Leseprobe - Bayerische Staatsoper - LIVE
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WIE MAN WIRD, WAS MAN IST<br />
MAX JOSEPH<br />
BAYERISCHE<br />
STAATSOPER<br />
1943<br />
1963<br />
2013<br />
ICH KANN AUCH ANDERS<br />
Macht und Milde – Regisseur Jan Bosse über Mozarts La clemenza di Tito<br />
Mysterium und Opulenz – Europapremiere von Matthew Barneys Film River of Fundament<br />
Platz ist noch im kleinsten Boot – die Fischer von Lampedusa erzählen<br />
D: 6,00 Euro A: 6,20 Euro CH: 8,00 CHF
Max Joseph 2<br />
Editorial<br />
Ein Regisseur, ein Soziologe, ein Psychoanalytiker, eine Schriftstellerin, ein<br />
Mitglied des UN-Menschenrechtsrats und zahlreiche Fischer aus Lampedusa<br />
– sie alle stehen in dieser neuen Ausgabe von MAX JOSEPH für ein emphatisches<br />
Bekenntnis: „Ich kann auch anders.“ Sie zeigen auf ganz unterschiedliche<br />
Weise, dass wir weit weniger fremdbestimmt sind, als wir oft glauben – bei<br />
allem Wissen auch um Unveränderliches. Dass wir frei sind, uns Alternativen<br />
nicht nur auszudenken, sondern sie auch zu leben, dass wir frei sind, gegen<br />
scheinbar unentrinnbare Ströme zu schwimmen – wie man wird, was man ist.<br />
Nietzsches Zitat, mit dem sich die <strong>Bayerische</strong> <strong>Staatsoper</strong> in dieser Spielzeit<br />
auseinandersetzt, provoziert geradezu die optimistische Antwort: indem man<br />
sich seiner Freiheiten bewusst wird.<br />
Kaiser Tito in Wolfgang Amadeus Mozarts Oper La clemenza di Tito<br />
scheint es vorzumachen: Wider jede Erwartung zeigt er Milde und begnadigt<br />
diejenigen, die einen Mordanschlag auf ihn planten. Zugleich liegt in diesem<br />
Gnadenakt eine Machtdemonstration, wie Jan Bosse, der das Werk an der<br />
<strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong> inszeniert, im Gespräch mit Armin Nassehi herausarbeitet.<br />
Der langjährige UNO-Sonderberichterstatter Jean Ziegler führt im<br />
Interview mit Werner Wunderlich aus, dass sich am Beispiel von Tito eine<br />
wesentliche Veränderung zu unserer Gegenwart zeigt. Denn die Machthaber<br />
von heute seien Konzernchefs und agierten im System des globalen Kapitalismus<br />
nicht mehr als Individuen, sondern als ersetzbare Funktionsträger.<br />
Umso eindringlicher tritt Mozarts Figur des Sesto hervor, der sich gegen den<br />
Kaiser auflehnt und deutlich macht, dass bei „Ich kann auch anders“ auch<br />
eine die Herrschaft bedrohende Subversion mitklingt.<br />
Für die Freiheit aber, wir selbst zu werden, brauchen wir die Fähigkeit<br />
zur Identifikation und zum Mitgefühl mit anderen, wie Arno Gruen in seinem<br />
Essay schreibt. Nietzsche wusste dies, so Gruen, wenn er die Lüge des Idealismus<br />
und die zu allem Jasagenden, die Zukunftsgewissen und die superb<br />
Angepassten beklagte. All dies kann man nun von den Protagonisten dieser<br />
Ausgabe nicht behaupten, seien es ihre Autoren, die Menschen, über die sie<br />
schreiben, oder die bildenden Künstler – wie der Fotograf Luca Zanier, der in<br />
die abgeschirmten Räume der Macht eingedrungen ist oder Dennis Busch, der<br />
die Zeitgeschichte wie in einem Kinderspiel auseinandergebaut und wieder<br />
neu zusammengesetzt hat. Im besten Fall lassen wir uns inspirieren von ihrer<br />
Neugier und ihrem Mut.<br />
20132014<br />
Nikolaus Bachler<br />
Staatsintendant<br />
Rubrikentitel
Die Macht des Kaisers<br />
Fotografie Robert Fischer<br />
La clemenza di Tito – der<br />
Titel von Wolfgang Amadeus<br />
Mozarts Oper legt nahe, das<br />
Stück handle von Milde –<br />
aber es geht um Macht.<br />
Der Regisseur Jan Bosse<br />
inszeniert das Werk an der<br />
<strong>Bayerische</strong>n Staats oper<br />
neu und traf für MAX<br />
JOSEPH auf den Soziologen<br />
Armin Nassehi . Ein<br />
gedanklicher Austausch<br />
über die Machtmechanismen<br />
des Kaisers Tito,<br />
Tyrannenmorde und Parallelen<br />
zum Regieberuf.<br />
12<br />
Premiere La clemenza di Tito 13
ARMIN NASSEHI Wolfgang Amadeus Mozarts La clemenza<br />
di Tito wird üblicherweise entweder als affirmative<br />
Fürstenpropaganda gescholten oder als subtile aufklärerische<br />
Kritik an absoluter Herrschaft verstanden. In beiden<br />
Interpretationen hat der böse Herrscher abgedankt, und<br />
an seine Stelle tritt der gute Herrscher, analog zum lieben<br />
Gott, der seinerseits den deus revelatus abgelöst hat. Aber<br />
beide Interpretationen interessieren sich gar nicht für das<br />
Problem der Herrschaft selbst. Dabei macht Mozart, denke<br />
ich, in der Figur des Tito das Herrschaftsproblem auf<br />
dreifache Weise zum Thema:<br />
Zunächst lässt sich an Tito ablesen, dass er tun und<br />
lassen kann, was er will, alles wird ihm als Machtausübung<br />
zugerechnet. Ob er nun Gewalt anwendet oder nicht, ob er<br />
Macht ausübt oder nicht, ob er begnadigt oder nicht – alles<br />
wird ihm als souveräner Akt eines Herrschers zugerechnet.<br />
Aus dieser merkwürdigen Lage kommt er nicht heraus,<br />
was eine Parabel ist auf die auch heute eigentümliche<br />
Indizierung von Politik: Egal was ein Politiker sagt, jede<br />
Einlassung, jede Idee, jede Entscheidung wird ihm als politische<br />
Strategie zugerechnet, als etwas, das als Spielzug<br />
im Spiel um den Erwerb oder die Sicherung von Macht<br />
angesehen wird – wie zutreffend oder klug die Sache auch<br />
sein mag, um die es geht.<br />
Das zweite, was mich eigentlich am meisten fasziniert,<br />
ist, dass da jemand in einem souveränen Akt zwei<br />
Personen begnadigt und eine von beiden am Ende sinngemäß<br />
sagt: Du kannst mich begnadigen, aber mein Herz<br />
kann mir nicht verzeihen. Das ist ja eine sehr moderne<br />
Geschichte. Vorher hat man die Köpfe abgeschlagen, und<br />
jetzt denken sie selber, weil man sie dran lässt, und indem<br />
man sie dran lässt, entsteht ein Bereich, der für den<br />
souveränen Herrscher nicht mehr erreichbar ist. Das<br />
heißt, der Herrscher kann zwar das Leben geben, aber<br />
nicht die Vergebung. Das muss ein in diesem Sinne fast<br />
schon bürgerliches Subjekt selber machen, das ein Gewissen<br />
in sich entdeckt und so den Souverän auf die Begrenztheit<br />
seiner Souveränität hinweist. In Mozarts Musik<br />
wird der souveräne Akt des Tito nicht mit pomp and<br />
circumstance erzählt, sondern geradezu melancholisch.<br />
Für den Soziologen ist hier interessant: Machtbeziehungen<br />
sind stets wechselseitige Beziehungen, das heißt, wer<br />
die Macht hat, der ist auch abhängig von dem, über den<br />
er die Macht ausübt.<br />
Der dritte Aspekt verweist auf die Herrschaftsquelle.<br />
Auch der „gute“ Herrscher muss an die Macht kommen.<br />
Und es ist kein Zufall, dass Titos Herrschaft auf der<br />
Gewaltherrschaft seines Vaters und der eigenen militärischen<br />
Geschichte basiert. In demokratischen Zeiten vergessen<br />
wir oft, dass jegliche politische Herrschaft darauf<br />
basiert, im Konfliktfall Gewalt ausüben zu können, und<br />
dass staatliche Herrschaft stets auf der Möglichkeit der<br />
Gewaltanwendung beruht. Tito kann auf Gewalt nur<br />
verzichten, weil er sie hat. Selbst wenn in der Demokratie<br />
die Gewaltanwendung stark reglementiert ist und wenig<br />
dezisionistische Aspekte hat, so basiert Herrschaft am<br />
Ende auf der Möglichkeit der Gewalt – und nur deshalb<br />
kann der demokratische Rechtsstaat, durchaus ähnlich<br />
wie Tito, auf Gewalt verzichten und zivilisatorisch mit<br />
Zivilisationsbrüchen umgehen. Aber Staatlichkeit kann<br />
auch anders, wie wir wissen. Aber diese dritte Interpretation<br />
geht vielleicht ein bisschen zu weit.<br />
JAN BOSSE Nein, dieser dritte Punkt ist sehr interessant,<br />
weil es sehr schwer ist, ihn aus dieser<br />
Oper herauszukitzeln. Er kommt in der Oper eher<br />
wie ein Untertext vor, der aus der Vorgeschichte<br />
der Handlung mitschwingt. Wenn Tito anfängt,<br />
sein Konzept der Milde zu entwickeln und die<br />
größtmögliche Kehrtwendung in seinem Herrscherleben<br />
vollzieht, klebt an ihm immer noch<br />
literweise das Blut, das in seinem Feldzug gegen<br />
Jerusalem vergossen wurde. Wie sehr das tatsächlich<br />
eine Kehrtwendung ist, wie sehr hier jemand<br />
sein Leben wirklich umkrempelt, ob es Sehnsucht<br />
nach Absolution ist oder ob es nur ein politisches<br />
Konzept ist, lässt sich nicht eindeutig sagen – ganz<br />
in dem Sinne Ihrer ersten Bemerkung zur Widersprüchlichkeit<br />
von Herrschaft. Diese Uneindeutigkeit<br />
verweist auf eine zerrissene Herrschergestalt,<br />
Stichwort: Überforderung. Und hier wären wir<br />
wirklich bei einem modernen, aktuellen Politikerthema.<br />
Was geschieht mit Macht unter Druck?<br />
Und der Druck ist immens. Da gibt es eine Verschwörung<br />
und einen Mordanschlag gegen ihn,<br />
denn er ist ja doch ein Tyrann. Dramaturgisch geschieht<br />
nun Folgendes: Komponist und Librettist,<br />
aber auch der Regisseur lassen den Zuschauer im<br />
Unklaren darüber, ob der Anschlag nicht doch<br />
gelungen ist. Was wäre, wenn der Tyrannenmord<br />
tatsächlich geklappt hätte? Und einen Moment<br />
lang bietet Mozart das an, am Schluss des 1. Akts<br />
höre ich Mozarts Requiem durch, ein Trauermarsch,<br />
der Chor tritt auf. Der Attentäter, die<br />
Mitverschwörerin, die anderen Protagonisten und<br />
auch der Chor, als Vertreter des Volkes, sind total<br />
betroffen, und jeder, aus seiner Geschichte, aus<br />
seiner Figur heraus, muss sich dazu verhalten:<br />
Was wäre, wenn der Staat plötzlich ohne Kopf ist?<br />
Und dann ist erstmal Pause.<br />
Im 2. Akt der Oper wird bei uns das Bühnenbild<br />
sehr verändert sein, man sieht die Folgen der<br />
Katastrophe, des Brandanschlags, des Terroranschlags,<br />
der von dem Attentäter ja sogar in letzter<br />
Minute noch verhindert werden sollte. Leider<br />
denkt Sesto zu lange nach, er singt sozusagen zu<br />
lange, um den ins Rollen gebrachten Aufruhr noch<br />
stoppen zu können.<br />
14<br />
Rubrikentitel15
„Was wäre, wenn der Tyrannenmord tatsächlich geklappt hätte?<br />
Und einen Moment lang bietet Mozart das an, am Schluss des<br />
1. Akts höre ich Mozarts Requiem durch.“ – Jan Bosse, Regisseur<br />
AN Nicht nur auf der Seite des Tyrannen geht es also um<br />
Entscheidungen, geht es um Dezisionismus, sondern auch<br />
auf der Seite der Verschwörer. Wobei doch auffällt, dass<br />
die Oper letztlich ohne Gründe für Entscheidungen auskommt.<br />
Es geht nicht um politische Inhalte. Es geht im<br />
Prinzip nur um den Machtmechanismus selbst.<br />
JB … ohne die politischen Inhalte der Handelnden.<br />
Es geht letztlich nur um Zweideutigkeiten, um das<br />
Dilemma des Herrschens und der Machtausübung<br />
bei jeder Aktion. Es gibt keine private Handlung,<br />
und das wird hier sehr genau durchgeführt, wie bei<br />
Shakespeare. So ist die Wahl der Ehefrau der politischste<br />
Akt überhaupt und der privateste zugleich.<br />
Toll wäre natürlich, wenn das auch der Zuschauer<br />
empfindet. Es bleibt ein Rätsel, ob Titos rascher<br />
Wechsel der Kandidatinnen zur Ehefrau reine Willkür<br />
oder zutiefste Überforderung ist und aus der<br />
Überforderung heraus Entscheidungen getroffen<br />
werden müssen. Letztendlich erklärt Tito am<br />
Schluss seine ärgste Feindin zu seiner Frau. Was natürlich<br />
die größte Umarmungstaktik ist, die man<br />
einem Feind antun kann – die Entmachtung von Vitellia,<br />
indem man sie an die Macht hebt, an die Seite<br />
des Throns. Das finde ich irre, perfide.<br />
AN Der höchste Akt der Souveränität ist der Dezisionismus:<br />
Entscheiden ohne Gründe, nur weil man es kann.<br />
Und da ist es natürlich besonders cool, wenn man aus der<br />
archaischen Homöostase des Gebens und Nehmens heraustritt,<br />
also aus der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts<br />
zwischen beidem. Im archaischen Kontext ist der<br />
Herrscher nicht souverän – er muss töten, um das Gleichgewicht<br />
wieder herzustellen. Tito aber unterbricht diese<br />
Notwendigkeit. Deshalb ist ja der Gnadenakt auch etwas,<br />
das den Begnadigten beschämt. Auf einmal ist sein ganzes<br />
Leben von einer konkreten Person abhängig. Dieser Gnadenakt<br />
als Akt eines Souveräns ist wirklich dezisionistisch,<br />
ohne Gründe. Sie haben ja gerade nach der Aktualität<br />
gefragt. Auch heutige, demokratische Politik kennt<br />
manchmal Dezisionismus als Demonstration von Macht.<br />
Nehmen wir Horst Seehofer. Warum hat er die Autobahnmaut<br />
in den großen Koalitionsvertrag reinschreiben lassen?<br />
Nur weil er es konnte und dieses Können vorführen<br />
wollte. Um die Maut geht es nicht, auch wenn allerlei Gründe<br />
genannt wurden, damit der Herrschaftsmechanismus<br />
nicht zu deutlich zum Tragen kommt. Der entscheidende<br />
Unterschied zu Mozarts Zeiten ist vielleicht: Asymmetrie<br />
und Herrschaft waren damals noch absolute Selbstverständlichkeiten.<br />
Heute wird Symmetrie erwartet. Man<br />
muss heute erklären, warum überhaupt jemand herrscht<br />
oder herrschen will. Damals musste man erklären, warum<br />
jemand auf Herrschaft verzichtet.<br />
JB In dem Dilemma stehen wir doch auch. Im Regieberuf<br />
etwa – also nicht, dass ich ein Tyrann wäre,<br />
ich verstehe mich ja eher als antiautoritären Vertreter<br />
meines Berufs – da ist es schon interessant: In<br />
dem Moment, in dem man Jobs zu vergeben hat, hat<br />
man Macht, und Macht korrumpiert, oben und unten.<br />
Man kann natürlich nicht vergleichen, ob ich<br />
jetzt einen Schauspieler oder einen Sänger besetze,<br />
oder ob jemand die Todesstrafe verhängt – aber<br />
dennoch: Wie geht man damit um, zu herrschen<br />
und in einem Herrschaftssystem zu stecken?<br />
Am stärksten kann man es bei Sesto sehen.<br />
Er ist eigentlich eine Hamlet-Figur, ein junger<br />
Mann, der in diesem System wirklich in eine Krise<br />
gerät, der zerrissen ist durch eine fast hörige Liebe,<br />
total abhängig von einer älteren Frau, für die er bereit<br />
ist, alles zu tun. Zugleich wird er von seinem<br />
großen Vorbild und dieser Vaterfigur Tito – und<br />
auch das geschieht nicht ganz naiv – zum Nachfolger<br />
ernannt. Er wird wie bei Hamlet einerseits Thronnachfolger,<br />
andererseits hasst er dieses ganze System,<br />
und dieser Hass wird aufgestachelt in ganz fieser<br />
Verquickung mit den privaten Gefühlen, Liebe<br />
oder sexueller Hörigkeit. Es ist die totale Überforderung:<br />
Sesto ist zwischen den Stühlen, ist Anführer<br />
einer Terrorgruppe, versucht, alles im letzten<br />
Moment rückgängig zu machen, zwecklos, und muss<br />
sich dann mit den Konsequenzen seines Handelns<br />
auseinandersetzen. Der Zorn ist aber ja nicht weg.<br />
Das Verrückte ist doch, wie sowohl Vitellia als auch<br />
Sesto, Annio wie auch Servilia mit ihren durchaus<br />
sehr vitalen und mutigen Versuchen, sich zu verhalten,<br />
in diesem Korsett des Systems am Schluss wie<br />
erstickt wirken. Ist nicht sogar die Begnadigung<br />
Teil des Korsetts? Es geht dann doch um Machterhalt.<br />
Am Schluss jedenfalls kriegt sich das Liebes-<br />
16 Jan Bosse 17
„Der höchste Akt der Souveränität ist der Dezisionismus: Entscheiden<br />
ohne Gründe, nur weil man es kann.“ – Armin Nassehi, Soziologe<br />
paar sogar, die große Todfeindin wird die Ehefrau,<br />
der Königsmörder und Sohn bleibt potenzieller<br />
Nachfolger, ihm wird alles vergeben – und so stehen<br />
sie alle da am Schluss, das Personal dieser Oper. Tito<br />
zementiert dadurch, dass er alles verzeiht, seine<br />
Macht stärker denn je. Ich könnte mir sogar vorstellen,<br />
dass er ganz am Ende Sesto seinen Königsmantel<br />
umhängt und in letzter Sekunde grinsend abgeht<br />
– und als Zuschauer fragst du dich dann, ob du wirklich<br />
Sesto als Kaiser dieses Reiches sehen willst.<br />
AN Sie haben vorhin die Situation am Ende des 1. Aktes<br />
angesprochen – jene Schwebesituation, in der man sich<br />
fragt, was denn wohl wäre, wäre das Attentat gelungen.<br />
Das ist für die Diskussion des Tyrannenmordes die entscheidende<br />
Frage. Was ändert sich eigentlich? Es gibt eindeutige<br />
Situationen, wenn man etwa an die Ermordung<br />
Hitlers denken würde – da sind die Verhältnisse klar. Nur<br />
die deutsche Wehrmachtsführung war allzu lange in der<br />
archaischen Homöostase von Eid und Gehorsam dem<br />
„Führer“ gegenüber gefangen. Der Eid war für diese Leute<br />
von höherem Wert als noch ein paar Hunderttausend<br />
Tote, was die Lage für die Verschwörer um Graf Stauffenberg<br />
besonders ausweglos machte. Aber selten sind die<br />
Verhältnisse so klar.<br />
Wenn man jedoch an die terroristischen Morde in<br />
den 1970er Jahren denkt, in Deutschland an die RAF,<br />
dann ist das eine Parabel darauf, dass sich meistens gar<br />
keine Person ausmachen lässt, deren Tod tatsächlich etwas<br />
ändern würde. An der Sinnlosigkeit der RAF-Morde,<br />
die auf konkrete, „herrschende“ Personen zielten, lässt<br />
sich viel über die Komplexität der modernen Gesellschaft<br />
lernen – insofern waren die unpersönlichen, eher an der<br />
Infrastruktur und an der Symbolik ansetzenden Morde<br />
von 9/11 viel moderner, weil sie gerade mit der Komplexität<br />
der Reaktionen auf die Anschläge gerechnet haben.<br />
Die RAF-Morde haben sich als Tyrannenmorde verstanden,<br />
waren aber gerade darin völlig sinnlos – böse, aber<br />
sinnlos. Es änderte sich gar nichts, im Gegenteil. Der Adressat<br />
des Terrors saß noch fester im Sattel als vorher. Es<br />
ist ganz ähnlich wie bei Tito: auf der einen Seite seine<br />
Macht zeigen zu können, auf der anderen Seite zivilisatorisch<br />
mit dem Zivilisationsbruch umzugehen, das heißt mit<br />
dem Recht und nicht mit Gegengewalt zu reagieren und<br />
am Ende sogar Begnadigungen aussprechen zu können.<br />
Das sind letztlich die größten Ohrfeigen. Gerade deshalb<br />
wollten die RAF-Mörder ihren eigenen Tod in Stammheim<br />
auch als Rache des Staates an ihnen inszenieren, weil nur<br />
ein seinerseits mordender Staat sie vor dem vernichtenden<br />
Urteil der Sinnlosigkeit ihres Tuns geschützt hätte.<br />
Zurückbezogen auf Tito: Hätte sich etwas geändert, wenn<br />
man den Tyrannen gemeuchelt hätte? Was Sie vorhin gesagt<br />
haben, finde ich sehr, sehr spannend: Am Ende lösen<br />
sich diese ganzen Motive auf, die vorher da waren, und am<br />
Ende ist es womöglich ganz gut, dass Tito weitermacht.<br />
Am Ende ist der Mordanschlag von Sesto, Vitellia und den<br />
anderen genauso sinnlos, wie es die Morde der RAF waren<br />
– und am Ende wird ihnen das mit ihrer Begnadigung beziehungsweise<br />
ihrer Ehelichung auch noch gnadenlos vorgeführt.<br />
Für mich spielt dabei eine besondere Rolle, dass<br />
Tito selbst darüber enttäuscht ist, dass sein Gnadenakt<br />
wieder neue politische Probleme auslöst, denn seine Vergebung<br />
bringt Sesto nicht dazu, sich selbst vergeben zu<br />
können. Also nicht nur für den Attentäter ist die Welt zu<br />
komplex. Wie dieser mit einem Mord nicht die Verhältnisse<br />
ändern kann, findet die Herrschaft des Herrschers ihre<br />
Grenzen in der Komplexität der Reaktion der Beherrschten.<br />
Gnade: ja; Vergebung: nein! Es ist eine Entscheidung<br />
da, damit ist aber nicht alles aufgelöst. Das heißt, er ist<br />
kein Souverän im klassischen Sinne mehr, das kann man<br />
nur sein, wenn man tötet. Denn das ist die letztgültige,<br />
irreversible dezisionistische Entscheidung.<br />
JB Es ist ja auch unglaublich stark ausgedrückt,<br />
wenn Tito sinngemäß zu Sesto sagt: Du wirst nicht<br />
zum Tode verurteilt, weil du mich umbringen wolltest,<br />
sondern weil du an der Aufrichtigkeit meiner<br />
Gnade zweifelst. Es gibt also eine tatsächliche Übertretung:<br />
Die Macht an sich, die Überzeugung der<br />
Rechtmäßigkeit von Titos Macht wird angezweifelt.<br />
Vielleicht denkt Tito genau so, wie Sie es beschrieben<br />
haben: Es ist egal, ich bin König, und natürlich<br />
wollen mich Leute umbringen, und dann käme halt<br />
der Nächste dran im Shakespeare’schen Sinne, als<br />
der große Mechanismus der Geschichte.<br />
Ich finde interessant, dass sich das 18. Jahrhundert<br />
in der römischen Epoche und im Heute<br />
spiegelt. Wir versuchen, da auch mit der Architektur<br />
der Oper umzugehen, dieser repräsentativen<br />
Architektur des Logentheaters; und die Königsloge<br />
18<br />
Rubrikentitel19
ist quasi Titos Thron. Ich habe ja nur diese paar<br />
Figuren, die ein kleines gesellschaftliches System in<br />
sich sind. Und zu diesem gehört natürlich auch der<br />
Chor, aber eben auch das Orchester, das ist ja Titos<br />
Staatsorchester. Herauszufinden, wie man das konzeptionell<br />
und sinnlich auf die Bühne bringt, wird<br />
Teil unseres hoffentlich spannenden Probenprozesses.<br />
Ich bin vielleicht genauso fremd in der Oper<br />
wie Sie, ich bin ja eigentlich noch ein Opernanfänger.<br />
Aber ich hoffe, dass mir diese Fremdheit eher<br />
nutzt, einen kritischen Blick darauf zu behalten,<br />
wie man das Machtsystem ästhetisch darstellen<br />
kann, damit Tito das in seiner Jovialität dann wiederum<br />
unterlaufen kann.<br />
Ich finde es wichtig zu erzählen, dass Tito ein<br />
volksnaher und jovialer Typ ist, dass er eher über<br />
Understatement arbeitet. Trotz seiner groß inszenierten<br />
Auftritte. Ich stelle mir das so vor: Erst<br />
kommt diese repräsentative Ouvertüre, und man<br />
denkt, es müsste darauf die erste große Kaiserarie<br />
folgen; aber Tito singt erst einmal gar nicht, sondern<br />
begrüßt alle und setzt sich zu den Zuschauern<br />
oder zu seinen Musikern. Und wir erfahren über ihn<br />
etwas durch seine Widersacher. Die Herrschaftsmechanismen<br />
kommen sozusagen eher durch die Hintertüren.<br />
Wir müssen bei den Proben alles tun, um<br />
diese Ambivalenz einzufangen zwischen Willkür,<br />
Demonstration und ernsthaftem Herrschaftskonzept.<br />
Eher sind die Reaktionen der anderen das,<br />
was die Macht produziert, und nicht die tatsächliche<br />
eiserne Faust.<br />
AN Genau, denn der Mächtige ist von denen abhängig,<br />
über die er die Macht ausübt. Das Maß der Macht ist das<br />
Tun der Beherrschten, deshalb kann sich der Mächtige<br />
auch so schnell lächerlich machen, wenn er bloßgestellt<br />
wird – und deshalb neigt unsichere Macht auch zur Gewalt,<br />
weil sie dann selbst dafür sorgen kann, dass der Beherrschte<br />
tut wie ihm geheißen. Das bedeutet aber, dass<br />
ein Herrscher, der auf Herrschaftssymbole verzichtet und<br />
die Machtmittel nicht zeigt, besonders fest im Sattel sitzt.<br />
Das kann man sich nur erlauben, wenn die Dinge besonders<br />
gut funktionieren, und wenn man sicher sein kann,<br />
dass Gefolgschaft tatsächlich funktioniert. Titos erster<br />
Auftritt weist also bereits auf den späteren Verzicht auf<br />
Gewalt hin – was in beiden Fällen gerade im Verzicht auf<br />
äußere Machtmittel ein Zeichen großer Macht ist. Und<br />
das ist eine Parabel auf die moderne Demokratie, die<br />
üblicherweise darauf verzichtet, die Mittel zu zeigen. Deshalb<br />
wundern wir uns immer, dass auch die moderne Demokratie<br />
auf der Möglichkeit von Gewaltanwendung aufgebaut<br />
ist – im potentialis, nicht im realis – also der<br />
Möglichkeit einer Gewaltanwendung, aber eben nicht<br />
mehr unter allen Umständen.<br />
Der Regisseur Jan Bosse wurde nach seinem Studium<br />
an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst<br />
„Ernst Busch“ 1998 von Dieter Dorn für die Münchner<br />
Kammerspiele engagiert. Im Jahr 2000 ging er für fünf<br />
Jahre als Hausregisseur ans Schauspielhaus Hamburg.<br />
Von 2007 bis 2013 war er Hausregisseur am Maxim<br />
Gorki Theater Berlin. Er inszeniert am Schauspielhaus<br />
Zürich und regelmäßig am Burgtheater in Wien,<br />
am Thalia Theater in Hamburg sowie am Schauspiel<br />
Stuttgart, zuletzt Szenen einer Ehe nach Ingmar Bergmans<br />
gleichnamigem Film. Seine Inszenierungen wurden<br />
mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen.<br />
Nach ersten Opernerfahrungen am Theater Basel, an<br />
der Oper Frankfurt und an der Deutschen Oper Berlin<br />
mit Monteverdis L’Orfeo, Cavallis La Calisto und<br />
Verdis Rigoletto inszeniert er an der <strong>Bayerische</strong>n<br />
<strong>Staatsoper</strong> Mozarts La clemenza di Tito.<br />
Armin Nassehi ist Inhaber des Lehrstuhls I für Soziologie<br />
an der Ludwig-Maximilians-Universität München.<br />
Als Wissenschaftler forscht er darüber, wie in<br />
komplexen Situationen Entscheidungen generiert<br />
werden und wie unterschiedliche Perspektiven der<br />
Gesellschaft in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Medien<br />
und Kultur aufeinander treffen. Vor seiner Berufung<br />
1998 war er Privatdozent an der Universität<br />
Münster, wo er zuvor auch studiert, promoviert und<br />
sich habilitiert hatte. Seit 2001 ist Armin Nassehi, der<br />
in Gelsenkirchen, Bayern und Teheran aufwuchs,<br />
auch als Redner und Berater in Wirtschaft und Kultur<br />
tätig. Im Sommer 2010 verpflichtete ihn der Fernsehsender<br />
BR-alpha für eine Sendereihe, die sich mit<br />
zentralen Fragestellungen unserer Gesellschaft befasst.<br />
Seit 2012 ist Nassehi Herausgeber der Zeitschrift<br />
Kursbuch.<br />
La clemenza di Tito<br />
Opera seria in zwei Akten<br />
Von Wolfgang Amadeus Mozart<br />
Premiere am Montag, 10. Februar 2014,<br />
Nationaltheater<br />
STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung auf<br />
www.staatsoper.de/tv am Samstag, 15. Februar 2014<br />
Weitere Termine im Spielplan ab S. 88<br />
Auf den ersten Blick ein Klassiker.<br />
Auf den zweiten Blick sogar noch mehr.<br />
Der klassische Charakter der 1815 Rattrapante Ewiger Kalender lässt<br />
sich auf den ersten Blick erkennen. Die Eisenbahn-Minuterie und die arabischen<br />
Zifern sind von den früheren Taschenuhren von A. Lange & Söhne<br />
inspiriert. Bei genauer Betrachtung des Manufakturkalibers L101.1<br />
offenbaren sich die klassisch konstruierten Mechanismen des ewigen<br />
Kalenders und des Chronograph-Rattrapante. Mit ihren anspruchs vollen,<br />
traditionell umgesetzten Komplikationen ist die Uhr eine Hommage<br />
an die Leistungen Ferdinand A. Langes. www.alange-soehne.com<br />
20<br />
Wir laden Sie herzlich ein unsere Kollektion in der neuen A. Lange & Söhne Boutique München zu entdecken:<br />
Perusastraße 3 · 80333 München · Tel. 089 255 44 780
MYSTERIUM UND OPULENZ<br />
Der amerikanische Bildkünstler Matthew Barney zeigt seinen symphonischen<br />
Film River of Fundament als Europapremiere an der<br />
<strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong>. Er entstand in Zusammenarbeit mit dem<br />
Komponisten Jonathan Bepler und wurde eigens für einen Theaterraum<br />
entwickelt. Der Film ist Teil eines Kunstprojekts, dessen<br />
anderer Teil als Ausstellung im Münchner Haus der Kunst zu sehen<br />
sein wird.<br />
Matthew Barney and Jonathan Bepler,<br />
River of Fundament, 2014, Production Still.<br />
Foto Hugo Glendinning<br />
Matthew Barney and Jonathan Bepler,<br />
River of Fundament, 2014, Production Still.<br />
Foto Hugo Glendinning<br />
In diesem Frühjahr präsentieren der Künstler<br />
Matthew Barney und der Komponist Jonathan<br />
Bepler ihr Gesamtkunstwerk Ancient Evenings in<br />
München. Das Projekt basiert auf dem gleichnamigen<br />
Roman von Norman Mailer. Es ist Matthew<br />
Barneys bisher ehrgeizigstes episches Projekt und<br />
besteht aus einer Ausstellung im Münchner Haus<br />
der Kunst mit neuen Skulpturen, Zeichnungen und<br />
Storyboards und der Premiere des symphonischen<br />
Films River of Fundament in der <strong>Bayerische</strong>n<br />
<strong>Staatsoper</strong>, der im Vorfeld der Ausstellung<br />
gezeigt wird.<br />
Matthew Barneys Werk stellt ein komplexes<br />
Erzählsystem aus persönlichen, historischen und<br />
modernen Mythologien dar. Der Künstler ist<br />
einem breiteren Publikum vor allem bekannt<br />
durch seine autobiografische Kunstfilm-Serie<br />
Cremaster Cycle. Hier begann auch die Zusammenarbeit<br />
mit dem Musiker, Sänger und Komponisten<br />
Jonathan Bepler, der die musikalische<br />
Gestaltung dreier Filme der Reihe übernahm.<br />
Auch Norman Mailer, der für Matthew Barney<br />
seit jeher eine wichtige Inspirationsquelle ist, hat<br />
noch im Jahr 1999 im zweiten Teil dieser Serie<br />
als Schauspieler mitgewirkt.<br />
River of Fundament ist nun das erste<br />
gemeinsame Filmprojekt Barneys und Beplers.<br />
Schon 2007 – in dem Jahr, in dem Norman Mailer<br />
starb – begannen sie ihre Arbeit an einer Serie<br />
von multidisziplinären Projekten, die sich immer<br />
jeweils auf einen bestimmten Ort bezogen und lose<br />
auf Norman Mailers Roman Ancient Evenings<br />
basierten. Mailers Text aus dem Jahr 1983 erzählt<br />
nach der ägyptischen Mythologie von den sieben<br />
Stufen der Reise der menschlichen Seele, die nach<br />
dem Tod den Körper verlässt und aufsteigt zu<br />
ihrer Wiedergeburt.<br />
River of Fundament ist ein technisch<br />
hochanspruchsvoller, symphonischer Film, der<br />
sich mit den thematischen Unterströmungen<br />
sowohl von Mailers Roman als auch von dessen<br />
Leben beschäftigt. Die zentrale Szene dreht sich<br />
in abstrakter Form um die Totenwache für den<br />
verstorbenen Norman Mailer in einem Nachbau<br />
seines Apartments im New Yorker Stadtteil<br />
Brooklyn Heights. Eine große Zahl von fiktiven<br />
und realen Gästen ist anwesend – Mitglieder von<br />
Mailers Freundeskreis, Stars der New Yorker<br />
Literaturszene und Figuren aus Barneys Cremaster-Filmen.<br />
Liveperformances in amerikanischen<br />
Großstädten wie Los Angeles, Detroit und<br />
New York als Teil früherer Arbeiten am Ancient<br />
Evenings-Projekt sind in Zwischenschnitten<br />
zu sehen.<br />
Der Film kombiniert auf elegante Weise traditionelles<br />
opulentes Erzählkino mit Elementen<br />
aus Performancekunst und Bildhauerei. Wie in<br />
seinen früheren Filmen bezieht sich Barney hier<br />
stark auf die Operntradition, um verschiedene<br />
Erzählformen innerhalb der narrativen Struktur<br />
des Films zu verbinden.<br />
Nach seiner Premiere im Nationaltheater<br />
wird River of Fundament in weiteren internationalen<br />
Opernhäusern und Theatern gezeigt. Beteiligt<br />
sind Schauspieler, Sänger und Musiker wie<br />
Maggie Gyllenhaal, Debbie Harry sowie die Mystic<br />
River Native American Pow Wow Group.<br />
Die besondere Gelegenheit in München<br />
ist, das gesamte Ancient Evenings-Projekt zu<br />
sehen – Ausstellung und Film. Wer Matthew<br />
Barneys Werk nicht kennt, sieht hier einige der<br />
mysteriösesten und schönsten Bilder unserer<br />
Zeit. Es verspricht ein aufregendes Erlebnis für<br />
alle zu werden. – SV<br />
Mit bestem Dank an das Matthew Barney Studio, New York<br />
Copyright aller Bilder: Matthew Barney,<br />
Courtesy Gladstone Gallery, New York und Brüssel<br />
Matthew Barney verbindet in seinem interdisziplinären<br />
Schaffen Film, Bildhauerei, Performance und Zeichnung.<br />
Barney lebt und arbeitet in New York. Sein bekanntestes<br />
Werk ist die Kunstfilm-Serie Cremaster Cycle (1994-2002).<br />
Jonathan Bepler ist Komponist, Gitarrist, Sänger und<br />
Installationskünstler aus den USA. Er inszeniert weltweit<br />
genreübergreifende Projekte, Installationen und Konzerte.<br />
River of Fundament<br />
Filmpremiere<br />
Sonntag, 16. März 2014,<br />
Nationaltheater<br />
Matthew Barney: River of Fundament<br />
Ausstellung<br />
17. März – 17. August 2014<br />
Haus der Kunst<br />
68<br />
68<br />
Rubrikentitel69
Die Auflösung der<br />
Herrschergnade oder:<br />
Musealisierungsprozesse<br />
in der Oper<br />
Münchner Rezeptionsstationen<br />
von La clemenza<br />
di Tito 1936 und 1962.<br />
Kaiser Tito in Wolfgang Amadeus Mozarts Oper La clemenza di Tito hätte auch anders<br />
gekonnt. Er hätte seinen verräterischen Vertrauten Sesto, der sich dazu verleiten ließ,<br />
einen Aufruhr gegen den Herrscher Roms anzuzetteln, bei dem dieser hätte ums Leben<br />
kommen sollen, nach der Praxis der römischen Kaiserzeit in den Zirkus werfen können<br />
– oder zumindest in die Verbannung schicken. Was Tito stattdessen macht, ist hinlänglich<br />
bekannt: Er vergibt Sesto ebenso wie den anderen Verschwörern und Verschwörerinnen,<br />
wofür er vom Volk bejubelt wird. Mozart inszeniert in La clemenza di Tito damit<br />
eine beispiellose Herrschergnade, die es so zweifelsohne nie gegeben hat. Zur Zeit der<br />
Uraufführung der Oper 1791 erinnerte sie allerdings an aktuelle politische Umwälzungen.<br />
In den Reformideen Leopolds II., für dessen Krönung als König von Böhmen die<br />
Oper geschrieben wurde, bildeten sich zumindest Ansätze einer solchen fürstlichen<br />
Milde ab: Als Großherzog von Toskana verfügte Leopold noch vor Übernahme der Kaiserkrone<br />
bedeutende Milderungen des Strafrechts und schaffte Mitte der 1780er Jahre<br />
als einer der ersten neuzeitlichen europäischen Fürsten sowohl die Todesstrafe als<br />
auch die Folter ab. Insofern erweist Mozarts musikalische Darstellung des gnädigen,<br />
vergebenden Herrschers, obschon stofflich in der Antike angesiedelt, einem aufgeklärten<br />
zeitgenössischen Fürsten die Referenz, die zugleich als Mahnung zu verstehen<br />
wäre: Leopold II. solle auch als oberster Regent des Heiligen Römischen Reiches und<br />
frischgekrönter König von Böhmen seine gnädigen Tugenden beibehalten.<br />
An der Rezeptionsgeschichte von Mozarts Oper zeigt sich, wie sehr ihre Konjunktur<br />
vom Zeitcharakter geprägt war. Das lag vor allem am Stoff selbst. Pietro Metastasios<br />
Libretto La clemenza di Tito wurde ab 1734 nachgewiesenermaßen 45 Mal vertont<br />
und war damit der Bühnenrenner des aufgeklärten Absolutismus. Im Falle der<br />
Vertonung durch Mozart schadete es der Beliebtheit des Werks nicht, dass sich dieser<br />
der damals bereits veralteten Form der opera seria bediente: seine Clemenza di Tito<br />
wurde am Beginn des 19. Jahrhunderts zum wahrscheinlich beliebtesten Bühnenwerk<br />
des Komponisten. Doch mit dem Ende des wie auch immer aufgeklärten oder restaurativen<br />
Absolutismus begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Begeisterung<br />
für diesen Opernstoff nachzulassen: Mit dem ökonomischen wie gesellschaftlichen<br />
Aufstieg des Bürgertums verloren der absolute Herrscher und dessen auf<br />
Gnade gebaute Regentschaft ihren gesellschaftlichen Sinn, und Mozarts Oper wurde<br />
nun jenseits ihrer als veraltet geltenden formalen Gestalt der opera seria auch inhaltlich<br />
zum Anachronismus.<br />
76 Text Fritz Trümpi<br />
77
Anachronistische Opernformen und deren Inhalte haben jedoch nur in einer zeitgenössisch<br />
orientierten Spielplanpraxis einen schweren Stand. Schon ab dem späten<br />
19. Jahrhundert begann sich das Repertoire an Opernhäusern zusehends zu fixieren.<br />
Seither vergrößert es sich vor allem seitwärts, zumeist entlang wenig gespielter Werke<br />
von zu Großmeistern erklärten Komponisten. Kurz: Der Opernbetrieb ist seither als<br />
solcher anachronistisch, ja museal ausgerichtet, wie dies etwa die Opernforscher<br />
Carolyn Abbate und Roger Parker in ihrer unlängst auf deutsch erschienenen Operngeschichte<br />
deutlich machten. Werke, die einst als veraltet galten, erhalten dadurch<br />
allerdings wieder eine Chance, auf die Bühne zurückzukehren.<br />
Sogar im Nationalsozialismus wandte man sich in München dem stofflich vom<br />
Anachronismus der Herrschergnade durchdrungenen „Titus“ zu – so die<br />
eingedeutschte Bezeichnung von Mozarts La clemenza di Tito. Deren Aufführung<br />
müsste im totalitären Staat eigentlich als politisch nicht opportun gegolten haben.<br />
Allerdings herrschte zwischen 1933 und 1945, als sowohl staatliche Verfügungen als<br />
auch die selbstanpassende Praxis zahlreicher Opernintendanten in ganz Deutschland<br />
für eine krasse Beschneidung des Repertoires sorgten, gewissermaßen ein Notstand.<br />
Die Staatstheater waren auf emsiger Suche nach Ersatz für Opern, die aus dem Spielplan<br />
verbannt wurden, weil sie als „entartet“ gebrandmarkt waren oder aber von jüdischen<br />
Komponisten stammten. Der Rückgriff auf den Tito war deshalb trotz seines für<br />
den Nationalsozialismus unkommoden Gehalts naheliegend, zumal die letzte Münchner<br />
Neuinszenierung zu diesem Zeitpunkt 30 Jahre zurücklag. Dass die <strong>Bayerische</strong><br />
<strong>Staatsoper</strong> im Juni 1936 den Tito auf die Bühne brachte, deckt sich mit dem für den<br />
National sozialismus durchaus typischen kulturpolitischen Pragmatismus. Die Lösung<br />
der stofflichen Problemlage fand sich einerseits in Umdeutungen und Bearbeitungen<br />
der Libretti, andererseits aber auch in der Herauslösung der Opernwerke aus einem<br />
realpolitischen Kontext, die durch die zunehmende Musealisierung des Opernbetriebs<br />
umso einfacher gelang.<br />
Doch wie auch immer: Die Bearbeitung eines aufklärerisch-humanistischen<br />
Stoffes wie jenes des<br />
Tito durch kulturpolitische Aktivisten und Nutznießer<br />
eines totalitären Massenvernichtungsregimes<br />
hat von vornherein eine perverse Dimension.<br />
Für die Rezeptionsentwicklung von La clemenza di Tito ist auch ein Blick auf die<br />
Münchner Neuinszenierung von 1962 aufschlussreich, zumal der Musealisierungsprozess<br />
in den 1960er Jahren bereits weit fortgeschritten war. Was die Proponenten<br />
der Inszenierung betrifft, waren es großteils Künstler und Kunstverwalter, die ihre<br />
Dienste knappe 30 Jahre zuvor bereits dem nationalsozialistischen Staat zur Verfügung<br />
gestellt hatten – wenn auch nicht für den Tito von 1936. Rudolf Hartmann<br />
etwa, in dessen Ära die 1962er Premiere von Mozarts Oper fiel, kam erst 1937 nach<br />
München, wo er als Oberspielleiter der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong> fortan gemeinsam<br />
mit Clemens Krauss die Münchner Opernagenda bestimmte. Außerdem war Hartmann<br />
seit 1933 NSDAP-Mitglied und gehörte einer SA-Theatergruppe sowie dem Reichskolonialbund<br />
an, wie Andreas Backöfer schon 1992 publik machte. Doch seine<br />
Karriere hatte nach 1945 einen fast ungehinderten Fortbestand, was zweifellos der<br />
Milde und Gnade der (bundesrepublikanischen) Herrschaft geschuldet war: Für die<br />
Nachkriegsjustiz war er nichts weiter als ein harmloser „Mitläufer“. Ähnlich gnädig<br />
verfuhr die Justiz beim Übertritt des Tito-Dirigenten der 1962er-Produktion, Meinhard<br />
von Zallinger, vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik. Der gebürtige Österreicher<br />
gehörte ebenfalls der NSDAP an und kam 1935 nach München, wo er bis 1944 als<br />
„Staatskapellmeister“ seinen Dienst versah. 1944 betreute Zallinger außerdem kurzzeitig<br />
die nach Prag evakuierte Oper Duisburg. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er<br />
zunächst Anstellungen in Salzburg und Graz und gelangte von dort 1950 nach Wien,<br />
wo er zum Leiter der Volksoper ernannt wurde. Doch schon 1953 ging er für drei Jahre<br />
nach Ostberlin, wo er die Komische Oper leitete. 1956 kehrte er schließlich nach<br />
München an die <strong>Bayerische</strong> <strong>Staatsoper</strong> zurück, wo er bis 1973 als „erster Staatskapellmeister“<br />
wirkte. Man könnte nun außerdem näher auf Hans Hartleb eingehen, der<br />
den Münchner Tito von 1962 inszenierte: Er praktizierte sein Handwerk ab 1935 an<br />
der Volksoper Berlin, wo er 1942 zum Oberspielleiter aufstieg. Oder auf Richard Holm,<br />
der 1962 die Titelrolle des Tito sang, nachdem er 1937 in Kiel debütiert hatte und von<br />
1942 bis 1944 am Opernhaus Nürnberg tätig gewesen war, bevor er 1948 Ensemblemitglied<br />
der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong> wurde. Details zur Tätigkeit der Tito-Proponenten<br />
von 1962 dürften bald vom derzeit laufenden Forschungsprojekt zur <strong>Bayerische</strong>n<br />
<strong>Staatsoper</strong> im Nationalsozialismus zu erwarten sein – so das Forschungsteam denn<br />
Zugang zu den verschiedenen Nachlässen erhält, die derzeit noch unter privater<br />
Abgeschlossenheit stehen. „Ich kann auch anders“ könnte diesbezüglich eine<br />
Motivationslage der Nachkommen und Nachlassverwalter bilden, um die forschungsrelevanten<br />
Dokumente der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.<br />
78 La clemenza di Tito<br />
79
Doch wie auch immer: Die Bearbeitung eines aufklärerisch-humanistischen Stoffes<br />
wie jenes des Tito durch kulturpolitische Aktivisten und Nutznießer eines totalitären<br />
Massenvernichtungsregimes hat zweifellos von vornherein eine perverse Dimension.<br />
Dies schlug sich auch in der medialen Vermittlung des Stoffes durch den Regisseur<br />
Hans Hartleb nieder, wie ein Blick in das von ihm gestaltete Programmheft der<br />
Tito-Premiere von 1962 deutlich macht: Aufklärerischen Gesten wie jener der<br />
Herrschermilde gegenüber zeigte man sich im München der 1960er Jahre nach wie<br />
vor misstrauisch. Die Akteure im Tito seien, so wird dort betont, kaum noch Individuen,<br />
sondern Träger und Verkünder moralischer Maximen. Ganz im Sinn der immer<br />
objektivierenden, jeden Realismus meidenden opera seria seien auch zwei wichtige<br />
männliche Partien (Sesto und Annio) für Frauenstimmen geschrieben, so Hartleb im<br />
Programmheft. Titos Entscheidung, Gnade walten zu lassen, sieht der Programmtext<br />
denn auch nicht als Gestus eines aufgeklärten, sondern eines kalkulierenden<br />
Herrschers: „Titus handelt zwar nicht selbst, aber er bewirkt die Handlungen der<br />
Anderen. Und was ihn passiv sein läßt, ist nicht Schwäche, sondern innere Kraft: die<br />
höhere Einsicht, die in der verzeihenden Güte ein echtes Wirkungsmittel erkennt.“<br />
Nun liegt zwar auf der Hand, dass eine solche Güte 20 Jahre nach der Wannseekonferenz<br />
nicht mehr als reale Herrschertugend angesprochen werden kann. Dass der<br />
Text sie aber zum bloßen Kalkül und Wirkungsmittel von Herrschaft umfunktionalisiert,<br />
zeigt den geschichtslosen Kontext an, in den die Oper zwischenzeitlich gestellt wurde.<br />
Einer anderen als der instrumentellen Vernunft zeigt sich Hartlebs Programmtext nicht<br />
mehr zugänglich: Der Handlungsspielraum von Herrschaft, so wie er in Mozarts<br />
La clemenza di Tito geradezu idealtypisch aufscheint, löst sich angesichts dieser<br />
zweckorientierten Umfunktionalisierung endgültig in Luft auf – nolens volens ein<br />
Meilenstein im Musealisierungsprozess des Opernbetriebs.<br />
Fritz Trümpi ist Musikhistoriker und Kulturjournalist.<br />
Er lebt in Wien und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />
des FWF-Forschungsprojekts „Eine politische<br />
Geschichte der Wiener Oper, 1869 bis 1955“. 2011<br />
erschien von ihm Politisierte Orchester. Die Wiener<br />
Philharmoniker und das Berliner Philharmonische<br />
Orchester im Nationalsozialismus.<br />
ManchMal<br />
ist<br />
das leben<br />
ein<br />
solo.<br />
Literaturhinweise:<br />
Andreas Backöfer: „Intendant zu sein ist eine Zumutung.<br />
Über die Regisseure Günther Rennert, Rudolf<br />
Hartmann und August Everding“. In: Hans Zehetmair<br />
/ Jürgen Schläder: Nationaltheater. Die <strong>Bayerische</strong><br />
<strong>Staatsoper</strong>. München 1992. S. 132–155.<br />
Carolyn Abbate / Roger Parker: Eine Geschichte der<br />
Oper. Die letzten 400 Jahre. München 2013.<br />
Die Fotografien zeigen Szenen aus der Münchner<br />
Tito-Inszenierung von Kurt Barré aus dem Jahr 1936,<br />
entnommen aus Das Programm. Blätter der <strong>Bayerische</strong>n<br />
Staatstheater in München. Nr. 19, 1936.<br />
La clemenza di Tito<br />
Opera seria in zwei Akten<br />
Von Wolfgang Amadeus Mozart<br />
Premiere am Montag, 10. Februar 2014,<br />
Nationaltheater<br />
STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung auf<br />
www.staatsoper.de/tv am Samstag, 15. Februar 2014<br />
Weitere Termine im Spielplan ab S. 88<br />
80<br />
Zeit für Musik. br-klassik.de<br />
Augsburg 102.1 | Hof 102.3 | Ingolstadt 88.0 | Lindau 87.6 | München 102.3 | Nürnberg 87.6<br />
Passau 95.6 | Regensburg 97.0 | Würzburg 89.0 | Bayernweit im Digitalradio | Bundesweit digital<br />
im Kabel | Europaweit digital | über Satellit Astra 19,2 Grad Ost | Weltweit live im Internet
So<br />
In der Textreihe So gesehen beschreiben Autoren für MAX JOSEPH,<br />
was sie in einer Szene aus einer besonders streitbaren Inszenierung<br />
wahrgenommen haben.<br />
gesehen<br />
Text Barbara Vinken<br />
Foto Wilfried Hösl<br />
Viele Herren, alle in nachtblau. Von Kopf bis Fuß korrekt angezogen.<br />
Eine Art Frankfurter Uniform: dunkler Anzug, Krawatte, weißes Hemd<br />
oder weißer Rollkragen. Alles tadellos, fleckenlos, gut sitzend, gut gebügelt.<br />
Gut rasiert, gut frisiert. Die unauffällige Uniform von Macht<br />
und Geld, die neue Ziviluniform der Herrschenden. An deren nüchterner<br />
Funktionalität perlt alles ab. Die Körper werden durch die Anzüge<br />
fast entkörpert, in einen Kollektivkörper aufgehoben. Sie verschmelzen<br />
dunkel mit dem Hintergrund. Die Herren stehen um einen Vorstandstisch<br />
herum; einzig die üppig verzierten Stuhllehnen haben einen<br />
Hauch Barock. Sonst strikteste Moderne.<br />
Einer, der im weißen Rollkragen, setzt einen schmalen, schwarzen<br />
Lederkoffer auf den Tisch. Das Leder glänzt so dezent diskret wie<br />
die Sitze der Stühle. So war das früher bei der Mafia; und so stellt man<br />
sich die Situation heute im internationalen Finanzgeschäft vor, das<br />
die Politik lenkt. Aus dem Koffer kommen wie erwartet Bündel von<br />
Banknoten, viele Bündel von Banknoten. Der Herr mit dem weißen<br />
Rollkragen verteilt sie an die Herren um sich herum. Das hat nichts<br />
von der Sinnlichkeit eines Goldregens; hier geht es einfach um Noten,<br />
um Papier. Die Gier auf das Geld greift um sich.<br />
Dann passiert etwas vollkommen Unvorhergesehenes. Ein<br />
Mann, auf allen vieren, kriecht unter dem Tisch hervor. Es ist vermutlich<br />
der Mann, der gewöhnlich die Sitzungen an diesem Tisch präsidiert.<br />
Aber diese Zeiten sind vorbei: Er kommt wie ein Tier aus einer<br />
Höhle. Er gehört hier nicht mehr hin. Er richtet sich auf, aber er steht<br />
im unvermutet hohen Raum zuerst noch schief verzerrt. Er ist barfuß.<br />
Sein Anzug, auch nachtblau, ist zerknittert und befleckt. Er lässt mit<br />
dem zerfetzten, verschmierten T-Shirt viel Haut sehen, wie mit einem<br />
Dekolleté. Sein Körper ist in diesem Anzug nicht mehr aufgehoben;<br />
seine Fleischlichkeit und Verletzlichkeit liegen unübersehbar bloß.<br />
Auch seine Hände und Füße sind beschmutzt. Der hier, der ins Licht<br />
taumelt, ist aus dem Männerkollektiv, das sich die Hände nicht<br />
schmutzig macht und stattdessen für das schmutzige Geschäft Geld,<br />
das ja bekanntlich nicht stinkt, verteilt, ausgeschlossen. Er ist auf die<br />
Seite der Opfer gewandert.<br />
Wie ein Opfertier, das geschlachtet werden soll, liegt er auch für<br />
einen kurzen Moment auf dem Verhandlungstisch. Anders als das Männerkollektiv,<br />
das unberührbar die Macht ungerührt unter sich verteilt,<br />
ist dieser hier sichtbar angegriffen. Inmitten der ihn umgebenden Herzlosigkeit<br />
wird es dann auch nicht mehr lange dauern, bis er am Herzen<br />
stirbt. Das ist kein klassischer Liebestod; vielmehr zeigt es die gefährliche<br />
Unfähigkeit, die eigene Herzlosigkeit und die der anderen weiterzutragen,<br />
länger zu ertragen. Deshalb muss so einer entsorgt werden.<br />
Mit ihm ist in einem politischen Zustand, in dem jeder im Krieg<br />
mit jedem liegt, kein Staat mehr zu machen. So einer muss verrecken.<br />
Der Herr, der unter dem Tisch auf allen Vieren hervorkroch, stirbt coram<br />
publico auf der Bühne. Das verstößt natürlich gegen die Regeln<br />
der bienséance, zumal es sich hier auch nicht um einen dekorativen<br />
Tod, sondern um ein Verröcheln handelt, fast so viehisch brutal wie der<br />
Mord an seinen beiden Kindern, die von einem Schergen ohne große<br />
Zeremonie im Hintergrund erwürgt und erstickt werden. Ein obszöner<br />
Tod, der da vor aller Augen von dem einzigen gestorben wird, der in der<br />
kalten Brutalität, die alle in Vieh verwandelt, in seiner Zerrissenheit<br />
etwas Menschliches behält. In jedem Sinne stirbt er an einem gebrochenen,<br />
an einem zerrissenen Herzen.<br />
Barbara Vinken ist Professorin für Allgemeine und Französische<br />
Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität<br />
München. Zuletzt veröffentlichte sie das Buch Angezogen. Das<br />
Geheimnis der Mode.<br />
Ein Foto aus der beschriebenen Inszenierung finden Sie unten.<br />
Schule der Wahrnehmung<br />
Mit C. Bernd Sucher und der Dramaturgie der <strong>Bayerische</strong>n<br />
<strong>Staatsoper</strong><br />
In der Schule der Wahrnehmung können Zuschauer miteinander<br />
ihre persönlichen Eindrücke, Wahrnehmungen und Fragen zu ausgewählten<br />
Inszenierungen des Spielplans diskutieren. Man sucht<br />
gemeinsam nach genaueren Beschreibungen eines erlebten<br />
Opernabends, die über verallgemeinernde Kategorien wie „schön“<br />
und „hässlich“, „klassisch“ oder „modern“ hinausgehen.<br />
Termine im Spielplan ab S. 88<br />
96<br />
97<br />
Szene aus Boris Godunow<br />
(Inszenierung Calixto Bieito, 2013)