Welchen Weg die Gymnasien in einem Zwei-Wege-Modell ...
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Titelthema<br />
<strong>Welchen</strong> <strong>Weg</strong> <strong>die</strong> <strong>Gymnasien</strong> <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong><br />
beschreiten werden, ist noch offen.<br />
Foto: istock<br />
Foto: istock
Titelthema<br />
Gymnasium<br />
Zukunft im<br />
<strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong><br />
Vor 25 Jahren hat Klaus Hurrelmann das „<strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong>“ im weiterführenden Schulsystem<br />
zum ersten Mal vorgestellt. Für <strong>die</strong> b&w beschreibt er <strong>die</strong> seitherige Entwicklung <strong>in</strong><br />
ganz Deutschland, <strong>die</strong> unangefochtene Stellung des Gymnasiums und welche<br />
Perspektiven sich se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach <strong>in</strong> Baden-Württemberg bieten.<br />
Die Zeitschrift „Die Deutsche Schule“ veröffentlichte den<br />
Artikel „Thesen zur strukturellen Entwicklung des Bildungssystems<br />
<strong>in</strong> den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren“ (Hurrelmann<br />
1988). Der Artikel erschien <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bildungspolitisch<br />
sehr bewegten Zeit. In den 1970er und 1980er Jahren herrschte<br />
<strong>in</strong> Deutschland e<strong>in</strong> erbitterter „Schulkrieg“. Auf der e<strong>in</strong>en<br />
Seite standen <strong>die</strong> Anhänger der Gesamtschule, <strong>die</strong> sich dafür<br />
e<strong>in</strong>setzten, <strong>die</strong> gewachsenen Strukturen des deutschen Schulsystems<br />
im Zuge e<strong>in</strong>er Radikalreform auf e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>heitsschulsystem<br />
(„Gesamtschule für alle“) umzustellen, um <strong>die</strong> selektive<br />
Aufteilung der Schülerschaft nach der Grundschule zu<br />
beenden und mehr Chancengleichheit herzustellen. Auf der<br />
anderen Seite sammelten sich <strong>die</strong> Anhänger des bestehenden<br />
gegliederten Systems, <strong>die</strong> sich für e<strong>in</strong> auf bestimmte Berufskarrieren<br />
ausgerichtetes gegliedertes Schulsystem und e<strong>in</strong>e<br />
Begrenzung des Zugangs zu den Hochschulen e<strong>in</strong>setzten, um<br />
<strong>die</strong> traditionelle berufliche Ausbildung zu unterstützen.<br />
Die schulpolitische Logik des <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong>s<br />
Das <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong> stellt e<strong>in</strong>en Gegenentwurf zu den<br />
sche<strong>in</strong>bar unversöhnlichen Vorstellungen e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>heitlichen<br />
e<strong>in</strong>gliedrigen oder drei- oder (unter Berücksichtigung der<br />
Förderschulen) viergliedrigen Schulsystems. Die Kernidee des<br />
<strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong>s ist: Das Gymnasium bleibt unverändert<br />
bestehen, doch alle daneben bestehenden weiterführenden<br />
Schulformen, also <strong>in</strong> der Regel Hauptschulen und Realschulen<br />
und zusätzlich - falls vorhanden - Gesamtschulen werden<br />
zusammengefasst und durch e<strong>in</strong>e neue „Integrierte Sekundarschule“<br />
mit e<strong>in</strong>er eigenen Oberstufe ersetzt. Die <strong>in</strong>tegrierte<br />
Sekundarschule hat ebenso wie das Gymnasium das Recht und<br />
<strong>die</strong> Pflicht, neben dem Basisabschluss (Hauptschulabschluss)<br />
auch den mittleren Abschluss (Realschulabschluss) sowie<br />
das fachgebundene und das Voll-Abitur zu vergeben. Sie soll<br />
e<strong>in</strong>e pädagogische Alternative zum Gymnasium se<strong>in</strong> und im<br />
Unterschied zu <strong>die</strong>sem auf anderen unterrichtsorganisatorischen<br />
und didaktischen <strong>Weg</strong>en <strong>die</strong> Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler<br />
ansprechen, <strong>die</strong> sich – aus welchen Gründen auch immer –<br />
vom Gymnasium nicht angezogen fühlen. Dazu soll sie sich an<br />
e<strong>in</strong>er erfahrungs- und handlungsbezogenen Bildungskonzeption<br />
mit fachübergreifender Projektarbeit und der Verb<strong>in</strong>dung<br />
von theoretischem und praktisch-berufsorientiertem Lernen<br />
ausrichten und sich auf <strong>die</strong>se Weise bis <strong>in</strong> <strong>die</strong> Oberstufe h<strong>in</strong>e<strong>in</strong><br />
vom wissenschaftsfachlichen Arbeiten des Gymnasiums<br />
unterscheiden.<br />
Der Vorschlag des <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong>s war darauf ausgerichtet,<br />
<strong>die</strong> zersplitterte Schulstruktur auf zwei pädagogische<br />
Alternativen zu konzentrieren, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>erseits <strong>die</strong> <strong>in</strong>tegrative<br />
projektorientierte, berufsbezogene Tradition von Hauptschule<br />
und Realschule und andererseits <strong>die</strong> an wissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong>en<br />
ausgerichtete propädeutische Tradition des Gymnasiums<br />
bewahrt und stärkt. E<strong>in</strong> weiterer wichtiger Aspekt war <strong>die</strong><br />
Verbesserung der Chancengleichheit. Das <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong><br />
ist so konzipiert, dass es Schluss macht mit der im dreigliedrigen<br />
System üblichen Aufteilung der Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler<br />
nach e<strong>in</strong>er kurzen geme<strong>in</strong>samen Grundschulzeit. Die Aufteilung<br />
der Schülerschaft auf Schulformen mit unterschiedlichen<br />
Abschlussperspektiven wird durch <strong>die</strong> Umstellung auf <strong>die</strong>ses<br />
<strong>Modell</strong> beendet. Damit wird das „Grundschulabitur“ obsolet,<br />
das Eltern und Lehrkräfte zw<strong>in</strong>gt, schon nach wenigen Jahren<br />
Schulzeit e<strong>in</strong>e weitreichende Entscheidung über <strong>die</strong> künftige<br />
Schullaufbahn e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des zu treffen. Die Hauptschule als<br />
eigenständige Schulform wird abgeschafft, weil sie nur noch<br />
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Titelthema<br />
<strong>die</strong> Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler mit e<strong>in</strong>er relativ schlechten<br />
Zukunftsprognose zugewiesen bekommt und auf <strong>die</strong>se Weise<br />
völlig überfordert wird. E<strong>in</strong> wichtiger Impuls des <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<br />
<strong>Modell</strong>s war genau <strong>die</strong>ses: Hauptschulen mit anderen Schulformen<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>tegrierten System zusammenzufassen, um<br />
auf <strong>die</strong>se Weise anregungsarme Lernmilieus zu vermeiden.<br />
„Die Oberstufe ist nun e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e<br />
Voraussetzung dafür, zwei alternative<br />
<strong>Weg</strong>e zum Abitur anzubieten.“<br />
Die Akzeptanz des <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong>s<br />
Das <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong> wurde zunächst sowohl von den Befürwortern<br />
der <strong>in</strong>tegrierten Gesamtschule als auch denen e<strong>in</strong>er vielgliedrigen<br />
Schule zurückgewiesen. Zu tief waren noch <strong>die</strong> Gräben<br />
des Schulkriegs, <strong>in</strong> denen sich alle e<strong>in</strong>gebunkert hatten. Erst<br />
nach der überraschenden Vere<strong>in</strong>igung der beiden deutschen<br />
Staaten im Jahr 1990 veränderte sich <strong>die</strong> Lage, und zwar erstaunlich<br />
schnell. Das <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong> spielte – auch wegen der<br />
herausgehobenen Berichterstattung im Wochenmagaz<strong>in</strong> „Die<br />
Zeit“ (1991) bei den Beratungen<br />
über <strong>die</strong> Schulstruktur im<br />
frisch vere<strong>in</strong>ten Deutschland<br />
– e<strong>in</strong>e wichtige Rolle. Resultat<br />
der Verhandlungen war, dass<br />
<strong>in</strong> den ostdeutschen Bundesländern<br />
gegen den Trend der <strong>in</strong><br />
anderen Politikbereichen üblichen<br />
völligen Übernahme der Strukturen der alten Bundesrepublik<br />
das dreigliedrige Schulsystem nicht e<strong>in</strong>geführt wurde. In allen<br />
ostdeutschen Ländern wurde auf <strong>die</strong> E<strong>in</strong>führung der Hauptschule<br />
verzichtet, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen auch auf <strong>die</strong> Realschule. Damit wurde<br />
e<strong>in</strong> erster Schritt <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>es zweigliedrigen Schulsystems<br />
vorgenommen. Am deutlichsten war das <strong>in</strong> Sachsen, wo es unter<br />
Berufung auf me<strong>in</strong> <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong> ab 1991 (neben den Förderschulen)<br />
<strong>in</strong> der Sekundarstufe I nur noch Mittelschulen und<br />
<strong>Gymnasien</strong> gibt.<br />
In den westdeutschen Bundesländern dauerte es noch e<strong>in</strong>mal<br />
fünf Jahre, bis – auch unter dem E<strong>in</strong>druck der PISA-Untersuchungen,<br />
– <strong>in</strong> den Beratungen über Schulstrukturfragen<br />
<strong>in</strong> Parlament und Öffentlichkeit neue Akzente gesetzt wurden.<br />
Da der Trend zum Abitur anhielt und jedes Jahr fast e<strong>in</strong><br />
Prozent mehr der Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler <strong>die</strong>sen Schulabschluss<br />
auch erfolgreich erwarben, sackte <strong>die</strong> Attraktivität der<br />
Hauptschulen immer weiter ab. Die Bildungsforschung konnte<br />
immer mehr Belege dafür vorlegen, dass <strong>die</strong> frühe Aufteilung<br />
der Schülerschaft auf Schulformen mit unterschiedlichen<br />
Abschlussperspektiven <strong>die</strong> Bildungsungleichheit konservierte<br />
und zum schlechten Abschneiden Deutschlands bei den PISA-<br />
Untersuchungen beitrug (Hurrelmann 2013a). Daraufh<strong>in</strong><br />
begann auch <strong>in</strong> Westdeutschland e<strong>in</strong>e Debatte über den Abbau<br />
der Dreigliedrigkeit. Die ersten westdeutschen Bundesländer<br />
leiteten schrittweise Reformen e<strong>in</strong>.<br />
Die nach 2004 erfolgten Reformen der Schulstruktur <strong>in</strong> den<br />
drei westdeutschen Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berl<strong>in</strong><br />
und im Saarland g<strong>in</strong>gen dann deutlich über den Stand <strong>in</strong><br />
Ostdeutschland h<strong>in</strong>aus. Hier wurde nicht nur e<strong>in</strong>e <strong>Zwei</strong>gliedrigkeit,<br />
sondern e<strong>in</strong> echtes <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong> e<strong>in</strong>geführt:<br />
Die Schulformen Haupt-, Real- und Gesamtschule wurden<br />
fusioniert und erhielten <strong>in</strong><br />
der Regel e<strong>in</strong>e eigene Oberstufe.<br />
Zu e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>heitlichen<br />
Bezeichnung der Schulform<br />
neben dem Gymnasium<br />
konnten sich <strong>die</strong> vier<br />
Bundesländer aber nicht<br />
durchr<strong>in</strong>gen; es entstanden<br />
Oberschulen (Bremen), Stadtteilschulen (Hamburg), Integrierte<br />
Sekundarschulen (Berl<strong>in</strong>) und Geme<strong>in</strong>schaftsschulen<br />
(Saarland) (Hurrelmann 2013a). In anderen westdeutschen<br />
Bundesländern wurde das weiterführende Schulsystem auf<br />
unterschiedliche Weise so umgestaltet, dass <strong>die</strong> Hauptschulen<br />
faktisch zum Auslaufmodell gemacht und neben den <strong>Gymnasien</strong><br />
auch andere <strong>in</strong>tegrierte Schulformen e<strong>in</strong>geführt wurden,<br />
<strong>die</strong> teilweise e<strong>in</strong>e eigene Oberstufe führen. Das gilt für Nordrhe<strong>in</strong>westfalen,<br />
Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz und Schleswig-Holste<strong>in</strong>. Die<br />
politischen Weichenstellungen <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Ländern lassen es<br />
grundsätzlich zu, mittel- bis langfristig zu e<strong>in</strong>em <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<br />
<strong>Modell</strong> übergehen zu können (Hurrelmann 2007, 2013b).<br />
Bayern, Hessen und Niedersachsen haben ebenfalls <strong>die</strong> Hauptschulen<br />
formell oder faktisch abgeschafft und an ihre Stelle<br />
(teil-)<strong>in</strong>tegrierte Mittelstufenschulen gesetzt, <strong>die</strong>sen aber<br />
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bisher <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Fall e<strong>in</strong>e eigene Oberstufe zugewiesen. Sie<br />
haben damit nach dem Muster der ostdeutschen Bundesländer<br />
also e<strong>in</strong> zweigliedriges Schulsystem e<strong>in</strong>geführt oder s<strong>in</strong>d<br />
auf dem <strong>Weg</strong>e dah<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong> ist das aber noch<br />
nicht, denn den Sekundarschulen, <strong>die</strong> sehr unterschiedliche<br />
Bezeichnungen tragen, fehlt e<strong>in</strong>e eigene Oberstufe und damit<br />
e<strong>in</strong> direkter Zugang zum Abitur.<br />
Das <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong> <strong>in</strong> Baden-Württemberg<br />
Baden-Württemberg gehört zu den Ländern, <strong>die</strong> lange gezögert<br />
haben, Reformen e<strong>in</strong>zuleiten. Erst nach dem jüngsten Regierungswechsel<br />
wurden <strong>die</strong> Weichen für e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung des<br />
<strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong>s gestellt. Die Voraussetzungen dafür s<strong>in</strong>d<br />
gut. Die Regierungsparteien Grüne und SPD können auf e<strong>in</strong>e<br />
zum<strong>in</strong>dest latente Zustimmung der Opposition bauen, denn<br />
<strong>die</strong> Bundes-CDU nahm 2011 auf das Drängen der aus Baden-<br />
Württemberg stammenden damaligen Bundesbildungsm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong><br />
Schavan e<strong>in</strong>e programmatische Festlegung auf das <strong>Zwei</strong>-<br />
<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong> vor. Auf ihrem Bundesparteitag sprach sie sich<br />
„für e<strong>in</strong>e Reduzierung der Schulformen und <strong>die</strong> E<strong>in</strong>führung<br />
des <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong>s <strong>in</strong> allen Ländern“ aus und legte fest:<br />
„Neben dem Gymnasium ist <strong>die</strong> Oberschule e<strong>in</strong> weiterer und<br />
gleichwertiger Bildungsweg, der Hauptschule und Realschule<br />
<strong>in</strong> sich vere<strong>in</strong>t und e<strong>in</strong>en <strong>Weg</strong> entweder <strong>in</strong> <strong>die</strong> berufliche Bildung<br />
oder zur allgeme<strong>in</strong>en Hochschulreife eröffnet“.<br />
Inzwischen haben sich <strong>die</strong> Regierungsparteien <strong>in</strong> Baden-Württemberg<br />
auf e<strong>in</strong> <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong> gee<strong>in</strong>igt, bei dem neben<br />
dem bestehen bleibenden <strong>Gymnasien</strong> <strong>in</strong>tegrierte Sekundarschulen<br />
entstehen, <strong>die</strong> als „Geme<strong>in</strong>schaftsschulen“ bezeichnet<br />
werden. In den Parteiprogrammen der beiden Regierungsparteien<br />
ist das <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong> allerd<strong>in</strong>gs mit ke<strong>in</strong>em Wort<br />
erwähnt. In e<strong>in</strong>igen Parteigruppierungen besteht wahrsche<strong>in</strong>lich<br />
stillschweigend <strong>die</strong> Hoffnung, <strong>die</strong> Geme<strong>in</strong>schaftsschule<br />
könne e<strong>in</strong>es Tages zu e<strong>in</strong>er ersetzenden Schule werden und<br />
damit <strong>die</strong> <strong>Gymnasien</strong> mit aufnehmen und überflüssig machen.<br />
Die durchaus diffusen Parteiprogramme gäben e<strong>in</strong>e solche<br />
Auslegung her. Die beiden Parteien und ihre Regierung sollten<br />
sich aber hüten, solche Vorstellungen explizit <strong>in</strong> <strong>die</strong> politische<br />
Debatte e<strong>in</strong>zuführen. Spätestens durch das klare Elternvotum<br />
<strong>in</strong> der Hamburger Volksabstimmung von 2010 ist jede Partei<br />
und jede Landesregierung <strong>in</strong> Deutschland nachhaltig gewarnt,<br />
<strong>die</strong> Existenz des Gymnasiums anzugreifen. Täte sie es, hätte sie<br />
<strong>die</strong> nächste Wahl schon verloren.<br />
Die politische Großwetterlage <strong>in</strong> Regierung und Opposition <strong>in</strong><br />
Baden-Württemberg lässt also <strong>die</strong> reale Chance zu, durch <strong>die</strong><br />
allmähliche Umsetzung des <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong>s unterschiedliche<br />
pädagogische <strong>Weg</strong>e zum Erwerb aller Schulabschlüsse<br />
anzubieten und damit <strong>die</strong> starke Zersplitterung des Sekundarschulwesens<br />
zu überw<strong>in</strong>den. Wirklich realisierbare, politisch<br />
konsensfähige Alternativen zum Entwicklungspfad der <strong>Zwei</strong>gliedrigkeit<br />
und dem darauf aufbauenden <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong><br />
s<strong>in</strong>d nicht erkennbar. Die Landesregierung kann sich entspannt<br />
umsehen: Bisher hat <strong>die</strong> Umsetzung des <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<br />
<strong>Modell</strong>s <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Bundesland bildungspolitische Spannungen<br />
erzeugt. Im Gegenteil: Die Bundesländer mit e<strong>in</strong>em echten<br />
<strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong>, also <strong>Gymnasien</strong> plus Sekundarschulen<br />
jeweils mit eigener Oberstufe, haben es seit der E<strong>in</strong>führung<br />
geschafft, e<strong>in</strong>en schulpolitischen Frieden herzustellen. Unruhe<br />
entsteht immer dann, wenn e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tegrierte Sekundarschule<br />
ke<strong>in</strong>e eigene Oberstufe erhält und damit <strong>die</strong> schulpolitische<br />
Logik des <strong>Modell</strong>s verletzt wird. Die Oberstufe ist nun e<strong>in</strong>mal<br />
e<strong>in</strong>e Voraussetzung dafür, zwei alternative <strong>Weg</strong>e zum Abitur<br />
anzubieten. Wird <strong>die</strong>se Voraussetzung nicht erfüllt, fühlen<br />
sich Schulkollegien und Eltern zu Recht betrogen.<br />
Berücksichtigen <strong>die</strong> Verantwortlichen <strong>in</strong> Baden-Württemberg<br />
<strong>die</strong>se Erfahrungswerte, dann kann der Umbau des Schulsystems<br />
schnell vorangehen. Das <strong>Modell</strong> der zwei alternativen<br />
pädagogischen <strong>Weg</strong>e könnte über <strong>die</strong> Sekundarstufe I h<strong>in</strong>aus<br />
nämlich auch <strong>in</strong> der Sekundarstufe II und <strong>in</strong> der Berufs- und<br />
der Hochschulausbildung fortgeführt werden. Neben der traditionellen<br />
gymnasialen Oberstufe sollten dafür alternative<br />
Oberstufenkonzepte mit stärker berufs- und projektbezogener<br />
Orientierung zugelassen und erprobt werden (Berufsoberstufe<br />
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Titelthema<br />
Foto: imago<br />
neben der gymnasialen Oberstufe). Im Unterschied zur gymnasialen<br />
Oberstufe kann <strong>die</strong> Berufsoberstufe e<strong>in</strong> Jahr länger<br />
dauern, also e<strong>in</strong> G9-<strong>Modell</strong> se<strong>in</strong>, weil es Praxis- und Berufsbezüge<br />
mit aufnimmt. Dazu gehört natürlich <strong>die</strong> flexible E<strong>in</strong>beziehung<br />
der dualen Berufsausbildung. Das <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong><br />
kann auf <strong>die</strong>se Weise den Tertiärsektor des Bildungssystems<br />
mit e<strong>in</strong>beziehen, <strong>in</strong>dem neben den Universitäten <strong>die</strong> heutigen<br />
Hochschulen, Fachhochschulen und dualen Hochschulen zu<br />
e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>heitlichen und den Universitäten formal gleichwertigen<br />
Hochschultyp zusammengefasst werden (Schultz und<br />
Hurrelmann 2013). Das Land Baden-Württemberg kann <strong>in</strong><br />
<strong>die</strong>sem Bereich <strong>die</strong> Vorreiterrolle, <strong>die</strong> es bei den dualen Hochschulen<br />
schon hat, weiter ausbauen.<br />
Mit e<strong>in</strong>er solchen Weiterentwicklung des <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong>s<br />
hätte das Land im Anschluss an <strong>die</strong> Grundschule für se<strong>in</strong> Bildungssystem<br />
e<strong>in</strong> Konzept realisiert, das national und <strong>in</strong>ternational<br />
absolut konkurrenzfähig wäre. Es wären alle Schritte<br />
e<strong>in</strong>geleitet, um das Bildungsniveau der Bevölkerung zu<br />
Literaturh<strong>in</strong>weise:<br />
Hurrelmann, K. (1988): Thesen zur strukturellen Entwicklung des<br />
Bildungssystems <strong>in</strong> den nächsten fünf bis zehn Jahren. Die Deutsche<br />
Schule 4, 451 – 495.<br />
„Die Zeit“ (1991): <strong>Zwei</strong> Schulen für das e<strong>in</strong>e Deutschland. Offener<br />
Brief von Klaus Hurrelmann an <strong>die</strong> Konferenz der Kultusm<strong>in</strong>ister:<br />
Schafft e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche Schulstruktur für <strong>die</strong> neue Bundesrepublik!<br />
Die Zeit 45, 1. November 1991.<br />
Hurrelmann, K. (2007): Jetzt muss <strong>die</strong> bundese<strong>in</strong>heitliche Schulreform<br />
kommen. E<strong>in</strong> <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong> ist hierfür realistischer und<br />
berechenbarer als e<strong>in</strong> Radikalumbau. Recht der Jugend und des<br />
Bildungswesens 3, 264 – 270.<br />
Hurrelmann, K. (2013a): Warum sich das <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong><br />
durchsetzen wird. Zeitschrift für Pädagogik 102, 22 – 55.<br />
Hurrelmann, K. (2013b): Thesen zur Entwicklung des Bildungssystems<br />
<strong>in</strong> den nächsten zehn bis zwanzig Jahren. Die Deutsche Schule<br />
29, 306 – 320.<br />
Schultz, T. und Hurrelmann, K. (Hrsg.) (2012): Bildung und Kle<strong>in</strong>staaterei.<br />
We<strong>in</strong>heim: Beltz Juventa.<br />
Schultz, T. und Hurrelmann, K. (Hrsg.) (2013): Die Akademikergesellschaft.<br />
Müssen <strong>in</strong> Zukunft alle stu<strong>die</strong>ren? We<strong>in</strong>heim: Beltz<br />
Juventa.<br />
erhöhen, den Anteil der Hochqualifizierten zu steigern und<br />
zugleich <strong>die</strong> Bildungsgerechtigkeit zu wahren. Zusätzlich hätte<br />
<strong>die</strong>se Reform den Vorteil, e<strong>in</strong>em maßgeschneiderten Konzept<br />
zu folgen, das auf der Tradition der deutschen Bildungspolitik<br />
und se<strong>in</strong>en gewachsenen Strukturen und Stärken aufbaut. Die<br />
<strong>Gymnasien</strong> könnten ihre erfolgreiche pädagogische Arbeit<br />
ungeh<strong>in</strong>dert fortsetzen, sie würden aber ab sofort e<strong>in</strong>e echte<br />
Konkurrenz bekommen. Und <strong>die</strong> belebt auch im Schulbereich<br />
das Geschäft.<br />
Übrigens: Weil bis auf wenige Ausnahmen alle 16 Bundesländer<br />
<strong>in</strong>zwischen <strong>die</strong> Weichen <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>es <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<br />
<strong>Modell</strong>s gestellt haben, wäre e<strong>in</strong>e Absicherung <strong>die</strong>ser Reform<br />
durch e<strong>in</strong>en Staatsvertrag der Bundesländer wünschenswert.<br />
In <strong>die</strong>sem Vertrag sollte unbed<strong>in</strong>gt auch e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche<br />
Bezeichnung für <strong>die</strong> <strong>in</strong>tegrierten Sekundarschulen festgelegt<br />
werden, damit sie als pädagogische „Markenartikel“ mit den<br />
hoch angesehenen <strong>Gymnasien</strong> konkurrieren können. Der<br />
Name „Geme<strong>in</strong>schaftsschule“ wäre hier ebenso geeignet wie<br />
„Berufsgymnasium“. Wichtig wäre auch, sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Staatsvertrag<br />
auf Standards für <strong>die</strong> Schulabschlüsse zu e<strong>in</strong>igen, <strong>die</strong><br />
an den beiden weiterführenden Schulen vergeben werden<br />
können (Schultz und Hurrelmann 2012).<br />
Und wie wäre es, <strong>die</strong> Auswirkungen des <strong>Zwei</strong>-<strong>Weg</strong>e-<strong>Modell</strong>s<br />
systematisch wissenschaftlich zu evaluieren? Auch hier könnte<br />
Baden-Württemberg e<strong>in</strong>e Vorreiterrolle spielen.<br />
Hertie School of Governance<br />
Klaus Hurrelmann,<br />
Senior Professor of Public Health and Education<br />
an der Hertie School of Governance <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Er<br />
hat zahlreiche empirische Stu<strong>die</strong>n zu Bildungsund<br />
Schulfragen vorgelegt.<br />
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