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Fall Nr. 9

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IPR-Kolloquium am 15.7.2013 –<br />

EuGH, Rs. C-491/10PPU, Aguirre ./. Pelz<br />

Herr Aguirre Zarraga, ein spanischer Staatsangehöriger, und Frau Pelz, eine<br />

deutsche Staatsangehörige, heirateten am 25. September 1998 in Erandio<br />

(Spanien). Aus dieser Ehe ist ihre am 31. Januar 2000 geborene Tochter Andrea<br />

hervorgegangen. Der gewöhnliche Aufenthaltsort der Familie befand sich in Sondka<br />

(Spanien). Nachdem sich das Verhältnis zwischen Frau Pelz und Herrn Aguirre<br />

Zarraga Ende 2007 verschlechtert hatte, trennten sie sich und stellten anschließend<br />

beide vor den spanischen Gerichten Scheidungsanträge.<br />

Verfahren vor den spanischen Gerichten<br />

Sowohl Frau Pelz als auch Herr Aguirre Zarraga beantragten die Übertragung des<br />

Sorgerechts für das gemeinsame Kind auf sich allein. Mit Beschluss vom 12. Mai<br />

2008 übertrug der Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao<br />

(Gericht erster Instanz und Ermittlungsgericht <strong>Nr</strong>. 5 von Bilbao) das Sorgerecht<br />

vorläufig auf Herrn Aguirre Zarraga, wobei der Mutter ein Umgangsrecht<br />

eingeräumt wurde. Im Anschluss an diese Entscheidung wechselte Andrea in den<br />

Haushalt des Vaters.<br />

Der genannte Beschluss beruhte u.a. auf den Empfehlungen der Equipo Psicosocial<br />

Judicial (gerichtlicher psychosozialer Dienst) in einem auf Ersuchen des befassten<br />

Gerichts erstellten Gutachten. Nach diesem Gutachten sollte das Sorgerecht dem<br />

Vater übertragen werden, da er am besten in der Lage sei, den Fortbestand des<br />

familiären, schulischen und sozialen Umfelds des Kindes zu gewährleisten. Da Frau<br />

Pelz wiederholt angekündigt hatte, dass sie sich mit ihrem neuen Partner und ihrer<br />

Tochter in Deutschland niederlassen wolle, war das Gericht der Ansicht, dass die<br />

Übertragung des Sorgerechts auf die Mutter den Ergebnissen des Gutachtens<br />

zuwiderlaufen und auch nicht dem Kindeswohl entsprechen würde.<br />

Im Juni 2008 verlegte Frau Pelz ihren Wohnsitz nach Deutschland, wo sie nunmehr<br />

mit ihrem neuen Partner wohnt. Im August 2008 blieb Andrea, nachdem sie die<br />

Sommerferien bei ihrer Mutter verbracht hatte, bei dieser in Deutschland. Sie ist<br />

seitdem nicht mehr zu ihrem Vater nach Spanien zurückgekehrt.<br />

Da Andrea seit 15. August 2008 entgegen dem Beschluss vom 12. Mai 2008 bei<br />

ihrer Mutter in Deutschland wohnte, erließ der Juzgado de Primera Instancia e<br />

Instrucción n° 5 de Bilbao am 15. Oktober 2008 auf Antrag von Herrn Aguirre<br />

Zarraga einen neuen Beschluss über einstweilige Maßnahmen, mit dem u. a.<br />

Andrea untersagt wurde, das spanische Hoheitsgebiet in Begleitung ihrer Mutter,<br />

eines Mitglieds von deren Familie oder einer ihrer Mutter nahestehenden Person zu<br />

verlassen. Ferner wurde durch diesen Beschluss das Frau Pelz zuvor gewährte<br />

Umgangsrecht bis zum Erlass einer endgültigen Entscheidung ausgesetzt.<br />

Im Juli 2009 wurde das Verfahren über das Sorgerecht von Andrea vor demselben<br />

Gericht fortgesetzt. Das Gericht war der Ansicht, dass ein erneutes Gutachten und<br />

eine persönliche Anhörung von Andrea erforderlich seien und setzte Termine fest,<br />

an denen beides in Bilbao durchgeführt werden sollte. Weder Andrea noch ihre<br />

Mutter erschien jedoch zu diesen Terminen. Nach Angaben des vorlegenden<br />

Gerichts war der Antrag von Frau Pelz abgelehnt worden, ihr und ihrer Tochter<br />

zuzusichern, dass sie nach deren Begutachtung und Anhörung freies Geleit für das<br />

Verlassen des spanischen Hoheitsgebiets erhalten. Das Gericht gab auch dem<br />

ausdrücklichen Antrag von Frau Pelz, die Anhörung mittels Videokonferenz<br />

durchzuführen, nicht statt.<br />

Mit Urteil vom 16. Dezember 2009 übertrug der Juzgado de Primera Instancia e<br />

Instrucción n° 5 de Bilbao das alleinige Sorgerecht für Andrea auf deren Vater. Frau


Pelz legte gegen dieses Urteil Berufung bei der Audiencia Provincial de Bizkaya<br />

(Provinzialgericht von Biskaya) ein und beantragte u. a., eine Anhörung von Andrea<br />

durchzuführen.<br />

Mit Urteil vom 21. April 2010 lehnte dieses Gericht den Antrag mit der Begründung<br />

ab, dass nach spanischem Verfahrensrecht die Vorlage von Beweisen in der<br />

Berufungsinstanz nur in bestimmten, gesetzlich ausdrücklich festgelegten Fällen<br />

möglich sei. Das bewusste Nichterscheinen einer im ersten Rechtszug<br />

ordnungsgemäß zu einer Sitzung geladenen Partei gehöre nicht zu diesen Fällen.<br />

Im Übrigen ist das Verfahren noch bei dem genannten Gericht anhängig.<br />

Verfahren vor den deutschen Gerichten<br />

In Deutschland fanden zwei Verfahren statt. Das erste Verfahren betraf den von<br />

Herrn Aguirre Zarraga auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980<br />

gestellten Antrag auf Rückführung seiner Tochter nach Spanien. Diesem Antrag<br />

wurde zunächst vom Amtsgericht Celle mit Beschluss vom 30. Januar 2009<br />

stattgegeben. Frau Pelz legte gegen diesen Beschluss Rechtsmittel ein. Mit<br />

Beschluss vom 1. Juli 2009 gab das Oberlandesgericht Celle dem Rechtsmittel statt,<br />

hob infolgedessen den Beschluss des Amtsgerichts auf und wies den Antrag von<br />

Herrn Aguirre Zarraga auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 2 des Haager<br />

Übereinkommens von 1980 zurück. Das Oberlandesgericht Celle führte u. a. aus,<br />

die von ihm durchgeführte Anhörung von Andrea habe gezeigt, dass sie der von<br />

ihrem Vater verlangten Rückführung nachhaltig widerspreche und eine Rückkehr<br />

nach Spanien ausdrücklich ablehne. Der vom Gericht daraufhin herangezogene<br />

Sachverständige sei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Meinung von Andrea<br />

angesichts ihres Alters sowie ihrer Reife zu berücksichtigen sei.<br />

Das zweite Verfahren vor den deutschen Gerichten wurde aufgrund einer<br />

Bescheinigung eingeleitet, die der Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5<br />

de Bilbao am 5. Februar 2010 gemäß Art. 42 der Verordnung <strong>Nr</strong>. 2201/2003 auf<br />

der Grundlage des von ihm am 16. Dezember 2009 verkündeten Scheidungsurteils<br />

ausgestellt hatte, in dem auch über das Sorgerecht für Andrea entschieden worden<br />

war. Mit Schreiben vom 26. März 2010 übermittelte das Bundesamt für Justiz dem<br />

zuständigen Gericht der Bundesrepublik Deutschland, dem Amtsgericht Celle, das<br />

genannte Urteil samt Bescheinigung. Es wies das Amtsgericht darauf hin, dass die<br />

Entscheidung des spanischen Gerichts, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet<br />

worden sei, nach § 44 Abs. 3 des Gesetzes zur Aus- und Durchführung bestimmter<br />

Rechtsinstrumente auf dem Gebiet des internationalen Familienrechts von Amts<br />

wegen zu vollstrecken sei. Frau Pelz widersprach der Zwangsvollstreckung der mit<br />

der Bescheinigung versehenen Entscheidung und beantragte, sie nicht<br />

anzuerkennen. Mit Beschluss vom 28. April 2010 stellte das Amtsgericht Celle fest,<br />

dass das Urteil des Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao weder<br />

anzuerkennen noch zu vollstrecken sei, da er Andrea vor Erlass seiner Entscheidung<br />

nicht angehört habe.<br />

Am 18. Juni 2010 legte Herr Aguirre Zarraga gegen diese Entscheidung beim<br />

Oberlandesgericht Celle Beschwerde ein und beantragte, die Entscheidung<br />

aufzuheben, die Anträge von Frau Pelz zurückzuweisen und das Urteil des Juzgado<br />

de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao von Amts wegen zu vollstrecken,<br />

soweit darin die Rückkehr von Andrea zu ihm angeordnet werde. Das OLG Celle<br />

erkennt zwar an, dass das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats im <strong>Fall</strong> einer<br />

gemäß Art. 42 der Verordnung <strong>Nr</strong>. 2201/2003 ausgestellten Bescheinigung<br />

grundsätzlich keine eigene Prüfungsbefugnis nach Art. 21 der Verordnung habe,<br />

meint jedoch, dass bei einem besonders gravierenden Grundrechtsverstoß etwas<br />

anderes gelten müsse. Hierzu führt es zum einen aus, der Juzgado de Primera<br />

Instancia e Instrucción n°5 de Bilbao habe die aktuelle Meinung von Andrea nicht<br />

ermittelt und sie daher bei seiner Entscheidung vom 16. Dezember 2009, die u. a.<br />

das Sorgerecht für dieses Kind betreffe, nicht berücksichtigen können. Zum<br />

anderen seien die Bemühungen des spanischen Gerichts um eine Anhörung des


Kindes angesichts der Bedeutung, die der Berücksichtigung der Meinung des Kindes<br />

nach Art. 24 Abs. 1 der Charta der Grundrechte zukomme, nicht ausreichend<br />

gewesen.<br />

Ferner stelle sich die Frage, ob das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats für den<br />

<strong>Fall</strong>, dass es trotz eines solchen Grundrechtsverstoßes keine Prüfungsbefugnis<br />

besitzen sollte, an eine Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung <strong>Nr</strong>. 2201/2003<br />

gebunden sein könne, deren Inhalt offensichtlich falsch sei. Die Bescheinigung des<br />

Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n 5 de Bilbao enthalte nämlich insofern<br />

eine offensichtlich falsche Angabe, als es darin heiße, dass Andrea vom spanischen<br />

Gericht angehört worden sei, obwohl dies nicht geschehen sei. Unter diesen<br />

Umständen hat das Oberlandesgericht Celle beschlossen, das Verfahren<br />

auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung<br />

vorzulegen:<br />

1. Hat das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats ausnahmsweise in Fällen<br />

gravierender Grundrechtsverstöße in der zu vollstreckenden Entscheidung des<br />

Ursprungsmitgliedstaats bei Grundrechts-Charta konformer Auslegung des<br />

Art. 42 der Verordnung <strong>Nr</strong>. 2201/2003 eine eigene Prüfungskompetenz?<br />

2. Ist das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats trotz einer nach Aktenlage vom<br />

Gericht des Ursprungsmitgliedstaats offensichtlich unzutreffend ausgestellten<br />

Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung <strong>Nr</strong>. 2201/2003 zur Vollstreckung<br />

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