Von der Romantik zum Realismus 3 - Heinrich Detering
Von der Romantik zum Realismus 3 - Heinrich Detering
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<strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Romantik</strong> <strong>zum</strong> <strong>Realismus</strong> 3:<br />
Himmel und Hölle –<br />
von Goethes Faust zu Büchners Woyzeck
Karl Stackmann<br />
1922 – 2013
„Ach neige, du Schmerzensreiche…“ –<br />
„Jungfrau, Mutter, Königin, Göttin bleibe gnädig!“<br />
Peter Cornelius, Gretchen<br />
vor <strong>der</strong> Mater Dolorosa<br />
Giovanni Caliari, Erscheinung <strong>der</strong> Himmelskönigin<br />
(Mater Gloriosa)
Faust II als story,<br />
nacherzählt von<br />
Hans Christian An<strong>der</strong>sen<br />
in Märchen und<br />
Geschichten, übs. von H.D.<br />
(Reclam Bibliothek)
Helena.<br />
Klassischromantische<br />
Phantasmagorie<br />
Zwischenspiel<br />
zu Faust (1827)
Helena. Klassisch-romantische Phantasmagorie<br />
Zwischenspiel zu Faust (1827)<br />
Helena:<br />
Bewun<strong>der</strong>t viel und viel gescholten, Helena,<br />
Vom Strande komm’ ich, wo wir erst gelandet sind,<br />
Noch immer trunken von des Gewoges regsamem<br />
Geschaukel, das vom phrygischen Blachgefild uns her<br />
Auf sträubig-hohem Rücken, durch Poseidons Gunst<br />
Und Euros’ Kraft, in vaterländische Buchten trug.<br />
(8488-8493)<br />
jambischer Trimeter: v – v – v – v – v – v –<br />
mit Variante: v – v – v – V V – v – v –
Faust:<br />
Statt feierlichsten Grußes, wie sich ziemte,<br />
Statt ehrfurchtsvollem Willkomm bring’ ich dir<br />
In Ketten hart geschlossen solchen Knecht,<br />
Der, Pflicht verfehlend, mir die Pflicht entwand.<br />
(9192-9195)<br />
Blankvers: ungereimt, angenähert ans griechische Versmaß durch<br />
vorwiegend männliche Kadenzen<br />
Helena:<br />
So hohe Würde, wie du sie vergönnst,<br />
Als Richterin, als Herrscherin, und wär’s<br />
Versuchend nur, wie ich vermuten darf –<br />
So üb’ ich nun des Richters erste Pflicht,<br />
Beschuldigte zu hören. Rede denn.<br />
(9213-9217)<br />
dasselbe
Lynkeus, <strong>der</strong> Türmer:<br />
Lass mich knien, lass mich schauen,<br />
Lass mich sterben, lass mich leben,<br />
Denn schon bin ich hingegeben<br />
Dieser gottgegebnen Frauen.<br />
vierhebige Trochäen, weibliche Kadenzen (Reime unauffälliger),<br />
umarmen<strong>der</strong> Reim<br />
Du siehst mich, Königin, zurück!<br />
Der Reiche bettelt einen Blick,<br />
Er sieht dich an und fühlt sogleich<br />
Sich bettelarm und fürstenreich.<br />
vierhebige Jamben, männliche Kadenzen (Reime auffälliger), Paarreim<br />
Vor <strong>der</strong> herrlichen Gestalt<br />
Selbst die Sonne matt und kalt,<br />
Vor dem Reichtum des Gesichts<br />
Alles leer und alles nichts.<br />
vierhebige Trochäen, männliche Kadenzen (Reim auffälligst), Paarreim
Helena (zu Faust):<br />
Vielfache Wun<strong>der</strong> seh’ ich, hör’ ich an,<br />
Erstaunen trifft mich, fragen möchte’ ich viel.<br />
Doch wünscht’ ich Unterricht, warum die Rede<br />
Des Mann’s mir seltsam klang, seltsam und freundlich.<br />
Ein Ton scheint sich dem an<strong>der</strong>en zu bequemen,<br />
Und hat ein Wort <strong>zum</strong> Ohre sich gesellt,<br />
Ein andres kommt, dem ersten liebzukosen.<br />
Faust:<br />
Gefällt dir schon die Sprechart unsrer Völker<br />
O so gewiss entzückt auch <strong>der</strong> Gesang,<br />
Befriedigt Ohr und Sinn im tiefsten Grunde.<br />
Doch ist am sichersten wir üben’s gleich,<br />
Die Wechselrede lockt es, ruft’s hervor.
Helena: So sage den, wie sprech’ ich auch so schön?<br />
Faust: Das ist gar leicht, es muss vom Herzen gehn.<br />
Und wenn die Brust vor Sehnsucht überfließt,<br />
Man sieht sich um und fragt –<br />
Helena:<br />
Wer mit genießt.<br />
Faust: Nun schaut <strong>der</strong> Geist nicht vorwärts nicht zurück,<br />
Die Gegenwart allein –<br />
Helena:<br />
Ist unser Glück.<br />
Faust: Schatz ist sie, Hochgewinn, Besitz und Pfand;<br />
Bestätigung wer gibt sie?<br />
Helena:<br />
Meine Hand.<br />
(9365-9384)
Chor: Nah und näher sitzen sie schon<br />
Aneinan<strong>der</strong> gelehnet,<br />
Schulter an Schulter, Knie an Knie,<br />
Hand in Hand wiegen sie sich<br />
Über des Throns<br />
Aufgepolsterter Herrlichkeit.<br />
Nicht versagt sich die Majestät<br />
Heimlicher Freuden<br />
Vor den Augen des Volkes<br />
Übermütiges Offenbarsein.<br />
(9401-9410)
Helena: Ich fühle mich so fern und doch so nah,<br />
Und sage nur zu gern: da bin ich! da!<br />
Faust: Ich atme kaum, mir zittert, stockt das Wort,<br />
Es ist ein Traum, verschwunden Tag und Ort.<br />
Helena: Ich scheine mir verlebt und doch so neu,<br />
In dich verwebt, dem Unbekannten treu.<br />
Faust: Durchgrüble nicht das einzigste Geschick<br />
Dasein ist Pflicht und wärs ein Augenblick.<br />
[erotischer Liebes-Dialog wie in Shakespeares Romeo and Juliet –<br />
und dies ist die Zeugung des Euphorion]
Phorkyas ([alias Mephisto] heftig eintretend):<br />
Buchstabiert in Liebes-Fibeln,<br />
Tändelnd grübelt nur am Liebeln,<br />
Müßig liebelt fort im Grübeln,<br />
Doch dazu ist keine Zeit.<br />
Fühlt ihr nicht ein dumpfes Wettern?<br />
Hört nur die Trompete schmettern,<br />
Das Ver<strong>der</strong>ben ist nicht weit.<br />
Reim-Parodie<br />
Faust:<br />
Verwegne Störung! wi<strong>der</strong>wärtig dringt sie ein,<br />
Auch nicht in Gefahren mag ich sinnlos Ungestüm.<br />
Den schönsten Boten Unglücksbotschaft hässlicht ihn;<br />
Du Hässlichste gar, nur schlimme Botschaft bringst du gern.<br />
jambische Trimeter: Faust redet wie ein Griechenkönig an Helenas Seite
[Euphorion als klassisch-romantische, griechisch-westeuropäische<br />
Vereinigung – fliegt auf wie Ikarus und scheitert. „Man glaubt eine<br />
bekannte Gestalt zu sehen.“]<br />
Helena (kehrt nach dem Sturz des Euphorion in ihre Welt zurück):<br />
Ein altes Wort bewährt sich lei<strong>der</strong> auch an mir:<br />
Dass Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht vereint.<br />
Zerrissen ist des Lebens wie <strong>der</strong> Liebe Band.<br />
Ende des 3. Aktes, des Helena-Aktes
4. Akt<br />
[Faust allein im Hochgebirge unterm hohen Himmel]<br />
Faust: Auf sonnbeglänzten Pfühlen herrlich hingestreckt,<br />
Zwar riesenhaft, ein göttergleiches Fraungebild,<br />
Ich seh’s! Junonen ähnlich, Leda’n, Helenen,<br />
Wie majestätisch lieblich mir’s im Auge schwankt.<br />
Ach! schon verrückt sich’s! Formlos breit und aufgetürmt<br />
Ruht es im Osten, fernen Eisgebirgen gleich,<br />
Und spiegelt blendend flücht’ger Tage großen Sinn.<br />
(10048-10054)<br />
[Aus <strong>der</strong> Traum. Ab hier wie<strong>der</strong> gereimte Jamben und Madrigalverse.]
Fausts Himmelfahrt: die Bergschluchten-Szene am Schluss<br />
Goethe zu Eckermann, 6. Juni 1831:<br />
Übrigens werden Sie zugeben, daß <strong>der</strong> Schluß, wo es mit <strong>der</strong> geretteten<br />
Seele nach oben geht, sehr schwer zu machen war, und daß ich, bei so<br />
übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen, mich sehr leicht im Vagen<br />
hätte verlieren können, wenn ich nicht meinen poetischen Intentionen,<br />
durch die scharf umrissenen christlich-kirchlichen Figuren und<br />
Vorstellungen, eine wohltätig beschränkende Form und Festigkeit<br />
gegeben hätte.
Die „Bergschluchten“-Szene: Fausts Himmelfahrt…<br />
1. in religiösen Hierarchien: Einsiedler, heilige Büßer – darunter<br />
Gretchen –, Engel, Maria als Himmelskönigin<br />
2. in geographischen Ordnungen: Landschaftsformen („Waldrand“,<br />
„Wasserstrom“, „Felsen“) und -Ordnung („Tiefe Region, „Mittlere<br />
Region“, „die höchsten Gipfel“, „in <strong>der</strong> höhern Atmosphäre“)
3. in meteorologischen Ordnungen: „Himmel“ und Himmel<br />
(„Wolkengewande“ „Morgenwölkchen“, „nebelnd“, „Die Wölkchen<br />
werden klar … Los von <strong>der</strong> Erde Druck“, „Löset die Flocken los / Die<br />
ihn umgeben“, „höhere Atmosphäre“, Maria „im blauen … Himmelszelt“,<br />
um ihre Füße schlingen „sich leichte Wölkchen“ als „<strong>der</strong> Büßerinnen<br />
Völkchen“; darüber geht es „ätherisch“ in „höhere Sphären“)<br />
Cirrus<br />
Cumulus<br />
Strato-Cumulus<br />
Stratus
„Das Wahre, mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns<br />
direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol,<br />
in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als<br />
unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es<br />
dennoch zu begreifen. – Dieses gilt von allen Phänomenen <strong>der</strong> faßlichen<br />
Welt, wir aber wollen diesmal nur von <strong>der</strong> Witterungslehre<br />
sprechen.“<br />
Albrecht Schöne: Die Apokatastasis- (Wie<strong>der</strong>bringungs-,<br />
Allversöhnungs-) Lehre des Origenes<br />
als Modell für Fausts jenseitige Reinigung und Rettung<br />
„Ihr meint, <strong>der</strong> Teufel werde den Faust holen?<br />
Umgekehrt: Faust holt den Teufel.“ (Goethe)
17. Februar 1832:<br />
„Qu´ai-je fait? J´ai recueilli, utilisé ce<br />
que j´ai entendu, observé. Mes œuvres<br />
sont nourries par des milliers d´individus<br />
divers, des ignorants et des sages<br />
[...] Mon œuvre et celui d´un être<br />
collectif, et il porte le nom de Goethe.“<br />
„Was hab‘ ich denn getan? Ich habe<br />
gesammelt, benutzt, was ich gehört und<br />
beobachtete. Meine Werke speisen sich<br />
aus Tausenden von Individuen,<br />
Unwissenden und Klugen ... Mein Werk<br />
ist das Werk eines Kollektiv-wesens,<br />
und es trägt den Namen Goethe.“
• 17. Oktober 1813 * als Arztsohn in<br />
Goddelau / Oberhessen<br />
• ab 1816 in Darmstadt<br />
• 1831 Medizinstudium im (post-)<br />
revolutionären Straßburg<br />
• 1833/34 Fortsetzung in Gießen, „Gesellschaft<br />
für Menschenrechte“, Der<br />
Hessische Landbote, Verhaftungen<br />
• September 1834 in Darmstadt,<br />
Dantons Tod (1835 gedruckt)<br />
• 1835 Flucht ins Straßburger Exil,<br />
Arbeit an <strong>der</strong> Erzählung Lenz<br />
• 1836 Promotion in Zürich, Probevorlesung<br />
Über Schädelnerven;<br />
Leonce und Lena<br />
• 1836/37 Arbeit an Woyzeck<br />
• Februar 1837 Tod in Zürich infolge<br />
einer Typhus-Infektion, 23 Jahre
Büchner-Bil<strong>der</strong>, Büchner-Images
Anfang des „Hessischen Landboten“ von<br />
Büchner und Ludwig Weidig, 1834<br />
Friede den Hütten! Krieg den Palästen!<br />
Im Jahr 1834 sieht es aus, als würde die<br />
Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als<br />
hätte Gott die Bauern und Handwerker<br />
am 5ten Tage, und die Fürsten und<br />
Vornehmen am 6ten gemacht, und als<br />
hätte <strong>der</strong> Herr zu diesen gesagt: Herrschet<br />
über alles Getier, das auf Erden kriecht,<br />
und hätte die Bauern und Bürger <strong>zum</strong><br />
Gewürm gezählt. Das Leben <strong>der</strong> Vornehmen<br />
ist ein langer Sonntag, sie<br />
wohnen in schönen Häusern, sie tragen<br />
zierliche Klei<strong>der</strong>, sie haben feiste Gesichter<br />
und reden eine eigne Sprache; das<br />
Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf<br />
dem Acker.
Der Bauer geht hinter dem Pflug und<br />
treibt ihn mit den Ochsen am Pflug, er<br />
[<strong>der</strong> Vornehme] nimmt das Korn und läßt<br />
ihm die Stoppeln. Das Leben des Bauern<br />
ist ein langer Werktag; Fremde verzehren<br />
seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib<br />
ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das<br />
Salz auf dem Tische des Vornehmen.<br />
Im Großherzogtum Hessen sind 718,373<br />
Einwohner, die geben an den Staat<br />
jährlich an 6,363,364 Gulden, als<br />
1) Direkte Steuern 2,128,131 fl.<br />
2) Indirekte Steuern 2,478,264 fl.<br />
3) Domänen 1,547,394 fl.<br />
4) Regalien 46,938 fl.<br />
5) Geldstrafen 98,511 fl.<br />
6) Verschiedene Quellen 64,198 fl.<br />
6,363,363 fl.
Dies Geld ist <strong>der</strong> Blutzehnte, <strong>der</strong> von<br />
dem Leib des Volkes genommen wird. An<br />
700,000 Menschen schwitzen, stöhnen<br />
und hungern dafür. Im Namen des Staates<br />
wird es erpreßt, die Presser berufen sich<br />
auf die Regierung und die Regierung<br />
sagt, das sei nötig die Ordnung im Staat<br />
zu erhalten. Was ist denn nun das für<br />
gewaltiges Ding: <strong>der</strong> Staat? Wohnt eine<br />
Anzahl Menschen in einem Land und es<br />
sind Verordnungen o<strong>der</strong> Gesetze<br />
vorhanden, nach denen je<strong>der</strong> sich richten<br />
muß, so sagt man, sie bilden einen Staat.<br />
Der Staat also sind Alle; die Ordner im<br />
Staat sind die Gesetze, durch welche das<br />
Wohl Aller gesichert wird, und die aus<br />
dem Wohl Aller hervor gehen sollen. –
Seht nun, was man in dem Großherzogtum<br />
aus dem Staat gemacht hat; seht was<br />
es heißt: die Ordnung im Staate erhalten!<br />
700,000 Menschen bezahlen dafür 6<br />
Millionen, d.h. sie werden zu Ackergäulen<br />
und Pflugstieren gemacht, damit<br />
sie in Ordnung leben. In Ordnung leben<br />
heißt hungern und geschunden werden.<br />
Wer sind denn die, welche diese Ordnung<br />
gemacht haben, und die wachen, diese<br />
Ordnung zu erhalten?
Der Fall Woyceck / Woyzeck<br />
Joh. Chr. Woyceck (1780-1824)<br />
• ausgebildet als Perückenmacher<br />
• Soldat, wird Alkoholiker<br />
• Depressionen, psychotische Zustände<br />
(von „den Freimaurern“ verfolgt),<br />
Suizidversuche<br />
• tötet 1821 seine Verlobte Johanna<br />
Christiane Woost<br />
• öffentliche Hinrichtung in Leipzig<br />
nach dreijährigem Prozess (zwei Gutachten<br />
von Joh. Chr. Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit<br />
des Mör<strong>der</strong>s J. C.<br />
Woyzeck, eine Quelle Büchners)<br />
• von Büchner verbunden mit drei vergleichbaren<br />
Mordfällen aus Berlin und<br />
Darmstadt
Büchner zwischen Goetheverehrung und Lenz-Studien<br />
Woyzeck als Anti-Faust:<br />
• <strong>der</strong> Einzelne zwischen bürgerlicher Ordnung und dämonischen<br />
Mächten – sozialpsychologisch ‚mo<strong>der</strong>nisiert‘<br />
• vom Heraustreten <strong>zum</strong> Herausfallen aus <strong>der</strong> Ordnung<br />
• vom Naturforscher <strong>zum</strong> Opfer medizinischer Menschenversuche<br />
• uneheliches Kind, Tötung des unschuldigen Mädchens<br />
• aus <strong>der</strong> gemeinsamen Verbindung <strong>zum</strong> Sturm-und-Drang-Drama: weg<br />
von <strong>der</strong> Summe <strong>der</strong> Theaterformen und <strong>der</strong> Summa Metrica hin <strong>zum</strong><br />
sozialrealistischen Anti-Theater in Dia- und Soziolekten
Hauptmann: Woyzeck, Er sieht immer so verhetzt aus! Ein guter Mensch<br />
tut das nicht, ein guter Mensch, <strong>der</strong> sein gutes Gewissen hat. – Red er<br />
doch was Woyzeck! Was ist heut für Wetter?<br />
Woyzeck. Schlimm, Herr Hauptmann, schlimm: Wind!<br />
Hauptmann. Ich spür’s schon. ‘s ist so was Geschwindes draußen: so ein<br />
Wind macht mir den Effekt wie eine Maus. – Pfiffig: Ich glaub’, wir<br />
haben so was aus Süd-Nord?<br />
Woyzeck. Jawohl, Herr Hauptmann.<br />
Hauptmann. Ha, ha ha! Süd-Nord! Ha, ha, ha! Oh, Er ist dumm, ganz<br />
abscheulich dumm! – Gerührt: Woyzeck, Er ist ein guter Mensch – aber –<br />
Mit Würde: Woyzeck, Er hat keine Moral! Moral, das ist, wenn man<br />
moralisch ist, versteht Er. Es ist ein gutes Wort. Er hat ein Kind ohne den<br />
Segen <strong>der</strong> Kirche, wie unser hochehrwürdiger Herr Garnisonsprediger<br />
sagt – ohne den Segen <strong>der</strong> Kirche, es ist nicht von mir.<br />
Woyzeck. Herr Hauptmann, <strong>der</strong> liebe Gott wird den armen Wurm nicht<br />
drum ansehen, ob das Amen drüber gesagt ist, eh er gemacht wurde. Der<br />
Herr sprach: Lasset die Kleinen zu mir kommen.<br />
→
Hauptmann. Was sagt Er da? Was ist das für eine kuriose Antwort? Er<br />
macht mich ganz konfus mit seiner Antwort. Wenn ich sag’: Er, so mein’<br />
ich Ihn, Ihn –<br />
Woyzeck. Wir arme Leut – Sehn Sie, Herr Hauptmann: Geld, Geld! Wer<br />
kein Geld hat – Da setz einmal eines seinesgleichen auf die Moral in <strong>der</strong><br />
Welt! Man hat auch sein Fleisch und Blut. Unsereins ist doch einmal<br />
unselig in <strong>der</strong> und <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n Welt. Ich glaub’, wenn wir in Himmel<br />
kämen, so müßten wir donnern helfen.<br />
Doctor. Ich es gesehn hab! er auf die Straß gepißt hat, wie ein Hund. …<br />
Die Welt wird schlecht sehr schlecht … Woyzeck <strong>der</strong> Mensch ist frei, im<br />
Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit – seinen Harn nicht<br />
halte können! Es ist Betrug Woyzeck. Hat Er schon seine Erbsen<br />
gegessen, nichts als Erbsen … Aber Er hätte doch nicht an die Wand<br />
pissen sollen.<br />
Woyzeck. Ja die Natur Herr Doctor wenn die Natur aus ist. … Haben Sie<br />
schon die Ringe von den Schwämmen auf dem Boden gesehn, lange<br />
Linien, dann Kreise, Figuren, da steckt‘s! Wer das lesen könnte.
Freies Feld, die Stadt in <strong>der</strong> Ferne<br />
Woyzeck und Andres schneiden Stecken im Gebüsch. Andres pfeift.<br />
Woyzeck: Ja, Andres, <strong>der</strong> Platz ist verflucht. Siehst Du den lichten Streif<br />
da über das Gras hin, wo die Schwämme so nachwachsen? Da rollt<br />
abends <strong>der</strong> Kopf. Es hob ihn einmal einer auf, er meint’, es wär ein Igel:<br />
drei Tag und drei Nächt, er lag auf den Hobelspänen. – Leise: Andres,<br />
das waren die Freimaurer! Ich hab’s, die Freimaurer!<br />
Andres singt: Saßen dort zwei Hasen,<br />
fraßen ab das grüne, grüne Gras...<br />
Woyzeck: Still: Hörst du’s, Andres? Hörst du’s? Es geht was!<br />
Andres: Fraßen ab das grüne, grüne Gras...<br />
bis auf den grünen Rasen.<br />
Woyzeck: Es geht hinter mir, unter mir. –<br />
Stampft auf den Boden: Hohl, hörst Du? Alles hohl da unten! Die<br />
Freimaurer!<br />
Andres: Ich fürcht’ mich.
Das Anti-Märchen im Woyzeck<br />
Großmutter: Es war einmal ein arm Kind und hat<br />
kein Vater und keine Mutter, war alles tot und war<br />
niemand mehr auf <strong>der</strong> Welt. Alles tot, und es is<br />
hingegangen und hat gesucht Tag und Nacht. Un‘<br />
weil auf <strong>der</strong> Erde niemand mehr war, wollt‘s in<br />
Himmel gehen, und <strong>der</strong> Mond guckt es so freundlich<br />
an; und wie es endlich <strong>zum</strong> Mond kam, war‘s<br />
ein Stück faul Holz. Und da is es zur Sonn gangen,<br />
und wie es zur Sonn kam war‘s ein verwelkt Sonneblum.<br />
Und wie‘s zu den Sternen kam waren‘s kleine<br />
goldne Mücken, die waren angesteckt wie <strong>der</strong><br />
Neuntöter sie auf die Schlehen steckt. Und wie‘s<br />
wie<strong>der</strong> auf die Erde wollte, war die Erde ein<br />
umgestürzter Hafen [: Topf]. Und war ganz allein,<br />
und da hat sich‘s hingesetzt und geweint, und da<br />
sitzt es noch und ist ganz allein.<br />
Georg Büchner 1813-1837
Woyzecks Passion: Überblendung von Woyzecks und <strong>der</strong> Passions-<br />
Geschichte (nach dem emendierten Text in <strong>der</strong> Marburger Ausgabe von<br />
Burghard Dedner u. a. 2005;<br />
unterstrichene Passagen hat Büchner nachträglich eingefügt)<br />
Marie (allein, blättert in <strong>der</strong> Bibel.) Und ist kein Betrug in seinem<br />
Munde erfunden. Herrgot. Herrgott! Sieh mich nicht an! (blättert weiter)<br />
aber die Pharisäer brachten ein Weib zu ihm, im Ehebruche begriffen<br />
und stelleten sie in‘s Mittel dar. – Jesus aber sprach: So verdamme ich<br />
dich auch nicht. Geh hin und sündige hinfort nicht mehr. (schlägt die<br />
Hände zusammen). Herrgott! Herrgott! Ich kann nicht. Herrgott gieb mir<br />
nur soviel, daß ich beten kann. (das Kind drängt sich an sie) Das Kind,<br />
giebt mir einen Stich in‘s Herz … Der Franz ist nit gekommen, gestern<br />
nit, heute nit, es wird heiß hie (sie macht das Fenster auf.) Und trat hinein<br />
zu seinen Füßen und weynete und fing an seine Füße zu netzen mit<br />
Thränen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen und küssete<br />
seine Füße und salbete sie mit Salben. (schlägt sich auf die Brust) Alles<br />
todt! Heiland, Heiland ich möchte dir die Füße salben
Kaserne. Andres, Woyzeck kramt in seinen Sachen.<br />
Woyzeck. … Das Kreuz is meiner Schwester und das Ringlein, ich hab<br />
auch noch einen Heiligen, zwei Herzen und schön Gold, es lag in meiner<br />
Mutter Bibel und da steht:<br />
Leiden sey all mein Gewinst,<br />
Leiden sey mein Gottesdienst<br />
Herr wie dein Leib war roth und wund<br />
So laß mein Herz seyn aller Stund.<br />
…<br />
Woyzeck. (zieht ein Papier hervor.) Friedrich Johann Franz Woyzeck,<br />
geschworner Füsilir im 2. Regiment, 2. Bataillon 4. Compagnie, geb.<br />
Mariae Verkündigung …<br />
Ja Andres, wann <strong>der</strong> Schreiner die Hobelspän hobelt, es weiß niemand,<br />
wer seinen Kopf drauf legen wird.<br />
„Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brü<strong>der</strong>n nicht getan habt,<br />
das habt ihr mir nicht getan.“ (Mt 25)