahl vor, so etwa in den Gemeinden <strong>der</strong> Komitate<br />

Arad, Somogy <strong>und</strong> Vas. Dieser niedrige Migrationsgrad ist überraschend,<br />

denn die Einwan<strong>der</strong>ung von Deutschen, Ruthenen <strong>und</strong> Serben<br />

nach Ungarn nahm gerade zu dieser Zeit erhebliche Dimensionen an. Die<br />

<strong>ungarischen</strong> Gr<strong>und</strong>herren bemühten sich ungeachtet <strong>der</strong> Konfessionszugehörigkeit<br />

<strong>der</strong> Neuangeworbenen, die entvölkerten Güter mit nützlichen<br />

Arbeitskräften zu besiedeln, um <strong>der</strong> Wirtschaft einen Innovationsschub zu<br />

16<br />

Alajos Kovács: A zsidóság térfoglalása Magyarországon. Budapest 1922, 13.


74 Ungarn-Jahrbuch 28 (2005-2007)<br />

geben. 17 Trotz dieser Bestrebungen stagnierte die Zahl <strong>der</strong> <strong>Juden</strong> o<strong>der</strong> stieg<br />

nur geringfügig an. Der demographische Gr<strong>und</strong> dafür lag darin, daß die jüdische<br />

Bevölkerung vor <strong>der</strong> Konskription nur wenig angewachsen war, das<br />

heißt, sie hatte mehrheitlich schon in den 1720er Jahren in Ungarn gelebt.<br />

Diese Voraussetzungen wurden gestärkt durch die geographische Herkunft<br />

<strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung nach <strong>der</strong> „Conscriptio Regnicolaris“ von<br />

1735-1737. Der prozentuale Nachweis bezieht sich auf die Familienoberhäupter.<br />

<strong>18</strong><br />

Herkunftsland<br />

Prozentuale Verteilung<br />

Ungarn 35,31<br />

Mähren 38,35<br />

Böhmen 3,07<br />

Österreich 5,31<br />

Polen/Litauen 11,05<br />

Heiliges Römisches Reich deutscher Nation 1,24<br />

An<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong> 0,44<br />

Unbekannt 5,23<br />

Insgesamt 100,00<br />

Nach den vorgestellten Angaben machte <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> <strong>Juden</strong> ungarischer<br />

Herkunft lediglich gut ein Drittel aus. Das bedeutet aber nicht, daß die aus<br />

benachbarten Territorien zugewan<strong>der</strong>ten <strong>Juden</strong> erst kurz zuvor ins Land<br />

gekommen waren. Sie wurden in die Rubrik <strong>der</strong> Auslän<strong>der</strong> eingestuft, obwohl<br />

die überwiegende Mehrheit – wenn nicht sie selbst, so ihre Eltern<br />

o<strong>der</strong> Großeltern – schon früher eingewan<strong>der</strong>t waren. Sie bekannten sich als<br />

Auslän<strong>der</strong>, weil sie sich dadurch Steuerentlastungen erhofften. Es ist bemerkenswert,<br />

daß die wenigsten Zuwan<strong>der</strong>er im Komitat Sopron ansässig<br />

waren: Von den 429 jüdischen Familienoberhäuptern waren es nur 23, obwohl<br />

dieses Komitat ökonomisch attraktiv war <strong>und</strong> in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> österreichischen<br />

Erblande lag. Hier hatten <strong>Juden</strong> schon im 17. Jahrh<strong>und</strong>ert in<br />

größerer Zahl auf den Gütern <strong>und</strong> unter dem Schutz <strong>der</strong> Magnatenfamilie<br />

Esterházy gelebt. 19 Auch in den Komitaten Moson <strong>und</strong> Pozsony war die<br />

Mehrheit <strong>der</strong> Registrierten ungarischer Herkunft. In allen an<strong>der</strong>en Landesteilen<br />

stellten Einwan<strong>der</strong>er die übergroße Mehrheit <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung.<br />

Hieraus folgt, daß <strong>der</strong> Westen Ungarns schon seit dem 15. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

auch von kleineren jüdischen Gemeinden bevölkert war, die in erster<br />

Linie aus den Erblanden stammten, während sich im Landesinneren <strong>und</strong><br />

17<br />

Imre Wellmann: Magyarország XVIII. század végi népességszámának kérdéséhez. In:<br />

Mezőgazdaság, agrártudomány, agrártörténet. Hg. Péter Gunst. Budapest 1979, 265-303, hier<br />

267.<br />

<strong>18</strong><br />

Pietsch: Zwischen Reform <strong>und</strong> Orthodoxie, 26.<br />

19<br />

Csaba Csapody: Az Esterháyak alsólendvai uradalmának gazdálkodása a XVIII. század<br />

első felében. Budapest 1933, 37.


L. Marjanucz: Zur Siedlungs- <strong>und</strong> <strong>Sozialgeschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>ungarischen</strong> <strong>Juden</strong> 75<br />

Süden eine massenhafte Migration beson<strong>der</strong>s von deutschen Bauern unter<br />

Karl III./VI. (1711-1740) entfaltete.<br />

Im Gegensatz zu <strong>der</strong> bis in diese Zeit analysierten Situation lebten <strong>Juden</strong><br />

in unbestimmter, geringer Zahl auch in den nordöstlichen Gebieten<br />

Ungarns wie etwa in den Komitaten Szabolcs, Szatmár, Ung, Máramaros<br />

<strong>und</strong> Békés sowie auf den riesigen Latif<strong>und</strong>ien Munkács <strong>und</strong> Szarvas – <strong>und</strong><br />

zwar noch vor <strong>der</strong> großen Einwan<strong>der</strong>ungswelle aus Galizien. Diese zeitlich<br />

frühe Anwesenheit jüdischer Bevölkerungsteile spiegelt sich beson<strong>der</strong>s in<br />

den Konskriptionen von 1721 <strong>und</strong> 1728 wi<strong>der</strong> <strong>und</strong> ist vor allem mit <strong>der</strong> Impopulationstätigkeit<br />

des Grafen Sándor Károlyi <strong>und</strong> seiner Nachfahren,<br />

<strong>der</strong> Grafen von Schönborn <strong>und</strong> des Barons Johann von Harrach zu erklären.<br />

20 Somit kann die Zahl <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung für 1720 in den zusammengeschriebenen<br />

Komitaten <strong>und</strong> Städten überschlägig folgen<strong>der</strong>maßen<br />

angegeben werden: 21<br />

Abaúj 150 Arad 30<br />

Árva 25 Bács 90<br />

Békés 2 Bereg 200<br />

Bihar 70 Borsod 100<br />

Esztergom 40 Fejér 100<br />

Győr 50 Heves 20<br />

Komárom 150 Liptó 50<br />

Moson 850 Nyitra 1.800<br />

Pest-Pilis-Solt 500 Pozsony 1.900<br />

Sáros 300 Somogy 50<br />

Sopron 1.500 Szatmár 150<br />

Szepes 30 Tolna 150<br />

Trencsén 800 Ugocsa 100<br />

Vas 500 Veszprém 200<br />

Zala 100 Zemplén 500<br />

Szabolcs 30 Közép-Szolnok 40<br />

Máramaros 200 Zaránd 20<br />

Turócz 100 Nógrád 40<br />

Gömör 50 Ung 70<br />

Insgesamt 11.374<br />

Der Gr<strong>und</strong> für vorliegende Recherchen waren die publizierten Ergebnisse<br />

<strong>der</strong> „Conscriptio Regnicolaris“ von 1715 <strong>und</strong> 1720 über den Bevölkerungsstand<br />

Ungarns. Die Bewertung <strong>der</strong> zwei Volkszählungen, jener von 1715<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> sie korrigierenden von 1720, die potentielle Steuerzahler zu registrieren<br />

hatte, regt auch heutzutage lebhafte wissenschaftliche Diskussio-<br />

20<br />

Pietsch: A zsidók bevándorlása, 47.<br />

21<br />

Acsády 489.


76 Ungarn-Jahrbuch 28 (2005-2007)<br />

nen an. Die korrekte Auslegung des Datenmaterials ist noch immer eine<br />

wichtige Aufgabe <strong>der</strong> historischen Demographie <strong>und</strong> Ethnographie. 22 Die<br />

Konskriptionen waren hinsichtlich des zu untersuchenden Territoriums<br />

unvollständig. Die frühere erstreckte sich nur auf das unter <strong>der</strong> Zivilverwaltung<br />

stehende Gebiet, aber ohne das zu dieser Zeit noch zum Osmanischen<br />

Reich gehörende Temescher Banat. Die zweite umfaßte nur die steuerzahlenden<br />

Dörfer <strong>und</strong> Städte ohne die Grenzgebiete, die kurialen <strong>und</strong><br />

<strong>vom</strong> Kleinadel bewohnten Siedlungen. Die letzteren machten r<strong>und</strong> zehn<br />

Prozent <strong>der</strong> erfaßten Gemeinden aus. Alles in allem wurde nicht die gesamte<br />

Bevölkerung zusammengeschrieben, son<strong>der</strong>n nur ein Teil – wenn<br />

auch <strong>der</strong> größere – <strong>der</strong> steuerzahlenden Haushalte. Daraus folgt, daß auch<br />

die jüdische Population größer gewesen sein dürfte, als es die Daten wi<strong>der</strong>spiegeln.<br />

Was die Bevölkerungsdichte anbelangt, so wohnten die meisten <strong>Juden</strong><br />

im Nordwesten Ungarns, nämlich ungefähr 67 Prozent, etwa 7.650 Personen,<br />

in sechs Komitaten: Nyitra, Pozsony, Sopron, Moson, Trencsén <strong>und</strong><br />

Vas. Dies ist ein gewichtiger demographischer Beleg dafür, daß <strong>Juden</strong> vor<br />

allem das Territorium des habsburgisch verwalteten königlichen Ungarn<br />

schon während <strong>der</strong> osmanischen Herrschaft in Mittelungarn allmählich<br />

besiedelt hatten. Die Einwan<strong>der</strong>ung aus den österreichischen Erblanden<br />

<strong>und</strong> dem Alten Reich ist <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> für ihre relativ große Zahl im westlichen<br />

Randgebiet des Landes in unmittelbarer Nachbarschaft Österreichs.<br />

Eine an<strong>der</strong>e Angabe fällt zusätzlich ins Auge: 1.050 Personen siedelten<br />

schon Anfang des <strong>18</strong>. Jahrh<strong>und</strong>erts in den nordöstlichen Komitaten Sáros,<br />

Máramaros, Ung, Ugocsa, Bereg, Szatmár <strong>und</strong> Szabolcs. Es ist sehr wahrscheinlich,<br />

daß hier nicht von <strong>Juden</strong> aus Polen/Litauen, son<strong>der</strong>n zum Teil<br />

von jüdischen Gemeinden, welche die osmanische Herrschaft überlebt<br />

hatten, sowie von vereinzelt neu Eingewan<strong>der</strong>ten auszugehen ist. Das bedeutet,<br />

daß mehr als fünfzig Jahre vor <strong>der</strong> ersten Teilung Polens im Jahre<br />

1772 im Nordosten Ungarns <strong>Juden</strong> verschiedener Herkunft lebten <strong>und</strong><br />

wirkten – wenn auch nur in geringer Zahl. Die geopolitische Lage des Landes<br />

<strong>und</strong> die kameralistischen Interessen behin<strong>der</strong>ten die Binnenmigration<br />

<strong>der</strong> Westjuden in östlicher Richtung in den ersten Jahrzehnten des <strong>18</strong>.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, wenngleich sie nicht völlig zu unterbinden war. Ein größerer<br />

Zustrom von <strong>Juden</strong> aus dem westlichen Ungarn in östlicher Richtung erfolgte<br />

erst während <strong>der</strong> Herrschaft Josephs II. (1780-1790), als <strong>Juden</strong> aus<br />

östlichen Landesteilen zeitgleich langsam nach Westen zogen. So kamen<br />

diese beiden jüdischen Gruppen um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende miteinan<strong>der</strong><br />

in Kontakt. Diese Begegnung war voller Konflikte, weil die schon verbürgerlichten<br />

<strong>und</strong> wohlhabenden, sich gerade assimilierenden <strong>Juden</strong> aus den<br />

westlichen Landesteilen <strong>und</strong> die im System <strong>der</strong> zweiten Leibeigenschaft pauperisierten<br />

<strong>Juden</strong> Polen/Litauens <strong>und</strong> Nordostungarns unterschiedliche<br />

22<br />

Dávid 171.


L. Marjanucz: Zur Siedlungs- <strong>und</strong> <strong>Sozialgeschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>ungarischen</strong> <strong>Juden</strong> 77<br />

Lebenswelten vertraten. 23 Diese Frage gehört zur Problematik <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Umgestaltung Ungarns, auf die hier jedoch nicht eingegangen werden<br />

kann.<br />

Die Quellen enthalten enthält keine Hinweise auf eine Anwesenheit<br />

von <strong>Juden</strong> in <strong>der</strong> Landesmitte. Eine Konskription von 1750 berichtet davon,<br />

daß in den Komitaten Baranya, Csongrád, Csanád, Bars, Hont <strong>und</strong><br />

Zaránd keine <strong>Juden</strong> seßhaft waren. 24 Obwohl die frühere Registrierung in<br />

Zaránd einzelne <strong>Juden</strong> nachgewiesen hatte, läßt sich festhalten, daß die jüdische<br />

Migration die Siedlungsräume in den zentralen <strong>und</strong> südlichen Teilen<br />

Ungarns in den 1750er Jahren noch nicht erreichte. Die Einwan<strong>der</strong>ung<br />

<strong>und</strong> Ansiedlung konzentrierte sich auf die Grenzlandschaften <strong>und</strong> nahm<br />

dabei immer Bezug auf die jeweilige geographische Richtung <strong>und</strong> räumliche<br />

Ausdehnung <strong>der</strong> an<strong>der</strong>sethnischen lokalen Migrationen.<br />

Im Vergleich zu den letzteren verteilten sich die <strong>Juden</strong> schon bald über<br />

relativ viele Gemeinden. Überall gründeten sie nach einiger Zeit kleine Gemeinden.<br />

Zentren bildeten sich allerdings nur in Transdanubien, in einigen<br />

Marktflecken reicher Großgr<strong>und</strong>besitzer wie <strong>der</strong> Esterházy o<strong>der</strong> Batthyány,<br />

sowie auf etlichen Maierhöfen. Im Gegensatz zu ihnen übertrugen die sich<br />

in Ungarn nie<strong>der</strong>lassenden Neusiedler aus dem Alten Reich, dem Osmanischen<br />

Reich <strong>und</strong> den beiden Donaufürstentümern eher Elemente ihrer<br />

tradierten Siedlungsformen <strong>und</strong> Lebensweisen in ihre neue Heimat. Die<br />

zur selben Gemeinschaft gehörenden Kolonisten bildeten ethnisch <strong>und</strong> religiös<br />

häufig homogene Dörfer. Es war, neben dem 17. Jahrh<strong>und</strong>ert, diese<br />

Zeitspanne, in <strong>der</strong> sich die ethnischen Verhältnisse in Ungarn zu Lasten<br />

<strong>der</strong> Magyaren einschneidend wandelten. In diesem Zusammenhang war<br />

die jüdische Zuwan<strong>der</strong>ung von außerordentlich großer Bedeutung. Die<br />

spätere Assimilation <strong>der</strong> <strong>Juden</strong> sollte wesentlich zur Erhöhung <strong>der</strong> Zahl<br />

<strong>der</strong> Magyaren beitragen. 25<br />

Rechtliche Gr<strong>und</strong>lagen <strong>der</strong> Ansiedlung, politisch-gesellschaftliche Rahmenbedingungen<br />

Die Landesgesetze gewährten den <strong>Juden</strong> in <strong>der</strong> ersten Hälfte des <strong>18</strong>. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

kein Nie<strong>der</strong>lassungsrecht. Ihnen stand aber <strong>der</strong> Schutz des Landesherren<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> jeweiligen Gr<strong>und</strong>herren gegen eine bestimmte Steuer<br />

zu. Sie hielten vielerorts den Kleinhandel in ihren Händen, den Großhandel<br />

hatten sich Deutsche, Griechen, Armenier <strong>und</strong> Aromunen vorbehalten.<br />

Es gab auch Beispiele dafür, wie sich die Obrigkeit in Konflikte zwischen<br />

23<br />

Sándor Büchler: Zsidó letelepedések Magyarországon a mohácsi vész után. In: Magyarzsidó<br />

szemle 10 (<strong>18</strong>93) 5, 315-329, hier 317.<br />

24<br />

Pietsch: A zsidók bevándorlása, 53.<br />

25<br />

Viktor Karády: Zsidó identitás és emigráció Magyarországon. In: Ders.: Zsidóság, mo<strong>der</strong>nizáció,<br />

polgárosodás. Budapest 1997, 11-79, hier 98.


78 Ungarn-Jahrbuch 28 (2005-2007)<br />

den christlichen <strong>und</strong> jüdischen Ansiedlern einmischte. 26 Um dem vorzubeugen,<br />

hatten die neuangesiedelten slowakischen Einwohner <strong>der</strong> Gemeinde<br />

Nyíregyháza mit ihrem Gr<strong>und</strong>herren, dem Grafen Ferenc Károlyi,<br />

Sohn von Sándor Károlyi, einen Vertrag geschlossen, <strong>der</strong> Griechen wie <strong>Juden</strong><br />

die Ansiedlung streng untersagte. Diese Regelung durch ein Ansiedlungsverbot<br />

war bis <strong>18</strong>40 gültig. 27 Die Bürger <strong>der</strong> Städte bemühten sich insgesamt,<br />

<strong>Juden</strong> als gefährliche Konkurrenten möglichst auszuschließen. Die<br />

erste jüdische Siedlung in Preßburg wurde unter dem Patronat <strong>der</strong> Krone<br />

außerhalb <strong>der</strong> Burgmauer gegründet. Zu den bedeuten<strong>der</strong>en Nie<strong>der</strong>lassungen<br />

sind folgende Orte zu zählen: Váralja, im Besitz <strong>der</strong> Pálffy, Pest<br />

<strong>und</strong> Altofen (Óbuda) als Domänen <strong>der</strong> Krone, Rechnitz (Rohonc), eine Stadt<br />

<strong>der</strong> Batthyánys in Transdanubien, sowie zahlreiche kleinere Gemeinden,<br />

etwa Tata o<strong>der</strong> Gesztes, die unter dem Schutz <strong>der</strong> Esterházy standen. 28<br />

Ein spezifisches Element <strong>der</strong> Situation <strong>der</strong> <strong>Juden</strong> war, daß die Könige,<br />

beson<strong>der</strong>s Maria Theresia die Position <strong>der</strong> katholischen Kirche gegenüber<br />

dieser weitestgehend rechtlosen <strong>und</strong> machtlosen Religionsgemeinschaft<br />

erfolgreicher geltend zu machen vermochte als gegen an<strong>der</strong>e christliche<br />

Konfessionen – mit Ausnahme <strong>der</strong> Unitarier. Zur Bekehrung <strong>der</strong> <strong>Juden</strong><br />

schienen alle Mittel zulässig <strong>und</strong> anwendbar zu sein. Den nichtkatholischen<br />

christlichen Konfessionen war es verboten, <strong>Juden</strong> zu bekehren, aber<br />

die Katholiken hin<strong>der</strong>te we<strong>der</strong> eine Rechtsvorschrift noch ein politisches<br />

Hemmnis, die jüdischen Untertanen zur Konversion zu bewegen. Für die<br />

damals praktisch unüberwindbare Distanz zwischen <strong>Juden</strong> <strong>und</strong> Christen<br />

war es charakteristisch, daß ein getaufter Jude, <strong>der</strong> zu seinem alten Glauben<br />

zurückkehrte, mit zwei Jahren Gefängnis bestraft wurde. 29 <strong>Juden</strong> mußten<br />

aber kein stigmatisierendes Zeichen auf ihrer Kleidung tragen, wie dies<br />

in den österreichischen Erblanden üblich war. Sie beteiligten sich we<strong>der</strong> an<br />

politischen Debatten noch an gelehrten Zirkeln. Ihr Geistesleben wurde<br />

den spezifischen Institutionen <strong>und</strong> Anfor<strong>der</strong>ungen ihres Glaubens <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Gemeinde gewidmet. Um 1750 spielten sie auch im Handel o<strong>der</strong> als Gutpächter<br />

neben den dominierenden Griechen <strong>und</strong> Deutschen 30 eine zweitrangige<br />

Rolle. Ihre Bedeutungslosigkeit bot ihnen aber auch Schutz, so daß<br />

aus diesen Jahrzehnten keine Nachrichten über <strong>Juden</strong>verfolgungen in Ungarn<br />

vorliegen.<br />

In manchen Städten wie Szeged, Arad o<strong>der</strong> Pest hatten <strong>Juden</strong> bereits im<br />

Verlauf des <strong>18</strong>. Jahrh<strong>und</strong>erts ein größeres ökonomisches Gewicht erlangt.<br />

Die königlichen Freistädte – die Städte im westlichen Sinne – waren ein<br />

26<br />

György Szabad: A tatai és zentai Esterházy-uradalom áttérése a robotrendszerről a tőkés<br />

gazdálkodásra. Budapest 1957, 1<strong>18</strong>.<br />

27<br />

Riczu 8.<br />

28<br />

Marczali: Magyarország története II. József korában, 268.<br />

29<br />

Ebenda, 270.<br />

30<br />

László Schäfer: A görögök vezetőszerepe Magyarországon a korai kapitalizmus kialakulásában.<br />

Budapest 1930, 30-40.


L. Marjanucz: Zur Siedlungs- <strong>und</strong> <strong>Sozialgeschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>ungarischen</strong> <strong>Juden</strong> 79<br />

von <strong>der</strong> Kammer direkt verwaltetes Krongut (peculia regium). Sie können<br />

durch eine Dichotomie <strong>der</strong> Abhängigkeiten charakterisiert werden. Da <strong>der</strong><br />

König als Gr<strong>und</strong>herr <strong>und</strong> Souverän fungierte, waren sie königliches Privateigentum,<br />

wo die Stände kein Mitspracherecht hatten, gleichzeitig aber<br />

staatliches Verwaltungsorgan mittlerer Stufe. 31 Beson<strong>der</strong>s die westlichen<br />

<strong>Juden</strong> versuchten sich in den königlichen Städten nie<strong>der</strong>zulassen. Aber die<br />

Ansiedlung auf Krongut war bis zum Regierungsantritt Josephs II. nicht<br />

einheitlich geregelt. Obwohl we<strong>der</strong> Karl III./VI. noch Maria Theresia direkt<br />

dagegen eingestellt waren, <strong>und</strong> kein Gesetz die Ansiedlung von <strong>Juden</strong> in<br />

den Städten untersagte, wurden die damit verb<strong>und</strong>enen städtischen Interessen<br />

durch lokale Verordnungen geregelt. Dieses Vorrecht, selbständig<br />

Gesetze zu erlassen <strong>und</strong> sie lediglich zur formalen Bestätigung am Hof einzureichen,<br />

stand den königlichen Freistädten zu. Daher erhielt zum Beispiel<br />

das calvinistische Rom – Debrecen – auf sein Ansuchen hin die Erlaubnis,<br />

die Einwan<strong>der</strong>ung von <strong>Juden</strong> gesetzlich ablehnen zu dürfen. 32 Zu<br />

gleicher Zeit, 1719, erteilte die Krone ein analoges Privileg <strong>der</strong> überwiegend<br />

von Katholiken bewohnten Stadt Szeged. Die Frage <strong>der</strong> Aufnahme<br />

von <strong>Juden</strong> in die Stadtbevölkerung <strong>und</strong> ihre Duldung war ganz auf diese<br />

lokalen Verordnungen in den Städten ausgerichtet. 33<br />

Die königlichen Freistädte unterschieden zwischen dem Status <strong>der</strong><br />

Vollbürger (cives) <strong>und</strong> jenem <strong>der</strong> Einwohner (incola). <strong>Juden</strong> konnten bis<br />

<strong>18</strong>48 allenfalls Einwohner sein. Wenn sie bereits in <strong>der</strong> Stadt ansässig waren,<br />

standen ihnen Schutz <strong>und</strong> Sicherheit ebenso wie an<strong>der</strong>en Bürgern zu.<br />

Im <strong>ungarischen</strong> Rechtswesen zählte ein in die städtische Bevölkerung integrierter<br />

Jude zur Häuslerschicht. Wenngleich die Städte Bestandteil <strong>der</strong><br />

ständischen Organisationsstruktur des Reiches waren, unterschieden sie<br />

sich wesentlich von den Ackerbürgerstädten, die sich im Besitz des Adels<br />

befanden. Deren rurale Gesellschaft war vor allem durch den Geburtsstand<br />

in Adel, Freie <strong>und</strong> Hörige eingeteilt. Die königlichen Freistädte hingegen<br />

waren <strong>vom</strong> jeweiligen Berufsstand – Handwerker, Kaufleute, Honoratioren<br />

<strong>und</strong> weitere – geprägt. Die Erlaubnis zur dauerhaften Nie<strong>der</strong>lassung<br />

hing vor allem von <strong>der</strong> finanziellen Lage <strong>der</strong> jeweiligen Stadt sowie<br />

dem geistigen Klima <strong>der</strong> lokalen Eliten ab. Es sei festgehalten, daß sich dieser<br />

Gemeindegeist im <strong>18</strong>. Jahrh<strong>und</strong>ert den <strong>Juden</strong> gegenüber im allgemeinen<br />

als feindlich erwies. 34<br />

Trotz einiger nach den Wünschen verschiedener Städte <strong>und</strong> Komitate<br />

gestalteten Vergünstigungen wurde das Prinzip, daß ein Jude nirgendwo<br />

bürgerliches Recht genießen dürfe, streng aufrechterhalten. Diese offizielle<br />

31<br />

Andor Csizmadia: A magyar városi jog. Kolozsvár 1941, 91.<br />

32<br />

István Rácz: A debreceni cívisvagyon. Budapest 1989, 15.<br />

33<br />

Ibolya Felhő: A szabad királyi városok és a magyar kamara a XVII. században. In: Levéltári<br />

közlemények 24 (1946) 209-267.<br />

34<br />

Ebenda; Oszkár Paulinyi: A Magyar Kamara városi bizottsága, 1733-1772. In: Levéltári<br />

közlemények 34 (1963) 1, 33-46.


80 Ungarn-Jahrbuch 28 (2005-2007)<br />

Ansicht ging davon aus, daß die für die bürgerliche Erwerbstätigkeit als<br />

schädlich angenommene Einbürgerung <strong>der</strong> <strong>Juden</strong> einer christlichen Gesellschaftsordnung<br />

wi<strong>der</strong>spreche. Es sei aber hinzugefügt, daß sich judenfeindliche<br />

Maßnahmen in den Freistädten weniger aus einem Geiste <strong>der</strong> Intoleranz<br />

ergaben; vielmehr glaubten die Einwohner, in ihrer ökonomischen<br />

Existenz bedroht zu werden. Um eine Zunahme des Antisemitismus zu<br />

verhin<strong>der</strong>n, bevorzugte die Statthalterei die Ansiedlung von Individuen<br />

<strong>und</strong> nicht von Familien o<strong>der</strong> Gruppen. 35<br />

Im <strong>18</strong>. Jahrh<strong>und</strong>ert dominierte – bildlich gewendet – noch die Vorstellung,<br />

<strong>Juden</strong> seien ein Brei, den ein Landesherr nach eigenem Gutdünken<br />

auspressen könne. Dementsprechend sollten sie für die Erlaubnis von<br />

Handelsreisen eine persönliche Steuer <strong>und</strong> für die Aufenthaltsbewilligung<br />

die schon erwähnte Son<strong>der</strong>steuer, die Taxa Tolerantia zahlen. Die Bemessungsgr<strong>und</strong>lage<br />

<strong>der</strong> Steuer war die Familie. Bei <strong>der</strong> konkreten Auferlegung<br />

wurde auch das jeweilige Einkommen in Betracht gezogen. Gemäß <strong>der</strong> Instruktion<br />

hat <strong>der</strong> Untergespan die Steuer über die Komitatsjuden verhängt,<br />

doch wurde die Rechnungslegung <strong>vom</strong> Vorsteher <strong>der</strong> jüdischen Gemeinde<br />

geführt, <strong>der</strong> zugleich für die Glaubensgenossen bürgen mußte. Die Taxa<br />

mußte monatlich bezahlt werden. Blieb jemand mehr als drei Monate die<br />

Steuer schuldig, wurde sein Besitz versteigert. So kam es – zum Schaden<br />

des Fiskus – häufig zu heimlichen Abwan<strong>der</strong>ungen. Deshalb nahmen die<br />

meisten Gemeinden einen <strong>Juden</strong> nur dann in die Gemeinschaft auf, wenn<br />

er eine Jahressteuer entrichtete. 36<br />

Die Berichte <strong>der</strong> Fiskalbehörden 37 teilen uns mit, daß die wohlhabenden<br />

<strong>Juden</strong> im Nordwesten Ungarns lebten, wo auch die Bevölkerungsdichte<br />

größer war, bis sich die armen <strong>Juden</strong> im Nordosten in sehr großer Zahl<br />

nie<strong>der</strong>ließen. Im Südosten waren die Siedlungslandschaften nur äußerst<br />

spärlich von <strong>Juden</strong> bewohnt.<br />

Im aufgeklärten Absolutismus<br />

Während <strong>der</strong> Herrschaft Josephs II. än<strong>der</strong>te sich die Lage <strong>der</strong> <strong>Juden</strong> in Ungarn<br />

wesentlich. Das Hauptmotiv <strong>der</strong> kaiserlichen Politik war, die <strong>Juden</strong><br />

durch eine bessere Rechtstellung zu nützlichen Staatsbürgern einer rationalisierten<br />

Gesellschaft zu machen. Der Wiener Hof sah den Gr<strong>und</strong> für<br />

ihre Rückständigkeit im niedrigen Stand ihrer Kultur <strong>und</strong> Bildung sowie in<br />

ihren einseitigen <strong>und</strong> beschränkten Erwerbsmöglichkeiten. Vor allem die<br />

Entfernung <strong>der</strong> lokalen Sprachen aus dem öffentlichen Leben erschien als<br />

35<br />

Géza Eperjessy: A reformkori város ipara. In: Szeged története. II. Hg. József Farkas. Szeged<br />

1985, 333-359, hier 358.<br />

36<br />

Marczali: Magyarország története II. József korában, 277; Pietsch: A zsidók bevándorlása,<br />

53.<br />

37<br />

Pietsch: A zsidók bevándorlása, 54.


L. Marjanucz: Zur Siedlungs- <strong>und</strong> <strong>Sozialgeschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>ungarischen</strong> <strong>Juden</strong> 81<br />

notwendig. Öffentliche Schulen sollten ohne Eingriff in das religiöse Leben<br />

unter staatlicher Kontrolle gegründet werden, um den jüdischen Kin<strong>der</strong>n<br />

die entsprechende Bildung <strong>und</strong> Erziehung zukommen zu lassen. Das dritte<br />

Ziel dieser Politik war, die <strong>Juden</strong> »durch vermehrte <strong>und</strong> erweiterte Einnahmequellen<br />

von Wucher <strong>und</strong> Betrug« abzuhalten. 38 Deshalb wurde ihnen<br />

erlaubt, Boden zu bestellen <strong>und</strong> Ackerland für 20 Jahre zu pachten. 39<br />

Diese Regelung verbesserte die soziale Lage <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung<br />

im Vergleich zur Regierungszeit Maria Theresias beträchtlich. Die Königin<br />

hatte zum Beispiel strengstens verboten, <strong>Juden</strong> als Pächter von kameralischem<br />

Gr<strong>und</strong>besitz zuzulassen; ansonsten durften sie aber im allgemeinen<br />

Pachtland erwerben <strong>und</strong> außerhalb <strong>der</strong> königlichen Freistädte Gewerbe<br />

treiben. Die Pacht gutsherrlicher Regalien führte aber sehr oft zu heftigen<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzungen zwischen den örtlichen Leibeigenen <strong>und</strong> den Arrendatoren.<br />

Die Ungarische Kanzlei betonte in einer Situationsanalyse, daß<br />

die Bevorzugung <strong>der</strong> <strong>Juden</strong> bei <strong>der</strong> Versteigerung verschiedener herrschaftlicher<br />

Rechte potentiellen christlichen Kandidaten einen wichtigen<br />

Broterwerb wegnehme. Joseph II. sah einen Ausweg in <strong>der</strong> Zulassung <strong>der</strong><br />

<strong>Juden</strong> zum Landkauf, wenn sie zur katholischen Religion konvertierten. 40<br />

Joseph II. gilt im historischen Bewußtsein als Anhänger <strong>der</strong> Aufklärung,<br />

<strong>der</strong> er auch war. Die Richtung dieser Verordnungen wirft ein klares Licht<br />

auf seine Auffassung über die jüdische Frage. Während seiner Herrschaft<br />

begannen die <strong>Juden</strong> in größerer Zahl die Universitäten <strong>und</strong> Akademien<br />

des Reiches, insbeson<strong>der</strong>e die medizinischen <strong>und</strong> juristischen Fakultäten<br />

zu besuchen. Zeitgleich wurde aus den Komitaten berichtet, daß von ihnen<br />

wegen ihrer ärmlichen Verhältnisse kaum Steuer zu erwarten sei. 41 <strong>Juden</strong><br />

waren zudem ständig bestrebt, die Kopfsteuer, die sie nicht nur materiell<br />

belastete, son<strong>der</strong>n demütigen sollte <strong>und</strong> auch demütigte, aufheben zu lassen<br />

<strong>und</strong> den freien Verkehr von einem Landesteil in einen an<strong>der</strong>en zu erreichen.<br />

Die Ungarische Kanzlei hielt die Beibehaltung <strong>der</strong> Kopfsteuer für<br />

eine Voraussetzung dafür, daß die Migration von <strong>Juden</strong> nach Ungarn nicht<br />

noch zusätzlich Antrieb gewinne. Im Gegensatz dazu ließ sich <strong>der</strong> Kaiser<br />

von seinem Beschluß, nur die ausländischen <strong>Juden</strong> <strong>der</strong> Kopfsteuer zu unterwerfen,<br />

nicht abbringen. Das eröffnete den galizischen <strong>und</strong> böhmischen<br />

<strong>Juden</strong> neue Möglichkeiten zur Auswan<strong>der</strong>ung nach Ungarn.<br />

Die Anziehungskraft des Kronlandes Ungarn für jüdische Einwan<strong>der</strong>er<br />

erhöhte erheblich das Ansehen <strong>der</strong> aufgeklärten Politik des Hofes <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Bürokratie. Joseph II. erließ 1783 die Verordnung „Systematica gentis Judaicae<br />

regulatio“, die den <strong>Juden</strong> eine weitgehende inländische Freizügigkeit<br />

außerhalb <strong>der</strong> ober<strong>ungarischen</strong> Bergstädte, die freie Berufswahl mit<br />

38<br />

Henrik Marczali: Magyarország története III. Károlytól a bécsi congressusig (1711-1915).<br />

Budapest <strong>18</strong>98, 401.<br />

39<br />

Ebenda.<br />

40<br />

Marczali: Magyarország története II. József korában, 271.<br />

41<br />

Ebenda, 273.


82 Ungarn-Jahrbuch 28 (2005-2007)<br />

dem Recht zum universitären Studium sowie die Erwerbstätigkeit in allen<br />

Zweigen gewährte. 42 Auch die tradierten Vorstellungen <strong>der</strong> urbanen Eliten<br />

Ungarns hinsichtlich <strong>der</strong> Ausdehnung o<strong>der</strong> Einschränkung <strong>der</strong> Ansiedlungsmöglichkeiten<br />

von <strong>Juden</strong> sahen sich massiv mit <strong>der</strong> Ideenwelt von<br />

Joseph II. konfrontiert. Die Folge war eine wesentliche Zuwan<strong>der</strong>ung in<br />

die königlichen Freistädte. Die politischen <strong>und</strong> verwaltungstechnischen<br />

Reformen des Kaisers hatten die in Jahrh<strong>und</strong>erten gewachsenen Rechtssysteme<br />

verschiedener ständisch strukturierter Autonomien untergraben,<br />

mithin neue Wege für eine intensivere Migration geöffnet. Das Edikt über<br />

die Aufnahme deutscher Familiennamen <strong>und</strong> die freie Nie<strong>der</strong>lassung in<br />

den königlichen Freistädten von 1786 ermöglichte es <strong>Juden</strong>, sich auch ohne<br />

Bürgerrecht in Städten frei aufzuhalten. Dieses Recht beschleunigte die jüdischen<br />

Wan<strong>der</strong>ungsbewegungen. 43<br />

Die josephinischen Reformen unterschieden sich wesentlich von den<br />

preußischen Lösungswegen. Friedrich II. <strong>der</strong> Große gewährte völlige Religionstoleranz,<br />

während er hinsichtlich <strong>der</strong> bürgerlichen Rechtsordnung<br />

frühneuzeitliche Vorgaben fortsetzte. Er schloß die <strong>Juden</strong> von Berufen außerhalb<br />

des Handels aus. Dadurch erwarb eine Kleingruppe von <strong>Juden</strong><br />

enormen Reichtum, während unter an<strong>der</strong>em das Verbot, Ackerbau zu betreiben,<br />

die gesamte jüdische Bevölkerung Preußens von <strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong><br />

Gesellschaft abtrennte. 44 Joseph II. hingegen wollte eine rechtliche Gleichstellung<br />

erwirken, Kultur <strong>und</strong> Wohlstand <strong>der</strong> <strong>Juden</strong> för<strong>der</strong>n, ihnen neue<br />

Lebensbahnen öffnen. Dabei beabsichtigte er keineswegs, den Stand ihrer<br />

Religionsgemeinschaft zu heben. Seinen humanistisch motivierten Maßnahmen<br />

war die Hoffnung beigemischt, daß die <strong>Juden</strong> bald zum Katholizismus<br />

konvertieren würden.<br />

Die Folgen <strong>der</strong> Reformen <strong>der</strong> radikalen Aufklärer<br />

Nach dem Tod des Kaisers bekamen die Städte <strong>und</strong> Komitate ihre alten<br />

Rechtsverordnungen zurück. Die zeitweiligen Wirren in fast allen Gebieten<br />

<strong>der</strong> Verwaltung bewältigte <strong>der</strong> Reichstag von 1790-1791. Auch für die<br />

<strong>Juden</strong> Ungarns wurde ein Gesetz erlassen: Der Artikel XXXVIII/1791 ließ<br />

die <strong>Juden</strong> in jenem rechtlichen Zustand, in dem sie sich am 1. Januar 1790<br />

bef<strong>und</strong>en hatten. 45 Dies war vorteilhaft für die bereits in Ungarn ansässigen<br />

<strong>Juden</strong>, jedoch nachteilig für spätere Migranten. Dennoch bewirkten<br />

die Reformen eine beträchtliche räumliche Verbreitung <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung,<br />

die kaum mehr aufzuhalten war. Die Wan<strong>der</strong>ungsbewegung<br />

42<br />

Lajos Hajdu: A közjó szolgálatában. A jozefinizmus igazgatási és jogi reformjairól. Budapest<br />

1983, 228.<br />

43<br />

Immánuel Lőw – Zsigmond Kulinyi: A szegedi zsidók 1785-től <strong>18</strong>85-ig. Szeged <strong>18</strong>85, 16.<br />

44<br />

Marczali: Magyarország története II. József korában, 279.<br />

45<br />

Corpus juris Hungarici 1740-<strong>18</strong>35. Hg. Dezső Márkus. Budapest 1901, <strong>18</strong>7.


L. Marjanucz: Zur Siedlungs- <strong>und</strong> <strong>Sozialgeschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>ungarischen</strong> <strong>Juden</strong> 83<br />

<strong>der</strong> <strong>Juden</strong> war seit dieser Zeit mit einem Schwerpunkt in Richtung auf die<br />

Mitte Ungarns auszumachen. 46<br />

Die Verbreitung wurde in Südungarn allerdings schon dadurch ermöglicht,<br />

daß das Gebiet nach den Türkenkriegen als Neoaquistica-Besitz unter<br />

direkte Verwaltung <strong>der</strong> Wiener Hofkammer übergegangen war. Als sich<br />

<strong>der</strong> Hofkriegslieferant Samuel Oppenheimer das Monopol für Schiffahrt<br />

auf dem Mieresch (Maros, Mureş) sichern konnte, 47 brachen auch einige jüdische<br />

Familien nach Südungarn auf, um sich dort nie<strong>der</strong>zulassen. Im Zusammenhang<br />

mit diesem Privileg tauchten <strong>Juden</strong> schon am Anfang des <strong>18</strong>.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts im Bereich dieses Flusses auf. Ihre dauerhafte Ansiedlung<br />

begann 1717, als <strong>der</strong> kaiserliche Befehlshaber <strong>der</strong> Festung von Arad die dort<br />

Handel treibenden <strong>Juden</strong> unter seinen Schutz stellte. 48 Die späteren Festungskommandanten<br />

<strong>und</strong> Offiziere des Grenzgebietes folgten diesem Beispiel,<br />

so daß im Laufe <strong>der</strong> Zeit immer mehr jüdische Familien die Erlaubnis<br />

zur Ansiedlung im Komitat Arad erhielten. Unter diesen Bedingungen<br />

wuchs ihre Zahl zwischen 1787 <strong>und</strong> <strong>18</strong>50 von 352 auf 3.4<strong>18</strong> an. 49 Diese Zunahme<br />

ist neben dem für sie günstigen Verhalten <strong>der</strong> Behörden mit dem<br />

Aufschwung des Agrarsektors in dieser Gegend erklärbar. Der weitere Ausbau<br />

dieser durch Innovationen vorangetriebenen Produktionsweisen war<br />

auf Handel <strong>und</strong> neuartige Gewerbezweige angewiesen, denen sich auch<br />

<strong>Juden</strong> widmen durften. 50<br />

Die Verteilung <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung innerhalb dieser Provinz war<br />

für diese Zeit ebenfalls atypisch. <strong>18</strong>20 lebten insgesamt 1.348 <strong>Juden</strong> im Komitat<br />

Arad <strong>und</strong> von diesen 725 (53,78 Prozent), also mehr als die Hälfte in<br />

<strong>der</strong> Stadt Arad, 503 (37,31 Prozent) in Marktflecken mit über 2.000 Einwohnern<br />

<strong>und</strong> 120 (8,89 Prozent) in Dörfern. 51 Für die allgemeine Situation in<br />

Ungarn war kennzeichnend, daß die <strong>Juden</strong> im Vormärz noch überwiegend<br />

Dorfbewohner waren: Bis etwa <strong>18</strong>40 lebten 80 Prozent auf dem Land. 52 Der<br />

Gr<strong>und</strong> für dieses Phänomen ist in kulturgeographischen Gegebenheiten<br />

auszumachen.<br />

Die Eingewan<strong>der</strong>ten unterhielten rege Geschäftsbeziehungen zu ihren<br />

Herkunftsräumen im Nordosten des Landes. Diese auch von <strong>Juden</strong> besiedelten<br />

Landesteile waren im beson<strong>der</strong>en Maße von einer dörflichen Siedlungsstruktur<br />

geprägt. Dieser Umstand wirkte neben den rechtlichen Beschränkungen<br />

ihrer stadtorientierten Migration entgegen. Erst die Mobili-<br />

46<br />

Pietsch: A zsidók bevándorlása, 55.<br />

47<br />

Jenő Glück: Adatok az aradmegyei fejlődésről az <strong>18</strong>48-49-es forradalom nyomán. In:<br />

Studia historica. V. Hg. István Zombori. Szeged 2002, 35-55, hier 38.<br />

48<br />

Jenő Glück: Adatok a szomszéd Arad vármegye <strong>18</strong>48-49-es történetéhez. In: Studia historica<br />

II. Hg. István Zombori. Szeged 1999, 285-315, hier 289.<br />

49<br />

Az <strong>18</strong>50. évi erdélyi népszámlálás. Hg. Zoltán Dávid. Budapest 1994, 99.<br />

50<br />

Jenő Glück: Az aradi zsidóság története. Szeged [o. J. Typoskript].<br />

51<br />

Ágnes B. Lukács: Magyarország népessége törvényhatóságok szerint az <strong>18</strong>20-as években.<br />

Budapest 1978, 13-<strong>18</strong>.<br />

52<br />

Pietsch: A zsidók bevándorlása, 51.


84 Ungarn-Jahrbuch 28 (2005-2007)<br />

sierungskanäle, welche die Politik Josephs II. erschlossen hatte, setzten einen<br />

größeren Zustrom in urbane Zentren in Gang. Diese räumliche <strong>und</strong><br />

gesellschaftliche Bewegung kulminierte im Gesetzartikel XXIX/<strong>18</strong>40. Darin<br />

garantierte <strong>der</strong> ungarische Reichstag den <strong>Juden</strong> die völlige Freizügigkeit<br />

im Land – mit Ausnahme <strong>der</strong> ober<strong>ungarischen</strong> Bergstädte –, sowie die freie<br />

Berufswahl. 53<br />

Für den rapiden demographischen <strong>und</strong> sozialen Aufstieg ist die Entwicklung<br />

<strong>der</strong> jüdischen Gesellschaft im nordöstlichen Komitat Szabolcs<br />

beispielhaft. Hier konzentrierte sich die jüdische Bevölkerung im <strong>18</strong>. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

beson<strong>der</strong>s auf die zwei Ortschaften Kisvárda <strong>und</strong> Nagykálló. Laut<br />

<strong>der</strong> Volkszählung von 1784 bis 1786 betrug die Zahl <strong>der</strong> jüdischen Bewohner<br />

in Kisvárda 1<strong>18</strong> <strong>und</strong> in Nagykálló 66. Ihre Zuwan<strong>der</strong>ung erfolgte seit<br />

dem späten <strong>18</strong>. Jahrh<strong>und</strong>ert durch die Genehmigung <strong>der</strong> Grafenfamilie<br />

Károlyi. Das größere Zentrum bildete sich in Kisvárda, wo sich hauptsächlich<br />

galizische <strong>Juden</strong> nie<strong>der</strong>gelassen hatten. Sie betrieben sowohl Handel<br />

als auch Gewerbe, waren als Gutsverwalter <strong>und</strong> Landpächter tätig. Da <strong>der</strong><br />

zahlreiche Komitatsadel, <strong>der</strong> sich vornehmlich aus Klein- <strong>und</strong> Mitteladel<br />

zusammensetzte, hier über kein bewegliches Kapital verfügte <strong>und</strong> für<br />

Handelsaktivitäten keinerlei praktische Veranlagung zeigte, schrumpfte<br />

seine ohnehin schmale wirtschaftliche Basis stufenweise. Deshalb verpachteten<br />

viele Adlige ihr Ackerland an <strong>Juden</strong>. Als Folge finden wir um die<br />

Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts bereits etwa 100 jüdische Großgr<strong>und</strong>besitzer im<br />

Komitat Szabolcs, <strong>der</strong>en größter Teil in Kisvárda ansässig war. Unter ihnen<br />

befand sich beispielsweise die Familie Reismann, die 2.000 Joch Län<strong>der</strong>eien<br />

bewirtschaftete. 54<br />

Der berühmte ungarische Dichter <strong>und</strong> Staatsmann Ferenc Kölcsey<br />

(1790-<strong>18</strong>38) wandte sich gegen diese Entwicklung, als er die Aufmerksamkeit<br />

<strong>der</strong> politischen Elite auf die Verarmung <strong>der</strong> »misera plebs contribuens«<br />

dieses Landesteiles zu lenken versuchte. Diese war seiner Meinung nach<br />

wegen <strong>der</strong> ungerechten Landverteilung <strong>und</strong> Agrarordnung entstanden. In<br />

<strong>der</strong> von ihm beanstandeten Praxis haben jüdische Händler gegen die St<strong>und</strong>ung<br />

o<strong>der</strong> Übernahme von angehäuften Schulden <strong>der</strong> Leibeigenen <strong>der</strong>en<br />

noch unreifen Weizen angenommen. Der Händler beziehungsweise Landpächter<br />

brannte aus dem billig erworbenen Getreide meist Schnaps, den er<br />

als Endprodukt für den doppelten Preis an die Leibeigenen verkaufte. Kölcsey<br />

bezeichnete diesen Vorgang als einen überaus schädlichen Kreislauf:<br />

Die Bauern setzten wegen ihrer Verschuldung ihr zentrales Produkt gezwungenermaßen<br />

vor seiner Reifung ab, um es dann überteuert als ges<strong>und</strong>heitsschädliche<br />

Fertigware zurückzukaufen. 55<br />

53<br />

László Gonda: A zsidóság Magyarországon 1526-1945. Budapest 1992, 145.<br />

54<br />

Kisvárda és környéke zsidósága. Hg. Károly Jólesz. Tel Aviv 1980, 31.<br />

55<br />

László Simon: Zsidókérdés a magyar reformkorban. Debrecen 1936, 20.


L. Marjanucz: Zur Siedlungs- <strong>und</strong> <strong>Sozialgeschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>ungarischen</strong> <strong>Juden</strong> 85<br />

Die Komitate, die auf ihren Territorien in diesen Fällen die Gerichtsbarkeit<br />

für die Bauern ausübten, setzten die vollstreckbare Verschuldung <strong>der</strong><br />

Leibeigenen auf 1 Forint pro Jahr fest. 56 Damit ging das Risiko einer gesetzlich<br />

nicht gedeckten Verschuldung auf den Kreditnehmer über. Unbestritten<br />

ist, daß das Pachtwesen von verheerenden negativen sozialen Begleiterscheinungen<br />

gekennzeichnet war. So übte die dynamische Wirtschaftsentwicklung<br />

des Marktfleckens Nyíregyháza bereits um die Mitte<br />

des <strong>18</strong>. Jahrh<strong>und</strong>erts eine große Anziehungskraft auf <strong>Juden</strong> aus. 1754 versuchte<br />

ein jüdischer Geldverleiher, die Gemeindeweide in <strong>der</strong> breiten Ortsgemarkung<br />

verpachten zu lassen. Die Rechtsgültigkeit des Verfahrens begründete<br />

er mit <strong>der</strong> Weisung des Gr<strong>und</strong>herren, des Grafen Ferenc Károlyi,<br />

Dorfweiden, die bis dahin für die gesamte Dorfgemeinschaft zur Nutzung<br />

freistanden, als Pachtland zu verwerten. Die Leibeigenen des Dorfes betrachteten<br />

diese Verordnung als ungerecht <strong>und</strong> unrechtmäßig. Sie wiesen<br />

auf die für sie existentielle Bedeutung dieser Gemeindeweide hin <strong>und</strong><br />

baten Károlyi als Dorfgemeinschaft um die Verpachtung zur Eigennutzung.<br />

Diese Siedlung ist auch deshalb interessant, weil sie die Zusammenhänge<br />

zwischen rechtlichen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Interessen beispielhaft<br />

aufzeigen läßt. Nyíregyháza wurden die Frongaben zuerst <strong>18</strong>04, dann <strong>18</strong>24<br />

von den besitzenden Magnatenfamilien für immer erlassen. Der Marktflecken<br />

übernahm die herrschaftlichen Nutznießrechte wie Schankrecht,<br />

Marktfreiheit, Mühlen <strong>und</strong> so weiter. Im Besitz <strong>der</strong> rechtlichen <strong>und</strong> sozialen<br />

Freiheit, beschloß <strong>der</strong> Gemeindevorstand die individuelle Verpachtung<br />

<strong>der</strong> Gemeindeweide durch Versteigerung, was er einige Jahrzehnte<br />

zuvor noch strikt abgelehnt hatte. 57 Die sich verän<strong>der</strong>nde Situation erfor<strong>der</strong>te<br />

eine an<strong>der</strong>e Vorgehensweise. Im Vormärz zeigte sich, daß adlige<br />

Gr<strong>und</strong>herren unter an<strong>der</strong>em durch die Einschaltung jüdischer Pächter<br />

schnell erhebliche Gewinne aus ihren Län<strong>der</strong>eien erzielen konnten.<br />

Die <strong>Juden</strong> entwickelten sich in den Komitaten Szabolcs <strong>und</strong> Szatmár<br />

wirtschaftlich gut <strong>und</strong> gründeten im Verlauf ihrer Verbürgerlichung Fabriken<br />

insbeson<strong>der</strong>e zur Weiterverarbeitung <strong>der</strong> landwirtschaftlichen Produkte,<br />

die von ihren Län<strong>der</strong>eien sowie jenen des Adels stammten. 58 Die<br />

Entwicklung <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Landesmitte neugegründeten Gemeinden wich<br />

<strong>vom</strong> allgemeinen Verlauf ab. Im Komitat Békés wohnten zum Beispiel<br />

nach Angaben <strong>der</strong> Konskription von 1735-1738 insgesamt nur zwei bis drei<br />

jüdische Familien. 59 Es wurde oben ausgeführt, daß we<strong>der</strong> die <strong>Juden</strong> noch<br />

die örtlichen Behörden an einer korrekten Datenerhebung interessiert waren,<br />

da diese Listen zur Feststellung ihrer individuellen Besteuerung<br />

dienten. Deshalb ist die Aussagekraft dieser Quellen fraglich. Der Autor ist<br />

<strong>der</strong> Ansicht, daß die Interessen, welche die Ansiedlung von Kolonisten zur<br />

56<br />

Ebenda, 54.<br />

57<br />

Riczu 11.<br />

58<br />

Pietsch: A zsidók bevándorlása, 58.<br />

59<br />

Mihály Zsilinszky: Szarvas város története és jelen viszonyainak leírása. Pest <strong>18</strong>72, 77.


86 Ungarn-Jahrbuch 28 (2005-2007)<br />

Belebung des Handels nach sich zogen, in den ersten Jahrzehnten des <strong>18</strong>.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert auch in diesem Komitat zur Geltung kamen. In den gutsherrschaftlichen<br />

Marktflecken entstanden kleinste jüdische Gemeinden. Ein bis<br />

zwei <strong>Juden</strong> lebten aufgr<strong>und</strong> eines mit dem Gr<strong>und</strong>herren geschlossenen<br />

Vertrages sogar als Einzelpersonen auf dem Territorium des Komitats. 60<br />

Ihre Zahl war aber im Vergleich zu an<strong>der</strong>en Komitaten bis zum Ende des<br />

<strong>18</strong>. Jahrh<strong>und</strong>erts äußerst gering. Die Komitatsversammlung von 1743 erklärte<br />

auf Gesuch <strong>der</strong> griechischen Ladeninhaber das Komitat als frei von<br />

<strong>Juden</strong> <strong>und</strong> untersagte <strong>der</strong>en Einwan<strong>der</strong>ung <strong>und</strong> Handel auf seinem gesamten<br />

Gebiet. 61<br />

Trotzdem bildeten sich um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende in Szentandrás <strong>und</strong><br />

Csaba zwei große Gemeinden mit über 100 Personen. Die Verpachtung<br />

gr<strong>und</strong>herrschaftlicher Regalien an <strong>Juden</strong> zum Aufbau einer Gutswirtschaft<br />

trug wesentlich zur Vermehrung <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung bei. Die <strong>Juden</strong><br />

waren nämlich nur unter <strong>der</strong> Bedingung bereit, für die hohen Gewinn versprechenden<br />

Lizenzen, mit denen auch eine Schankkonzession verb<strong>und</strong>en<br />

war, die Gebühren zu zahlen, wenn sich ausreichend viele Glaubensgenossen<br />

zur Stabilisierung <strong>der</strong> Wirtschaft <strong>und</strong> zur Aufbringung <strong>der</strong> Pacht<strong>und</strong><br />

Lizenzgel<strong>der</strong> ansiedeln durften. Zu erwähnen sind etwa Izsák Berger<br />

o<strong>der</strong> Elias Weinberger, die für den Erwerb <strong>der</strong> Schank- <strong>und</strong> Fischereirechte<br />

eine große Summe entrichten mußten, aber erreichten, daß neue Ansiedler<br />

aus den Reihen ihrer Glaubensgenossen in die Städte geholt wurden. 62<br />

Die demographische Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Juden</strong> in Ungarn von den josephinischen<br />

Volkszählungen bis 1920<br />

Die von Joseph II. angeordnete Volkszählung hatte bereits konfessionelle<br />

Gesichtspunkte berücksichtigt, da sie christliche <strong>und</strong> jüdische Einwohner<br />

getrennt erfaßte. Methodisch beruhte sie auf zwei wesentlichen Elementen:<br />

<strong>der</strong> Zählung <strong>der</strong> Häuser <strong>und</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung. Es gab dabei ausführliche<br />

Fragebögen für die christlichen <strong>und</strong> einfachere Fragebögen für die jüdischen<br />

Haushalte <strong>und</strong> Personen.<br />

Die Zusammenschreibung <strong>der</strong> <strong>Juden</strong> erfolgte also auf einem geson<strong>der</strong>ten<br />

Fragebogen, <strong>der</strong> die Zahl <strong>der</strong> Männer <strong>und</strong> Frauen feststellte, aber außer<br />

dem Familienstand <strong>der</strong> Männer keine weiteren Angaben erfragte. Deshalb<br />

ist diese Quelle in erster Linie für demographische Untersuchungen<br />

verwendbar. Der landesweit 80.000 Personen umfassende jüdische Bevölkerungsanteil<br />

machte zur Mitte <strong>der</strong> 1780er Jahre 1,3 Prozent <strong>der</strong> 6.468.327<br />

zählenden Gesamtbevölkerung aus. 63 Obwohl dieser Prozentsatz verhält-<br />

60<br />

Győző Ember: Az újratelepülő Békés megye első összeírásai. Békéscsaba 1977, 32.<br />

61<br />

Acsády 489.<br />

62<br />

Pál Maday: Békés megye története. Békéscsaba 1960, 112-115.<br />

63<br />

Gusztáv Thirring: Magyarország népessége II. József korában. Budapest 1938, 45.


L. Marjanucz: Zur Siedlungs- <strong>und</strong> <strong>Sozialgeschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>ungarischen</strong> <strong>Juden</strong> 87<br />

nismäßig niedrig war, bestätigte <strong>der</strong> Reichstag von 1791, wie oben angeführt,<br />

die auf die <strong>Juden</strong> bezogene Gesetzgebung Josephs II. gemäß dem<br />

Stand <strong>vom</strong> 1. Januar 1790 – dies aus Furcht vor einer unkontrollierbaren<br />

Zuwan<strong>der</strong>ung <strong>und</strong> Zunahme <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung in Ungarn.<br />

Leopold II. (1790-1792) verlagerte die Ansiedlungsgenehmigung für <strong>Juden</strong><br />

in den Bereich <strong>der</strong> städtischen Behörden. Da die königlichen Freistädte<br />

den jeweiligen Zustrom erfassen konnten, läßt sich eine ständige Zunahme<br />

<strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung in <strong>der</strong> ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts beobachten.<br />

Dabei erfolgte <strong>der</strong> Zuzug hauptsächlich aus außer<strong>ungarischen</strong><br />

Territorien. In Szeged wurde <strong>18</strong>26 verordnet: »[…] man stelle fest, wieviele<br />

<strong>Juden</strong> in <strong>der</strong> Stadt wohnen, woher sie stammen, wo <strong>und</strong> mit wessem Zugeständnis<br />

sie ein Haus haben […].« 64 Zu dieser Zeit entrichteten 143 <strong>Juden</strong><br />

die Taxa Tolerantia, unter ihnen 58 Neuankömmlinge. Seit <strong>18</strong>05 registrierten<br />

die städtischen Behörden 86 Geburten, in 49 Fällen hatten aus dem Umland<br />

stammende Frauen ein Kind zur Welt gebracht, in 37 Fällen alteingesessene.<br />

65 Es ist also eine demographische Fluktuation festzustellen, in <strong>der</strong>en<br />

Rahmen aber die Wan<strong>der</strong>ungsdifferenz immer positiv war.<br />

Das gleiche Ergebnis ergibt sich aus <strong>der</strong> Analyse weiterer Erhebungen,<br />

die eine sehr intensive Einwan<strong>der</strong>ung von <strong>Juden</strong> nach Ungarn belegen. Ihr<br />

Stand erhöhte sich von 80.000 im Jahr 1787 auf 127.000 im Jahr <strong>18</strong>05 <strong>und</strong><br />

stieg bis <strong>18</strong>57 auf 388.000. Im Gegensatz zum Anteil von 1787 (1,3 Prozent)<br />

hatten die <strong>Juden</strong> <strong>18</strong>57 bereits einen Anteil von 4,1 Prozent an <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung.<br />

66<br />

Die demographische Entwicklung <strong>der</strong> <strong>ungarischen</strong> <strong>Juden</strong> kann seit den<br />

<strong>18</strong>30er Jahren auch anhand <strong>der</strong> Kirchenmatrikel verfolgt werden, weil die<br />

Führung des Personenstandsregisters zur allgemeinen Praxis wurde. Bis<br />

zur Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts dürfte die Zahl <strong>der</strong> Zugewan<strong>der</strong>ten insgesamt<br />

bei r<strong>und</strong> 350.000 Personen gelegen haben; ungefähr die Hälfte von<br />

ihnen waren <strong>Juden</strong>. Eine Datenreihe über die konfessionelle Struktur des<br />

Landes zwischen 1787 <strong>und</strong> <strong>18</strong>69 weist nach, daß sich die Zahl <strong>der</strong> <strong>Juden</strong><br />

von 80.000 auf 516.658 versechsfachte <strong>und</strong> damit unter allen ethnischen<br />

<strong>und</strong> religiösen Gemeinschaften in Ungarn die dynamischste demographische<br />

Entwicklung durchlief. 67<br />

Die Volkszählung von <strong>18</strong>50 zeigt den unterschiedlichen Anteil <strong>der</strong> <strong>Juden</strong><br />

in den einzelnen Regionen <strong>und</strong> Siedlungslandschaften Ungarns. Im<br />

engeren Ungarn betrug <strong>der</strong> jüdische Bevölkerungsanteil 4,2 Prozent, in Sie-<br />

64<br />

Zitiert nach László Marjanucz: Szegedi zsidó polgári családok a 19. században. Szeged<br />

1989, 12.<br />

65<br />

Ebenda, <strong>18</strong>.<br />

66<br />

Béla Pápai: Magyarország népe a feudalizmus megerősödése és bomlása idején (1711-<br />

<strong>18</strong>67). In: Magyarország történeti demogáfiája a honfoglalástól 1949-ig. Hg. József Kovacsics.<br />

Budapest 1963, 143-221, 173.<br />

67<br />

Jehuda Dan – George Magos: A magyarországi zsidóság demográfiája. In: Történelmi<br />

szemle 27 (1985) 437-467, hier 438.


88 Ungarn-Jahrbuch 28 (2005-2007)<br />

benbürgen 0,8 Prozent, in <strong>der</strong> Serbischen Woiwodschaft <strong>und</strong> dem Temescher<br />

Banat 1,1 Prozent, in Kroatien 0,2 Prozent <strong>und</strong> auf dem Gebiet <strong>der</strong><br />

Militärgrenze 0,1 Prozent. Daraus errechnet sich für das historische Ungarn<br />

ein Durchschnitt von 2,6 Prozent. 68 Die hohe Zahl von <strong>Juden</strong> im engeren<br />

Ungarn war kein Zufall, hatte doch die religiöse Duldung im Stephansreich<br />

historische Vorläufer. Die <strong>Juden</strong> wurden <strong>vom</strong> liberalen Adel als wichtige<br />

Wirtschaftspartner <strong>und</strong> Verbündete sogar in <strong>der</strong> Magyarisierungspolitik<br />

angesehen. 69 Aufgr<strong>und</strong> dieses ungeschriebenen gesellschaftlichen<br />

Vertrages wuchsen sie in ihrer fortschreitenden Verbürgerlichung in eine<br />

beson<strong>der</strong>e Rolle in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung des Landes hinein. Dieser Stellenwert<br />

bot zugleich die historische Basis <strong>und</strong> den sozialen Hintergr<strong>und</strong> für<br />

ihre demographische Zunahme in Ungarn.<br />

Die mo<strong>der</strong>nen Volkszählungen ab <strong>18</strong>69 erfaßten die <strong>Juden</strong> als religiöse<br />

Gruppe, die sich zusätzlich zu ihrer Muttersprache auch zu verschiedenen<br />

Nationalitäten bekennen konnte. Aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Ergebnisse <strong>der</strong> Volkszählung<br />

von <strong>18</strong>90 sind die Binnengrenzen <strong>der</strong> jüdischen Religionsgemeinschaft<br />

mit den ethnischen Gegebenheiten exemplarisch vergleichbar. 70<br />

Auf <strong>der</strong> nördliche Linie des von Slowaken besiedelten Teils von Oberungarn<br />

finden wir kleine deutsche Sprachgruppen mit israelitischer Religion.<br />

Dies wie<strong>der</strong>holte sich <strong>vom</strong> Komitat Nyitra bis nach Beszterce-Naszód<br />

– als Hinweis darauf, daß es sich hier um <strong>Juden</strong> aus Galizien handelte, die<br />

sich als Deutsche bekannten. Der Anteil <strong>der</strong> <strong>Juden</strong> an <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung<br />

betrug im Bezirk Bries (Breznóbánya, Brezno) des Komitats Zólyom lediglich<br />

1 Prozent, im Komitat Trencsén hingegen 8,5 Prozent, während er<br />

im Durchschnitt bei r<strong>und</strong> 3,5 Prozent lag.<br />

Die Deutschen in den westlichen Gebieten Oberungarns, also den Komitaten<br />

Nyitra, Pozsony <strong>und</strong> Bars, gehörten größtenteils <strong>der</strong> katholischen<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> evangelisch-lutherischen Kirche an. Die kleinen <strong>und</strong> zerstreuten<br />

deutschen Siedlungen wurden als von Angehörigen <strong>der</strong> israelitischen Religion<br />

bewohnt angegeben. Die wenigsten <strong>Juden</strong> lebten im Komitat Bars<br />

(r<strong>und</strong> 3 Prozent), die meisten in <strong>der</strong> Umgebung von Preßburg (7 Prozent).<br />

Im Komitat Nyitra machten die seßhaften <strong>Juden</strong> 10,5 Prozent <strong>der</strong> Einwohner<br />

aus. Je näher sie an mehrheitlich <strong>ungarischen</strong> Sprachgebieten lebten,<br />

desto mehr verloren jüdische Religionsangehörige ihre deutsche Prägung<br />

<strong>und</strong> verschmolzen zumindest sprachlich mit <strong>der</strong> <strong>ungarischen</strong> Bevölkerung.<br />

Dieses Phänomen finden wir entlang <strong>der</strong> Linie zwischen den Komitaten<br />

Pozsony <strong>und</strong> Szatmár. Ein interessanter Zusammenhang fällt im Norden<br />

68<br />

Dezső Dányi: Magyarország népessége a <strong>18</strong>. század harmadik harmadában. In: Magyarország<br />

történeti demográfiája (896-1995). Hg. József Kovacsics. Budapest 1997, 199-216, hier<br />

203.<br />

69<br />

Karády 17.<br />

70<br />

Als Quellengr<strong>und</strong>lage dienen nachfolgend die tabellarischen Nachweise über die Ergebnisse<br />

<strong>der</strong> Volkszählung von <strong>18</strong>90: Pál Balogh: A népfajok Magyarországon. Budapest 1902,<br />

107-127.


L. Marjanucz: Zur Siedlungs- <strong>und</strong> <strong>Sozialgeschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>ungarischen</strong> <strong>Juden</strong> 89<br />

<strong>und</strong> Nordosten des Landes auf, wo die Zahl <strong>der</strong> <strong>Juden</strong> am höchsten war.<br />

Angehörige <strong>der</strong> deutschen Nation <strong>und</strong> Vertreter <strong>der</strong> deutschen Sprache<br />

waren demnach beinahe ausschließlich Angehörige <strong>der</strong> israelitischen Religion.<br />

Zu nennen sind die Komitate Trencsén, Árva, Liptó, Turócz <strong>und</strong> Zólyom.<br />

In den Komitaten Sáros <strong>und</strong> Zemplén war <strong>der</strong> Prozentsatz bei<strong>der</strong><br />

Gruppen fast gleich: 7 Prozent Deutsche <strong>und</strong> 8 Prozent <strong>Juden</strong> in Sáros, 6<br />

Prozent Deutsche <strong>und</strong> 8 Prozent <strong>Juden</strong> in Zemplén. Dort, wo eine sehr<br />

hohe Zahl von <strong>Juden</strong> lebte, wie in den Bezirken Tokaj (16 Prozent) <strong>und</strong> Sátoraljaújhely<br />

(15,5 Prozent), bekannten sich nur 1 beziehungsweise 6 Prozent<br />

als Deutsche. Bei einem ähnlichen prozentualen Anteil in den Komitaten<br />

Ung <strong>und</strong> Bereg verschmolzen die dortigen <strong>Juden</strong> weitgehend mit<br />

den Magyaren. In den obigen Fällen kam ein natürlicher soziologischer<br />

Trend Fallen zur Geltung: Die jüdische Bevölkerung ging sprachlich immer<br />

in dem stärkeren lokalen ethnischen Umfeld auf. Je tiefer wir uns in das<br />

ungarische Sprachgebiet hineinbegeben, desto mehr Angehörige <strong>der</strong> jüdischen<br />

Religion bekannten sich zur <strong>ungarischen</strong> Nation. Für weite Teile<br />

Nordostungarns ist bezeichnend, daß die römisch-katholische Religion<br />

zwar eine hegemoniale Position einnahm, die am weitesten verbreitete Religionsgemeinschaft<br />

aber die israelitische war, da sie in jedem Bezirk des<br />

Gesamtraumes aufzufinden war.<br />

Die Lage in Transdanubien unterschied sich davon entscheidend. Zwei<br />

Drittel <strong>der</strong> <strong>Juden</strong> (etwa 17.000 Personen), die sich alle als Magyaren verstanden,<br />

lebten auf dem Territorium <strong>der</strong> Komitate Győr, Vas <strong>und</strong> Sopron.<br />

Das übrige Drittel, r<strong>und</strong> 7.000 Personen in den Komitaten Vas <strong>und</strong> Moson<br />

bekannten sich als Deutsche. Noch eindeutiger war das Fortschreiten <strong>der</strong><br />

Assimilation in den Komitaten Zala, Somogy <strong>und</strong> Baranya. Hier zählten<br />

sich von insgesamt 33.000 <strong>Juden</strong> 30.000 zu den Magyaren <strong>und</strong> 3.000 zu den<br />

Deutschen hinzu. Eine Ausnahme bildete das Komitat Tolna, wo 2.000 <strong>der</strong><br />

10.000 <strong>Juden</strong> Deutsch als ihre Muttersprache angaben. <strong>Juden</strong> lebten auch<br />

hier in allen Bezirken <strong>und</strong> Komitaten, allerdings betrug ihr Anteil im Unterschied<br />

zum Nordosten überall weniger als 10 Prozent <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung.<br />

Wie<strong>der</strong> ein an<strong>der</strong>es Bild ergibt sich jenseits <strong>der</strong> Theiß, im östlichen Teil<br />

Ungarns. In den Komitaten Máramaros <strong>und</strong> Ugocsa wurden insgesamt<br />

54.000 Deutsche gezählt, von denen 49.000 <strong>der</strong> jüdischen Religion angehörten,<br />

während sich etwa 5.000 zur römisch-katholischen rechneten. Die<br />

große Zahl <strong>der</strong> formal deutschsprachigen, tatsächlich aber jiddischsprachigen<br />

<strong>Juden</strong> hing mit den unter ihnen vorherrschenden orthodoxen Glaubensvorstellungen<br />

zusammen, die zu einer Verlangsamung <strong>der</strong> Assimilation<br />

führte. Jüdische Religionsangehörige bildeten in beiden Komitaten die<br />

zweitgrößte Bevölkerungsgruppe nach <strong>der</strong> griechisch-katholischen Gemeinschaft.<br />

<strong>18</strong>90 lag ihr Anteil an <strong>der</strong> Bevölkerung in <strong>der</strong> Stadt Sighet<br />

(Máramarossziget, Sighetu Marmaţiei) bei r<strong>und</strong> 25 Prozent.


90 Ungarn-Jahrbuch 28 (2005-2007)<br />

In den südlichen Komitaten Temes, Torontál, Krassó-Szörény <strong>und</strong> Arad<br />

hingegen waren <strong>Juden</strong> lediglich eine sehr kleine Min<strong>der</strong>heit von durchschnittlich<br />

1,5 Prozent. In Temes definierten sich nahezu alle 5.000, in<br />

Krassó-Szörény 2.700 von 3.000 <strong>und</strong> in Torontál 5.000 von 7.000 <strong>Juden</strong> ihrer<br />

Muttersprache nach als Deutsche. Diese Region Ungarns zählte hinsichtlich<br />

<strong>der</strong> ethnischen Zusammensetzung als die vielfarbigste Siedlungslandschaft,<br />

in <strong>der</strong> aber die Deutschen das demographisch, wirtschaftlich <strong>und</strong><br />

kulturell dominierende Element waren. 71 Auf diesem ethnisch heterogenen<br />

Boden orientierten sich die dort lebenden <strong>Juden</strong> sprachlich <strong>und</strong> kulturell<br />

an den Deutschen. Eine an<strong>der</strong>e Situation finden wir im Komitat Arad, weil<br />

hier die Magyaren eine beträchtliche demographische <strong>und</strong> kulturelle Größenordnung<br />

darstellten. Dementsprechend bekannten sich von den 3.000<br />

<strong>Juden</strong> je zur Hälfte als Magyaren <strong>und</strong> als Deutsche.<br />

Die Lage in <strong>der</strong> Tiefebene vermittelt das Bild einer völligen Assimilation.<br />

Die in den Komitaten Hajdú, Szolnok, Csanád, Békés <strong>und</strong> Csongrád<br />

angesiedelten <strong>Juden</strong> bezeichneten sich ausschließlich als Magyaren. Sie<br />

zählten zu den Vorkämpfern nationalungarischer Anliegen.<br />

Die durchschnittliche Größenordnung <strong>der</strong> Angehörigen <strong>der</strong> jüdischen<br />

Religion nach Landesteilen im Jahre <strong>18</strong>80 zeigt die folgende Tabelle: 72<br />

Transdanubien<br />

Oberungarn<br />

bis zur<br />

Theiß<br />

Tiefebene mit<br />

dem Gebiet links<br />

<strong>der</strong> Theiß<br />

Siebenbürgen<br />

Bezirke<br />

insgesamt<br />

30-50 Prozent 2 2<br />

10-30 Prozent 10 15 25<br />

0,25-9 Prozent 71 106 123 77 377<br />

Keine 1 8 9<br />

Diese Angaben bekräftigen unsere These über die landesweite geographische<br />

Verbreitung <strong>der</strong> <strong>ungarischen</strong> <strong>Juden</strong>, die ihre Siedlungsgeschichte von<br />

Anbeginn kennzeichnete. Naturgemäß wies die Bevölkerungsdichte starke<br />

regionale Unterschiede auf. Die größten Zuwächse fanden in den mittleren<br />

<strong>und</strong> größeren urbanen Zentren, in <strong>der</strong> Landesmitte <strong>und</strong> den nordöstlichen<br />

Komitaten statt. Diese radikale Umgestaltung ihrer Siedlungsstrukturen ist<br />

ein markantes Zeichen für eine rasche Verbürgerlichung in weiten Teilen<br />

<strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung Ungarns in <strong>der</strong> hier behandelten Epochen.<br />

71<br />

Vgl. Árpád E. Varga: Erdély etnikai és felekezeti statisztikája. III: Arad, Krassó-Szörény<br />

és Temes megye. Népszámlálási adatok <strong>18</strong>69-1992 között. Budapest/Csíkszereda 2000, 6-10.<br />

72<br />

Nach Balogh 104-139.

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