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Menschen werden Spieler - Burgtheater

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Von welchem Theater<br />

träumen wir?<br />

11. – 13. Oktober 2013<br />

JUBILÄUMSKONGRESS ANLÄSSLICH<br />

VON 125 JAHREN HAUS AM RING 1888-2013<br />

Carl Hegemann<br />

Alle <strong>Menschen</strong> <strong>werden</strong> <strong>Spieler</strong><br />

Only tragedies can make me happy (Alle <strong>Menschen</strong> <strong>werden</strong> <strong>Spieler</strong>)<br />

Notizen zum Vortrag beim Jubiläumskongress des <strong>Burgtheater</strong>s 11. – 13. Oktober<br />

2013 – (sie entsprechen nicht dem Wortlaut des frei gehaltenen Vortrags)<br />

„Das Thema der Marktwirtschaft ist der Erfolg und das Thema des Theaters ist der der<br />

Misserfolg, das Scheitern, die Tragödie.“ Ich glaube, wegen dieser These, die ich in einem<br />

Interview geäußert habe, bin ich zu diesem Jubiläumskongress des <strong>Burgtheater</strong>s eingeladen<br />

worden, ich fühlte mich sehr geehrt und habe gerne zugesagt.*<br />

Ich muss aber gleich betonen, dass dieser Satz nichts Neues enthält und dass er in meinen<br />

Augen nur den Normalfall schildert. Dass solche Behauptungen heute für manchen<br />

überraschend oder besonders wirken, für manche vielleicht sogar gefährlich für das Theater,<br />

hat vielleicht selbst etwas Tragisches und damit zu tun, dass das Theater zunehmend als ein<br />

ganz gewöhnliches Unternehmen betrachtet wird, das sich wie jedes andere Unternehmen<br />

unter Nutzensgesichtspunkten resp. nach Erfolgskriterien legitimieren soll.<br />

Das war vor nicht allzu langer Zeit selbst in Amerika noch anders. Dort konnte noch Mitte des<br />

letzten Jahrhunderts ein Mann, der die Tragödie liebte, zum bedeutendsten Dramatiker<br />

<strong>werden</strong>: Eugene O’Neill. Von ihm stammen folgende Sätze, die so gar nicht zu dem digital<br />

gestützten Überwachungs- und Optimierungswahn passen, der uns heute aus den Vereinigten<br />

Staaten entgegenkommt:<br />

„Ich habe die Eigenschaft, dass das Tragische in mir Frohlocken auslöst.<br />

Die Tragödie des <strong>Menschen</strong> ist vielleicht das einzig Bedeutende an ihm.<br />

Was ich erreichen möchte, ist, dass die Zuschauer, wenn sie das Theater verlassen, innerlich<br />

darüber jubeln, auf der Bühne jemand gesehen zu haben, der dem Leben gegenüber tritt und<br />

mit seinen unlösbaren Widersprüchen kämpft, der nicht siegt, sondern unvermeidlich der<br />

Besiegte ist. Erst durch diesen Kampf gewinnt das Leben des Einzelnen seine Bedeutung, auch<br />

wenn er von Anfang an aussichtslos ist. Erst das Tragische macht unser Leben lebenswert.


Ich bin der Überzeugung, dass jedes Leben, das man überhaupt Leben nennen kann, in der<br />

Anstrengung besteht, seine Träume zu verwirklichen. Je anspruchsvoller diese Träume sind,<br />

desto schwerer ist ihre Verwirklichung.<br />

Es gehört zu den Bedingungen unserer Existenz als <strong>Menschen</strong>, dass wir Träume haben. Ein<br />

verwirklichter Traum ist aber kein Traum mehr. Wer keine Träume mehr hat, ist so gut wie tot.<br />

Deshalb müssen unsere Träume immer größer sein als das, was uns erreichbar ist. Denn unser<br />

einziger Gewinn liegt im Scheitern bei der Verwirklichung unserer Träume. Jeder, dessen<br />

Träume hochfliegend genug sind, ist zum Scheitern verurteilt und sollte dies als Bedingung<br />

ansehen dafür, dass er überhaupt am Leben ist. Wenn er auch nur einen Augenblick denkt, er<br />

habe gesiegt oder er sei am Ziel, ist es auch schon zu Ende mit ihm.“<br />

Diese hier von Eugene O’Neill entwickelte Vorstellung vom „American Dream“, deren Pointe in<br />

der immer anzustrebenden aber nie endgültig gelingenden bzw. notwendig scheiternden<br />

Realisierung des Traums bestand, ist mir um einiges sympathischer als das einerseits<br />

geheimdienstliche und andererseits der Sache nach planwirtschaftliche und totalitäre Modell,<br />

das heute, gestützt auf möglichst vollständige Datensammlungen über jeden einzelnen<br />

<strong>Menschen</strong>, das Scheitern und die Tragödie verhindern soll, indem man Risiken im<br />

Geschäftsleben und überhaupt im Leben abzuschaffen trachtet. Mich erinnern diese neuen,<br />

durch Algorithmen gestützten Wahrheitsfindungen, an eine falsch verstandene Idee des<br />

Kommunismus, an die Vorstellung, Glück und gutes sicheres Leben berechnen und objektiv<br />

planen zu können, an ein totalitäres Gesellschaftsmodell, das den <strong>Menschen</strong> vorgibt, wie sie zu<br />

leben haben. Langsam beginne ich zu glauben, was der aus Sankt Petersburg stammende<br />

Philosoph Boris Groys nach dem Niedergang der Sowjetunion prophezeite: Die Sieger nehmen<br />

die Kultur der Besiegten an, nicht umgekehrt.<br />

Abschottung der Grenzen in Europa und Amerika, Verhinderung von Freizügigkeit an diesen<br />

Grenzen, flächendeckende Ausspähung und Überwachung, rechtsfreie Räume,<br />

milliardenschwere geheime Sicherheitsdienste und Wirtschaftsstrategien, in denen nicht mehr<br />

Waren im freien Markt nach Kunden suchen, sondern der Kunde selbst zum Produkt wird, all<br />

diese Vorkommnisse schienen vor der Wende ausschließlich Merkmale östlicher Diktaturen zu<br />

sein. Nun <strong>werden</strong> diese Merkmale im Westen mit Hilfe der digitalen Möglichkeiten kopiert und<br />

perfektioniert, und wir sollen wie früher die Genossen im Osten einfach vertrauen, dass die<br />

Regierung und die Konzerne bei diesen Aktivitäten nur das Beste für ihre Wähler und Kunden<br />

wollen, wie diktatorisch und demokratieverachtend das im Einzelnen auch aussieht.<br />

War es früher der Marxismus-Leninismus, der als wissenschaftliche Grundlage für die<br />

vermeintliche Massenbeglückung galt, scheint es jetzt im Westen die von John Nash<br />

begründete Spieltheorie zu sein, eine mathematische Entscheidungstheorie, von deren<br />

Anwendung heute in den USA weitgehend das politische und wirtschaftliche Handeln abhängig<br />

sein soll (vgl. z. B. Frank Schirrmacher „Ego – Das Spiel des Lebens“).<br />

Die Spieltheorie soll, wenn man eine vollständige Übersicht über alle Fakten hat, immer die<br />

optimalen Strategien und Entscheidungen bei allen möglichen Fragestellungen voraussagen<br />

können, und zwar unter Berücksichtigung der Entscheidungssituation aller an dem Vorgang<br />

2


Beteiligten. Das ist allerdings laut Spieltheorie nur dann exakt möglich, wenn alle Daten aller<br />

Beteiligten zu Verfügung stehen (was im Modell immer, im Leben aber selten der Fall ist, wenn<br />

überhaupt je). Darin liegt wohl auch der Grund für die ungeheure Daten-Sammelwut der<br />

Wirtschaftskonzerne und der NSA. Allerdings muss in der Spieltheorie bei solchen<br />

Entscheidungsprozessen vorher festgelegt <strong>werden</strong>, was der Gewinn im Spiel sein soll, in der<br />

ökonomischen Spieltheorie ist dies der finanzielle Gewinn und in der evolutionären ist es die<br />

Reproduktion und Arterhaltung, und bei der Nutzung öffentlicher Toiletten (ein beliebtes<br />

Thema der Spieltheoretiker) sind es geringe Wartezeiten und Sauberkeit. Die Spieltheorie<br />

kennt nur strategische Spiele, Gewinnspiele, und nur wenn Gewinn und Verlust klar definiert<br />

sind, lassen sich optimale Lösungen und Strategien mathematisch berechnen. Das soll<br />

funktionieren in kooperativen Entscheidungssituationen (wo alle Beteiligten alle Informationen<br />

haben) und in auch nichtkooperativen (wo das nicht der Fall ist), was dann natürlich denen, die<br />

die Informationen haben, einen entscheidenden Vorteil bringt. Deshalb ist die Ausforschung<br />

umfassend und geheim und muss geheim bleiben, wenn man nicht auf seinen Vorteil verzichten<br />

will.<br />

Dieses Gewinn- und Vorteilsdenken ist gleichermaßen Voraussetzung und Resultat der<br />

Spieltheorie, und das verbindet diese mit der klassischen Ökonomie und auch mit dem<br />

wissenschaftlichen Sozialismus. Mir kommt dieses Modell (so wie ich es bis jetzt kenne) in<br />

seinen Grundzügen altvertraut vor. Paradigmatisch dafür war bereits im Russland des späten<br />

19. Jahrhunderts der Schriftsteller Tschernyschewski mit seinem überaus erfolgreichen Buch<br />

„Was tun?“. Dieser Utopist wurde von Lenin bewundert, für seine Vorstellung, man könne das<br />

Beste für die <strong>Menschen</strong> nach mathematischen Formeln bestimmen und dadurch die Tragödie<br />

des <strong>Menschen</strong> beenden. (Ihm zu Ehren nannte er sein Hauptwerk ebenfalls „Was tun?“)<br />

Dostojewski veranlasste der gleiche Autor zu einer großen Polemik in seinen „Aufzeichnungen<br />

aus dem Kellerloch“. Was er dort sarkastisch über Tschernyschewskis Zukunftsvision schrieb,<br />

scheint mir Satz für Satz auch auf die gegenwärtigen Versuche, die Welt durch die Anwendung<br />

der Spieltheorie (und ähnlicher Konzepte) in den Griff zu bekommen, zu passen:<br />

„Dann wird die Wissenschaft selbst den <strong>Menschen</strong> belehren, daß er selbst nichts anderes sei<br />

als eine Art Klaviertaste oder Drehorgelstiftchen... und daß auf der Welt außerdem noch<br />

Naturgesetze vorhanden wären... Selbstverständlich <strong>werden</strong> dann alle menschlichen<br />

Handlungen nach diesen Gesetzen mathematisch in der Art der Logarithmentafeln bis 10 000<br />

berechnet und in einen Kalender eingetragen <strong>werden</strong>. Oder, noch besser, es <strong>werden</strong> einige<br />

wohlgemeinte Bücher erscheinen, in denen dann alles so genau ausgerechnet und bezeichnet<br />

ist, daß auf der Welt hinfort weder Taten aus eigenem Antrieb noch Abenteuer mehr<br />

vorkommen <strong>werden</strong>. Dann also <strong>werden</strong> die neuen ökonomischen Verhältnisse beginnen;<br />

vollkommen ausgearbeitete und gleichfalls mit mathematischer Genauigkeit berechnete. Dann<br />

wird ein Kristallpalast gebaut <strong>werden</strong>, dann... Nun, mit einem Wort, dann wird der<br />

Märchenvogel angeflogen kommen.“<br />

Dieser Märchenvogel scheint in der neusten Wende des amerikanischen Traums wieder<br />

lebendig geworden zu sein, ein Rückfall, der das Ende der Demokratie, wie wir sie kennen,<br />

markieren könnte, der, an die Stelle von Kontingenz und Freiheit, die exakte Berechnung und<br />

Unterwerfung unter messbare Rechner generierte Standards verlangt.<br />

3


Es ist vielleicht kein Fehler, das, was Dostojewski vor 140 Jahren gegen das mathematische<br />

Vorteilsdenken Tschernykowskis geäußert hat, angesichts der neuen Entwicklungen wieder zur<br />

Kenntnis zu nehmen. Vielleicht formulierte Dostojewski als erster (noch vor Nietzsche und<br />

Bataille), welche Art von Widerstand solche hypertrophen Optimierungsstrategien mit einer<br />

gewissen Zwangsläufigkeit hervorrufen:<br />

„<strong>Menschen</strong> können nur beweisen, dass sie keine Drehorgelstifte sind, wenn sie nicht tun, was<br />

man von ihnen erwartet, sondern etwas Unsinniges. Darin besteht ihre ganze Kraft...“<br />

„Nach unserem eigenen uneingeschränkten und freien Wollen, nach unserer<br />

allerausgefallensten Laune zu leben – die zuweilen bis zur Verrücktheit verschroben sein mag?<br />

Das, gerade das ist ja jener übersehene allervorteilhafteste Vorteil, der sich nicht klassifizieren<br />

läßt, und durch den alle Systeme und Theorien fortwährend zum Teufel gehen.“<br />

Dostojewski verweigert sich hier dem Optimierungsdenken und fordert, stattdessen das<br />

Unsinnige, das Verrückte zu tun. Das Unwahrscheinliche, das sich jeder Berechnung entzieht.<br />

Das, was Dostojewski gegen die wissenschaftlichen Strategien fordert, ist der Sache nach<br />

Aufgabe der Kunst...<br />

Kunst definiert sich durch die Unwahrscheinlichkeit ihres Entstehens (Luhmann.)<br />

Das scheinbar Unsinnige, das sich jedem vertrauten Zweckdenken entzieht, ist eine Bedingung<br />

jeder Kunstpraxis. Was durchsichtig ist und vollständig in unseren bestehenden Regelsystemen<br />

aufgeht, ist keine Kunst, höchstens Kunstgewerbe, Sozialarbeit, Volksaufklärung... Teil des<br />

normalen Verwertungsprozesses und keine Heterotopie. Wenn Kunst im Dienst einer Sache<br />

(wie edel auch immer) steht, wird sie instrumentell. Ein Mittel - und dann ist sie keine Kunst<br />

mehr.<br />

Anders als die mathematische Entscheidungstheorie, die klare Gewinndefinitionen verlangt, ist<br />

Kunstproduktion nicht zielorientiert, der „Künstler kann das Nichtkönnen“ sagt Christoph<br />

Menke mit Nietzsche, die Kunst entzieht sich rationaler Bewertung, weil sie sich keinen<br />

vorgängigen Bewertungskriterien unterwirft – das sollte sie gegen Algorithmen, die nach dem<br />

Willen der Datensammler und Spione unser Leben bestimmen sollen, resistent machen.<br />

Der Unsinn, das Nutzlose als Bollwerk gegen die Berechenbarkeit des <strong>Menschen</strong> – das ist eine<br />

Seite des künstlerischen Prozesses, die heute vielleicht lebenswichtig ist.<br />

Aber Tragödie? Warum sollen wir das Scheitern feiern und die Ausweglosigkeit, die<br />

vollständige Niederlage, die Tragik, die jedem Versuch, dem Unheil zu entkommen, attestiert,<br />

dass er es gleichzeitig herbeiführt?<br />

Wie man diese Frage beantwortet, hängt davon ab, welches Bild man vom Theater und der<br />

Kunst hat, sieht man das Theater als einen gewöhnlichen Teil der ausdifferenzierten<br />

Gesellschaft, dann ist es den gleichen Gesetzen und Kalkülen unterworfen wie der Rest der<br />

Gesellschaft, dann gilt auch im Theater die Nutzensmaximierung und Erfolgsorientierung und<br />

4


das Vorteilsdenken und nicht dieser paradoxe „allervorteilhafteste Vorteil“, der nach<br />

Dostojewski gerade im Verzicht auf das Vorteilsdenken liegen soll.<br />

Begreift man das Theater aber als Heterotopie (Michel Foucault, René Pollesch), muss es sich<br />

dem, was in der Nutzensgesellschaft verfemt und gefürchtet ist, widmen, und was fürchtet man<br />

in dieser Gesellschaft am meisten? Das Scheitern und die Tragödie!<br />

Zumindest in unserer Gesellschaft, die als Marktwirtschaft ausschließlich auf Gewinn und<br />

Erfolg programmiert ist, fürchtet man das Scheitern wie der Teufel das Weihwasser. Es ist aber<br />

trotzdem allgegenwärtig und es trifft am Ende jeden. Jeder scheitert, ausschließlich jeder,<br />

solange der Tod nicht abgeschafft ist. Diese antiutopische Gewissheit, dass am Ende jedes<br />

einzelnen <strong>Menschen</strong> die Katastrophe des Verschwindens aus der Welt steht, der<br />

„Weltuntergang“ (Heiner Müller), muss eine Gesellschaft, der es ausschließlich um Gewinn und<br />

Erfolg geht, ignorieren, das kann nur in der Heterotopie reflektiert <strong>werden</strong>.<br />

Die Tragödie unserer Sterblichkeit durch Kunst in ein glückhaftes Erleben zu transformieren, ist<br />

die entscheidende Aufgabe des Theaters. „Der verfemte Teil“ unserer Existenz, der genauso<br />

notwendig zu uns gehört, wie der offiziell akzeptierte erfolgsorientierte Teil, braucht einen<br />

öffentlichen Ort in der Gesellschaft: und der findet sich in der Kunst und speziell im Theater.<br />

Solange das Thema des Theaters das Scheitern ist, hat es sein Alleinstellungsmerkmal, denn<br />

kein gewöhnliches Unternehmen kann als Geschäftsziel das Scheitern haben, natürlich auch<br />

das Theater nicht, wenn wir es als Institution, als mittelständisches Unternehmen betrachten,<br />

aber sein Thema ist das Scheitern (und nicht die Vermeidung des Scheiterns) und sein Produkt<br />

ist die erfolgreiche Darstellung des Misslingens und des tödlichen Ausgangs aller unserer<br />

Bemühungen –<br />

Das Scheitern und das Sterben als individuelles Schicksal auf der Bühne so zu transformieren,<br />

dass es uns beglückt und uns ein Gefühl von Vollkommenheit und Ganzheit gibt, wenn auch nur<br />

im Spiel, wenn auch nur als Schein, das ist etwas, das der noch so durchrationalisierte Markt<br />

uns nicht bietet, dafür braucht es eine andere Logik. Mitten in der Gesellschaft, von ihr<br />

finanziert, steht ein Ort, in dem die Uhren anders gehen, „zum Raum wird hier die Zeit“, wie es<br />

im „Parsifal“ heißt. Dort herrscht keine lineare Logik und keine Realzeit, dort können Wunden<br />

gezeigt und müssen nicht verheimlicht <strong>werden</strong>.<br />

Die Institution, das <strong>Burgtheater</strong> als Unternehmen, ist Teil der Gesellschaft so wie sie ist, da gilt<br />

die normale gesellschaftliche Ordnung und ihre Vorschriften, was aber auf der Bühne<br />

stattfindet (durch die Institution ermöglicht) folgt ästhetischen (d. h. kontemplativen) Gesetzen<br />

und konfrontiert uns mit dem, für das wir keine Lösung haben und für das es keine Lösung gibt.<br />

Das ist zumindest mein Traum vom Theater. Es soll den Widerspruch unserer Existenz zeigen,<br />

ohne ihn zu kitten. Es soll ihn bejahen. Das, was <strong>Menschen</strong> ausmacht, sagte Aischylos in einer<br />

der ersten Tragödien überhaupt, ist, dass sie ihr Grab selbst erobern müssen. Erobert euer<br />

Grab! Diesen Schlachtruf kann kein Konzernchef in seine Marketingstrategien einbauen und<br />

nicht mal ein Politiker oder General, der mit Krieg droht. Aber ein Theaterdichter kann ihn zum<br />

öffentlichen Leitmotiv seiner Arbeit machen. Wir brauchen diese andere Seite, geriete sie in<br />

Vergessenheit, gäbe es nichts Bedeutendes mehr an uns, würden wir uns nicht mehr von<br />

5


Dostojewskis Klaviertasten und Orgelstiftchen (auch wenn sie jetzt digital und 1000x<br />

komplexer aufgefasst <strong>werden</strong>) unterscheiden, oder, wenn man O’Neill glaubt, der sagt, wir<br />

sollen unser Scheitern als Bedingung dafür sehen, dass wir überhaupt am Leben sind, wir wären<br />

als <strong>Menschen</strong> gar nicht mehr vorhanden…<br />

Man verdrängt das gerne, aber man weiß es. Deshalb freuen sich viele <strong>Menschen</strong>, die gar nichts<br />

mit Theater zu tun haben, über solche Sätze wie: Only tragedies can make me happy.<br />

Das Theater muss an die Stelle der katastrophischen (unfreien) Verschwendung in Kriegen und<br />

globalen alltäglichen Gewaltexzessen die gloriose Verschwendung, die freiwillige Investition in<br />

das Nutzlose und Tragische propagieren, wenn es sich legitimieren will. Das sozial<br />

Unverantwortliche und Indifferente, das was jenseits der rationalen Lebensführung (die immer<br />

so tun muss, als seien wir unsterblich) unser endliches Dasein bestimmt, solche Dinge haben im<br />

Theater ihren Ort.<br />

Und bei allem, was man über das <strong>Burgtheater</strong> Kritisches sagen kann, diese Aufgabe, hat es,<br />

seitdem ich es bewusst wahrnehme (seit 40 Jahren) immer wieder erfüllt! Das zieht sich durch,<br />

seit Grillparzer und Hebbel über Thomas Bernhard zu Elfriede Jelinek, zu Schlingensief und<br />

Pollesch, um nur einige wenige Namen zu nennen.<br />

Jetzt müsste ich eigentlich zu dem, was im ursprünglichen Titel meines Vortrags „Alle<br />

<strong>Menschen</strong> <strong>werden</strong> <strong>Spieler</strong>“ angekündigt war, kommen, aber dazu habe ich keine Zeit mehr. Sie<br />

können es sich aber auch selber denken. Die einen machen Gewinnspiele, strategische Spiele<br />

oder zocken, das ist überall in der Gesellschaft der Fall, und die anderen, ich sage mal, die<br />

Theatermenschen, wie O’Neill oder Dostojewski oder die eben Genannten, sehen im Theater<br />

ihren einzigen Gewinn in der Beschäftigung mit dem Scheitern und dem Verlust, sie generieren<br />

zweckfreie Spiele in der Heterotopie der Kunst, oder, wie es Schiller nannte im „dritten<br />

fröhlichen Reich des Spiels und des Scheins“, das der ästhetische Bildungstrieb mitten in der<br />

Welt hervor bringt und „in dem der Mensch von allem was Zwang heißt, sei es im Physischen<br />

sei es im Moralischen, entbunden ist“. Diese Freiheit von allen physischen und moralischen<br />

Zwängen gibt es nur im Tod und im Theater. Das Tragische ist, dass wir als Tote nichts von<br />

dieser Freiheit haben, und dass im Theater und in der Kunst diese Freiheit nur als ästhetischer<br />

Schein existiert, als Erfahrung einer Fiktion, die man als Fiktion weiß. Aber immerhin,<br />

wenigstens in der Fiktion des Theaters und der Oper können wir den Tod überleben, wir<br />

können sehen und hören, wie uns Hören und Sehen vergeht. Und das ist ein Grund zur Freude,<br />

wir können feiern, was wir im Alltag bekämpfen müssen. Denn solange wir leben, kommen wir<br />

nicht aus dem Widerspruch heraus, dass wir immer sowohl am Erfolg als auch am Scheitern<br />

unserer Pläne und Träume arbeiten müssen, um weiterleben zu können.<br />

Das Theater wird seiner Funktion nur gerecht, wenn es sich jeder gesellschaftlichen Funktion<br />

gegenüber verweigert. Nur das nicht für soziale Zwecke gleich welcher Art instrumentalisierte<br />

Theater erfüllt seine Aufgabe in der Kunst und in der Gesellschaft. Kunst ist Freiheit vom<br />

Sozialen im Sozialen (Christoph Menke). Einen solchen nichtinstrumentellen Kunstbegriff<br />

gegen zweckrationale Zugriffe, und seien sie noch so gut gemeint, zu verteidigen, ist selbst eine<br />

6


eminent politische Aufgabe. Ich glaube: das ist es, was ich mit diesem Vortrag zeigen wollte. Ich<br />

danke Ihnen.<br />

____________________<br />

*<br />

Es waren die folgenden Punkte aus einem Gespräch im Jahrbuch von Theater Heute 2012, zu<br />

denen Karin Bergmann mich bat, etwas zu sagen:<br />

1. ...Das Kerngeschäft des Theaters ist ein antiökonomisches Geschäft, das den Namen<br />

Geschäft nicht verdienen darf. Das Theater muss keine Marktlücken suchen, es braucht sich<br />

nur buchstäblich selbst als Lücke im Markt zu begreifen, als einen Ort an dem die heiligen<br />

Marktgesetze keine Geltung haben und an dem Verschwendung, auch Zeitverschwendung,<br />

eine Tugend ist. Das wäre sein Alleinstellungsmerkmal.<br />

2. Wenn wir in den letzten Zügen einer Marktgesellschaft liegen, die große Anstrengungen<br />

unternehmen muss, um noch irgendwo Wachstum und Wettbewerb zu erzeugen und sich dazu<br />

auch alle Bereiche grapscht, die gar nicht marktmäßig zu organisieren sind, wie Bildung oder<br />

Kunst, dann müssen wir darauf beharren, dass Kunst mal erfunden worden ist, speziell auch das<br />

subventionierte Theater, um die notwendige andere Seite dieses Prozesses hervorzuheben: die<br />

Nichtverwertung, die Verschwendung ...<br />

3. Scheitern ist das Thema. In der Wirtschaft ist der Erfolg das Thema. Und das Thema des<br />

Theaters ist das Scheitern. Die Tragödie, die Katastrophe sind ehrwürdige dramatische<br />

Errungenschaften … Das weiß man nicht erst seit Beckett, sondern seit 2.500 Jahren…<br />

4. Alle Gegenstände der Welt sind potentiell auch Gegenstände des Theaters. Indem diese<br />

Gegenstände auf die Bühne kommen, <strong>werden</strong> sie aber auf bestimme, teilweise sehr<br />

abenteuerliche Art transformiert ... Eine Laborsituation, die menschliche Verhaltensweisen und<br />

Möglichkeiten ausprobiert ohne ökonomische oder ethische Begrenzungen – das geht nicht<br />

alleine am Computer. Das geht nur, wenn <strong>Menschen</strong> sich direkt begegnen. Und darauf muss<br />

das Theater setzen …<br />

© <strong>Burgtheater</strong> 2013<br />

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