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Heft - Institut für Theorie ith

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Mille plateaux<br />

Die Emanzipation des Vielen muss also radikaler<br />

betrieben werden. Im Raum der Euklidischen<br />

Geometrie ist die Vielheit so wenig frei wie im logischen<br />

Raum des Aristoteles – auch wenn er statt<br />

nach Allgemeinheit und Di≠erenz nun nach den<br />

euklidischen Axiomen oder etwa nach den «minima»<br />

Brunos strukturiert ist. Der Immanenzplan,<br />

über oder durch den die Begri≠e in unendlicher<br />

Geschwindigkeit sich bewegen, legt keinerlei Gliederung<br />

von vornherein fest, schliesst nichts aus.<br />

In Mille plateaux, in der Einleitung über<br />

das Rhizom, wird das unmissverständlich klar<br />

gestellt: «Un devient deux: chaque fois que nous<br />

rencontrons cette formule, fût-elle énoncée stratégiquement<br />

par Mao, fût-elle comprise le plus<br />

dialectiquement du monde, nous nous trouvons<br />

devant la pensée la plus classique et la plus<br />

réfléchie, la plus vieille, la plus fatiguée.» 12 Dagegen<br />

das Rhizom: «Le rhizome ne se laisse ramener<br />

ni à l’Un ni au multiple. Il n’est pas l’Un qui devient<br />

deux […]. Il n’est pas un multiple qui dérive de<br />

l’Un, ni auquel l’Un s’ajouterait. Il n’est pas fait<br />

d’unités […].» 13 Am klarsten, am positivsten<br />

kommt die Absicht vielleicht an der Stelle heraus,<br />

wo der Begri≠ des «plateau» erklärt wird: «Pour<br />

le multiple, il faut une méthode qui le fasse<br />

e≠ectivement […].» 14 Und davor: «Nous appelons<br />

plateau toute multiplicité connectable avec<br />

d’autres par tiges souterraines superficielles, de<br />

manière à former un rhizome […]. Chaque plateau<br />

peut être lu à n’importe quelle place […]». 15<br />

Die Figur ist bei Deleuze grundsätzlich<br />

etwas Ambivalentes, ein Gegenstand der Auseinandersetzung,<br />

ein Weg, der abstrakten Einheit<br />

und ihrer Organisation durch den Gegensatz zu<br />

entkommen, aber immer im Verdacht, eine neue<br />

Art von Versiegelung, Verschluss – mit einem<br />

Wort: Repräsentation – zu begründen. Man sieht<br />

Deleuze diese Auseinandersetzung in vielen verschiedenen<br />

Zusammenhängen austragen. Einer<br />

ist das Buch über Francis Bacon, die Reflexionen<br />

um die Begri≠e des Figurativen und des Figuralen,<br />

die Figur als Resultat einer Zerstörung der<br />

Figur etc. Ein anderer ist mit dem Begri≠ der<br />

Freundschaft gegeben – ein gutes Beispiel, weil es<br />

hier direkt um eine Figur der Zwei geht.<br />

Freundschaft<br />

Richard<br />

Heinrich<br />

29<br />

Zweiheit<br />

und<br />

Vervielfäl tigung<br />

Grundsätzliches<br />

Wenn nun noch einmal eine Erinnerung zu Aristoteles<br />

folgt, dann soll das nur den Hintergrund liefern<br />

<strong>für</strong> ein Verständnis von Marcel Prousts ziemlich<br />

ex travaganter Vorstellung von Freundschaft, der<br />

Deleuzes intensive Aufmerksamkeit gewidmet hat.<br />

Aristoteles macht einen radikalen Unterschied<br />

auf semantischer Ebene zwischen Liebe und<br />

Freundschaft. Er läuft darauf hinaus, dass die<br />

Freundschaft eine charakteristische Figur der<br />

Zweiheit als Gegenseitigkeit ist, die unkenntlich<br />

würde, definierte man Freundschaft einfach als<br />

«gegenseitige Liebe». Aristoteles hat der Freundschaft<br />

als solcher das Profil einer hoch speziellen<br />

Gegenseitigkeit verliehen, das man niemals rekonstruieren<br />

kann, wenn man in einen formalen Be gri≠<br />

von Reziprozität irgendwelche Inhalte der Vorstellung<br />

der Liebe (das Begehren etwa) hineingiesst.<br />

Wichtig ist allerdings, dass es hier wirklich nur um<br />

die Bedeutung geht und a priori weder etwas darüber<br />

gesagt ist, wie Freundschaft gewonnen wird,<br />

noch ob es sie überhaupt gibt, und auch nicht darüber,<br />

ob die schönste Freundschaft nicht vielleicht<br />

eine wäre, die sich mit Liebe erfüllt.<br />

Jene relationale Vollkommenheit der Symmetrie<br />

begründet jedenfalls einen Vorzug der<br />

Freundschaft vor der Liebe. Ich kann nicht wahrheitsgemäss<br />

sagen, ich sei der Freund des X, wenn<br />

nicht dieser auf Befragen sagte, er sei mein Freund.<br />

Ich bin schon widerlegt, wenn er sagt, dass er mich<br />

nicht kennt. Es gibt eine Liebe, deren Vollkommenheit<br />

der Erwiderung, ja der Anerkennung unbedürftig<br />

ist, aber Freundschaft ist schon semantisch<br />

an Reziprozität gebunden. Das stellt Aristoteles im<br />

8. Buch der Nikomachischen Ethik klar. 16 Um der<br />

Systematik willen muss man dazu auch eine Stelle<br />

im 9. Buch lesen, wo nämlich das Wohlwollen<br />

(oder: Wohlmeinen, εὔνοια) im Gegensatz zum<br />

Begehren (ὄρεξις) als der <strong>für</strong> die Freundschaft entscheidende<br />

Begri≠ fixiert wird. 17 Aber das Wohlmeinen<br />

als solches macht noch nicht die Freundschaft,<br />

es muss gegenseitig sein (deshalb, wegen<br />

der Unmöglichkeit der ἀντιφίλησις, können wir<br />

auch keine Freundschaft mit unbelebten Dingen<br />

unterhalten). Selbst das gegenseitige Wohlwollen,<br />

und das ist der entscheidende Punkt, stellt noch<br />

keine hinreichende Bedingung <strong>für</strong> Freundschaft<br />

dar: Das gegenseitige Wohlwollen muss ausserdem<br />

noch gegenseitig gewusst sein:<br />

«Viele nämlich sind wohlwollend gegenüber Menschen,<br />

die sie nie gesehen haben, die sie aber <strong>für</strong><br />

anständig oder nützlich halten. Die gleichen Gefühle<br />

könnte nun einer von jenen einem der ersteren gegenüber<br />

haben. Solche [Menschen] scheinen also Wohlwollen<br />

gegeneinander zu empfinden. Aber würde<br />

jemand sie Freunde nennen, denen doch verborgen<br />

ist, wie sie sich gegenseitig zueinander verhalten?» 18<br />

Unverborgen muss das gegenseitige Wohlwollen<br />

sein, d. h. jedem der Freunde bewusst.<br />

Proust<br />

Das Interessante an Marcel Prousts Invektiven<br />

gegen die Freundschaft ist nicht, dass er einer<br />

solchen Analyse auf die Gegenseitigkeit hin misstraute,<br />

sondern dass <strong>für</strong> ihn gerade das Überzeugende<br />

und Tre≠ende dieser Au≠assung gegen die<br />

Freundschaft spricht. Zugunsten wovon? Zugunsten<br />

der Liebe, natürlich. Vor allem aber ist die

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