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Heft - Institut für Theorie ith

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selbständige Bestimmtheit aufweist (Materie).<br />

Egal, welche Folgerungen aus dieser Diagnose<br />

sonst zu ziehen sind – klar ist, dass hier die beiden<br />

Verhältnisse der Vielheit zur Einheit und der<br />

Zweiheit zur Einheit nicht so einfach in oder auf<br />

einander projiziert werden können, sei es in der<br />

Form der «Verlängerung oder Wiederholung» des<br />

einen (Zweiheit) im anderen (Vielheit); sei es in<br />

der Form des Beispiels, das die Zweiheit <strong>für</strong> die<br />

Vielheit abgeben könnte.<br />

Der wichtigste Punkt ist jedoch die Entscheidung<br />

des Aristoteles, zu der Zweiheit des<br />

Gegensatzes nicht nur die Einheit eines zugrundeliegenden<br />

Beharrlichen dazu zu denken, sondern<br />

vor allem eine Einheit seiner selbst als Gegensatz.<br />

In diesem Sinn sagt er: Statt von drei Prinzipien<br />

könnte man genausogut auch von zwei sprechen,<br />

wenn man nämlich den Gegensatz als eines nimmt<br />

– vorausgesetzt natürlich, man vergisst nicht seine<br />

essentielle Dualität. Der Begri≠, der das Gegensätzliche<br />

als Eines fasst und gleichsam abdichtet,<br />

ist «Form». «Form», als Grundbegri≠ der Physik,<br />

ist zuerst Zweiheit. Man kann auch sagen, dass die<br />

Zweiheit im Gegensatz wesentlich «eine geformte»<br />

ist – wenn man nämlich die Forderung der<br />

Bestimmtheit der Gegensätze unterstreichen<br />

möchte («ein Gebildetes wird weiss»: der <strong>für</strong> die<br />

Veränderung relevante Gegensatz muss eine<br />

andere Farbe sein, ein Nicht-Weiss, auch wenn<br />

das der Satz nicht ausdrücklich macht).<br />

Worauf es mir bei dieser Skizze ankam,<br />

war, die Komplexität sichtbar zu machen, die darin<br />

liegen kann, wenn jemand sagt: Gegensätzlichkeit<br />

ist eine Form von Zweiheit. Zweiheit ist hier<br />

nicht aus dem Übergang vom Einen zum Vielen<br />

gleichsam als Bauelement heraus genommen –<br />

und dann würde in einem zweiten Schritt Gegensätzlichkeit<br />

als ein Fall davon identifiziert. Sondern<br />

der Gegensatz ist hier primär und wird als<br />

eine authentische Weise dargestellt, «zwei zu<br />

sein». Der Begri≠ der «Form» fasst diese Zweiheit<br />

in eine Einheit eigener Art.<br />

Deleuze<br />

Richard<br />

Heinrich<br />

27<br />

Zweiheit<br />

und<br />

Vervielfäl tigung<br />

Es ist ein durchgängiger Impuls in der Philosophie<br />

von Gilles Deleuze, die Vielheit aus diesem Zusammenhang<br />

zu emanzipieren, in dem sie traditionell<br />

mit der Einheit steht – seit, wie er das einmal ausdrückt,<br />

die jungen Leute bei Platon sich schick vorkamen,<br />

wenn sie zu sagen gelernt hatten: «Das<br />

Eine ist das Viele, und das Viele ist das Eine». Das<br />

steht in Di≠érence et répétition in dem Kapitel über<br />

die «ideelle Synthese der Di≠erenz», wo er als Vorbild<br />

<strong>für</strong> seinen eigenen Gebrauch von «multiplicité»<br />

die Mannigfaltigkeit im Sinne Bernhard Riemanns<br />

reklamiert und sagt:<br />

«Die Mannigfaltigkeit darf nicht eine Kombination<br />

aus Vielem und Einem bezeichnen, sondern im<br />

Gegenteil eine dem Vielen als solchem eigene Organisation,<br />

die keinerlei Einheit bedarf, um ein System<br />

zu bilden. Das Eine und das Viele sind Verstan desbegri≠e,<br />

die die allzu weiten Maschen einer verfälschten<br />

Dialektik bilden […].» 3<br />

Als Instrumentarien jener verfälschten Dialektik<br />

werden die Gegensätze identifiziert, das Konträre<br />

und die Kontradiktion.<br />

Differenz und Wiederholung<br />

Deleuze sagt, die Aufgabe der modernen Philosophie<br />

sei die Umkehrung des Platonismus, nur unter<br />

dieser Voraussetzung könne man in eine «bejahte<br />

Welt der Di≠erenz» eintreten. Dazu ist Lösung der<br />

Di≠erenz von der Repräsentation verlangt. Die<br />

Einleitung und die ersten Kapitel des Buches sind<br />

im Subtext eine beinahe ununterbrochene Auseinandersetzung<br />

mit Aristoteles, dem Erfinder einer<br />

Konstruktion, mit der die Di≠erenz als Gegensatz<br />

in die Organisation des Begri≠es eingebunden und<br />

domestiziert wird. Der Gegensatz – die «grösste<br />

Di≠erenz» bei Aristoteles. Die grösste aber nur<br />

innerhalb des Begri≠es, und immer nur stabil<br />

gehalten von der Negation, der Ausschliesslichkeit<br />

der spezifischen Di≠erenz. Dagegen Deleuze:<br />

«Die Di≠erenz muß zum Element, zur letzten Einheit<br />

werden, sie muß also auf andere Di≠erenzen<br />

verweisen, durch die sie nie identifiziert, sondern<br />

di≠erenziert wird. Jeder Term einer Reihe, der schon<br />

Di≠erenz ist, muß in ein variables Verhältnis zu<br />

anderen Termen gesetzt werden […]. Noch innerhalb<br />

der Reihe selbst muß die Divergenz und die<br />

Dezentrierung bejaht werden.» 4<br />

Hier ist jenes Programm einer Emanzipation des<br />

Vielen in den Ausdrücken einer Philosophie der<br />

Di≠erenz artikuliert – auf eine Weise, die bis in die<br />

spätesten Schriften konstant bleiben wird. Das<br />

Besondere an Di≠erenz und Wiederholung ist aber,<br />

wie Deleuze dort über gleichsam nukleare Modelle<br />

der Lösung der Di≠erenz vom Begri≠ nachdenkt.<br />

Auf Aristoteles bezogen heisst das: Lösung vom<br />

Gegensatz, weil der Gegensatz eben die Form ist,<br />

mit der die Di≠erenz in den Artbegri≠ eingebunden<br />

ist. An diesem Punkt zeichnet sich tatsächlich ein<br />

Interesse an der Figürlichkeit der Zwei ab, nämlich<br />

als Möglichkeit, gleichsam begri≠slos das darzustellen,<br />

was der Gegensatz in begriffliche Einheit fasst.<br />

Eine Nebenbemerkung: Wie stark die Einbindung<br />

des Gegensatzes in die Identität des Begri≠es auch<br />

ausserhalb philosophischer Reflexion wirkt,<br />

mögen zwei zufällig aufgegri≠ene Beispiele andeuten.<br />

Das erste ist ein Hugo von Hofmannsthal-<br />

Zitat, aus dem Buch der Freunde: «Die einzige<br />

Gleichheit, die vor dem tiefer eindringenden Blick<br />

besteht, ist die Gleichheit des Gegensätzlichen.» 5<br />

Und bei Paul Klee, der unermüdlich die Dynamiken<br />

gestaltet und reflektiert hat, die sich zwischen<br />

Dualität und Einheit ergeben, z. B. im Verhältnis<br />

der Linie zum Punkt (dazu einige schöne Seiten in

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